„… eine Mauer zwischen mir und meiner Hoffnung“ – Eine Dokumentation gesetzlich legitimierter Menschenrechtsverletzungen im Asylbereich

„… eine Mauer zwischen mir und meiner Hoffnung“

Eine Dokumentation gesetzlich legitimierter Menschenrechtsverletzungen im Asylbereich[1]

 

Das Leben abgewiesener Asylsuchender unter den Bedingungen der „Nothilfe“ ist ein Tabu für die Öffentlichkeit. Verbote und Kontrollen von Seiten der Behörden untersagen oder erschweren jeden Kontakt. Nun liegt eine bemerkenswerte Studie vor, durch welche wichtige Aspekte der verborgenen Realität offen gelegt werden.

Die Studie ist aus vielen Gründen bemerkenswert. Es ist eine soziologische Dokumentation, die nicht in einem akademischen  Forschungsauftrag vorgenommen wurde, die auch nicht differenzierte literarische Darstellungen oder psychologische Interpretationen anstrebt, sondern knappe Portraits und sorgfältig geführte Interviews mit 13 jungen Frauen und Männern wiedergibt, die unter Bedingungen der Nothilfe in verschiedenen Kantonen der Schweiz leben. Es kommen Menschen zu Wort, gewissermassen „disregarded people“, die sonst ungehört bleiben Die „public soziology“, zu welcher das Buch einen wichtigen Beitrag leistet – auch gemäss der einleitenden Überlegungen von Franz Schultheis von der Universität St. Gallen -, beruht auf einer empirisch-dialogischen Forschungsmethode, bei welcher der Subjektwert von beiden Seiten auf gleiche Weise beachtet wird. Sie folgt einer Gesprächsstruktur, wie sie u.a. von Pierre Bourdieu in Frankreich seit seinen ersten Publikationen in den Sechzigerjahren bis zu seinem 2002 erfolgten Tod vertreten und gelehrt wurde.

 

Politischer Ohnmacht entgegenstehen

Der Beweggrund für die Dokumentation, welcher die 16 AutorInnen, Redaktorinnen und HerausgeberInnen zusammengeführt hat, war die Dringlichkeit, der wachsenden politischen Resignation und Ohnmacht entgegenzustehen. Gemeinsam wurde entschieden, dass dies nicht in Form einer lauten Manifestation geschehen soll, die zeitlich und örtlich begrenzt wäre und wieder verklingen würde, sondern durch eine möglichst unverfälschte Publikation der alltäglichen subjektiven Erfahrungen der sozial und rechtlich ausgegrenzten Menschen, dieser „sonst so stummen bzw. ungehörten und unerhörten Zeitgenossen“, wie Franz Schultheis sie nennt, so dass sie in Augenkontakt mit LeserInnen treten und damit in die Wohnzimmer oder Studienräume der SchweizerInnen gelangen.  Auf diese Weise wird in aller Offenheit das menschenrechtlich untragbare Tabu gebrochen: das Verbot, das von den eidgenössischen und kantonalen Behörden der Bevölkerung auferlegt wird, mit abgewiesenen Asylsuchenden überhaupt Kontakt zu haben. Es soll nicht das leiseste Gefühl menschlichen Wertes bekundet werden, nicht die geringste Zugehörigkeit zu den BewohnerInnen der dörflichen oder städtischen Nachbarschaft entstehen können.

Dieses Verbot, gegen dessen Übertretung offiziell Strafe angedroht wird, weckt Empörung. Es  bedeutet eine schwerwiegende Entrechtung unter zahlreichen anderen, eine Entrechtung, die Menschen zu „Un-Personen“ erklärt, als würden sie nicht existieren oder als ginge von ihnen ein gefährlicher Virus aus und sie müssten in zubetonierten Bunkern  abgesondert werden.  Die rassistischen Elemente, die in der Schweiz über die von Rechtsaussen gelenkten Massmedien aus den Ideologien der vergangenen Dreissigerjahre reaktiviert wurden, zeigen erschreckende Folgen. Ist es nicht absurd fragen zu müssen, ob es für die 16 SoziologInnen, AbsolventInnen des Studiums Internationaler Beziehungen, EthnologInnen und Kulturanthropologinnen, Wirtschafts- und SozialwissenschafterInnen, die die Interviews führten, redigierten und herausgaben, besonderen Mut brauchte? Sind Begegnung und Gesprächsaustausch unter Menschen, Redefreiheit und Pressefreiheit  nicht prioritäre Grundbedürfnisse und Grundrechte, die auszuüben selbstverständlich ist und die auch in der Verfassung gewährleistet sind?

 

„Sagen, was ist“

„Sagen, was ist“ war ein Leitmotiv persönlichen Aufbegehrens und politischen Widerstandes schon im Vorfeld des Ersten Weltkriegs und lange zuvor. Rosa Luxemburg hatte es ausgesprochen, Karl Liebknecht, Bertha Pappenheim, vor ihr Flora Tristan, Rahel Varnhagen und weitere Frauen und Männer, die sich gegen die eigene Entrechtung oder gegen menschenunwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen Anderer zur Wehr setzten. Es mag auf ähnliche Weise die 13 Frauen und Männer aus unterschiedlichsten Herkunftsländern bewogen haben, offen über sich selber und ihren Alltag zu sprechen. Sie wissen, dass sie Teil einer viel grösseren Menschengruppe von ca. 8000 Männern, Frauen und Kindern sind, die verstreut in der Schweiz an „Un-Orten“ eine „Un-Existenz“ führen: Menschen, die ohne Pass in die Schweiz gelangten und die wagten, in Vallorbe oder in Basel, in Kreuzlingen, in Chiasso oder in Kloten ein Gesuch um Asyl zu stellen.

Wer nicht über einen Pass resp. über eine Identitätsurkunde seines Herkunftslandes verfügt, wird zum vornherein als unglaubwürdig bewertet, je nach Hautfarbe und Herkunftserklärung als potentiell kriminell. Auf das Asylgesuch wird nicht eingegangen. Er oder sie werden zwar registriert, jedoch ausschliesslich negativ als „NEEM“ resp. als  Nicht-Eintretensentscheid-Menschen, als Illegale und  Rechtlose, die bedrängt werden, die Schweiz wieder zu verlassen. Doch wohin? „Jeder hat wirklich seine Situation, aber meine eigene Kultur war so, ich bin ohne Papiere hierher gekommen, weil man bei  uns die Kultur der Papiere nicht hat. Man denkt, man könne hier auch ohne Papiere leben, wenn man dort in Gefahr ist. (…) Also ich habe schon Kontakt mit meiner Botschaft aufgenommen (…), aber sie kann nicht zu hundert Prozent bestätigen, dass diese Person aus unserem Land ist. Es gibt keine Datei, wo jeder Bürger registriert ist, es existiert bei uns nicht, absolut nicht. Das ist das grosse Problem, es ist einfach willkürlich. Von der Sprache her sagen sie, ja, vielleicht ist er aus diesem Land. (…) Ich wäre nicht identitätslos, wenn ich zurückgehe, aber mein Leben ist in Gefahr, wenn ich zurückgehe.“ Diese Tatsache genügt in der Schweiz nicht. Misstrauen verbindet sich mit Überheblichkeit und Desinteresse. Es gibt keine Chance, beachtet zu werden, ausser von Polizei und Staatsanwaltschaft. „Auch in den Gemeinden, wo sich die Notunterkünfte befinden, bist du nicht angemeldet. (…) Wenn Du zum Beispiel sagst, ich brauche eine Wohnsitzbestätigung, sagen sie, dass sie dich nicht kennen, dass du nicht existierst in dieser Gemeinde, das ist so. Also wir existieren offiziell nicht mehr. Wir existieren nur in den Augen des Sozialamtes und vielleicht der Fremdenpolizei, sonst nirgends.“ Wer nicht offizielle „Papiere“ mitbringt, erhält keine. „Ich hatte schon gefragt, ob ich etwas machen könnte. Um morgens aus dem Haus zu gehen, zu arbeiten und abends wiederzukommen, das würde mir sehr helfen. Aber was ich hier immer mache, ich mache nichts, es ist immer das Gleiche (… ) Nein, man kann mir keine Arbeit geben, weil ich nicht darf, weil ich die Papiere nicht habe, Ich habe keine Arbeitsbewilligung.“ Mit der Verweigerung des Aufenthaltsrechts in der Schweiz geht die Verweigerung des Arbeitsrechts einher. Für die Betroffenen bedeutet es die Verweigerung eines Zukunftsentwurfs, damit in zunehmendem Mass eine Infragestellung ihres Lebenswertes.

In der Schattenwelt menschlicher Entwertung zu leben ist ein prekäres Überleben: in überfüllten Containern, lichtlosen unterirdischen Bunkern, in weit abgelegenen Baracken im Gebirge oder in städtischen Notunterkünften in Aussenbezirken, immer ohne Privatheit im Schlafen und Wachsein, mit immer neuen Mitbewohnern, neuen Transfers an unbekannte Orte, Rayoneinschränkungen, täglichen Kontrollen und erniedrigenden behördlichen Abhängigkeiten für jede Kleinigkeit des Alltags, mit lauter Verboten wie Arbeitsverbot, Bewegungsverbot, Begegnungsverbot, mit Ungewissheit und zermürbenden Ängsten vor plötzlicher Gefangennahme und Ausschaffung. Unter Bedingungen der Nothilfe ist selbst das prekäre Überleben voller Schikanen. „Ich bin in der Nothilfe und illegal in der Schweiz, ich kann kein Kopfkissen haben, hat man mir auf dem Sozialamt gesagt – ich sage seinen Namen nicht. Er hat gesagt: ‚Du bist in der Nothilfe, du kriegst keine Kopfkissen. Ich bin krank geworden wegen dem Kissen.‘ Oder: ‚Du kriegst keine Decke“, wenn es kalt ist. Es ist ihnen völlig gleich, was ich habe und was ich mache. Im Winter ist es sehr kalt. Wir haben nicht die ganze Zeit eine Heizung. Nur zwei, drei Stunden in der Nacht und dann schaltet es automatisch aus. Und wir müssen jeden Tag mit kaltem Wasser duschen. Das warme Wasser reicht nicht für 14 Personen. Wenn jeder eine Stunde in der Dusche bleiben will (…), dann kann die andere Gruppe nicht duschen. (…) Es gibt nur einen Kochherd für 14 Personen und nur eine Waschmaschine. Oder zum Beispiel die Seife zum Saubermachen der Teller. Die Seife gehört allen vierzehn Personen. Manchmal putzen die anderen die Schuhe mit der Seife. Wie soll ich die Teller putzen?“

Für alleinstehende Männer unterschiedlichster Sprache, Kultur- und Generationenzugehörigkeit wird der knappe Platz in einer gemeinsamen Unterbringung schnell zum Anlass für Streit oder zum Gegenstand von Verteidigung der eigenen Bedürfnisse, das ist mehr als verständlich. Man stelle sich vor, was es bedeutet, wenn eine einzige Küche, Toilette oder Dusche mit 14 oder 32 oder 60 anderen Bewohnern geteilt werden muss, wie es ist, wenn Pritsche neben oder über Pritsche steht und Privatheit, Schlaf und Erholung kaum möglich sind, dies während Wochen und Monaten, manchmal während Jahren. Die Folgen von ständiger Unruhe und Ungewissheit, von Lärm und Angst, Kälte oder Hitze, von Müdigkeit ob der täglichen Untätigkeit, Kontrolle und Knappheit werden wechselseitig  übertragen. „Wenn Du hier bist, Du kriegst immer Probleme, ständig nur Probleme. (…) Vonseiten der Leute im Büro, vonseiten der anderen Bewohner. Weisst du, wir sind hier sehr nahe beieinander – und da kann es jederzeit Probleme geben. Es gibt ständig Auseinandersetzungen. Du bist entmutigt und denkst daran, wie du rauskommst. Auch mir ergeht es so. ich denke über meine Probleme nach. Und ein trauriger Mann ist immer auch ein wütender Mann.“ Die Unterbringung in einem lotterigen Altbau oder in einer engen Containersiedlung mag noch erträglicher sein als in einer Zivilschutzanlage, wo dreissig Personen in einem Raum zusammengepfercht sind. „Es ist ein Bunker, die Belüftung macht den ganzen Tag Lärm, man kann sich drinnen nicht wirklich konzentrieren, es ist zum Irrewerden. Es gibt auch keine Fenster, es gibt keine frische Luft, und die Schuhe und die Kleidung, alles stinkt wirklich ganz, ganz stark. (…) Die Leute, die wirklich neu gekommen sind, keine Freunde haben und nicht rausgehen können, die werden ganz schnell krank. Auch psychisch krank.“

Für Familien mit Kindern wird in der Regel eine Wohnung zur Verfügung gestellt, doch selten mit genügend Platz, oft bloss ein Zimmer in einer Wohnung, die mit einer anderen Familie oder mit Frauen, die als „vulnerable Personen“ in der Unterbringung eine kleine Sonderbeachtung bekommen, geteilt werden muss. „Das ungleiche Recht ist das Problem. Wir sind hier oben zwei Familien. Die früheren Toiletten (…), daraus haben sie Zimmer gemacht. Und es gibt nicht mal warmes Wasser. Die Alleinstehenden sind auch Menschen, aber es ist nicht das Gleiche wie eine Familie. Ich habe hier ein kleines Baby. Sechs Monate alt, es kann sich hier nicht bewegen. (…)  Neun Quadratmeter, so wie ein Badezimmer. Das ist kein Zimmer. Das ist ein Loch. Das ist kein Zimmer für das ganze Leben.“

Wer sich beklagt, gerät an Unverständnis, es gibt hierfür kein Recht und somit keine Zuständigkeit für nicht tragbare Mängel. „Ich bin zur Gemeinde gegangen. Der Gemeindepräsident sagt: ‚Ich bin nicht verantwortlich‘. Dann bin ich zur Gemeindepolizei gegangen, und die sagt: ‚Du musst zur Fremdenpolizei gehen‘. Dann ging ich dorthin. Die Fremdenpolizei sagte: ‚Das ist nicht unsere Aufgabe‘. Wo soll ich hingehen? Sie geben dir irgend eine Adresse. Dort seien sie verantwortlich für den ganzen Kanton. Ich gehe hin. ‚Nein, ist nicht unsere Aufgabe. Du musst direkt ins Heim gehen‘. Ich bin ins Heim gegangen. Die sagen: ‚Du musst zur Gemeinde gehen‘. Es ist unglaublich. (…) Ich lebe seit vier Jahren mit meiner Familie hier und niemand hört uns zu. Die Gemeinde nicht, die Behörden nicht. Das ist ein schwieriges Leben.“

Selbst unter den prekären Bedingungen der Notunterkünfte kommen Menschen vor, die sich bemühen, die Bedürfnisse der anderen zu beachten, doch infolge der unzähligen Einschränkungen geraten diese schnell an die Grenze der Umsetzbarkeit. Kinder können wenigstens zur Schule gehen, doch um in Ruhe lernen zu können, Hausaufgaben zu machen, über die nötigen Schulmittel und Kleider zu verfügen, an Ausflügen teilzunehmen und für vieles mehr fehlen die Mittel. Erwachsenen wird täglich höchstens acht Franken zugestanden, Kindern vier Franken, in einzelnen Kantonen wird nicht einmal Geld zur Verfügung gestellt, sondern ein Migros-Gutschein oder abgepackte Lebensmittel, die selber nicht gewählt werden können. Wie soll eine gesunde Ernährung möglich sein, wie der Erwerb von Windeln, Tampons und anderen Hygienemitteln, wie warme Kleider und wasserfeste Schuhe im Winter, wie ab und zu ein kleines Festessen, um einen Geburtstag zu feiern? Wie können Kinder lernen, sich frei zu bewegen, wenn ihre Mütter oder ihre Eltern kein Recht dazu haben? Wie können sie wie andere Kinder lernen zu spielen und die Welt um sie herum zu erkunden, wenn der Kontakt ihrer Mütter oder Väter mit Schweizer Familien verboten ist? Wie können sie heranwachsen und während der letzten Schuljahre ertragen, dass jeder Wunsch auf Ausbildung und jede Bemühung um eine Berufslehre an der Tatsache zerschellt, dass diese von den Behörden nicht zugestanden wird? Gymnasium ja, weil kaum erreichbar, jedoch Berufslehre nein.

Welche Jugendlichen können es als beiläufig ansehen, nicht mal in der Nachbargemeinde einen Kollegen besuchen oder Neujahr feiern zu dürfen, weil sie den Rayon des Dorfes, in dem sie untergebracht sind, nicht verlassen dürfen? Wer sich nicht daran hält, gerät in Polizeikontrolle, verfügt über keinen Ausweis, muss Bussen von 300.- oder 400.- Franken bezahlen oder kommt ins Gefängnis. „Wir haben nur einen kleinen Zettel, auf dem unser Name, unser Vorname und auch die BFM-Nummer geschrieben steht. Die Polizei sagt, sie kenne diese Zettel nicht, das sei kein Ausweis. (…) Meistens musst du auf den Polizeiposten gehen, und dann nehmen sie dir nochmals die Fingerabdrücke und überprüfen deine Identität. Gleichzeitig wirst du wegen illegalen Aufenthaltes angeklagt und zum Staatsanwalt gebracht. Er entscheidet dann, dich entweder gehen zu lassen oder ins Gefängnis zu bringen. (…) Ich wurde am Hauptbahnhof Zürich kontrolliert und musste in einer Zelle im Hauptbahnhof die Nacht verbringen. Vom Samstag 16 Uhr bis am Sonntag um 6 Uhr war ich dort. Die ganze Nacht musste ich auf die Toilette, aber sie haben mich nie gelassen. (…) Ich habe viele Male geläutet, sie haben gesagt: ‚Du musst ruhig sein‘ (…) es war ein Horror.“

 

Hoffnung prallt an, prallt ab, erlöscht. Entsteht sie neu?

Einer der jungen Männer hatte im Lauf des Interviews gesagt, zwischen ihm und der Hoffnung, die ihn zur Flucht bewegt habe, sei durch das System der Nothilfe eine Mauer gewachsen. Die Last der fortgesetzten Bestätigung von Rechtlosigkeit verdunkelt zunehmend den Blick auf den nächsten Tag. Was „Depression“ heisst, nimmt zunehmend überhand. Diese lähmende Entkräftung und Müdigkeit geht einher mit der Sinnlosigkeit von morgen, mit der Zumauerung der Zukunft. „Du siehst nichts Gutes mehr im Leben. Du hast keine Hoffnung auf einen guten morgigen Tag, es gibt wie eine Mauer zwischen mir und meiner Hoffnung“ und etwas später: „Es gibt auch eine Mauer zwischen uns und unseren Bedingungen einerseits und der Gesellschaft, dem Leben andererseits“. Bei einzelnen Menschen mag in diesem Empfinden auferlegter „Un-Existenz“ ein Impuls des Aufbegehrens wach werden und sich in Zorn umkehren, in plötzliche Aggressivität, die sich gegen sich selber oder gegen andere Benachteiligte äussert, die kaum bewusste Verursacher sind, aber in der eigenen Hilflosigkeit Anlass zum Streit bieten oder einfach die nächste  Angriffsfläche darstellen.

In den Interviews äussert sich, in welchem Mass  Unbehagen, Spannungen und Ohnmachtsgefühle geschluckt werden müssen, wie schwer es für viele Betroffene ist, eine innere Ruhe zu finden. Wenn die Hoffnung erlöscht, nagt die Verzweiflung an Körper und Seele, sie ist das einzig Private, das bleibt. „Niemand kann so leben. Manchmal sage ich den Leuten im Ausreisezentrum: ‚Wir sind wirklich stark!‘ Es gibt keine Chance, dass ein Schweizerin nur eine Woche so lebt. Wie kannst du leben, wenn du keine Chance hast? Wenn du immer hörst, dass du illegal bist? Wenn du keine Wünsche haben darfst, wie kannst du leben? Langsam, langsam bekommst du eine Krankheit, Das ist wie eine Todesstrafe.“

Allerdings finden sich unter den Interviews einzelne Beispiele, bei denen gute Gegenkräfte noch wach sind oder wach werden, doch es ist nicht selbstverständlich, dass sie zum Tragen kommen können, und sei es nur für einige Zeit. „Der Tag ist immer gleich und langweilig. Die Leute schauen manchmal den ganzen Tag fern. Manche gehen auch schlafen, manche gehen ein bisschen raus. Der Tag und die Nacht sind fast gleich, nie geschieht etwas Neues. Ich versuche schon etwas zu machen mit meiner Zeit: Manchmal lese ich, zum Beispiel Bücher über die Geschichte oder einen Roman. Manchmal lese ich auch, um Deutsch zu lernen. Ich lerne, lese, schreibe. (…) Ich arbeite. Also das heisst, ich mache manchmal Ausgangskontrollen im Zentrum. (…) Denn wer nicht dort lebt, darf nicht herein. Auch nicht zu Besuch. Ich mache diese Arbeit manchmal. Drei Stunden an der Tür sitzen und kontrollieren, ob jemand kommt. (…) Nächsten Monat bin ich sechs Jahre hier. Und ich lebe jetzt schon zwei bis drei Jahre in der Nothilfe. (…) Ich kenne daher schon einige Leute, auch Leute aus meinem Land. Aber seit dieser Nothilfe kann ich nicht mehr spontan Leute treffen, weil ich nicht mehr einfach weggehen kann.“  Frauen mit einem Kind oder mit mehreren Kindern leiden doppelt unter den Einschränkungen und Erniedrigungen. „In zwei Jahren wurde alle meine Haare weiss. (…) Immer um Hilfe bitten ist schlecht. Aber das meinem Kind zu erklären, das ist sehr schwierig. Sie ist eine kleine Tochter. Jetzt ist ihre Zeit zum Essen, zum Wachsen. Sie ist wie ein Baum. Wenn man einem Baum kein Wasser gibt, kann er nicht gut wachsen. (…) Wenn mein Kind einmal in zwei Monaten glücklich ist, dann bin ich sehr glücklich. (..) Das Problem ist, dass die Welt nicht weiss, wie wir in der Schweiz leben.“

Dass Trost über eine Religion gefunden werden kann, ist selten. Vielleicht fällt der Seufzer, Gott allein werde wissen, wohin das Ganze führe. Eine junge Frau, die in ihrem Land schwerste Gewalt erlebt hat und nachts, oft auch tagsüber von Albträumen eingeholt wird, die jedoch bei der offiziellen Befragung kaum Worte finden konnte, um zu schildern, was ihr angetan worden war und als Antwort nur den überheblichen Beamtenblick spürte und den Nichteintretensentscheid vorgelegt bekam, sie sagte im Interview, die Bibel zu lesen gebe ihr ein wenig Erleichterung. „Das ist das Einzige, was mich tröstet, wenn ich nur in meiner Bibel bin, Ich lese und versuche zu verstehen. (…) Ich habe Asyl beantragt. Die Behörden haben mit gesagt, ich müsse das Land verlassen, weil sie meine Geschichte nicht glauben.“

Für alle jungen und älteren Frauen und Männer, die dem Interview zustimmten, bedeuten die Kontakte mit Leuten aus den Basisorganisationen Lichtblicke, ob sich diese aus politischen oder aus humanitären Gründen über die offiziellen Verbote hinwegsetzen. Es finden öffentliche Demonstrationen statt, es gibt individuelle Unterstützung in Form von Rat oder von Geld, es werden Mittagstische und Sprachkurse organisiert. Oft sind es einzelne Personen, die sich dazu bereit erklären, oft grössere Gruppen, die gemeinsam Hilfe anbieten, wie zum Beispiel das Solidaritätsnetz Ostschweiz. Oder in Fribourg wird durch den Club UNESCO jeden Sonntag ein Fussballspiel – inklusive Turnschuhe und Erfrischung – auf dem Sportgelände der Universität organisiert, oder ein offenes Schul- und Weiterbildungsangebot, Begegnungsmöglichkeiten und Internetzugang durch Refugee Welcome in Zürich, in Zürich auch rechtliche Beratung durch das Büro für Sans Papiers oder die Freiplatzaktion, ähnlich in Basel, in Bern, in Lausanne, in Genf und in anderen grösseren und kleineren Städten der Schweiz. Die in einzelnen Kantonen von offizieller Seite her angebotenen „Beschäftigungsprogramme“ sind doppelschneidig. Einerseits ermöglichen sie mit Küchen- oder Reinigungsarbeit, mit dem Einsatz bei der Velo-Vermietung an den Bahnhöfen oder mit einer Kontrollaufgabe im  Unterbringungsgebäude eine Tagesstruktur, andererseits wird für volle Arbeitsleistung ein Stundenlohn von drei Franken bezahlt, so dass sich das Gefühl sklavenähnlicher Ausnutzung einzunisten beginnt und jenes der Sinnhaftigkeit im Tätigsein langsam ersticken lässt.

Die am meisten stärkende Kraft findet sich in der Erfahrung von Freundschaft, vielleicht gar von Liebe, wie sie durch Begegnungen im Kreis des politischen Widerstandes entstehen kann. Wie ein Wunder mutet es an, wenn die erloschene Hoffnung trotz Erniedrigung und rechtlicher Unfreiheit wieder aufkeimt und das erfrorene Herz zu wärmen beginnt.

 

Wie kam es zu „NEEM“ und „Nothilfe“, wie weiter?

Zum Abschluss der Interviews findet sich ein Überblick von Marina Widmer über die jüngste asylrechtliche Entwicklung in der Schweiz. Hier eine knappe Zusammenfassung:

Es war 1988, als die zweite Revision des 1981 entstandenen Asylgesetzes in Kraft trat. Damals wurde dem Bundesrat die uneingeschränkte Vollmacht zugestanden, auch in Zeiten ohne militärische Bedrohung die Gewährung von Asyl einzuschränken und Notrecht walten zu lassen. Ferner wurde die Verordnung erlassen, dass eine Datenbank mit den Fingerabdrücken der Asylsuchenden erstellt werde.

Unmittelbar nach der 1989 erfolgten Öffnung der Mauer, die Westeuropa von Osteuropa abgetrennt hatte, erfolgten weitere Verschärfungen des Asylrechts. 1990 mit der dritten Revision kam es zur Einführung der Nichteintretensentscheide (NEE) und zur Umsetzung von Ausschaffungen in sogenannte „safe countries“, selbst wenn eine Rückkehr für die betroffenen Menschen nicht zumutbar ist. Auch wurde das strikte Arbeitsverbot bei Negativentscheid beschlossen. Gleichzeitig begann im gleichen Jahr die Asylrekurskommission (ARK) zu wirken, die Anfang 2007 abgelöst wurde durch das Bundesverwaltungsgericht, eine rechtliche Chance, jedoch keine Gewähr für die Korrektur willkürlicher, zum Teil politisch motivierter Negativentscheide. Doch die Verschärfungen setzten sich fort. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hatte Tausende von Vertriebenen und Verfolgten, von denen viele schwerste Traumata durchgemacht hatten, zur Flucht in die Schweiz veranlasst. Zum Teil wurde ihnen eine Kollektivaufnahme gewährt, erst mit nur dreimonatigem Bleiberecht, das unter den Bedingungen fortgesetzter Gewalt verlängert wurde, allmählich mit individuellem Status F, das heisst mit der Erklärung einer vorläufigen Aufnahme durch einen bestimmten Kanton, in welchen die Zuweisung erfolgte und der nicht gewechselt werden durfte, die jährlich erneuert werden musste und in Gefahr war, widerrufen zu werden. Die Bewegungsfreiheit, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten wie auch der Familiennachzug wurden schwer beeinträchtigt. Aus dem Status der Vorläufigkeit aussteigen zu können, war und ist schwer realisierbar, da die die gestellte Bedingung eine über längere Zeit anhaltende wirtschaftliche Unabhängigkeit von jeglicher Sozialhilfe ist.

Bis zur Totalrevision von 2004/2005, die in einem von Rechtsaussen diktierten Eilverfahren  beschlossen wurde, und bis zu deren Umsetzung 2007/2008 haben sich trotz breiter politischer Proteste, die auch von den Landeskirchen unterstützt wurden, Restriktionen und Verschärfungen  vervielfacht. Schon 2003 war im Rahmen des sogenannten „Entlastungsprogramms“ ausserhalb des ordentlichen parlamentarischen Verfahrens beschlossen worden, dass Asylsuchende mit einem Nichteintretensentscheid NEEM auf den Bezug von Nothilfe herabgestuft werden, dass dies auch gilt, wenn noch ausserordentliche rechtliche Verfahren hängig sind. Die Ausschaffungshaft wurde von neun auf achtzehn Monate verlängert, für Fünfzehn- bis Achtzehnjährige bis auf zwölf Monate. Eine bis sechsmonatige Beugehaft wurde für Asylsuchende eingeführt, die zur Beschaffung von Pass oder Identitätskarte nichts beitragen. Die „Unzumutbarkeit eines Wegweisungsvollzugs“ wurde massiv auf die nachweisbare Bedrohung an Leib und Leben eingeengt.

Zusammenfassend ergibt sich mit Erschrecken, dass sich ab April 2004 in Gemeinden, Kantonen und Bundesämtern eine gesetzliche Legitimation von Zynismus, Beamtenwillkür und menschlicher Entwürdigung entwickelt hat, deren Folgen für niemanden tragbar wären, der sie beschliesst oder umsetzt. Die staatsrechtliche Verpflichtung, keine Gesetze zu erlassen und umzusetzen, die den Menschenrechten nicht gerecht werden, gilt längst nicht mehr. Diese Tatsache wurde dieses Jahr durch weitere Verschärfungen bestätigt: Asylgesuche dürfen nicht mehr an Schweizer Botschaften gestellt werden, Wehrdienstverweigerung wird nicht mehr als Asylgrund akzeptiert, der Familiennachzug wird noch stärker reduziert, gegen die politischen Verhältnisse im Herkunftsland darf nicht mehr öffentlich demonstriert oder informiert werden, sogenannt „renitente“ Asylsuchende sollen in Speziallagern interniert werden.

Gegen diese jüngsten Massnahmen, die ab dem 1. Oktober 2012 Geltung haben, wurde durch politische Basisorganisationen und durch die Jungen Grünen sofort das Referendum ergriffen. Es ist zu hoffen, dass die schweizerische Bevölkerung aus dem Dämmerzustand der Indifferenz erwacht. Das Ausmass an Fremdenfeindlichkeit und an legitimierter menschlicher Erniedrigung, das sich im Asyl- und Ausländerrecht kund tut, ist so beschämend, dass eine politische Gegenbewegung von grösster Dringlichkeit ist.  Unrecht darf nicht Recht sein.

 

[1] „Das hier …  ist mein ganzes Leben“. Abgewiesene Asylsuchende mit Nothilfe in der Schweiz. 13 Portraits und Gespräche. Hrsg. vom Solidaritätsnetz Ostschweiz und von der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz.  Mit Beiträgen von Regula Badertscher, Salome Bay, Tina Bopp, Annette Bossart, Fabian Duss, Denise Flunser, Raphael Jakob, Martina Koch, David Loher, Simone Marti, Gilles Reckinger, Diana Reiners, Manuel Rothe, Milena Wegelin und Martina Widmer.  Einführung von Franz Schultheis. 2012, Limmat Verlag Zürich

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