“Die Zeit ist aus den Fugen”… – Wie wird Bildung angesichts von Zukunftsängsten und Marktdiktatur für Jugendliche zum Ferment persönlicher Sicherheit?

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“Die Zeit ist aus den Fugen”…

Wie wird Bildung angesichts von Zukunftsängsten und Marktdiktatur für Jugendliche zum Ferment persönlicher Sicherheit?

 

Unter den nachgelassenen Fragmenten Hannah Arendts findet sich eine Schlussbemerkung zur Vorlesung, die sie an der Universität von Berkely im Frühjahr 1955 hielt ([2]). Darin zitiert sie die Klage von Shakespeare’s Hamlet “The time is out of joint, the cursed spite that I was born to set it right” (“Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, / Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam“).

Hannah Arendt knüpfte damals ihre Klage über das “Anwachsen von Weltlosigkeit” an das Zitat an, die Klage über die sich ausbreitende “Wüste in der Welt”, wodurch, wie sie feststellte, zwei unverzichtbare Vermögen der Menschen bedroht seien: “das Vermögen der Leidenschaft und des politischen Handelns”. Es seien jedoch diese Vermögen, hielt sie fest, die dazu befähigen, das “Anwachsen der Wüste” zu verhindern und “Oasen zu schaffen“, d.h. Räume, in denen Menschen zusammenleben können unter Bedingungen der Kultur, unter Bedingungen der Pluralität. Darunter verstand sie sowohl die Freiheit und wie die gegenseitige, arbeitsteilige Angewiesenheit der Menschen aufeinander. Die Bedingungen von Kultur und Pluralität definieren das Zusammenleben der Menschen in der Aktualität wie in der Geschichtlichkeit. Gemäss Hannah Arendt gestatten sie den Menschen, dass sie sich dank ihrer Fähigkeit zum Konsens wie zum Neubeginn in die Gestaltung des Zusammenlebens einmischen. Kultur und Pluralität bedingen daher die Korrigierbarkeit des Getanen, wodurch das Getane zwar nie ungetan wird, wodurch aber die Geschichte – d.h. der Ablauf der Zeit und der vielen Leben in dieser Zeitgenössigkeit – eine andere Wendung nehmen kann.

Und was versteht Hannah Arendt unter dem “Vermögen der  Leidenschaft”? So wie ich ihr persönliches Leben und Werk kenne, verband sie damit die geheimnisvolle innere Sicherheit des Menschen, durch welche das Grundbedürfnis nach Freiheit im Entscheiden und Handeln umgesetzt werden kann. Für Hannah Arendt tritt da, wo die Freiheit aufleuchtet, das “Vermögen der Leidenschaft” auf den Plan, deutlicher oder verhaltener, entsprechend der persönlichen Besonderheit, der Fähigkeiten und Möglichkeiten jedes Menschen. Mit “Leidenschaft” ist der  – nicht-theoretische, sondern sich im Denken und Handeln äussernde – “amor mundi” gemeint, die Kraft der rückhaltlosen Zustimmung zu dem, was die Menschen untereinander verbindet, zum “Bezugsgeflecht” zwischen den Menschen, eine Kraft, die sich ebenso in der Kritik, im Widerstand und in der rückhaltlosen Ablehnung der zerstörerischen und menschenverachtenden Gewalt äussert, die jedoch Indifferenz und Eskapismus ausschliesst. Leidenschaft zeigt sich letztlich als innere Sicherheit im Gebrauch des Vermögens, ein persönliches Urteil zu treffen und für dieses einzustehen, ob im Sinn der zeitbedingten gesellschaftlichen Strukturen, ob gegen diese oder über diese hinaus, aber immer zu Gunsten von etwas, was den angstfreien Blick in die Zukunft zulässt.

Womit verbinden sich Hannah Arendts mit den Überlegungen über die Aufgaben und Zielsetzungen von Bildung im Zusammenhang der Suchtprävention? Wie kann Bildung zum Ferment persönlicher Sicherheit werden, so dass weder Flucht in Alkohol oder Drogen noch in fanatisierte Ideologien noch in andere Süchte sich aufdrängt, weder in Magersucht  oder Esssucht noch in Unterhaltungssucht, Erotomanie oder Risikosucht, auch nicht in Erfolgssucht oder Herrschsucht noch in Bereicherungssucht, Gewalt- oder Zerstörungssucht?

Meine erste These ist: Unsere heutige Zeit ist suchtkrank geworden, masslos und beziehungsfremd. Die Instrumentalisierung der Menschen führt diese zur Entfremdung von sich selbst, vom Wert des Lebens, vom Wert der eigenen Besonderheit und vom Wert des anderen Menschen. Damit entstand jene Leere und zugleich jene Überfülltheit von Sachen, welche heute die “Wüste” meint, im Sinne Hannah Arendts, und aus welcher in zunehmendem Mass die Fluchtversuche in utopische oder fiktive Realitäten – in die über Suchtverhalten geschaffene Irrealität – gesucht wird.

Meine zweite These ist, dass über ein gutes Bildungssystem , das nicht dem Zeitdruck ausgesetzt ist, den Jugendlichen ein Erproben des Selberdenkens und ein allmähliches Vertrauen in die eigenen Empfindungen und Fähigkeiten geboten werden kann. Dass Bildung in diesem Sinn jungen Menschen die innere Sicherheit erstarken hilft, die sich dem Druck der in jeder Hinsicht technologisierten Marktwirtschaft entgegenstellt, wodurch Angst sich von der lähmend-besetzenden inneren Macht in die Warnfunktion zurückversetzt, wodurch ein verlässliches Beziehungsnetz wieder zugelassen und aufgebaut wird und Zukunft mit dem Entwurf und der zeitlich-räumlichen Mitgestaltung menschlicher Lebenswerte verbunden werden kann.

Erste These: Unsere Zeit ist suchtkrank geworden, masslos und beziehungsfremd. Warum und wozu?

Zur ersten These will ich ein wenig ausholen. “The time is out of joint”…, auch heute. Angesichts der wachsenden Anzahl Menschen, die in der um sich greifenden “Wüste” den Eskapismus wählen und in Vereinzelung und Verlorenheit zu überleben suchen, gebrauchen diejenigen, welche die aktuelle Gesellschaft analysieren, für die heutigen Verhältnisse den griechischen Begriff der Krise – wohl zu Recht. Denn “Krise” bedeutet sowohl “zugespitzte Gefährdung” wie “Entscheidung”. Entscheidung würde allerdings das Vermögen zu urteilen und zu handeln voraussetzen. Weil dieses Vermögen jedoch schlecht trainiert und daher geschwächt ist, vor allem unter Intellektuellen, und weil es durch die enorme Komplexität der wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragestellungen zunehmend überfordert ist, zeigt sich die Krise als Aporie des Handelns. Die lähmende Unerträglichkeit der Handlungsaporie lässt einerseits die rechtsradikalen Parteien anwachsen, in allen europäischen Ländern, da deren Führer simplifizierende Rezepte zur Beendigung der Krise verkünden; andererseits ergeht, vor allem von Intellektuellen, der Ruf an den Gesetzgeber, Handlungsinstrumente zu schaffen.

Ein Beispiel: Am 8. März dieses Jahres wurde im Lauf der Nachrichten von Radio DRS (dem offiziellen schweizerischen Radiosender) bekanntgegeben, dass die Mehrzahl der Ärzte und Ärztinnen auf Intensivstationen dringlich verbindliche Richtlinien, d.h. ein Gesetz, wünschen, das ihre Befugnis zum Abbrechen lebenserhaltender Therapien definiere. Der Zweck des geforderten Gesetzes bestände darin, sie – formal – vom persönlich verpflichtenden hippokratischen Eid zu entbinden und von der Pflicht zum persönlichen Urteil zu entlasten

Der hippokratische Eid, Leben zu erhalten, ist die – für die medizinischen Berufe partikulär ausformulierte – positive Fassung des Verbots zu töten. Das Verbot zu töten ist, als universales Verbot, allen staatlichen Rechtsordnungen übergeordnet und verpflichtet die Menschen nicht als Bürgerinnen und Bürger, sondern als Vertreterinnen und Vertreter der Menschheit. Auf dieses – den staatlichen Verfassungen und Gesetzen übergeordnete – universale Gebot berufen sich, zum Beispiel, alle Kriegsdienstverweigerer und nehmen dafür in Friedenszeiten Gefängnisstrafe, in Kriegszeiten sogar den eigenen Tod in Kauf. Insoweit dieses universale Gebot Teil religiöser Gesetzgebung ist, verpflichtet es die Angehörigen bestimmter Religionen in erster Linie vor Gott, und sie ziehen daher die von Seiten des Staates verhängten Sanktionen in diesem Leben der göttlichen Strafe im Jenseits vor. Diejenigen, die nicht aus religiösen Gründen das Töten verweigern, sondern auf Grund der Unvereinbarkeit des Tötens mit dem, was ihr eigenes Urteil für Unrecht hält, resp. auf Grund ihres Bedürfnisses, mit sich selbst im Frieden zu sein, haben es schwerer, sich – zum Beispiel in einem Prozess vor Militärgericht – zu rechtfertigen, da sie sich nicht auf ein  übergeordnetes göttliches Gesetz berufen können, auf das sich viele berufen, sondern da sie allein ihr persönliches Urteilsvermögen als Rekursinstanz anführen.

Nun handelt es sich beim Beispiel der Ärzte, das ich angeführt habe, um den Wunsch nach einem Gesetz, das diese vom berufsspezifischen Schutz, in bestimmten Situationen töten zu müssen, entbindet (denn der hippokratische Eid bedeutet auch dies, nicht nur die Pflicht, nicht zu töten). Oder, anders formuliert, die Ärzte und Ärztinnen verlangen nach einem Gesetz, das ihnen das Töten erlaubt, obwohl der hippokratische Eid es ihnen verbietet. Der Zusammenhang, aus dem heraus dieser Wunsch öffentlich und dringlich formuliert wird, ist eine Paradoxie nach Aristotelischem Muster: Einerseits stehen auf den Intensivstationen unserer Spitäler technologische Einrichtungen zur Lebensverlängerung und Lebenserhaltung zur Verfügung, die es erlauben, das Eintreten des Todes auf unbestimmte Zeit zu verhindern,  andererseits verlangt eine auf Effizienz und Kostenreduktion erpichte “öffentliche Hand”einen Abbau der Leistungen. In dieser Paradoxie “ungeschützt” zu entscheiden, nämlich allein im Rekurs auf das eigene Urteilsvermögen, und für den Entscheid auch die moralische und die öffentliche, eventuell die strafrechtliche Verantwortung zu übernehmen, ist offenbar für die Mehrheit der Ärzte eine Überforderung. Dass gerade das Gesetz, indem es allgemeine Richtlinien des Handelns festlegt, neue Paradoxien schafft, weil u.a. allgemeine Richtlinien nie allen partikulären Situationen gerecht werden können, ist unausweichlich.

Hannah Arendt ist sich des Widerspruchs, der mit der Notwendigkeit von Gesetzen und dem Handeln des einzelnen Menschen verknüpft ist, bewusst, zumal sie auf älteste Quellen der Auseinandersetzung um das rechte Handeln zurückgreifen kann. Denn darum geht es, um das rechte Handeln. Dieses aber stellt sich nicht einfach durch die kritiklose Befolgung der Rechtsordnung ein, sondern durch das – leidenschaftliche – Wagnis des persönlichen Urteils, wenn nötig auch gegen das Gesetz. Beispiel hierfür ist seit der Antike Sokrates. Die sorgfältige Abwägung, worum es beim rechten Handeln geht, resp. woran sich dieses misst, findet sich im “Charmides”. Platon macht darin deutlich, dass bei der Frage, was das rechte Handeln kennzeichne, allein das Verhältnis zwischen Ich und Selbst massgebend ist, allein der Friede mit sich selbst, der sich als Indiz des rechten Handelns einstellt. Hannah Arendt geht im Essay “Ziviler Ungehorsam” von 1970 darauf ein ([3]). Das persönliche Urteilsvermögen, das sie hier mir dem religiösen Begriff des Gewissens thematisiert, “markiert Grenzen, die nicht überschritten werden sollten. Diese mahnen: Tue kein Übel, sonst musst du mit einem Übeltäter zusammenleben”.  Allerdings ist für Hannah Arendt das Gesetz – und damit meint sie die Rechtsordnung im allgemeinen, d.h. sowohl die staatliche Verfassung wie die davon abgeleiteten Gesetze – in erster Linie die unverzichtbare Garantie  für den dadurch konstituierten “Raum der Freiheit”, in welchem allein “Welthaftigkeit” im Sinn des politischen Handelns der vielen, die zusammenleben, möglich wird.

Interessanterweise entwickelt sie im Lauf der Jahre zwei sehr verschiedene Auffassungen über den Status des Gesetzes resp. der Rechtsordnung. In der – erstmals 1958 erschienen – “Vita activa” übernimmt sie Platons Auffassung, gemäss welcher die Gesetzgebung selbst nicht zum politischen Handeln gehört, sondern zum Bereich des Herstellens. Die Gesetz (resp. die staatliche Verfassung) sind, gemäss dieser Auffassung, Produkte, die dem Gebrauch dienen und die der Zweck-Mittel-Rationalität unterstehen. Sie sollen das – möglichst geordnete und gerechte – Zusammenleben ermöglichen, sind aber nicht oberster oder sich selbst genügender Zweck. Denn selbst wenn die Gesetzgebung, wie Platon dies vorsieht, von den Weisesten und Besten im Staat geschaffen wird, mag sie doch unvollkommen und mangelhaft sein. Im “Politicos” (294b) stellte der Fremde Sokrates gegenüber fest, dass “das Gesetz nicht imstande ist, das für alle Zuträglichste und Gerechteste zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen. Denn die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen, und dass niemals irgend etwas sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, dies gestattet nicht, dass irgend eine Kunst in irgend etwas für alle und zu aller Zeit Einartiges herstelle.” Diese Auffassung vom Gesetz als – unvollkommenes – Produkt, als Mittel zum Zweck, impliziert den  aus Freiheit, d.h. auf Grund des persönlichen Urteils entstehenden Widerstand gegen das Gesetz, ja selbst dessen Nicht-Beachtung oder Übertretung als verständlich, ja als legitim, selbst wenn diejenigen, die so handeln, die Strafe des Gesetzgebers zu befürchten haben (Prometheus; Sokrates). Im Grunde genommen liesse sich mit dieser Auffassung jeder Ungehorsam dem Gesetz gegenüber rechtfertigen, falls er nicht aus Willkür, sondern infolge des sorgfältigen persönlichen Urteils zum Zweck des rechten Handelns – oder, religiös gesprochen, des guten Gewissens – erfolgt.

Gemäss der zweiten Auffassung ist die Gesetzgebung nicht ein Produkt aus dem Bereich des Herstellens, sondern ist politischer Natur, nämlich das vorweg zustandekommende Resultat eines impliziten Gesellschaftsvertrags. Im schon erwähnten Essay “Ziviler Ungehorsam” unterscheidet Hannah Arendt drei Arten “ursprünglicher Übereinkünfte”: das “theokratische Modell”, wie es sich im Bund Israels mit Gott herausbildet; das “vertikale Modell” gemäss Thomas Hobbes’ Vorstellung, in welchem jeder Bürger ein Abkommen mit dem Monarchen, resp. mit der weltlichen Macht trifft, wobei er um den Preis grösstmöglicher Sicherheit auf seine Freiheitsrechte verzichtet; schliesslich das “horizontale Modell”, wie John Locke es entwickelt hat, welches die ursprüngliche Übereinkunft aller Mitglieder der Gesellschaft im Sinn der gegenseitigen Verpflichtung, des “Konsens”, bedeutet, aus dem heraus eine Regierung ernannt wird. Hannah Arendt betont, dass zwar jede Form des Gesellschaftsvertrags auf Gegenseitigkeit beruht. Jedoch allein das horizontale Modell verbindet und verpflichtet die Menschen untereinander in einer Art des gegenseitigen Versprechens, sodass die Gesetzgebung, die aus der gegenseitigen Verpflichtung, das Versprechen zu halten, entsteht, ihre bindende Kraft beibehält, auch wenn die Regierung sich als unfähig erweist, oder wenn sie gestürzt wird oder sich “zur Tyrannei” entwickelt. Wichtig ist, dass der Konsens der sich untereinander verbindenden Menschen auch den Dissens einschliesst, da nur so der ursprüngliche Vertragscharakter, der ja aus Freiheit zustandekommt, gewahrt wird.

Während im theokratischen wie im vertikalen Modell Widerstand gegen das Gesetz, resp. Ungehorsam aus Gewissensgründen, Sanktionen nach sich zieht, ja eventuell gar zum Ausschluss führt, muss er im horizontalen Modell legitim sein. Dieses Modell liegt offensichtlich der Demokratie zugrunde. Allerdings zeigen sich auch hier Einschränkungen: Im Rekurs auf Tocqueville stellt Hannah Arendt fest, dass nur diejenigen Gruppen der Gesellschaft von der Legitimität des Dissens profitieren können, die im ursprünglichen Vertrag eingeschlossen gewesen seien. Damit erklärt sie die Tatsache, dass der zivile Widerstand der Schwarzen in den USA in den Sechzigerjahren dieses Selbstverständnisses entbehrt habe und auf massive Ablehnung gestossen sei, da die Schwarzen zur Zeit der Gründung des Bundesstaates als Sklaven von der Gesellschaft ausgeschlossen gewesen seien, dass daher in der ursprünglichen Vertragsbildung ihnen gegenüber und von ihnen der übrigen Gesellschaft gegenüber keinerlei Versprechen getätigt worden sei. (Zu fragen ist,  wie es sich analogerweise mit der Repression der Jugendaufstände verhält, sowohl 1968 wie zu Beginn der Achtzigerjahre, nicht nur in den USA, sondern in den europäischen Ländern? Hat der auf der Strasse ausgetragene Dissens der Jugend mit der machtausübenden Gesellschaft, dem “Establishment”, auch mit der Tatsache zu tun, dass Kinder und junge Menschen nie als Rechtssubjekte in den Gesellschaftsvertrag aufgenommen waren, weder in den ursprünglichen noch in akteullen verfassungsmässigen, und es auch heute nicht sind?)

Ausser in Bezug auf die USA geht Hannah Arendt im genannten Essay auf die einer Gesellschaft inhaerente Schwäche nicht weiter ein, wenn diese sich formal demokratisch, materiell jedoch hierarchisch konstituiert, indem sie nach rassistischen Kriterien bestimmte Bevölkerungsgruppen vom ursprünglichen Vertrag ausschliesst. Dasselbe Vertragsphaenomen lässt sich für den 1848 konstiuierten Schweizerischen Bundesstaat in Bezug auf die jüdische Bevölkerung in der Schweiz festhalten, ferner in Bezug auf den Rechtsstatus von in der Schweiz lebenden Ausländern, mit bedauerlichen, schwerwiegenden Folgen bis heute. So mag die Hähme, mit der ein Teil der Bevölkerung, ja selbst ein Teil der Regierung auf die jüdische Forderung nach Klärung von Schuld und Schulden der Schweiz im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung der Juden antwortet, neben noch immer aktuellen antijüdischen und antisemitischen sowie neben generell politisch reaktionären Motiven, auch  mit dem ursprünglichen Ausschluss aus dem “Vertrag” zu tun haben, im Sinn der Bemerkung, die mir einmal zu Ohren kam “Was machen die sich so wichtig, die gehören doch gar nicht recht dazu“, oder im Sinn der an den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund gerichteten Erwartung, sich moderat und zurückhaltend zu verhalten, um ja nicht, wie es heisst,  “Anlass zu Antisemitismus zu geben”. Wären die Juden vom ursprünglichen Bundesvertrag nicht ausgeschlossen gewesen, so dürfte niemand es wagen, ihre heute gleichberechtigte Stimme schweigen zu heissen.

Obwohl Verfassung und Gesetze nach der Vertragstheorie nicht einfach Produkte sind, die, vergleichbar den Stadtmauern Athens, als ausserhalb des politischen Handelns stehende Artefakte des “Bauherrn” gelten, obwohl sie, im Gegenteil, im Lauf eines politischen Prozesses verändert werden können, haben sie trotzdem eine machtkonservative orientierungsweisende Funktion, welche Minderheiten und deren Widerstand gegen das Gesetz ins Unrecht versetzt, allen demokratischen Konsens-Dissens-Theorien zum Trotz. Deutlich zeigte sich und zeigt sich dies in Bereichen, in denen das persönliche Urteil, resp. das Gewissen auf empfindliche Weise gefordert ist, da die Existenz von Menschen auf dem Spiel steht, wie in der Praxis der Flüchtlings- und Asylpolitik. Widerstand gegen das Gesetz, wie er sich in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs bei einzelnen Frauen und Männern herausbildete, trotz schwerwiegender zivilrechtlicher, z.T. auch strafrechtlicher oder militärrechtlicher Folgen, beweist, dass es tatsächlich Menschen gab, für welche allein das “rechte Handeln” zählte, Menschen, die nicht dem Gesetz gehorchten, sondern ihrem persönlichen Urteil (oder, in religiöser Sprache, ihrem Gewissen), es gab sie auch in der Schweiz, selbst wenn sie sich dadurch, wie Hannah Arendt es in ihrem Buch zum Eichmann-Prozess schrieb, “in schreiendem Gegensatz” zu dem standen, “was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten” ([4]) mussten. Ihr aktiver Widerstand gegen das Gesetz war nur denkbar aus der Leidenschaft des politischen Handelns, aus der Sorge um das, was Hannah Arendt das “inter esse”, das verpflichtende, lebendige “Bezugsgeflecht” zwischen Menschen nennt. Es gibt auch heute Menschen, die abgewiesene Asylsuchende bei sich verstecken und ihnen zu falschen Papieren verhelfen, damit sie nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, in denen politische Repression oder Krieg ihr Leben bedrohen. Auch heute gilt dieser Dissens mit dem Gesetz als illegitim, und wer ihn wagt, aus der Leidenschaft des politischen Handelns, muss mit Strafe rechnen. Es ist erstaunlich, dass noch am Ende des 20. Jahrhunderts, in einer Demokratie, wie die Schweiz sie unbestrittenermassen ist, Menschen, die durch “zivilen Ungehorsam” das “rechte Handeln” wählen, es in in Kauf nehmen müssen, vom Gesetzgeber als “Gesetzebrecher und Gesetzesbrecherinnen” in die gleiche Kategorie wie Missetäter versetzt zu werden.

Alle diejenigen, die im Lauf der Geschichte den “zivilen Ungehorsam” wählten und noch immer wählen, bewiesen resp. beweisen, dass das Gesetz höchstens in formaler Hinsicht entlastet, jedoch in moralischer Hinsicht nicht entlasten kann. Was Hannah Arendt im Lauf des Eichmann-Prozesses klar wurde, wussten sie und wissen sie auf Grund der alleinigen Befragung ihrer selbst. Die Ärzte auf Intensivstationen, die nach einem Gesetz rufen, um über Richtlinien des Handelns zu verfügen, die der “einhelligen Meinung” entsprechen, mögen sich daher täuschen, wenn sie meinen, auf diese Weise entlastet zu werden.

Eine Analogie besteht mit dem Gesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, das am 1. Dezember 1994 von der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung angenommen und wenig später in Kraft gesetzt wurde. Die Analogie trifft zum Beispiel hinsichtlich des Anstosses zum Wunsch nach dem Gesetz zu: beide Male handelt es sich um eine Situation der Überforderung, in den Spitälern angesichts der schier unbegrenzten, aber kostenträchtigen Lebensverlängerungstechnologien, beim Zürcher Drogenmarkt angesichts des steigenden Ausmasses an Anarchie, Kriminalität und Gewalt beim Vollzug der Drogenprohibition.

Die Analogie trifft jedoch nicht zu in Hinblick auf die Begleitumstände. Während der Appell der überforderten Ärzte und Ärztinnen wohl höchstens im Bereich der Gesundheitspolitik Wellen schlagen wird, führte der Unmut der in der Zürcher Drogenszene am Letten arbeitenden Polizei sowie der involvierten Untersuchungsbeamten zu einer nationalen, von Rechtsaussen geschürten Welle der Empörung, die – trotz des zweieinhalb Monate vorher angenommenen Anti-Rassismusgesetzes – in massive Xenophobie ausartete, die sich im Plebiszit vom 1. Dezember 1994 kristallisierte, das nun Gesetzescharakter hat, obwohl damit auf massive Weise die Personenrechte von Ausländerinnen und Ausländern verletzt werden. Denn dieses Gesetz, das die Verhaftung und Inhaftierung von Menschen auf blossen Verdacht hin legitimiert, das deren Ausschaffung allein wegen fehlender Papiere vorsieht, verstösst ganz eindeutig gegen übergeordnete menschenrechtliche Prinzipien, gemäss denen die Integrität der menschlichen Person unbesehen von Pass, Herkunft, Hautfarbe etc. garantiert sein muss. Zu befürchten ist, dass ein Land, dessen Bevölkerungsmehrheit ein Unrechtsgesetz für Recht erklärt, in einem gefährlichen Ausmass überhaupt dem Unrecht gegenüber abgestumpft ist.

Die Frage stellt sich, einerseits, was aus dieser Abstumpfung folgt (dazu ist auf die Geschichte zu verweisen), andererseits, was zu tun ist, um die weitere “Ausbreitung der Wüste” zu verhindern und um den anwachsenden Handlungsaporien weder mit Gewalt noch mit der Produktion von überflüssigen oder gar schädlichen Gesetzen zu begegnen, sondern sie durch politisches Handeln und durch Leidenschaft zu öffnen.

Im Rekurs auf Hannah Arendt muss (a) vor allen Bestrebungen gewarnt werden, welche Pluralität auf Einheit reduzieren und welche das Recht auf Dissens beschneiden möchten. Die Warnung ist berechtigt, angesichts der  –  theoretisch und parteienpolitisch – breit vertretenen Forderungen nach Vereinfachung der Komplexität, nach klarer “Identität”, ob personaler, nationaler, ethnischer – was auch immer. “Identität” im Singular gerät unweigerlich zur Hypostase. Was für den einzelnen Menschen gilt, dass er eine Vielzahl von Identitäten vorweg entwickelt und verändert, gilt umso mehr für ein Kollektiv von Menschen, für die Gesellschaft innerhalb eines bestimmten Raumes. Seit den “ethnischen Säuberungen” in ex-Jugoslawien, welche diese “Identität” herzustellen vorgaben, und seit dem Dayton-Abkommen, welches das politische Verbrechen der sog.”Säuberungen” letztlich legalisiert, ist jedoch kaum Zeit vergangen. Diese Verbrechen qualifizieren unsere Zeit insgesamt, ebenso wie die Nazi-Verbrechen die Dreissiger- und Vierzigerjahre kennzeichnen.

Wiederum im Rekurs auf Hannah Arendt muss (b) der Primat des Politischen (und damit der Kultur) vor dem Ökonomischen zurückgewonnen werden. damit nicht Eskapismus, Ängste und Gewalt überhandnehmen, damit Zukunft nicht nur für eine privilegierte Elite, sondern für alle denkbar ist. Das Schwinden dieses Primats ist seit Jahrzehnten zu beklagen. Seit 1989 hat es jedoch exponentiell zugenommen und führt allmählich zur Verwechslung des Staates mit einer Firma. Während die Wirtschaft ihre Entscheide nach genau definierten, zumeist kruzfristigen Zwecken trifft, etwa in Hinblick auf Gewinnsteigerung, Marktexpansion, Kapitalerhöhung etc., und zur Erreichung dieser Zwecke auch Verluste und Verschleiss in Kauf nimmt, ist dem Politischen, gemäss Hannah Arendt, die Zweck-Mittel-Rationalität fremd. Das Politische ist Selbstzweck, da es hier um die Organisation des Zusammenlebens der Menschen in der damit verbundenen Pluralität und Komplexität geht, um das Zusammenleben aller in Freiheit, worunter sowohl das Handeln aus Freiheit wie die verfassungsmässigen und gesetzlichen Garantien und Beschränkungen der Freiheit zu verstehen sind. Das möglichst vielseitige, kreative Aushandeln der Regeln der Machtverteilung und -partizipation, der Integration aller Schichten der Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse bedeutet Kultur. Obwohl Hannah Arendt die Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung der Güter – auch der Bildungsgüter – nicht zum Bereich des Politischen, sondern des Gesellschaftlichen zählt, ist klar, dass Armut, Verelendung und Ausgrenzung das Zusammenleben aller schwächt. Freiheit ist nicht gewährleistet, wenn Menschen um ihre knappe Subsistenz kämpfen müssen, und dies ist heute bei einem zunehmenden Bevölkerungsanteil der Fall.

Damit jedoch Freiheit, die einerseits von Hannah Arendt als Vermögen verstanden wird, andererseits als persönliches Urteilen und als politisches Handeln, resp. als Gebrauch, nicht der “Wüste” anheimfalle, bedarf sie der ständigen Einübung. Dies bedeutet, dass (c) Kinder und junge Menschen in ihrem begründeten Dissens gegenüber Regeln und Vorschriften den gleichen Respekt erfahren wie – nach demokratischen Spielregeln – Bürgerinnen und Bürger, dass Kinder als Rechtssubjekte anerkannt werden. Persönliches Urteilen und politisches Handeln können im Erwachsenenalter nicht ausgeübt werden, wenn nicht eine Einübung vorausgeht. Darunter verstehe ich eine Erziehung zum begründeten Widerspruch. Dass Kindheit und Jugend heute geringgeschätzt werden, dass in den Bereichen der Erziehung und Bildung die Budgets gekürzt, dass Tausende von Lehrstellen gestrichen werden und damit die mögliche Partizipation am pluralen, arbeitsteiligen Zusammenleben zum vornherein verwehrt wird, dass dem hilflosen Aufbegehren junger Menschen mit Polizeirepression begegnet wird, all dies ist in politischer Hinsicht verhängnisvoll. Soll politisches Handeln zwischen Gesetz und persönlichem Urteil nicht zu einem theoretischen Relikt werden, muss Kindern und Jugendlichen ein freiheitliches Einüben in Konsens und Dissens und in das Gespür für das rechte Handeln gewährt werden. Nur so lässt sich verhindern, dass Demokratie zur Bürokratie verkommt, der “jüngsten und vielleicht furchtbarsten Herrschaftsform”, der “Niemandsherrschaft” (4), gemäss Hannah Arendt, da in ihr kein einzelner Mensch mehr für Entscheide, die viele treffen, verantwortlich gemacht werden kann – die Herrschaftsform der “Wüste”.

Zum Glück gibt es dagegen Ansätze des Widerstands und der Erneuerung. Ich weise auf die überall tätigen Basisbewegungen hin, welche die Bedürfnisse nach Freiheit und Partizipation aller – formal – Rechtlosen, Stimmlosen und Ausgegrenzten wahrnehmen, damit diesen “Leidenschaft und politisches Handeln” offenstehen.

 

Anmerkungen:

(1) H.A. Was ist Politik? Hrg. von Ursula Ludz, Verlag  R. Piper, München 1993

(2) H.A. Zur Zeit. Hrg. von Marie Luise Knott. Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Rotbuch Verlag, Berlin 1986

(3) H.A. Eichmann in Jerusalem. Verlag R. Piper, München 1964

(4) H.A. Macht und Gewalt. Verlag R. Piper, München 1981

[1] (geb. 1940) Dr. phil. Philosophie, Psychoanalyse, Traumatherapie

[2] Von Ursula Ludz herausgegeben in “Was ist Politik?”, Verlag R.Piper, München 1993

[3] in H.A. Zur Zeit. Politische Essays. Hrg. Von Marie Luise Knott. Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Rotbuch Verlag, Berlin 1986

[4] s. Eichmann in Jerusalem. Verlag R. Piper, München 1964. Neuausgabe von 1986, S. 22-23

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