Walter Jonas (1910-1979) – „Ein faustischer Zeitgenosse“ – „Die Grenzen nach allen Himmelsrichtungen öffnen“

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Walter Jonas (1910-1979) – „Ein faustischer Zeitgenosse“

„Die Grenzen nach allen Himmelsrichtungen öffnen“

 

Der Titel von Kapitel 5 in Stefan Howalds Biographie von Walter Jonas[1] erscheint mir so umfassend, dass ich ihn der ganzen Lebens- und Werkanalyse dieses grossen Denkers, Malers und Stadtarchitekten voranstellen möchte. Mit Ungeduld hatte ich auf dieses Buch gewartet, ein ausserordentliches Buch, das nach den jahrelangen Forschungsarbeiten des renommierten Zürcher Publizisten und Historikers endlich vorliegt.

In diese Biographie einzutauchen öffnet einen Fächer von Impulsen. Wissenshunger und Begegnungsfreude überwiegen, ein zögerndes Abwehrverhalten vor dem Umfang des Buchs zieht sich schnell zurück. Allein schon die Sorgfalt der Gestaltung – die Qualität der Sprache, der Grafik und des Drucks, der Feinheit und Vielfalt der fotografischen Bildwiedergabe von Jonas Werk – ist überwältigend. Mit der Lektüre setzt eine Reise in die vielfach verschachtelte, transgenerationelle Zeitgeschichte ein.

Jonas’ Lebensgeschichte vermischt sich mit den ungleichen Herkunftsgeschichten der Eltern, mit jener des jüdischen Vaters osteuropäischer Herkunft, der in der Gegend von Frankfurt herangewachsen und zum Elektrotechniker ausgebildet worden war, und jener der katholischen Mutter aus Stuttgart, die mit ihrem Mann 1910, fünf Jahre nach der Heirat, in die Schweiz nach Baden zog, wo bei Brown, Boveri und Co. eine Arbeitsmöglichkeit bestand und wo die drei Kinder – Edith, Walter und Margot – protestantisch erzogen wurden -; mit den unsicheren Lebensbedingungen in den Jahren des Ersten Weltkriegs, als Julius Jonas, Walter Jonas‘ Vater, sich freiwillig für den Kriegsdienst meldete und schliesslich in der Nähe von Lörrach stationiert wurde, wohin seine Frau mit den Kindern nachgezogen kam; dann mit der Rückkehr der Familie in die Schweiz, nach Baden, und mit dem Grosswerden des Knaben und seiner Schwestern in dieser Kleinstadt, wo er 1919 nach der Einschulung den allgemeinen Deutschenhass, zahlreiche Prügel und andere Schwierigkeiten erlebte. Unter den vielfältigen Einflüssen auf seine Entwicklung waren die Unklarheiten von männlich-weiblicher Zugehörigkeit, von jüdischer oder christlicher Orientierung und Identität durchzustehen wie von widersprüchlicher Vermischung von Intensität und Vielfältigkeit an Wissensbedürfnissen und künstlerischen Talenten, mit denen er das Gymnasium in Zürich abschliessen und in die Kunstschule Reimann in Berlin eintreten konnte.

Voller Staunen lässt sich nachvollziehen, mit welch selbstloser Unterstützung er von seinen Eltern und Schwestern in all diesen Jahren begleitet wurde, auch als er nach Abschluss der Reimann-Schule seine künstlerische Ausbildung in Paris und während Sommeraufenthalten in Spanien fortsetzte, später in England, immer wieder in Paris, zunehmend mit der festen Überzeugung, Maler zu sein und als Künstler zu leben. Schon in Zürich, dann in Berlin, in Paris, in Cambridge, in Tarragona oder in Korsika, an der Adriaküste und stets erneut in Paris, dann ab 1936 wieder in Zürich verfestigten sich Begegnungen und Bekanntschaften zu Freundschaften und Liebesbeziehungen, die mit Schwierigkeiten, Enttäuschungen und Verlusten, doch auch mit einer wachsenden Fülle von vielfältigem Interesse und Austausch, mit wechselseitiger Anerkennung und Unterstützung, mit Ausstellungsmöglichkeiten und Erfolg, ja bei Rosel Kemmler mit lebenslanger Treue und Fürsorge einhergingen. Alle Abstufungen von Kontakten und Erfahrungen finden in dieser Biographie ihre detaillierte Beachtung, ob es um die persönlichen oder um die künstlerischen, um die politischen oder die gesellschaftlichen resp. die städtebaulichen Belange gehe, die untersucht werden, ob diese mit Gesprächen in Cafés, mit leidenschaftlichen Korrespondenzen oder mit Reisen nach Indien oder nach Südamerika zusammenhingen. Es ist in Stefan Howalds Darstellung nie ein blosses Auflisten von Namen und Geschehnissen, nein, es ist ein sorgfältiges Eintauchen in das dichte und vielgestaltige Geflecht von jüdischen und nichtjüdischen Lebensgeschichten, aus welchen in den Vorkriegs- und Kriegsjahren wie in der Nachkriegszeit gesamteuropäisch rund um Walter Jonas ein enormes künstlerisches und denkerisches Werk zustande kam, trotz der zum Teil unvorstellbaren Bedingungen des Überlebens und trotz schmerzlicher Verluste.

Die Lektüre dieser Biographie berührt individuelle Erfahrungen resp. Erinnerungen an befreundete Menschen und an Zusammenhänge, eigene oder erzählte und schon gelesene, die in der Abfolge von Textwahrnehmungen geweckt und bestätigt, erweitert und ergänzt, korrigiert oder verletzt, anders gefärbt und neu gesehen werden. Kunst im umfassenden und zugleich ganz spezifischen Zusammenwirken von Literatur, Grafik und Malerei, von Philosophie und Lyrik, von Dramaturgie, Belletristik und Filmarbeit, von naturwissenschaftlich und gesellschaftspolitisch beeinflussten architektonischen Entwürfen wie jenen von Jonas‘ utopisch anmutenden Trichterbauten resp. Intrapolis-Modellen, von pädagogischen und schöpferischen Einflüssen, die mit dem Beginn der Fernsehsendungen vernetzt werden konnten – alle Bereiche von Kunst werden in diesem umfassenden Werk in den komplexen Zusammenhängen persönlichen Einsatzes und Kräftemessens sowie gesellschaftlicher Bedingungen aufgefächert und durchleuchtet. Es ist ein grosser Wissensgewinn, sich in dieses Buch zu vertiefen.

 

 

[1] Stefan Howald. Walter Jonas. Künstler. Denker. Urbanist. 351 Seiten. 2011 Zürich Verlag Scheidegger & Spiess. CHF 59.00 / EU 54.00

 

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