Aufmerksamkeit auf Grenzen

Aufmerksamkeit auf Grenzen

Ergänzung zu Vorlesung 3

Philosophisches Wochenende, Lübeck 19. – 21. September 2008

 

Diesseits und jenseits der Grenzen – Körper und Psyche (individuelle Grenzen, individuelle Norm und „Normalität“) – Identität und Differenz (Sicherheit als Bedürfnis und als Konstrukt) – Familie, Herkunftsgeschichte und Gesellschaft – Zeit und Zeitlichkeit (kapitalisierte Kosten-Nutzen-Definition der Zeit) – Staat und Nation (Mangel der transnationalen Garantien menschlicher Würde) – Grundbedürfnis nach Respekt

Jede Grenze ist gekennzeichnet durch ein Diesseits und ein Jenseits oder durch ein Drinnen und Draussen. Die erste Grenze und damit die erste Abgrenzung, die wir erleben, ist unser Körper, ist die Haut, die ihn umspannt. Sie erlaubt die erste Wahrnehmung des umgrenzten Eigenen, des vom nicht-eigenen Anderen Getrennten. Der Blick der Mutter und ihre aufmerksame, umfangende Berührung gibt dem Kind das Wissen um seine eigenen Grenzen, gibt ihm die Anerkennung seiner eigenen, fortan von der symbiotischen Wärme des mütterlichen Körperinnenraum getrennten Individualität – seiner in sich geschlossenen „Unteilbarkeit“ (in-dividere). Und der Name, mit dem sie das Kind empfängt, gibt ihm seine Erkennbarkeit in der Welt.

Gleichzeitig mit der Anerkennung der unaustauschbaren Individualität des Kindes durch die Namengebung geht die erste traumatische Erfahrung des Verlust primärer Sicherheit einher, des Verlusts der symbiotischen Geborgenheit im unabgegrenzten Innenraum der Mutter. Das unabtrennbare Zugleich von angstvollem Schrecken und von Individualitätsgewinn, das bei der Geburt den Freiheitsimpuls des lebensfähigen Kindes nicht nur zur eigenen Körperhaftigkeit, sondern zur eigenen Geschichte kennzeichnet, beeinflusst im innerpsychischen Raum zutiefst dessen Ichwerdung, je nachdem, wie sehr das Kind sich dabei „gehalten“ oder alleingelassen fühlt. Diese erste Erfahrung prägt sein sicheres oder sein unsicheres inneres Wissen um sein Ich und sein Selbst, um die Qualität seines unaustauschbaren Selbstwerts. Und es ist diese im Unbewussten gespeicherte Erfahrung einer guten und stärkenden Abgrenzung oder einer nur schmerzlichen und frustrierenden, die aus den frühesten Beziehungen zur Mutter oder zu einem Mutterersatzobjekt erwächst, die gewissermassen alle nachfolgenden Beziehungen konditioniert, insbesondere jene zum Vater oder zu einem väterlichen Ersatzobjekt. Und ganz früh schon entstehen daraus die bestimmenden Grundgefühle von Sicherheit und Vertrauen, oder von Angst, Verlassenheit und Selbstablehnung, die später wie eine psychische Grundstimmung ständig spürbar sein werden.

Psyche und Körper, Innen und Aussen, bieten dem Kind nicht nur die ersten Grenzen und Grenzerfahrungen, sondern prägen als nicht wählbare Voraussetzung das ganze Leben sowohl die genetisch codierten und vererbten Eigenschaften – etwa Körpergrösse und -gestalt, Augenfarbe, Haar- und Hautfarbe, praktisch alle Körpereigenschaften – wie das im Unbewussten gespeicherte relationale Individuelle. Doch ein Teil dieser Grenzen ist nicht starr und unverrückbar, sondern ist unterschiedlich veränderbar. Dies gilt insbesondere im innerpsychischen Raum, zu welchem nicht nur die emotionalen, sondern auch die rationalen und intellektuellen Fähigkeiten zählen. Sie sind veränderbar durch Lernen, durch neue Erfahrungen, sowohl im Beziehungsgeschehen wie im Weltbezug, etwa durch realitätsschaffenden Widerstand wie durch unterstützendes und stärkendes Verstehen, vor allem durch die Erfahrung des Angenommenseins; andererseits durch Enttäuschung und Entmutigung, durch Beziehungsverluste und durch lebensbedrohende Traumatisierungen. Dass nicht nur im psychischen, sondern auch im körperlichen Prozess Grenzveränderungen stattfinden, durch Wachsen, durch Älter- und Stärkerwerden, umgekehrt durch Krankheiten, durch den Verlust oder die Einbusse körperlicher Fähigkeiten, durch Abbau und Schwäche, aber auch durch korrigierende medizinische Hilfe, das muss nicht näher erläutert werden.

Die körperlichen und psychischen Grenzen haben in erster Linie Schutzfunktionen. Sie schützen – de-finieren (lat  finis die Grenze) – das, was die persönliche Norm, das persönliche Mass (lat, norma das Mass, das Winkelmass, die Richtschnur) des einzelnen Menschen ist, seine individuelle „Normalität“. (Dass der Begriff „Normlität“ sowohl im wissenschaftlichen wie im alltäglichen Gebrauch sich nicht auf die individuelle Norm bezieht, sondern ein statistisches Durchschnittsmass der Unauffälligkeit bezeichnet, scheint mir verhängnisvoll zu sein und jener Gleichschaltung von Menschen mit Fabrikaten Vorschub zu leisten, die mit den neuen microbiologischen und medizinischen Technologien zunehmend bedrohlicher wird). Dass unsere Grenzen in erster Linie Schutzfunktionen haben, spüren wir selber deutlich, von der frühen Kindheit an, als warnende innere Stimme, als Gefühl der Scham, der Angst, der Vorsicht und des Misstrauen, kurz des Widerstandes, oder da, wo sie ausgeweitet werden dürfen, als Lust und Neugier, als Tatendrang und als Mut, vor allem als Bewusstsein um unsere Fähigkeiten. Wie wichtig der Respekt der Grenzen ist, zeigt sich bei deren Verletzung und Überschreitung. Denn was wir als Leiden erfahren, ist die von Aussen oder von innen zugefügte Verletzung oder die mutwillige, rücksichtslose, schlecht vorbereitete oder gar unbefugte Nichtbeachtung oder Überschreitung der Grenzen.

Ich will mit einer knappen Geschichte schildern, was ich mit diesen theoretischen  Ausführungen meine. Eine junge Frau meldete sich vor einigen Wochen zu einer Abklärung an, 23 Jahre alt, kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung als Sonderpädagogin, die zweite und jüngste Tochter eines Ehepaars, das seit der Geburt der Kinder an vielen Orten in der Welt gelebt hatte. Was sofort auffiel, war die körperliche Gestalt der jungen Frau, eine mit Kleidern kaum eingrenzbare Körperfülle und eine nach vorn geneigte, sich beschämt einkrümmende Körperhaltung, im fast konturenlosen Gesicht wache und zugleich ängstliche Augen hinter einer eng anliegenden, nickelgefassten Brille sowie ein kindlich wirkender Mund mit einem schnell bereiten scheuen Lächeln. Als ich sie auf ihren – eher seltenen – Namen ansprach, antwortete sie sofort, der Name sei für sie ein Problem, sie habe ihn nie gemocht, aber sie habe sich nun ein Buch gekauft, in welchem die Bedeutung aller Namen aufgezeichnet sei, und zu ihrer Überraschung habe sie festgestellt, dass viele Eigenschaften, die ihrem Namen zugesprochen würden, mit ihren Eigenschaften übereinstimmten. Darauf sagte ich vorsichtig, dass sie also auf dem Weg sei, ihren Namen zu akzeptieren? Ob sie mit dem Namen vielleicht auch einen Weg sehe, sich selber zu akzeptieren? Sie errötete, die Augen hinter Brillengläsern füllten sich mit Tränen, und nicht nur der Blick, die ganze Gestalt schien sich aufzulösen, und sie sagte leise, dahin sei es noch weit. Allmählich erfuhr ich, dass der Vater der jungen Frau sein ganzes Erwachsenenleben als Ingenieur und Bauführer auf Risikobaustellen – Kraftwerkbau, Erdgasförderanlagen und ähnliches – in verschiedenen Ländern Afrikas und Asiens gearbeitet hatte; er steht heute kurz vor der Pensionierung. Die Mutter starb vor acht Jahren, als C. 14 Jahre alt war, an Krebs, nach einer – ebenfalls – achtjährigen Krankheitsdauer. Bei der Geburt des Kindes, das von beiden Elternteilen sehr herbeigewünscht worden war, zeigte sich allerdings, dass das Kind nicht als Mädchen, sondern als Knabe erwartet worden war, und zwar so zweifelsfrei, dass die Eltern für das neugeborene Mädchen keinen Namen vorbereitet hatten, und das Neugeborene in der Folge während mehreren Tagen ohne Namen war. Schliesslich gab eine Nonne, die im Spital als Säuglingsschwester arbeitete, der Mutter einen Kalender in die Hand und hielt sie an, für das Kind einen Namen zu wählen.

Das Grundleiden der jungen Frau ist, in ihrer eigenen Persönlichkeit nicht benannt, nicht anerkannt, nicht „definiert“ worden zu sein, wie ein Niemandsland mit ungesicherten Grenzen und dadurch mit völlig unsicherem Eigenmass, mit einer ungesicherten eigenen Norm, mit einer dadurch gefährdeten und prekären eigenen „Normalität“. Ihr Grundleiden ist ein Hungerleiden, psychisch und körperlich, eine unstillbare und entgrenzte Sehnsucht danach, komplett zu sein: ausgefüllt und dadurch abgegrenzt, in dieser Abgrenzung spürbar in sich selber sicher zu sein. All dies blieb ihr verwehrt, obwohl ihre Eltern, wie sie selber sagt, sie liebten, obwohl auch nach dem Tod der Mutter ihr Vater sie nie im Stich liess. Täglich rufe sie ihn an, und alles, was sie brauche, Rat und Geld und Unterstützung erhalte sie von ihm. Die Frage,die sich erst im Lauf einer sorfältigen Therapie würde klären können, ist, ob das Übermass an Zuwendung und Fürsorge, das der Vater ihr entgegenbringt, nicht aus der Hilflosigkeit des Mitleids erwächst, das wiederum bewirkt, dass ihr jene Nahrung, nach der sie hungert, vorenthalten bleibt: die Möglichkeit der Eigendefinition, die, weil sie Abgrenzung bedeutet, auch die Trennung (vom mütterlich Symbiotischen) anerkennen können müsste, sodann den Widerstand als Realitätserfahrung, weil sonst die entgrenzte, nie stillbare Leere – die persönliche Undefiniertheit – anhält und immer bedrohlicher wird, auch wenn sie auf untaugliche Weise mit zu grossen Mengen von Essen und Trinken zu füllen gesucht wird.

Was sich in der psychoanalytischen Klärung von „Grenze“ und „Grenzen“ anzeigt, bestätigt sich in allen weiteren Zusammenhängen der einzelnen Existenz wie des Zusammenlebens der Menschen, die je individuell die eben geschilderten Primärprozesse der Abgrenzung erleben, die aber in ihren Zusammenschlüssen, als Kollektive, wiederum das Bedürfnis nach grösseren Abgrenzungen – und dadurch nach Ausgrenzungen – haben. Interessant ist festzustellen, dass sich sofort, wenn von „Grenzen“ die Rede ist, eine wachere Aufmerksamkeit einstellt, dass anscheinend nichts, was mit „Grenzen“ zu tun  hat, trivial ist. Wenn wir uns selber sagen hören, dasss wir „an unsere Grenzen stossen“, oder dass wir uns „grenzenlos ärgern“, oder dass wir uns „ausgegrenzt fühlen“, aber auch, wenn wir lesen, dass ein Land seine Grenzen für die aus einem Nachbarland Vertriebenen geschlossen hat, oder dass die Schweiz ihre Grenzen vor Asylsuchenden durch engere Überwachung und durch Verschärfung von Gesetzen zu sichern gedenkt, so wird immer etwas Empfindliches in unserer inneren Wahrnehmung gestreift, das auf unausgesprochene Weise um die Bedeutung von Grenzen weiss.

Ich möchte von Innen nach Aussen vorrücken, im Folgenden nun auf die alltägliche Auseinandersetzung mit Grenzen zu sprechen kommen, um anschliessend in einem dritten Teil die Frage der Ausgrenzung und damit der Definitionsmacht – der Grenzsetzungsmacht – zu thematisieren.

Eingangs sagte ich, dass Grenzen immer ein Diesseits und ein Jenseits haben, ob sie fliessend seien, wie hier in Europa die Dämmerung, der Übergang  zwischen Tag und Nacht, oder ob sie Abbruchkanten sein, eine Linie vor dem Abgrund.  Wir kennen im Alltäglichen eine Vielzahl von Grenzen und Grenzerfahrungen, etwa Grenzen der Leistungsfähigkeit, die sich durch Müdigkeit oder gar durch Erschöpfung anzeigen, oder Grenzen des Duldens und Leidens, Schmerzgrenzen, deren Überschreitung Kontrollverlust und Ohnmacht bewirken, oder Grenzen der Toleranz, die, zum Beispiel im Politischen, durch Rassismus oder durch andere Arten des Angriffs auf die menschliche Integrität verletzt werden, oder Grenzen des Verstehens, auch Grenzen der Sprache, d.h. des Mitteilenkönnens dessen, was sich der Sprache entzieht, was jenseits der Worte, auch jenseits des unmittelbaren Ausdrucks ist.

Der Handlungsspielraum und der Erfahrungsbereich, der sowohl aktiv wie passiv dem einzelnen Menschen verfügbar ist, bis die Grenzen erreicht sind, ist nicht nur unterschiedlich weit, sondern gerade im innerpsychischen Raum auch unterschiedlich begehbar. Wenn zum Beispiel die Grenzen nicht klar sind, oder wenn sie durchbrochen oder verletzt wurden, ist der innere Weg häufig verschüttet oder verbarrikadiert. Das Unbewusste wendet alle möglichen Abwehrdispositive an, um die „Ansicht“ der Verletzungen zu verwehren. Zumeist sind diese Abwehrvorkehrungen untauglich und schaffen neues Leiden, wie dies etwa bei der Adipositas der jungen Frau, deren Geschichte ich geschildert habe, der Fall ist. Therapien, insbesondere Traumatherapien, können als sorgfältig begleitete seelische Wanderungen zurück zum Ort des Schmerzes verstanden werden, bei denen vorweg die vom Unbewussten zu Schutzzwecken aufgebauten Barrikaden ernstgenommen und allmählich abgebaut werden müssen, was zugleich ängstigt und weh tut, aber vor allem auch stärkt und befreit. Ohne ganz nah an die Verletzung heranzukommen, lässt sich das, was jenseits der eingebrochenen, der beschädigten oder der mangelnden Grenze da ist, nicht erkennen. Häufig sind es starke, lebenszustimmende Ressourcen, die erlauben, die traumatisierenden Erfahrungen in das vielfältige Leben zu integrieren. Die schweren seelischen Verletzungen lassen sich dadurch nicht ungeschehen machen, aber sie können durch den therapeutischen Weg ihre alles bestimmende krankmachende Dominanz verlieren.

Um die Bedeutung der individuellen inneren und äussseren Grenzen gut zu verstehen, ist es nützlich, diese mit anderen Grenzen zu vergleichen. Die gebräuchlichste und – vordergründig –  unproblematischste Verwendung von Grenzen geschieht im Bereich der Räume, ob es sich um die Schwelle zwischen dem Innern und dem Äusseren des Hauses handelt, oder um die Abgrenzung privater Grundstücke durch einen Zaun oder um die Abgrenzung öffentlicher Territorien, um Gemeinde-, Kantons- oder Landesgrenzen. Diese Grenzen machen  deutlich, dass die Menschen das In-der-Welt-sein  unabgegrenzt schwer ertragen, dass sie abgegrenzte Räume brauchen, nicht nur private Räume, sondern auch politisch definierte öffentliche Räume, die zu betreten es eines besonderes Rechts oder einer besonderen Genehmigung bedarf, einer besonderen Identität, eventuell besonderer „Identitätspapiere”. Die Abgrenzung – Eingrenzung und Ausgrenzung – sowohl des privaten wie des politischen Raums, auch des nationalen, soll in erster Linie der Sicherheit dienen. „Sicherheit” jedoch wird beinah ausschliesslich durch Bedrohungsszenarien definiert, die sich aus dem Anderssein, aus Differenz und Differenzen konstituieren.

Differenz wird mithin in erster Linie benötigt und benutzt, um Identität zu konstruieren. Unter „Identität” wird ja zumeist so etwas wie ein fester „Besitz“ verstanden, wie eine uneingeschränkte Gleichheit mit sich selbst, welche sich durch klare Ungleichheit, durch klare Differenz von einer anderen Identität abgrenzt. Wenn zum Beispiel von “Identitätspapieren” die Rede ist, welche berechtigen oder nicht berechtigen, eine Grenze zu überschreiten, so müssen wir zu Recht fragen, um welche „Identität”, resp. um welche „Gleichheit” es sich dabei handle.  Gleichheit zwischen wem und wem, oder zwischen wem und was? Bei der gleichen Staatsbürgerschaft etwa geht es um ein erwerbbares, ja häufig sogar käufliches Recht, das allein während einer Lebenszeit mehrmals gewechselt werden kann. Es handelt sich somit um eine Variable von ausschliesslich funktionalem Wert. Dasselbe kann von der Religion gesagt werden oder von der so verhängnisvollen und fragwürdigen Begriffskonstruktion „Rasse” oder „Ethnie“, ja selbst vom Geschlecht. Jede dieser “Identitätskategorien” weist für jedes einzelne Individuum, das eine oder mehrere davon für sich beansprucht oder das durch eine oder mehrer determiniert wird, eine Fülle von Differenzen auf, nicht nur wenn das ganze Leben von der Geburt bis zum Tod betrachtet wird, sondern selbst wenn nur ein einzelner bestimmter Tag oder ein einzelner bestimmter Moment  in den Blick fällt. Immer ist das, was als Identität erscheint, ein Zugleich vielfältigster, ja sogar widersprüchlichster Differenzen im einen und gleichen Individuum. So kann “Identität” eigentlich nur als ständig sich verändernde Summe der Differenzen oder als Prozess verstanden werden, der im abgegrenzten Selbst besser oder schlechter integriert ist, aber kaum als festen „Besitz“.

Was allerdings „identisch” ist bei allen Menschen, unabhängig von ihren unterschiedlichen „Identitätsausweisen”, ist die existentielle Begrenztheit in der Zeitlichkeit – die Sterblichkeit_ sowie die gegenseitige Abhängigkeit voneinander in der Stillung der wichtigen Bedürfnisse, zu welchen nicht zuletzt der Respekt vor der Freiheit gehört, die eigenen inneren Grenzen zu benennen, die Grenzen des Erträglichen und des Unerträglichen, des Zumutbaren und des Unzumutbaren. Wenn ich sage, dass Zeitlichkeit unsere Existenz defininiert, so wiederhole ich in der Sprache der Philosophie, was ich eingangs in der Sprache der Psychoanalyse erklärte, dass zugleich Gebürtlichkeit (natalité) und Sterblichkeit (mortalité) die Existenz begrenzen, sowohl das Anfangenkönnen als Ich und als Du, in der Selbstbeziehung wie in der Beziehung mit anderen, wobei gerade in diesem Anfangenkönnen die Befähigung zur Freiheit liegt, wie die Philosophin Hannah Arendt festhält. Mit der existentiellen Eingrenzung des Menschen in die Zeitlichkeit hängt seine „Welthaftigkeit“ zusammen. Und diese ist immer auch durch räumliche Komponenten definiert, durch einen Platz in der Welt, der nicht nur die individuelle Geschichte symbolisiert, sondern die ganze Herkunftsgeschichte der Familie, eine generationenübergreifende Geschichte, damit auch eine Kultur, ein Ort und ein Land, d.h. abgegrenzte Zugehörigkeit innerhalb definierter Grenzen, sowie Handlungsmöglichkeiten innerhalb bestimmter, definierter Einschränkungen, welche die Verfassung und die Gesetze eines Landes bedeuten.

Die zeitliche Bedingtheit des Menschen, die Tatsache seiner Sterblichkeit, blieb sich seit den Anfängen der Menschheit gleich, doch die subjektive Empfindung der Zeit hat sich verändert. Seit mit dem Aufkommen der Kapitalbildung und der industriellen Nutzung des Mehrwerts auch die Zeit zur Ressource wurde, setzte sich deren Kosten-Nutzen-Wertung durch und sie wurde zur wertvollen oder wertlosen Ressource, je nach dem sozialem Rang der Menschen, deren Existenzzeit als Arbeitszeit gewertet wird,  und je nach dem sozialem Prestige der geleisteten Arbeit. Diese ungleiche Wertdefinition der Zeit bedeutet eine folgenschwere äussere, gesellschaftliche und innerpsychische Grenzziehung zwischen den Menschen. Sie impliziert den Skandal des gesellschaftlichen Konstrukts eines ungleichen Existenzwerts der Menschen, der den sozialen Klassen und der damit verbundenen sozialen Ungerechtigkeit zugrunde liegt.

Diese einzudämmen sollte das Anliegen des politischen Handelns sein. Leider stellt es sich allzu oft in den Dienst gesellschaftlicher Interessen. Die Tatsache der Gleichzeitigkeit der unzählbar vielen Menschen in der Welt, von denen ein jeder und eine jede einerseits mit der Befähigung zur Freiheit begabt ist, damit zur Sprache und zur Partizipation an der Macht, und von denen andererseits jeder und jede Grundbedürfnisse hat, deren Sättigung die Menschen gegenseitig voneinander abhängig werden lässt, schafft die Notwendigkeit von Regeln des Zusammenlebens, von Gesetzen. Gesetze sind Grenzen im sozialen und im politischen Raum. Sie grenzen die Freiheit des einzelnen Menschen zu Gunsten der Freiheit jedes anderen Menschen ein, und sollten eigentlich zugleich der geregelten Erfüllung der Grundbedürfnisse aller dienen. Die ursprüngliche Notwendigkeit für die Regelsetzung, resp. für die Verfassung- und Gesetzgebung, ergab sich aus der Erkenntnis, dass erstens die individuellen Existenzbedingungen mit den Existenzbedingungen der vielen vereinbar gemacht werden müssen, damit auch das schwächste Individuum innerhalb der vielen nicht zu kurz komme. Zweitens  aus der Erkenntnis, dass die Menschen zum Missbrauch ihrer Handlungsmöglichkeiten neigen, d.h. dazu neigen, Grenzverletzungen zu begehen. Sowohl die Konventionen des gesellschaftlichen Regelsystems wie das politische, das aus Verfassung und Gesetzen besteht,  bilden jene Grammatik des Zusammenlebens, welche die schwer vereinbaren Voraussetzungen von Zeitlichkeit (resp. Freiheit) und Räumlichkeit (resp.Welthaftigkeit) verbinden soll, damit ein möglichst grosser individueller Nutzen mit dem möglichst grossen allgemeinen Nutzen vereinbar sei.

Worin besteht jedoch dieser Nutzen? Die Jahrtausende alte Kultur- und Machtgeschichte war zwar vor allem durch trügerische und betrügerische Nutzendefinitionen gekennzeichnet, bis in die jüngste Zeit, eine Geschichte der Herrschaft weniger über viele, eine Geschichte der Unterdrückung und des Leidens, des vielfachen individuellen wie des kollektiven Leidens. „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, schrieb Walter Benjamin 1940 im Exil in Paris, wenige Monate, bevor er sich nach einem gescheiterten  Versuch, vor den Nazis über die Pyrenäengrenze nach Spanien zu flüchten, das Leben nahm. Im Lauf der Geschichte wurden u.a. die nationalen Grenzen festgelegt, welche die Rechte, die Bewegungs- und Tätigkeitsmöglichkeit von vielen auf einschränkende Weise bestimmen und zugleich schützen, indem sie andere davon ausschliessen. Die nationalen Grenzen kamen zumeist als Resultat von Kriegen zustande, deren Gegenstand sie wiederum waren, seltener auch als Resultat von Verhandlungen zwischen einzelnen Machtträgern, welche die Bedürfnisse der vielen einzelnen Menschen kaum berücksichtigen. Selbst die nationalen schweizerischen Grenzen, die wir heute ohne besondere Probleme passieren, und die – abgesehen von den Kontrollposten an der Strasse oder den Zollbeamten im Zug – von Auge nicht ersichtlich sind, sind Grenzen, um welche ebenfalls Kriege geführt wurden und welche selbst in der Schweiz vor noch nicht langer Zeit, vor wenig mehr als fünf Jahrzehnten, Grenzen zwischen Leben und Tod waren. Die “passeurs” und “passeuses”, welche es wagten, unter eigener Lebensgefahr gehetzte und gejagte Menschen aus einer Situation der tödlichen Bedrohung über die Grenze zu führen, wussten, wie real sie war.

Diese lange Geschichte war jedoch auch immer zugleich geprägt durch Neubeginn, d.h. durch ein Neubesinnen auf die Chancen der Freiheit für ein besseres Zusammenleben, und damit der Neudefinition von Regeln. Wir stehen heute in Europa einmal mehr in einer unruhigen Gleichzeitigkeit sowohl der erneuten Ausgrenzungen wie des transnationalen Zusammenschlusses, erneut in einem Krieg, in dem es um Identität und Differenz geht – womit die Machthaber an den Schreibtischen wie jene in den Dörfern und Städten die „ethnischen Säuberungen“ vordergründig legitimieren -, wie der bekundeten Übereinstimmung von Staaten (zum Beispiel Frankreich und Deutschland), die sich während Jahrhunderten gegenseitig ausgegrenzt und befeindet hatten.

Als optimale Übereinstimmung von möglichst grossem individuellem Nutzen und möglichst grossem allgemeinem Nutzen erscheint heute ein Wert alle anderen in den Schatten zu stellen: Sicherheit. Sicherheit lässt sich auch im Kollektiven nur negativ definieren, nur durch Aufzählung der Verunsicherungen, die es auszuschalten gilt: wirtschaftliche, politische, ökologische, letztlich existentielle Verunsicherungen. Was auf existentieller Ebene einerseits durch kommerzielle Angebote von Versicherungen (gegen Einbruch, Diebstahl, Unfall, Todesfall etc.) angeboten wird, andererseits durch solidarische, gesamtgesellschaftliche Vertragswerke (z.B. die Alters- und Invalidenversicherung) erkämpft wurde, soll eine Begrenzung der Leidensfolgen der „condition humaine”, der mit der Zeitlichkeit verbundenen Unvorhersehbarkeit bewirken.

Auf nationaler Ebene gewährleisten einerseits, wie wir es erwähnt haben, Verfassung und Gesetze die Rechtssicherheit der Bürgerinnen und Bürger, andererseits soll gleichzeitig durch institutionelle Massnahmen, etwa durch Polizei, durch Grenzbeamte und durch Armeen, Sicherheit durch Abschreckung oder Ausschaltung oft willkürlich definierter Feinde garantiert werden. Dass heute erneut Flüchtlinge zu Feinden deklariert werden, indem durch die Regierung zu deren „Abschreckung“ Notrecht proklamiert wird, ist ein moralischer Skandal und zugleich eine Verletzung der Regeln der Demokratie. Damit wird deutlich, dass das, was wirklich aussteht, eine transnationale (völkerrechtliche) Garantie für die Sicherheit der personalen und politischen Rechte aller Menschen ist, unabhängig von deren Status. Denn es leben Millionen von Kindern, Frauen und Männern allein in Europa – Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, gesellschaftlich „Marginalisierte“, Obdachlose, Langzeitarbeitslose und sog. “drop outs”, zum Teil auch körperlich behinderte Menschen –  in einer Situation der höchst prekären existentiellen Verunsicherung, zum Teil der rechtlichen Ausgrenzung. Die Forderung nach Sicherheit darf nicht zum reaktionären Diskurs verkommen. Zwar gehen mit dieser Forderung unbestrittenermassen Begehrlichkeiten der unanfechtbaren Eigentums- und Privilegiensicherung einher. Gleichzeitig aber handelt es sich um die Notwendigkeit, existentielle Verunsicherung infolge prekärer Lebensbedingungen zu beheben – mithin um eine Forderung, bei der es um den Schutz der menschlichen Würde geht.

Das zutiefst Erschreckende ist, dass gerade die Forderung nach Sicherheit vor sozialer und politischer Ausgrenzung von den meisten europäischen Regierungen in ihrer Bedeutung nicht erkannt wird, häufig gar als Bedrohung definiert wird. Die bis heute vorliegenden europäischen Vertragswerke (Schengen und Folgeverträge), welche die Modalitäten transnationaler Sicherheit festhalten, richten sich ja nicht gegen fremde Staaten und fremde Armeen, sondern allein noch gegen Menschen, Menschen, die zu „Feinden“ deklariert werden, weil sie die Erfüllung ihrer Rechte und Grundbedürfnisse ausserhalb der Grenzen ihrer eng definierten Herkunftsidentität, z.B. ihrer Länder, einfordern, weil ihre Existenz und ihre Arbeitszeit innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft nichts gilt, Migrierende, Arbeitssuchende, Arme, Flüchtlinge vor Gewalt, Hunger und Krieg. Diese werden ausgegrenzt, d.h. hinter die Grenzen einer transnationalen Vertragsgemeinschaft gewiesen, die sich gleichsam wiederum als privaten Wohnraum definiert. Auf verhängnisvolle Weise scheint durch die Hintertür von nationalen und multinationalen Vereinbarungen der Klassenkampf von oben neue „faits accomplis” massiver Ungerechtigkeit durch die massive Ausgrenzung von Menschen  zu schaffen

Noch ein anderer Aspekt von individueller und kollektiver Sicherheit verdient grösste Aufmerksamkeit: Dieser betrifft die Sicherheit vor Schadenfolgen aus militärischen, technologischen und ökologischen Risiken. Auch bei dieser Sicherheit geht es um den Respekt vor der Integrität des menschlichen Lebens, der immer und unbedingt gefordert werden muss,  im privaten wie im öffentlichen Bereich. Es geht um die Sicherheit vor psychischer und körperlicher Gewalt, die ebenfalls einem Grundbedürfnis entspricht. Da, wo sie als kollektives Postulat aller Menschen kollektive Räume und Nutzungen betrifft, ist deren Garantie auch durch politische Instanzen zu leisten. Dies betrifft u.a. die Sicherheit am Arbeitsplatz, in Fabriken, auf Baustellen und anderswo, Sicherheit auf der Strasse oder in der Luft, Sicherheit vor krankmachender Nahrung, Sicherheit vor Anwendung von Waffen und menschenverachtenden Technologien, Sicherheit vor atomarer Verstrahlung – die Aufzählung könnte weitergehen. Hier müssen nicht nur Gesetze dem Missbrauch Grenzen setzen, sondern die Täter wie der Missbrauch selber müssen eingeklagt und geahndet werden können, damit alle Menschen im sozialen Raum ohne willkürliche Begrenzung ihrer physischen und psychischen Integrität geschützt seien. Und da der soziale Raum mit jenem der Familie beginnt, und da sich hier die massgebliche Anfangsgeschichte jedes Menschen abspielt, mit dem Respekt seiner Grenzen oder mit deren Verletzung, komme ich zum Schluss meiner Ausführungen wieder an deren Anfang zurück.

Die vielfältige Deutungsmöglichkeit von Grenzen (sowohl im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit, mit Identität und Differenz, mit der Tatsache der gleichen Grundbedürfnisse aller Menschen), wie die existenzphilosophische Reflexion über die immanenten Grenzen von Zeitlichkeit und Weltlichkeit sollte nicht bloss wissenschaftliche Theorie sein, sondern bei individuellen wie bei kollektiven, insbesondere bei politischen, sozialen und ökonomischen Beschlüssen beachtet werden. Es wäre ein  grosser emanzipatorischer Gewinn, könnte dadurch die Fragilität der Grenzen in Hinblick auf die Prävention möglicher Übergriffe wie die Möglichkeit deren prozesshaften Veränderbarkeit besser verstanden und respektiert werden.

 

 

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