Wie ist das Böse vom Falschen und vom Schlechten zu unterscheiden, und was ist die Kehrseite resp. die Leugnung wovon?

Wie ist das Böse vom Falschen und vom Schlechten zu unterscheiden, und was ist die Kehrseite resp. die Leugnung wovon?[1]

Volkshochschule Wiesendangen, Vortrag vom 9. November 1998


Die Anfänge der Philosophie fallen mit den religiösen Anfangsmythen zusammen. Diese handeln von der Trennung der Elemente – Erde, Feuer, Wasser Luft -, von der Trennung von Finsternis und Licht, von den Gestirnen, vom Kreislauf des Lebens, kurz, von den Ursprüngen der Welt und des vielfältigen Lebens in der Welt. Sie handeln noch nicht vom Guten, resp. vom Bösen. Zwar wird mit der hebräischen Silbe „ra‘ah“ alles bezeichnet, was nicht gut, was schlecht ist: die verdorbene Frucht, der unfruchtbare Boden, ein Tag, der Unglück bringt, eine Naturkatastrophe etc. Schlecht ist eine Eigenschaft, die den Dingen oder ev. auch den Menschen anhaftet, eine Eigenschaft, die nicht weiter hinterfragt wird, die einfach auf die Wirklichkeit verweist.

Ganz anders thematisiert den Gegensatz zum Guten Platon, der in seiner Ideenlehre das Gute mit Hilfe von Mathematik und Geometrie zu erfassen sucht und es als das Eine, damit als das Unteilbare, Wahre und Vollkommene bezeichnet.  Alles, was nicht das Eine ist, ist daher auch nicht das Gute. Aber was ist es dann? Da es sich bei Platon um eine „Seinslogik“, eine Ontologie, handelt, ist es weder das Schlechte noch das Böse, sondern das Nicht-Wahre, das Falsche, d.h. das, was im Bemühen um Klarheit, um Wahrheit „nicht aufgeht“, was irreführt und täuscht, was eben falsch ist. Doch da es dem Guten, resp. der Wahrheit entgegensteht, ist es trotzdem das Böse. Bei Heraklit, einem Denker aus Ephesos , der (544-483) ein gutes Jahrhundert vor Platon (427-347) lehrte, steht im Fragment 133: „Böse Menschen sind die Widersacher der wahrhaftigen“. Dass Böses auch im Zufügen von Leiden besteht, findet sich meines Wissens bei den Vorsokratikern nur bei Xenophanes (589/77-485/80), und zwar in einer kleinen Geschichte, die er von Pythagoras, einem der grossen Zeitgenossen (580-500), erzählt. Xenophanes‘ Fragment 7 lautet: „Und es heisst, als er (Pythagoras) einmal vorbeiging( und sah), wie ein Hündchen misshandelt wurde, habe er Mitleid empfunden und dieses Wort gesprochen: ‚Hör auf mit deinem Schlagen, denn es ist ja die Seele eines Freundes, die ich erkannte, wie ich seine Stimme hörte‘.“ Der Satz verweist sowohl auf die Pythagoreische Seelenwanderungslehre wie auf sein Empfinden, dass das Zufügen von Leiden, das Misshandeln eines Lebewesens, etwas Übles, etwas Böses ist.

Bei anderen vorsokratischen Denkern wird sehr früh das Masslose, die Überheblichkeit als das dem Guten Widerstrebende, als das Böse, dargestellt, wie auch in den Mythen (so auch in der Bibel der überhebliche Griff nach der verbotenen Frucht im Garten Eden, oder in der griechischen Mythologie Prometheus‘ überheblicher Griff nach dem Feuer etc.). Es ist ein Fragment des Pherekydes von Syros zu erwähnen, dass von Zeus in den Tartaros geworfen werde, wer „aus Überhebung frevelt“. Oder bei Heraklit heisst es in Fragment 43, „Überhebung soll man löschen mehr noch als Feuerbrunst“

Vielleicht liesse sich sagen, dass Religion und Philosophie sich da trennen, wo der Zustand der Welt nicht mehr der göttlichen Kosmogonie anheimgestellt wird, sondern das So- oder Anders-Handeln der Menschen dafür verantwortlich gemacht wird. Dieses menschliche Handelns wird dann Gegenstand der praktischen Philosophie, resp. der Ethik. Damit wird auch das Böse Gegenstand der Philosophie. Es resultiert aus einer spezifischen Wahl des Handelns, jedoch immer noch im Gegensatz zum Guten. Überraschend ist bei Aristoteles (384/3-322719), dass nicht mehr eine Idee, sondern der Gute das Mass für das Gute darstellt. Mit anderen Worten, was gut und was böse ist, resp. was tugendhaft und was schlecht ist, misst sich am Menschen und am praktisch-tätigen Leben, am Handeln.  Dabei genügt es nicht, dass die Handlung sittlichen Kriterien genügt, dass sie zum Beispiel nicht-schädigend oder gerecht ist, sondern der Handelnde (Frauen gelten noch nicht als sittliche Wesen) muss selber bestimmte Eigenschaften aufweisen, um den Kriterien des Guten zu genügen. Aristoteles nennt drei Bedingungen: der Handelnde muss, erstens, bewusst handeln; zweitens muss er mit Vorsatz handeln, und drittens muss er im Handeln sicher und ohne Schwanken sein. Der Analogieschluss ist zulässig, dass, was für den Guten gilt, in der Umkehrung auch für den Bösen gilt. Nicht das – zufällig – gute oder schlechte Handlungsresultat ist entscheidend, sondern Wissen, Absicht  und Unbeirrbarkeit des handelnden Menschen. (Ich werde im zweiten Teil nochmals auf diese aristotelischen Kriterien eingehen). Somit liesse sich sagen, dass auf dem Höhpunkt der griechischen Philosophie von sittlichem Verdienst oder, umgekehrt, von Schuld nur gesprochen werden kann, wenn die von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

Nicht klar ist bei Aristoteles allerdings, weshalb die einen Menschen gut und tugendhaft sind, die anderen böse und schlecht. Aristoteles mutmasst, dass dies entweder von Natur aus so sein könnte, oder durch Gewöhnung, oder durch Belehrung, andernorts führt er noch den Zufall und die göttliche Fügung ein. Diese zwei letztgenannten Erwägungen möchte ich weglassen. (Der Rekurs auf die „göttliche Fügung“ findet sich in der Prädestinationslehre wieder, und es wurde damit ebensoviel Unheil angerichtet wie mit der späteren biologistisch-rassistischen Vererbungslehre. Was andererseits bei Aristoteles mit dem „Zufall“ gemeint wurde, könnte das Unberechenbare sein, das sich im Wirken des Unbewussten zeigt). Wichtig ist festzustellen, dass es bei Aristoteles letztlich immer um einen Entscheid geht, der in Konfliktsituationen, d.h. in bestimmten Momenten des praktischen Lebens gefordert wird, und dass der antike Denker schon drei entscheidende mögliche Einflüsse auf die moralische Entwicklung, resp. auf das Handeln der Menschen in Betracht zieht, die der modernen Forschung gar nicht so sehr widersprechen. Was er als „von Natur aus“ nennt, könnte sich mit dem decken, was heute mit dem Einfluss der genetischen Faktoren gemeint ist; was bei ihm „Gewöhnung“ heisst, könnte durch die heutigen Begriffe  „Sozialisation“ und „Beziehungserfahrungen“ übersetzt werden; und was er als „Belehrung“ bezeichnet, könnte sich sowohl mit den Welt-, Gesellschafts- und Erziehungstheorien decken, mit denen ein Mensch schon als Kind konfrontiert wird, wie auch das Über-Ich meinen, d.h. die innere Stimme, die sich als „Gewissen“ äussert und welche die internalisierten Verbote, Gebote und Vorbilder, resp. den frühen Einfluss der Vater und Mutter-Vorbilder widergibt. (Ich möchte jedoch betonen, dass Aristoteles, obwohl er die verinnerlichten Eigenschaften  als Kriterien für das gute oder schlechte Handeln herausarbeitet, die Gewissensfrage auslässt. Damit bleibt seine „Ethik“ eine Tugendlehre und kann nicht den Anspruch erheben, eine Moralphilosophie zu sein).

Tugenden, an denen sich, gemäss Aristoteles, das Gute, resp. „der Gute“ am stärksten misst, sind Gerechtigkeit, Klugheit und Freigebigkeit. Die Nicht-Erfüllung dieser Tugenden kennzeichnet somit auf besonders unmissverständliche Weise den sittlich schlechten Menschen, resp. das Böse. Aber was ist mit der Erfüllung resp. der Nicht-Erfüllung dieser Tugenden gemeint? Aristoteles sagt diesbezüglich, dass „was wir tun können, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun“. Dabei geht er jedoch davon aus, dass für dieses „Tun“ auch materieller Voraussetzungen bedarf, resp. dass ohne Geld weder Gerechtigkeit noch Freigebigkeit gepflegt werden können. Der Rang der Tugendhaftigkeit ist somit, bei Aristoteles, ein Standesprivileg. Andererseits stellt er fest, dass die Ausübung jeglicher Tugend von der Klugheit ausgehe, da nur das tugendhafte Handeln zum Ziel führe, das im „guten Leben“, resp. im Glück, in der Glückseligkeit („Eudaimonia“) der tugendhaft Tätigen bestehe.

Um diesen ersten Teil abzuschliessen, darf eine kulturell wichtige Fussnote nicht vergessen werden, resp. eine Wiederholung dessen, was ich schon erwähnt habe: Die Nikomachische Ethik ist, trotz des erstaunlich Neuen, das sie mit dem Praxisrekurs bietet,  eine Art Verhaltenskodex für besitzende, freie Männer. Es handelt sich dabei nicht um eine Ethik, gemäss welcher das menschliche Tun des Guten und das Tun des Bösen generell unterschieden und untersucht werden könnte. Dazu kam es erst sehr viel später.

Ein anderer möglicher Zugang, um das Schlechte oder Falsche vom Bösen zu unterscheiden, mag sich über die Entwicklung des Wertebegriffs anbieten.

Woher kommt der Wertebegriff? Wie kommt es, dass etwas als wertvoll, resp. als gut, und etwas anderes als weniger wertvoll oder als wertlos, als untauglich oder als schlecht angesehen wird?  Auch diese Frage führt in die Ursprünge der menschlichen Kultur zurück, und die Veränderung des Wertebegriffs geht einher mit der Entwicklung der Kultur überhaupt. Auch hier geht materielles und Immaterielles ineinander über. Der Wertebegriff muss entstanden sein, als erste Formen der Selbstversorgung nicht mehr genügten, als der Tauschhandel und damit die Arbeitsteiligkeit begannen, als mit dem Abtausch resp. mit der Abtretung von Produkten, Gegenständen oder Leistungen, über welche die einen Menschen verfügten, ohne deren zu bedürfen, gegen andere, die als gleichwertig empfunden wurden oder galten. Schon sehr früh wurden Waren oder Leistungen im Tauschhandel durch die symbolische Gleichwertigkeit von Münzen, resp. von Geld abgelöst (bis das Geld, der Geldbesitz und die Anhäufung von Geld mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Wert an sich wurde).

Obwohl der ursprüngliche Gütertausch per definitionem an materielle Güter gebunden war, schloss er immer schon etwas Immaterielles mit ein: ein Abwägen und Erwägen, eine Vorstellung von Wert, die an Begriffe wie Nützlichkeit, Dringlichkeit, Unverzichtbarkeit gebunden war und für welche ohne Zweifel schon sehr früh eine Prioritätenordnung und damit die Erfordernis eines Entscheides galt, der einerseits Gewinn, andererseits Verzicht bedeutete. Der Entscheid für das eine Gut schloss ein anderes aus. Und so muss der Wertbegriff sich auch für immaterielle Güter, für Werte der persönlichen Lebensführung, des Verhaltens und der Organisation des Zusammenlebens durchgesetzt haben. Zum Beispiel bedeutete der Entscheid, einen Feind zu schonen, statt ihn zu töten, als Abtausch die Gewähr, selber geschont und nicht getötet zu werden. Oder der Entscheid, zu verzeihen statt Rache zu üben, zog/zieht als Gegenwert die Aussicht nach sich, dass auch eigene Fehler verziehen und nicht mit Strafe geahndet wurden/werden. Oder der Entscheid, ein gegebenes Versprechen zu halten, zog/zieht ebenfalls die Erwartung von Gegenseitigkeit nach sich. So entwickelten sich aus dem Abwägen von Werten und aus dem Entscheid für einen bestimmten Wert in einer Rangordnung von Werten bestimmte wertorientierte Regeln des Verhaltens, welche durch die wiederholte Einhaltung internalisiert wurden und zu einem Wert- und Regelbewusstsein führten, das sich wiederum im persönlichen Gewissen ausdrückt: dem “guten Gewissen”, bei Beachtung der internalisierten Wertkategorien und bei Einhaltung der Regeln, dem “schlechten Gewissen” bei deren Nichtbeachtung und Übertretung. Die Entwicklung des eigenen Urteilsvermögens und der eigenen Handlungsverantwortung führt zu einer Veränderung der sozialisierten und internalisierten Wertvorstellungen und Regelcodices.

Das übernommene oder persönlich entwickelte Werte- und Regelbewusstsein entspricht der persönlichen Moral eines Menschen, während unter Ethik (ethos / Sitte, Brauch) die Auseinandersetzung um die obersten Grundsätze der verschiedenen Moralen verstanden wird. Es lässt sich sagen, dass das Ziel jeder Ethik eigentlich das Aristotelische “gute Leben” ist, wobei bezüglich des guten Lebens Verschiedenes und Ungleiches gemeint ist: das diesseitige gute Leben, oder das jenseitige gute Leben, oder das gute Leben einer bestimmten Gruppe von Menschen (wie eben z.B. der freien Männer in der griechischen Antike und noch während Jahrhunderten in den Systemen des Patriarchats, oder der Arier im Nationalsozialismus, oder aller Menschen, auf Grund einer reziproken Anerkennung des gleichen Menschseins und einer konsensfähigen Wertehierarchie) usw. Damit wird deutlich, dass jede Ethik ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt, und eine bestimmte Zeit widerspiegelt.

Es ist eine Tatsache, dass im Lauf der Menschheitsgeschichte sowohl die Prioritätenordnung der Werte wie die daraus abgeleiteten Regeln zumeist autoritär bestimmt wurden, häufig nicht im Sinn einer möglichst breiten Konsensfindung, nicht in Hinblick auf das grösstmögliche “bien commun”, sondern in Hinblick auf partikuläre Vorteile derjenigen, die sich die Definitionsmacht für die Rangordnung der Werte und Regeln zubilligten, um dadurch die danach hadelnden Menschen zu kontrollieren, ob dies Fürsten, Potentaten, religiöse Autoritäten, Arbeitgeber, politische Führer, die sogenannte “öffentliche Meinung” usw. war oder noch immer ist. Auch gehörte eine gleichzeitige Vielzahl von Wertordnungen, die untereinander rivalisierten, im Lauf einer komplexer werdenden Welt zu den sich bietenden Orientierungsmöglichkeiten. Daraus entstanden jene Orientierungskonfusionen, jene Paradoxien, auf die ebenfalls schon Aristoteles in seiner “Nikomachischen Ethik” hinwies, und jene Gewissenskonflikte, die wir zum Teil auch heute kennen, deren Ursprung in der Nichtübereinstimmung ev. gleichrangiger Werte oder Handlungsregeln liegt, die aber verschiedenen Ordnungen entstammen, d.h. in der Tatsache, dass das eine oder das andere, was man tun oder unterlassen sollte resp. müsste, sich widerspricht. Die Art und Weise, in der Menschen sich bei verschiedenen, ev. gar widersprüchlichen richtungweisenden Ethiken entscheiden, fällt wiederum in den Bereich der Moral.

Trotz aller kulturell begründeten Mängel der Aristotelischen “Ethik” ist seine Theorie des gelingenden und guten Lebens unter den Bedingungen einer Legitimitätskrise von Sitte und Herkunft, die sich im Auftreten von Paradoxien, von widersprüchlichen Entscheidungs- und Handlungssituationen, zeigte, heute noch interessant. Denn dabei wird klar, dass es verschiedenes Gutes oder Schlechtes geben kann. Aristoteles verstand unter den Paradoxien drei Gruppen, drei Bereiche von Entzweiungspositionen, resp. von Entscheidungskonflikten, von denen jede Gruppe wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet. Ich will die drei Bereiche kurz erwähnen, da diese selbst heute noch von Belang sind:

Der erste Bereich betrifft die Paradoxien, die sich durch das Aufeinanderprallen von Urteilen, Meinungen und Lehren von “Weisen” (resp. Intellektuellen, Philosophen/Philosophinnen, Lehrern/Lehrerinnen etc.) und Menschen einer bestimmten, herkunftsbedingten Alltagsorientierung ergeben. Aristoteles erklärt, dass diese Paradoxa unausweichlich seien, und dass es keine Position gäbe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei, etwa bei den Fragen “Muss man seinem Vater oder dem Weisen gehorchen?”, oder “Muss man tun, was gerecht oder was nützlich ist?” oder auch “Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?”.

Der zweite Bereich bezeichnet nicht-übereinstimmungsfähige Positionen, die durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen philosophischen Schulen (Theorien, Ethiken, z.B. einer konfessionellen Ethik und einer Berufsethik, ev. auch zwischen verschiedenen Wirtschaftstheorien oder Religionen etc.) entstehen und mit denen die nicht-philosophische Bevölkerung konfrontiert wird.

Mit dem dritten Bereich thematisiert Aristoteles Widersprüche im einzelnen Menschen selbst, wobei er die Widersprüche zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen meint. “Die Wünsche stimmen ja oft nicht zu den Worten”, sagt er deutlich, “sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint”.

Ein wichtiges Element in dieser Theorie vom guten Handeln ist Aristoteles’ mehrmals wiederholtes Insistieren auf der Nutzlosigkeit aller Theorie und allen Lehrens von Regeln, wenn nicht das gelebte, vorgelebte Vorbild der Lehrenden, der “Weisen” damit einhergeht.

Weitere, noch noch heute massgebliche philosophische Grundlagen westlicher Ethik finden sich, neben dem religiösen Rekurs auf die Vorschriften des Dekalogs, bei Immanuel Kant[2], dessen kritische Philosophie als Absage an die herkömmlichen metaphysischen Tugendlehren einerseits den Rekurs auf die Vernunft – auf die Freiheit, auf das Selberdenken und auf die Selbstverantwortung -, andererseits den Rekurs auf die Praxis zum Instrument von Handlungsentscheiden erklärt. Um zu unterscheiden, was gutes und was schlechtes oder böses Handeln ist, lässt sich einerseits die Rechtslehre, andererseits die sog. Tugendlehre heranziehen. Während die Rechtslehre sich “äussere Gesetze gibt”, wie Kant sagt, deren Befolgung notwendig (“ein Zwang”) ist, ist “die Tugendlehre deren nicht fähig“. Bei der Tugendlehre (häufig auch als Pflichtenlehre bezeichnet) – worunter Kant die Ethik resp. die Moralphilosophie im engen Sinn meint – zieht er in Betracht, dass es einerseits allgemeiner Maximen bedarf, andererseits der Überwindung der inneren Widerstände, ev. der Trägheit, damit Menschen diesen Maximen entsprechend handeln.

Die Urteilskraft ist die Fähigkeit, ein partikuläres Problem, einen partikulären Handlungsentscheid einer übergeordneten Maxime unterzuordnen. Eine allgemeine Maxime für das gute oder richtige (resp. tugendhafte) Handeln ist, gemäss Kant, ein Zweck, der zugleich Pflicht ist. Dazu rechnet er einerseits die “eigene Vollkommenheit”, andererseits “fremde Glückseligkeit”, wobei diese letztere, indem sie angestrebt wird, zur eigenen werden kann. Man könnte sagen, dass Kant zugleich einen egoistischen und einen altruistischen Ansatz vorschlägt, bei dessen Befolgung zwei wichtige Hauptregeln, resp. Maximen, wegweisend sind, nämlich der kategorische und der praktische Imperativ: der kategorische Imperativ  besagt, dass die Handlungsentscheide so zu treffen seien, dass sie zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnten, und der praktische Imperativ hält fest, dass zur Erreichung eines bestimmten Zweckes nie ein Mensch zum Mittel gemacht resp. benutzt oder gar missbraucht werden darf, dass nie ein Mensch wie eine Sache, wie ein Ding eingesetzt werden darf, dass der Mensch immer selber Zweck sein muss. In der Umkehrung lässt sich somit sagen, das ein Handeln, dessen Folgen für einen selbst abträglich sind, weil sie Leiden verursachen, gewiss nicht zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnte und daher schlecht ist. Dazu gehört jede Art der Instrumentalisierung und damit der Verdinglichung von Menschen, jede Art der Entwürdigung und menschlichen Entwertung

Der Kant’schen Ethik liegt das Menschenbild der Aufklärung zugrunde, eine so erstmals säkular definierte Gleichheit der Menschen auf Grund des gleichen Menschseins (der gleichen “Menschheit”) in jedem Menschen – mit der Einschränkung allerdings, dass Ende des 18. Jahrhunderts weder die Sklaverei abgeschafft war noch die Emanzipation (d.h. die rechtliche Gleichstellung) der Juden und schon gar nicht der Frauen oder gar der Kinder erreicht war. Zudem setzte damals, mit dem Beginn der Industrialisierung, die systematische Ausbeutung einer faktisch rechtlosen, ganz und gar vom Arbeitgeber abhängigen Arbeiterschaft ein, die durch die Fliessbandarbeit anonymisiert, des “Produkts” entfremdet und ausschliesslich zur Mehrwertsteigerung des Kapitals missbraucht, resp. instrumentalisiert wurde, trotz des Kant’schen praktischen Imperativs. Und trotz dessen begann sich auch gleichzeitig das System des Imperialismus zu entwickeln, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem globalisierten Herrschaftssystem ausweitete und festigte, mit Kriegen und bürokratisierten administrativen, militärischen und wirtschaftlichen Unterwerfungssystemen, bei denen der Herrschaftsanspruch der sogennannten “Mutterländer” durch die “Unentwickeltheit” und “Minderwertigkeit” der “Objekte” der Herrschaft in Afrika, Asien etc. legitimiert wurde. Damit setzte sich weltweit der systematische Rassismus sogenannter “Herrenvölker” und “Herrenrassen” durch, der in die verhängnisvolle Geschichte unseres Jahrhunderts hineinführte und dieses Jahrhundert mit seinen menschenverachtenden Ideologien und Herrschaftssystemen zum blutigsten und schuldbeladensten aller Zeiten werden liess.

Mit der Moderne begann somit einerseits die bislang verallgemeinerungsfähigste Ethik des gleichen Respekts vor dem gleichen Menschsein in jedem Menschen, und zugleich die systematische und zunehmend noch gesteigerte Instrumentalisierung, Entfremdung und Entwertung der Menschen durch andere Menschen – eine Entwicklung, die bis heute andauert.

 

Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, dass ich zur Welt sie einzurichten kam”…

Shakespeares Klage[3] gilt auch heute. Die Zeit, die gemeint ist, ist zugleich der Rahmen des Zusammenlebens der vielen verschiedenen Menschen auf der Welt wie die je ausschliessliche Existenzbedingung des einzelnen Menschen, der sich auch wiederum über die Zeitverhältnisse definiert, in die er hineingeboren wurde und in denen er sein Leben lebt.

Die heutige Zeit, unsere Zeitgenossenschaft, ist gekennzeichnet durch eine systematische Masslosigkeit, die jegliches Menschenmass längst überschritten hat. Sie hat ihr eigenes Zeitmass verloren, indem die Kommunikationstechnologie eine Beschleunigung analog zur Lichtgeschwindigkeit möglich macht, die nicht weiter gesteigert werden kann. Sie hat die Grenzen der materiellen Machbarkeit gesprengt, indem, noch während des letzten Kriegs, die Kernspaltung realisiert wurde und mit ihr die Schaffung der Atombombe, sodann, vor einigen Jahren, die Genomspaltung und -manipulation, die mit der potentiellen industriellen Produktion von Menschen das Sprechen von Menschenwert und Menschenwürde vollends zum Hohn werden lässt, nachdem die von den Nazis bürokratisch geplante und systematisch, industriell durchgeführte Massenvernichtung von Menschen die grundsätzliche Verhöhnung jeder religiösen Lehre und ethischen Theorie westlicher Kultur bedeutet. Unsere Zeit ist gezeichnet durch die damals von Millionen von Menschen unterstützte Hybris der autoritär diktierten und rassisch, ethnisch, politisch, religiös und schliesslich biologisch definierten Norm von Menschsein, von Wert oder Unwert des Menschseins.

Mit der Umkehrung von gutem und bösen Handeln durch die Herrschaft der totalitären Regimes, vor allem aber mit der willfährigen Unterwerfung von Millionen von Menschen unter diese Regimes, haben sich die ethischen Sicherheiten in Bezug auf Tugend und Recht vollends aufgelöst. Offiziell deklariertes Recht, z.B. die Rassegesetze, waren Unrecht, und trotzdem wurden diejenigen, die sich dem autoritären Handlungsgebot unterzogen, belohnt, während diejenigen, die dagegen Widerstand leisteten, bestraft wurden, als wären sie Verbrecher. Und unter denjenigen, die im Namen des offiziellen „Guten“ – dem Willen des „Führers“, der arischen Rassereinheit, der Expansion oder der Stärke des Dritten Reichs etc. – nichtwiedergutmachbar Böses verübten, gab es auch viele Gebildete, die sich allein nach dem Gebot der offiziellen Pflichterfüllung ausrichteten und dabei alle anderen kulturellen Rekurse zur Unterscheidung von Bösem und Gutem von sich wiesen.

Was damit geschah und was damit einsetzte, kann durch keine sogenannten “Reparaturleistungen” wiedergutgemacht werden. Zwar wurde 1946, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die UNO gegründet und 1948, vor nun fünfzig Jahren, mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Katalog der höchsten ethischen Normen allen staatlichen Verfassungen und allen übrigen Normensystemen überzuordnen versucht, um gegen alle getane und erlittene Barbarei das Recht jedes einzelnen Menschen, Rechte zu haben (gemäss Hannah Arendt), insbesondere das Recht auf Respekt seiner Würde als Mensch, sowie den Wert des menschlichen Zusammenlebens in der Pluralität der Differenz als unverzichtbar zu erklären. Doch 1948 führte nicht zu einer anderen Praxis des menschlichen Zusammenlebens: die nächsten Kriege waren schon geplant, die nächsten menschenverachtenden Ideologien, mit denen Böses in Recht verkehrt wurde, schon im Aufbau, die Täter der vergangenen totalitären Regimes zum Teil in neuen Regimes in neuen Ämtern und Würden, und die nationalen Wirtschaften bauten sich wieder auf und boomten mit der Produktion und dem Verkauf neuer Waffensysteme. Was erneut zählte, war der wirtschaftliche Wettlauf, der Rüstungswettlauf, der technologische Wettlauf, kurz, in allem die Beherrschung möglichst grosser Märkte – auf Kosten der der Menschen, auf Kosten der Zukunft des Zusammenlebens der Menschen, auf Kosten der ökologischen Grundlagen des Zusammenlebens.

Der Wertediskurs führt somit auch nicht zu einer sicheren Erkenntnis über das Böse. Ich schlage Ihnen daher als dritte Möglichkeit den Zugang über die Kombination von Psychoanalyse und neuzeitlicher Philosophie vor. Ich stelle fest, dass das Böse in beiden Bereichen als – vermeidbare – Verursachung von Leiden, von Angst und menschlicher Not, Erniedrigung, von Dehumanisierung und menschenverursachtem Tod verstanden wird. Wer Böses zufügt, übt in irgend einer Weise Gewalt aus und lädt Schuld auf sich. Warum Gewalt ausgeübt wird, warum Leiden, selbst todbringendes Leiden von Menschen anderen Menschen angetan wird, warum gequält und gemordet wird – hierin liegt das Geheimnis des Bösen.

Gewissermassen befasst sich Freud‘s gesamtes Werk mit dem Geheimnis des Bösen, geht es darin doch um die Triebstrukturen, die das Unbewusste regieren, Lebenstrieb und Todestrieb, Lustrieb und Aggressionstrieb. Letzterer dient  zwar dem Überleben, fügt jedoch auch unendlich viel Leiden und Leid zu. Denn er regt sich ja nicht nur, um bei Lebensbedrohung das Überleben zu sichern, sondern er ist häufig auf komplexe Weise mit dem Lusttrieb verknüpft. Wie diese Verknüpfung und Umkehrung („Per-version“) zustandekommt, ist zu erklären hier nicht der Ort. Wie häufig jedoch in jeder Art von Verhältnis – in privaten Verhältnissen ebenso wie in Arbeitsverhältnissen wie in anderen hierarchisch oder autoritär bestimmten Verhältnissen – über Funktion und Stellung geschaffene Macht missbrauch wird, um schwächere oder abhängige, häufig wehrlose Menschen zu erniedrigen, zu quälen oder gar zu vernichten, zeigt auf, wie dringlich es ist, mehr über das Tun des Bösen zu wissen, um es verhindern zu können. Einfach das Böse leugnen, schafft es ebenso wenig aus der Welt wie Übeltäter schwer bestrafen. Die 1943 in England verstorbene Philosophin Simone Weil hielt in einem ihrer „Cahiers“ fest, das Böse könne nur überwunden werden, indem es nicht mehr getan werde; das Strafsystem aber sei so sehr vom Bösen kontaminiert, dass lediglich das Böse fortsetze und weiter übertrage. Die Frage ist, wie zu erreichen ist, dass das Böse nicht mehr getan wird.

Seit ältester Zeit ist die Kulturgeschichte immer zugleich auch eine Kriegs- und Leidensgeschichte, eine Geschichte von Tätern und Opfern, und „jedes Dokument der Kultur zugleich ein solches der Barbarei“[4].  Von eigenen Mangelerfahrungen, Bosheit und Härte gezeichnete Mütter und Väter sind kaum in der Lage, ihren Kindern Geborgenheit und innere Sicherheit durch generöse und liebevolle Zustimmung zu ihrem noch ungesicherten Ich zu geben, sodass sich das Antun von Leiden wiederholt und häufig, bereits im Lauf des Heranwachsens,  auch das kompensatorische Sichselberbestätigen durch Missbrauch von Macht, schon auf der Stufe der Kinder und immer weiter fort bis ins Erwachsenen- und Greisenalter. In seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur[5] schrieb Freud, die „Schicksalsfrage der Menschenart scheine es zu sein, ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelingen werde, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“ 

Dies ist tatsächlich die „Schicksalsfrage der Menschheit“. Der – noch aus dem englischen Imperialismus stammende Ausdruck – „Verwaltungsmassenmord“ („administrative massacres“), den Hannah Arendt angemessen findet, um die millionenfachen Tötungen von Menschen, denen jeder Lebenswert abgesprochen wurde, zu bezeichnen, mag einerseits für die – scheinbare – Anonymität der Schreintischtäter stimmen, Doch selbst wenn es Abermillionen waren, wurde jeder einzelne Mensch durch einen anderen Menschen von zu Hause weggetrieben, verhöhnt, geschlagen, gejagt, für den Tod selektioniert, getötet. Hannah Arendt hält in ihrem Report zum Eichmann-Prozess[6] von 1963 fest, dass das Ausmass des Bösen nicht hätte getan können, wenn nicht auf jeder Stufe des Tuns jeder einzelne Helfershelfer seine Vorstellungskraft ausgeschaltet hätte, die „Vorstellung, was er eigentlich anstellt“, was er einem anderen Menschen antut. Die Vorstellungskraft nicht ausschalten hiesse, sich selber an den Platz des anderen Menschen versetzen.

 

[1]Volkshochschule Wiesendangen, Vortrag vom 9. November 1998

[2] cf. “Grundlegung der Metaphysik der Sitten” von 1785, “Kritik der praktischen Vernunft” von 1788 und schliesslich “Metaphysik der Sitten” von 1797, die in die “Rechtslehre” und in die “Tugendlehre” aufgeteilt.

[3] Hamlet I,5: “The time is out of joint, the cursed, spite that I was born to set it right”

[4] Walter Benjamin. Über der Begriff der Geschichte. Passus VII. In: Illuminationen. Suhrkamp Taschenbuch 345.

[5] Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur (1929/30). Studienausgabe Bd.9, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

[6] Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Über die Banalität de Bösen. Piper Verlag, Münchwn 1964.

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