Baruch de Spinoza

Baruch de Spinoza

 

„Sollte das höchste Glück vielleicht in Ehre und Reichtümern gelegen sein, so sah ich deutlich, dass ich seiner entbehren müsste. Sollte es aber in ihnen nicht gelegen sein, dann entbehrte ich, wenn ich mich ausschliesslich um diese Dinge bemühte, gleichfalls des höchsten Glücks.“[1]

Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist Baruch de Spinoza‘s[2] Werk und Leben. Von den Voraussetzungen her waren weder Reichtum noch Beziehungen zu Fürstenhäusern oder Kirchen gegeben. Aussenseitertum und Eigenverantwortung waren untereinander verknüpft; gleichzeitig war die Bedeutung verlässlicher Freundschaft unumstritten. Das einzige unter seinem Namen veröffentlichte Buch war eine Auseinandersetzung mit der cartesianischen Erkenntnislehre im Zwiespalt zwischen Naturwissenschaften und Metaphysik – Descartes‘ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit dem Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken[3]. Es erschien 1663 dank der Unterstützung durch einen kleinen Kreis von Freunden – den „Kollegianten“ – in Amsterdam, wo Spinoza 1660 durch das Betreiben der Rabbiner, die ihn infolge seines kritischen Verhaltens aus der sephardischen Gemeinde ausgeschlossen hatten, auch sein Wohnrecht verlor. Für eine Weile setzte er in Rijnsburg bei Leyden sowohl seine Erwerbstätigkeit als Linsenschleifer fort wie den philosophischen Zirkel um Fragen der Erkenntnis und Ethik, der sich in Amsterdam gebildet hatte und in deren Rahmen Spinoza in Rijnsburg, sodann für einige Jahre in Voorburg, nahe bei Den Haag, und ab 1670 in Den Haag selber sowohl den Theologisch-politischen Traktat[4] verfasste, der in jenem Jahr anonym veröffentlicht und vier Jahre später, nach der Ermordung des liberalen Regenten de Witt und der Machtübernahme durch die Oranier, als religionsschädlich erklärt und verboten wurde. In jener Zeit  entstand auch Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt[5], die Spinoza mit Unterstützung durch seine Freunde zu veröffentlichen wünschte, seine Bemühungen jedoch wegen der laufenden Verfehmungen einstellen musste, so dass dieses bedeutende Werk erst in seinem Todesjahr 1677 gedruckt wurde, ohne Angabe des Autors.

Freies Denken – Selberdenken – und eigenständiges Ermessen des Handelns waren erneut ein Wagnis, wie am Beispiel der Ethik deutlich wird.  An Heinrich Oldenburg[6], der nicht zum nahen Freundeskreis des philosophischen Austauschs gehörte, sondern der aus theologischem Interesse mit Spinoza Kontakt aufgenommen hatte, schrieb er im Sommer 1675: „Gerade zu der Zeit, als ich Ihren Brief vom 22. Juli erhielt, bin ich nach Amsterdam gereist in der Absicht, das Buch, von dem ich Ihnen geschrieben habe, dem Druck zu übergeben. Während ich damit beschäftigt war, wurde überall das Gerücht ausgesprengt, es sei ein Buch von mir über Gott unter der Presse, in dem ich zu beweisen suche, dass es keinen Gott gebe, ein Gerücht, das bei vielen Leuten Eingang fand. Daraus nahmen einige Theologen (vielleicht die Urheber des Gerüchts) Gelegenheit, mich beim Prinzen und bei den Behörden zu verklagen; ausserdem hörten dumme Cartesianer, die in dem Verdacht standen, mir günstig gesinnt zu sein, um diesen Verdacht von sich abzuwenden nicht auf, meine Meinungen und Schriften überall zu beschimpfen, und noch jetzt hören sie damit nicht auf. Als ich das von einigen glaubwürdigen Leuten erfahren hatte, die mir zugleich versicherten, dass die Theologen mir überall nachstellten, da entschloss ich mich, die vorbereitete Ausgabe einstweilen zu verschieben, bis ich sehen würde, wie die Sache ausginge, und nahm mir vor, Ihnen alsdann meinen Entschluss mitzuteilen. Die Sache scheint aber von Tag zu Tag eine schlimmere Wendung zu nehmen, und ich bin im Ungewissen, was ich dabei tun soll.“ [7]

Mehrere weitere Werke Spinozas blieben unter den Bedingungen der persönlichen Gefährdung  unvollendet, wurden jedoch später publiziert[8], auch eine grosse Anzahl von Briefen, unter denen jener an Heinrich Oldenburg deutlich werden lässt, wie Spinoza die belastenden Lebensbedingungen thematisierte, während er mit anderen Briefpartnern seine philosophische Arbeit vertiefte oder fortsetzte.

Das heftige Interesse, das Spinozas Denken weckte, war letztlich nur von Seiten des kleinen Kreises wohlwollend, der sich aus den ursprünglichen sechs Amsterdamer Freunden zusammensetzte und kaum erweitert wurde. Unter den vielen, die sich zusätzlich aufdrängten, um auf Grund von Gerüchten oder infolge teilweiser Lektüre von Texte einen Zugang zu Spinoza selber und zu dessen unveröffentlichten Schriften zu finden, war das Hauptmotiv eine negative, oft feindselige Neugierde. Dies trifft unter vielen anderen auch auf Gottfried Wilhelm Leibniz[9] zu, der als Lutheraner mit einem grossen Bildungspaket in Theologie, Philosophie, Natur- und Rechtswissenschaft zum katholischen Milieu des Kurfürsten von Mainz Zugang gefunden hatte und als Rat an dessen Revisionsgericht tätig war. Irgendwie hatte er Einblick in den anonym erschienenen und wenig später verbotenen Theologisch-politischen Traktat finden können und sprach darüber als über „eine bis zur Unerträglichkeit freche Schrift“, ja „ein entsetzliches Buch“. Über die Autorschaft hatte ihn der Rhetoriker Johan Georg Graevius aufgeklärt, der sich bei Spinoza wie ein philosophisch Interessierter  eingenistet hatte und gleichzeitig einer seiner heimtückischsten Gegner war, ein Freund des calvinistischen Theologen Christoph Wittich, der Descartes‘ Philosophie mit der Theologie zu verknüpfen suchte und gleichzeitig eine Abhandlung mit dem Titel  Anti-Spinoza schrieb, die 1690 durch seinen Bruder veröffentlicht wurde. Leibniz, der sich immer wieder in Paris aufhielt – das erste Mal 1671 mit dem Auftrag, König Louis XIV von dessen innereuropäischen Kriegsplänen abzulenken und ihn zu einem Feldzug gegen Ägypten zu überreden – und dort 1675 zufällig einen der Freunde Spinozas traf, mit dem das Gespräch auf  die Ethik kam. Auf die an Spinoza gerichtete Anfrage, dem „deutschen Ratsherrn“ eine Abschrift auszuhändigen, wollte er nicht eingehen, worauf Leibnizens Neugier noch mehr geweckt wurde. Auf der Rückreise von Paris nach Deutschland machte er Halt in Den Haag und liess ich bei Spinoza vorstellen. Dieser war schon sehr geschwächt – vier Monate später starb er -, doch trotz des schlechten  Gesundheitszustandes gewährte er Leibniz mehrere Gespräche. Dieser muss vom ungewöhnlichen Denker sehr beeindruckt gewesen sein, doch „nach dessen Tod war er einer der ersten, die jeden ernsthaften Kontakt mit dem Ruchlosen leugnete; nur einmal wollte er ihn im Haus eines Haager Regenten bei Tisch getroffen haben, (…) und je mehr Jahre seit den Gesprächen vergingen, desto gehässiger wurde sein Urteil über den abtrünnigen Juden aus Holland.“[10]

Als 1710 mit Leibnizens Traité de Théodicée[11] eine zugleich lutheranisch-deterministische und aufklärerisch- freiheitliche Deklaration der „besten aller Welten“ erschien, die als Schöpfungsresultat der Vollkommenheit Gottes jedoch nicht vollkommen, sondern nur unvollkommen sein kann, d.h. von dreifachem Übel gekennzeichnet ist –  vom „malum metaphysicum“ der durch die Schöpfung erfolgten Trennung von Gott, das mit dem „malum physicum“ der menschlichen Körperlichkeit und Zeitlichkeit einhergeht, mit dem vielfältigen Leiden, das für Leibniz notwendig ist, um die Menschen zum Streben nach dem Guten zu drängen, und gleichzeitig mit dem „malum morale“, das sich der Mensch selber schafft, indem er das Streben nach dem Guten ablehnt und sündigt -, da muss Spinozas Ethik als Alternative sehr präsent gewesen sein, vielleicht weil dieses Werk seit Jahrzenten als verbotene Ressource in der Auseinandersetzung mit dem Zwiespalt zwischen Freiheit und „menschlicher Knechtschaft“[12], wie Spinoza „die Kräfte der Affekte“ nannte, provozierte und gleichzeitig stärkend zur Verfügung stand.

Die Frage stellt sich, wie sich die enorme Feindseligkeit erklärt, der Spinoza zu seiner Lebenszeit ausgesetzt war. Zum Teil hat ohne Zweifel eine anti-jüdische Grundhaltung mitgewirkt, doch ebenso mag die Offenheit seines Gottesbildes Ursache gewesen sein, eines von der Starrheit der Religionen befreites, pantheistisches Gottesbild, das sich allein auf die Vollkommenheit und Zeitlosigkeit der Naturgesetze im unablässigen Werden und Sein – „natura naturans“ und „natura naturata“ – und nicht auf die Bibel mit den menschlich geschaffenen Gottbildern bezog, durch welche die jüdische wie die christlichen Religionen geprägt wurden. Zusätzlich mag die im Theologisch-politischen Traktat, in der Ethik wie in der Abhandlung vom Staat entwickelte Lehre von der Natur des Menschen, von der Willensfreiheit und von der urteilsfreien Auseinandersetzung mit den Affekten, ferner von den Formen der staatlichen Rechtsgemeinschaft so ungewöhnlich gewesen sein, dass sie grosse Unruhe bewirkte. Spinozas Denken ging um viele Jahrzehnte dem voraus, was in der Zeit selber als „Aufklärung“ bezeichnet wurde.

Gerade was das Staatswesen betrifft, formulierte Spinoza schon im Tractatus ethische Grundsätze demokratischer Rechtsordnung und Gerechtigkeit, die damals einer Sehnsucht entsprachen, aber  nirgendwo der Realität, und die heute noch von zentraler Bedeutung sind. Allerdings sprach sich Spinoza klar gegen jede Art von Utopie aus. Was er an ethischen Kriterien festhielt, sollte sich nicht im „Nirgendwo“ (gr. „u-topos“, kein Ort) angesiedelt finden wie in Thomas Morus Utopia[13], sondern sollte ein realisierbarer Entwurf demokratisch geregelten menschlichen Zusammenlebens sein. „Der letzte Zweck des Staates ist nicht zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher wie möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder zu Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“[14]

Unbestrittenermassen bedurfte, gemäss Spinoza,  das Zusammenleben der Menschen der staatlichen Gesetze, die die Handlungsmöglichkeiten zu Gunsten der Gesamtheit nach Kriterien der Gerechtigkeit  einschränkten und die von jedem Einzelnen gleichermassen zu beachten waren, da allen auch die gleichen Rechte zustanden und jede Ausnahme die Möglichkeit eines Schadens nach sich zog. „Denn die Menschen werden nicht als Staatsbürger geboren, sie werden erst dazu gemacht. Die natürlichen Affekte der Menschen sind zudem überall dieselben. Wenn daher in einem Staat die Schlechtigkeit mehr herrscht und mehr Verbrechen begangen werden als in einem anderen, so kommt das sicher daher, dass dieser Staat nicht genügend für die Eintracht gesorgt hat, dass er seine Rechte nicht weise genug angeordnet hat, dass er folglich kein vollkommenes Staatsrecht erhalten hat. Denn ein Staatsleben, aus dem die Ursachen von Empörungen nicht verbannt sind, in dem beständig Krieg zu befürchten ist und in dem endlich die Gesetze oft verletzt werden, ist nicht viel vom eigentlichen Naturzustande verschieden, wo jeder Einzelne nach seinem Sinne lebt und unter grosser Gefahr für sein Leben.“[15]

Von entscheidender Bedeutung war für Spinoza, dass kein Gesetz das Denken einschränken durfte; die Gedankenfreiheit war nach seinem Ermessen von höchstem Wert. „Darum wird diejenige Regierung die gewalttätigste sein, unter der einem jeden die Freiheit zu sagen und zu lehren, was er denkt, verweigert wird, und diejenige dagegen gemässigt, die diese Freiheit jedem zugesteht.“[16] Die Gedankenfreiheit  schloss für Spinoza selbst ein kritisches Verhältnis zu Gesetzen ein. Falls „jemand nachweist, dass ein Gesetz der gesunden Vernunft widerstreitet und deshalb für seine Abschaffung eintritt, so erwirbt er sich ganz gewiss ein Verdienst um den Staat als einer seiner besten Bürger“[17]. Es wäre kein grösseres Unglück für einen Staat denkbar als das Gegenteil, das heisst, wenn Menschen, bloss weil sie eine andere Meinung haben und nicht zu heucheln verstehen, wie Verbrecher des Landes verwiesen oder eingekerkert und gar zum Tod verurteilt würden.

Für Spinoza ermöglichte die „gesunde Vernunft“ wohl Kriterien für Recht und Unrecht, doch gleichzeitig war er sich der Macht der menschlichen Affekte bewusst, die im Widerspruch zur Vernunft sein können. „Die Affekte, mit denen wir zu kämpfen haben, werden von den Philosophen als Fehler angesehen, in welche die Menschen durch eigene Schuld verfallen. Daher pflegen sie sie zu belachen, zu beweinen, zu tadeln oder, mit noch grösserer Scheinheiligkeit, zu verabscheuen. Damit glauben sie nämlich etwas Erhabenes getan und den Gipfel der Weisheit erreicht zu haben, wenn sie die menschliche Natur, wie sie nirgends existiert, auf alle Weise loben, dagegen wie sie wirklich ist, herunter zu reden verstehen. Sie nehmen ja die Menschen nicht, wie sie sind, sondern wie sie sie haben möchten, und so ist es gekommen, dass sie meistens statt einer Ethik eine Satire geschrieben und niemals eine brauchbare Staatslehre entworfen haben, immer nur eine, die als Chimäre gelten muss oder die man nur in Utopien oder im goldenen Zeitalter der Dichter, wo sie am wenigsten nötig wäre, in die Wirklichkeit hätte umsetzen können.“[18]Seines Erachtens ist es dringlich, die Affekte ernst zu nehmen, sie zu erfassen und zu verstehen, sie zu akzeptieren oder sie so zu beeinflussen, dass sie nicht zum Schaden gereichen, unabhängig von der Rangordnung der Affekte, als deren mächtigsten er die Begierde erachtet, „die Begierde“ als „des Menschen Wesenheit selbst (…).  Hier verstehe ich unter dem Wort Begierde jedes Streben, jeden Drang, jeden Trieb, jede Wollung, die je nach dem Zustand des selben  Menschen verschieden und nicht selten einander dergestalt entgegengesetzt sind, dass der Mensch nach verschiedenen Richtungen hingezogen wird und nicht weiss, wohin er sich wenden soll.“[19]

Es bedarf gemäss Spinoza nicht der Verurteilung der Affekte, sondern der Einsicht in die richtige Lenkung. Wer klein beigibt, entmündigt sich selber. „Die menschliche Ohnmacht, die Affekte zu meistern und zu hemmen, nenne ich Knechtschaft“.[20] Diese Form der „menschlichen Knechtschaft“, die von Einzelnen und von Vielen infolge von Kleinmut selber geschaffen werde, könne nur durch Einsicht sowie durch Übung und Mühe gelöst werden, durch fortgesetzte Stärkung im Umsetzen der Vernunft, letztlich in Hinblick auf ein „glückseliges Leben“, in welchem die dem Menschen zustehende Freiheit gelebt werden kann.

Dabei ging Spinoza offen eine kritische Auseinandersetzung mit Descartes‘ Leidenschaften der Seele ein, insbesondere mit Descartes‘ Annahme, dass dank der in der Mitte des Gehirns angelegten Zirbeldrüse der Kampf der Seele gegen die von körperlichen Kräften verursachten Affekte gelinge. Spinoza erachtete diese Erklärung als ziemlich leichtfertiges Konstrukt, das sich weder beweisen lasse noch viel Sinn mache.

Ob Spinoza auch Kenntnis hatte von Etienne de la Boëtie’s „Discours de la servitude volontaire“[21], der nach dessen Tod 1563 von Michel de Montaigne aufbewahrt wurde und sich in mehreren privaten Abschriften verbreitete, bis 1574 erstmals ein Teil davon gedruckt werden konnte,  lässt sich nicht belegen. Es waren unterschiedliche Erfahrungen und Zielsetzungen, die bei Etienne de la Boëtie und bei Spinoza Anlass gaben, den Ursachen der menschlichen Unfreiheit nachzugehen, doch es findet sich eine gedankliche Verwandtschaft, die verblüfft. Auch Etienne de la Boëtie hielt fest, er glaube nicht fehlzugehen mit der Behauptung, „dass in unsrer Seele ein natürlicher Keim der Vernunft liegt, der durch guten Rat und Umgang gehegt wird, so dass er zu voller Kraft erblüht, und der umgekehrt, wenn er sich gegen die wuchernden Laster nicht halten kann, erstickt oder abstirbt. (…) So besteht kein Zweifel, dass wir von Natur aus alle frei sind, (…) und keinem kann es in den Sinn kommen, dass die Natur auch nur einen in die Knechtschaft versetzt hätte, da sie uns doch alle in Gesellschaft brachte. Aber in Wahrheit ist es ganz nichtig zu erörtern, ob die Natur natürlich sei, da man ja niemanden in Knechtschaft halten kann, ohne ihm Unrecht zu tun, und da nichts auf de Welt so gegen die von Grund aus vernünftige Natur ist wie das Unrecht.“[22] Das Verhängnis sei, dass, wer nur Unrecht gekannt habe, ja wer von der Erziehung her sich daran gewöhnt habe, sich kaum darüber beklagen noch sich dagegen zur Wehr setzen könne. „Immer wenn ich diese Kerle sehe, die den Tyrannen anhimmeln, um aus seinem Unrecht und aus der Unterdrückung des Volkes Gewinn zu ziehen, muss ich staunen über ihre Schlechtigkeit, und manchmal bekomme ich auch Mitleid mit ihrer Dummheit. (…) Sie müssen nicht nur tun, was er sagt, sondern denken, was er will und oft noch seinen Gedanken zuvorkommen, um ihn zu befriedigen, (…) sein Vergnügen für das ihre halten, den eigenen Geschmack um seinetwillen aufgeben, ihren Charakter verändern und ihre Natur verleugnen. Heisst das wohl glücklich leben? Heisst das leben?[23]

Für Etienne de la Boëtie war klar, dass „wer philosophiert, mit seiner Zeit nicht einig sein kann“[24], d.h. wer die Zeitgeschehnisse kritisch betrachtet, jede Art von Machtmissbrauch erkennt, hinterfragt und zu korrigieren trachtet. Menschliche Erniedrigung und Entwürdigung können nie gerechtfertigt werden; kein Unrecht lässt sich mildern, ob die politischen Umstände, unter denen es geschieht, auf Grund eines „durch Usurpation oder Erbfolge oder gar durch die Wahl des Volkes zur Macht gelangten Tyrannen“ geschieht[25]. Für Etienne de la Boëtie stand fest, dass Unrecht sich nie legitimieren lässt, gleichzeitig, dass, wenn kein Aufbegehren dagegen geschieht, das Urteilsvermögen der Menschen in einem Volk „durch Gewohnheit verkümmert ist. (…) Wer die Gewalt duldet, ohne ihr zu widerstehen, ist krank. Wer diese Gewalt billigt oder an ihr teilhat, ist rettungslos krank.“[26]

Es war unbestreitbar für diesen jungen Denker, dass sich aus der Ansammlung von Menschen, die sich „der Grausamkeit, der Treulosigkeit und der Ungerechtigkeit“ unterwerfen, dass sich daraus „nicht eine Gemeinschaft bilden kann, sondern eine Rotte; statt Liebe verbindet sie die Furcht vor einander und sie werden nicht Freunde, sondern Spiessgesellen. (…) Freundschaft dagegen klingt nicht nur heilig, sie ist es auch; sie entsteht nur zwischen guten Menschen und gründet sich auf gegenseitige Achtung. Man erhält sie weniger durch Wohltaten als durch ein rechtschaffenes Leben. Ein Freund ist des anderen gewiss, weil er seine Redlichkeit kennt: deren Bürgen sind sein guter Charakter, seine Treue und seine Zuverlässigkeit.“[27] Was Etienne de la Boëtie selber als höchsten Wert erachtete, wollte er weiter vermitteln. „Lernen wir doch einmal, lernen wir recht zu handeln!“[28], rief er auf. Gibt es Entscheidenderes als zu lernen, Widerstand gegen jeglichen Missbrauch von Macht zu wagen und Vertrauen in das eigene Gewissen, somit in das eigene Handeln zu gewinnen, letztlich frei zu werden von Knechtschaft?

 

[1] Baruch de Spinoza. Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Lateinisch-deutsch. 1993 Hamburg, Felix Meiner Verlag. S.7.

[2] Baruch (Bento Espinosa resp. Benedictus) de Spinoza (geb. 1632 – gest. 1677), portugiesisch-sephardischer Herkunft, dessen Eltern nach den Niederlanden geflohen waren, um dem Zwang zur Taufe zu entkommen. Seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt war an „Schwindsucht“ resp. an Tuberkulose (auch Spinoza wird an Tuberkulose sterben, die bei ihm schon im frühen Erwachsenenalter austrat); sein Vater, der nochmals geheiratet hatte, starb, als er 17 Jahre alt. Damals musste Spinoza mit seinem Bruder Gabriel das Handelsgeschäft des Vaters übernehmen, aus dem er jedoch so bald wie möglich wieder ausstieg, sich den  Lebensunterhalt durch Linsenschleifen ermöglichte und seine Energie auf die philosophische Arbeit konzentrierte.

[3] Baruch de Spinoza. Descartes‘ PrInzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit dem Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken. Übersetzung von Arthur Buchenau. Einleitung und Anmerkungen von Wolfgang Bartuschat. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1978

[4] Baruch de Spinoza. Theologisch-Politischer Traktat. Auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Günther Gawlick. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1976.

[5] Baruch de Spinoza. Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Otto Baensch. Einleitung von Rudolf Schottländer. Felix Meiner Verlag, Hamburg

[6] Heinrich Oldenburg (geb. ca. 1615 – gest. 1677), ein Bremer Theologe, der 1661 den in Leyden lebenden eigenwilligen Kollegen Johann Koch besuchte (Coccejus, dessen Schüler Burman für Descartes von Bedeutung war), dabei von Spinoza erfuhr und mit ihm Kontakt aufnahm, später u.a. in Zusammenhang des Kriegs zwischen England und Holland als Vermittler eingesetzt wurde und den Briefaustausch zwischen Spinoza und Robert Boyle vermittelte, diesem von Francis Bacon  beeinflussten Naturwissenschaftler, der zum Begründer der Royal Society wurde.

[7] Baruch de Spinoza. Briefwechsel. Übersetzung und Anmerkungen von Carl Gebhardt. Zweite, durch weitere Briefe ergänzte Auflage mit Einleitung und Bibliographie von Manfred Walther. Felix Meiner-Verlag, Hamburg 1877. 68. Brief an Heinrich Oldenburg. S. 267

[8] u.a. Baruch de Spinoza. Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. – Tractatus de intellectus emendatione. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Lateinisch-deutsch. Felix Meiner-Verlag, Hamburg 1993. (Eine Erstausgabe erfolgte 1871).- Eine Herausgabe der gleichen Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes enthält gleichzeitig die Abhandlung vom Staate. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Carl Gebhardt. Einleitung von Klaus Hammacher. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1977

[9] Gottfried Wilhelm Leibniz (geb. 1646 – gest. 171)

[10] Manfred Walther. Einleitung zu Baruch de Spinoza. Briefwechsel. Hamburg 1977. S. XXXIX-XL

[11] cf. eingehende Erläuterungen: Hans-Gerd Janssen. Gott-Freiheit-Leid. Das Theodizee-Problem in der Philosophie der Neuzeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989

[12] Baruch de Spinoza. Die Ethik. Hamburg 1976. V. Teil. S. 262 ff.

[13] Thomas Morus. Utopia, 1516 von seinem Freund Erasmus von Rotterdam im niederländischen (heute belgischen) Leuven publiziert, 1518 in Basel, ein Dialog über eine  fern jeder anderen Zivilisation befindliche  Insel, auf der ideale Menschen ohne Privatbesitz und ohne Konflikt ein ideales Leben leben – Für Thomas Morus wiederum hatte Erasmus von Rotterdam 1509 Das Lob der Torheit verfasst, keine Utopie, sondern eine Satire über die Macht der Dummheit – stultitia -, die gemeinsam mit ihren Töchtern – vanitas, luxuria, acedia und weiteren – sowohl die Könige und Fürsten, die Theologen und Mönche wie die Philosophen an ihrem Gängelband führt.

[14] Baruch de Spinoza. Theologisch-politischer Traktat. Hamburg 1976. S. 301

[15] Baruch de Spinoza. Abhandlung vom Staat. In: Abhandlung von der Verbesserung des Verstandes. Hamburg 1977. S.88

[16] Baruch de Spinoza. Theologisch-politischer Traktat. Hamburg 1976. S. 301

[17] Baruch de Spinoza. Theologisch-politischer Traktat. Hamburg 1976. S. 302

[18] Baruch de Spinoza. Abhandlung vom Staate. Erstes Kapitel, §1. In: Abhandlung von der Verbesserung des Verstandes. Hamburg 1977. S. 55

[19] Baruch de Spinoza. Die Ethik. Hamburg 1976. S. 167-168

[20] Baruch de Spinoza. Die Ethik. Hamburg 1976. S. 186

[21] Etienne de la Boëtie (geb. 1530 – gest. 1563) hatte 1559 als Student der Rechte an der Universität Orléans erlebt, wie sein Lehrer Anne de Bourg, der zugleich Parlamentsrat war, wegen der Kritik an der Verfolgung und öffentlichen Verbrennung von Hugenotten selber gefangen genommen und hingerichtet wurde. Das muss ihn zu seiner kritischen Abhandlung über Die Freiwillige Knechtschaft veranlasst haben, die mit dem mangelnden Widerstand der Menschen gegen jegliche Macht und Herrschaft einhergeht, die nicht dem menschlichen Wohlbefinden, sondern der Willkür der Herrscher dient. Michel de Montaigne hatte die Veröffentlichung angestrebt, doch wegen der wachsenden innerfranzösischen Gewaltzustände war ein Aufschub erfordert. Der erste Teildruck erschien in Paris 1574; die erste deutsche Übersetzung 1593. – cf.  Discours de la servitude volontaire, Edition Mille et une nuits, Paris 1997. – Von der freiwilligen Knechtschaft. Unter Mitwirkung von Neithard Bulst, übersetzt und herausgegeben von Horst Günther. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 1980

[22] Etienne de la Boëtie. Von der freiwilligen Knechtschaft. Frankfurt am Main 1980. S. 49

[23] Etienne de la Boëtie. 1980. S. 85

[24] Etienne de la Boëtie 1980, 17

[25] Etienne de la Boëtie 1980, 19

[26] Etienne de la Boëtie 1980, 18-19

[27] Etienne de la Boëtie. Frankfurt am Main 1980. S. 91

[28] Etienne de la Boëtie. Frankfurt am Main 1980. S. 95

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