Kolonisation, Revolte und der Weg zur Autonomie – Überlegungen zu Definitionsmacht und Eigendefinition

Kolonisation, Revolte und der Weg zur Autonomie

Überlegungen zu Definitionsmacht und Eigendefinition

Philosophisches Wochenende, Lübeck 19.-21. September 2008

 

Die Kindheit ist der dunkle Erdteil der Kolonisation. Die Kolonisation setzt mit der Namengebung ein. Die Namengebung ist die erste Besetzung des Kindes durch die Eltern. Diese Besetzung erfolgt durch eine mächtige Projektion von Bildern und Geschichten – seien dies die vorbildhaften gelebten Geschichten verstorbener Angehöriger oder irgendwelcher Helden und Heldinnen, toter, vielleicht auch noch lebender; seien dies die heimlichen nicht gelebten Geschichten der Mutter oder des Vaters, die Traumgeschichten und Wunschgeschichten, die sich um ein Bild, resp. um einen Namen ranken oder die, auf einen Namen eingefärbt, auf das Kind geheftet werden wie eine definitive, nicht austauschbare, nicht abwaschbare Farbe, lange bevor das Kind beginnen kann, seine eigenen Geschichten zu wagen. Der Name entspricht dem Bild, das die Eltern aus sich schaffen, aus dem ihnen gemässen Mass und Format, ein statisches, ein fixiertes Bild, das sie dem Kind als Vorgabe für sein Verhalten in der Welt auferlegen, je nach dem, ein Bild des unauffälligen, blassen und angepassten Verhaltens oder aber des ungewöhnlichen, auffälligen, vielleicht sogar des exotischen. Dieses Bild richtet sich in erster Linie nach geschlechtsspezifischen und rollenspezifischen Eigenschaften, welche Vater oder Mutter für sich selbst oder für den Partner, resp. die Partnerin beanspruchen, oder welche sie vermissen und in einer kompensatorischen Projektion mit dem Namen dem Kind überziehen wie ein viel zu grosses Kleid. Bei Hannah Arendt wird Gebürtlichkeit der Freiheit gleichgesetzt, doch ausserhalb des existenzphilosophischen Modells, in welchem das Verhängnis der Sterblichkeit einer dialektischen Gegensetzung bedarf, eben jener der Freiheit, gibt es für das Kind zuerst vor allem die von den Eltern definierte, durch sie geschaffene Konditionalität, in welche es hineingeboren wird und in welche es hineinwächst. Aber indem das Kind in das kulturell und biographisch elternmassgeschneiderte Kleid hineingestellt wird,  in das durch die persönlichen Wünsche der Eltern und durch gesellschaftliche Normen enggeheftete Identitätskorsett, ergibt sich die erste und die vorweg wichtigste Anforderung an die Freiheit: aus der gebürtlichen Potentialität in die Aktualisierung zu treten und dieses Korsett zu sprengen. Doch davon später.

In Fortsetzung der Namengebung des Kindes erfolgt durch die Eltern die Namengebung der Welt. Existenz ist immer zugleich Welthaftigkeit. Beide sind Gegenstand kulturell definierter, über Generationen konstruierter Beherrschungsstrategien. Das Kind selbst bietet Laute, Namen an für die Gesichter, die sich ihm zuwenden und für die Dinge, die es erblickt, die es ertastet oder kostet und hört, Laute und Namen in allen Sprachen der Welt, welche die Eltern zwar zur Kenntnis nehmen, sogar mit Entzücken, aber verwerfen und durch andere, “richtige” ersetzen, durch Namen, mit denen sie die Gesichter benennen und die Dinge bezeichnen. Die Gesichter neigen sich nicht zu und die Dinge bleiben unerreichbar, wenn sie nicht mit den richtigen Namen bezeichnet werden. Mit den Namen wird die Bedeutung der Dinge definiert. Daher kann selbst die Sprachvermittlung als eine Herrschaftsstrategie verstanden werden, nicht nur als “Sprachspiel” im Wittgenstein’schen Sinn. Augustinus hält in den “Confessiones” (I/8) fest: “Nannten die Erwachsenen irgend eine Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, dass der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, das sie auf ihn hinweisen wollten. (…) So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichnen (…) Und ich brachte, als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck”. Fügt man sich der Namengebung nicht, bleiben die Wünsche unerfüllt. Als ich sechs Jahre alt war und infolge eines schweren Unfalls einen ganzen Sommer im Krankenhaus verbringen musste, wünschte ich mir sehr, Früchte zu essen, die ich einmal gesehen, aber nie gekostet hatte, Früchte mit süssem Duft, mit pelziger Haut und roten Wangen. Ich nahm an, sie hiessen Aprikosen, da ich diesen Namen in Verbindung mit köstlichen Früchten gehört hatte, die ich wiederum auch nicht kannte. Die Erwachsenen brachten mir Aprikosen, in der Meinung, damit meinen Wunsch zu erfüllen, doch es waren nicht die Früchte, die ich zu essen wünschte. Den Namen “Pfirsich” kannte ich nicht, so dass mir den ganzen Sommer über und noch länger der Genuss dieser Früchte verwehrt blieb.

Mit der Namengebung setzt die Kolonisierung der Existenz und Welthaftigkeit des Kindes ein, und gleichzeitig nimmt die Kontrolle seiner Bedürfnisse ihren Anfang. Die tatsächliche Stillung und Erfüllung der Bedürfnisse, aber auch deren verweigerte oder prekäre Erfüllung geschieht nie anders als in Verhältnissen der Abhängigkeit. Abhängigkeit aber bedeutet Unterwerfung und Unfreiheit, ein Verhältnis, dem das Kind zustimmen muss, um nicht Hungers zu sterben. Zu den dringendsten materiellen Bedürfnissen gehört jenes nach Nahrung wie jenes andere nach Entledigung von der Nahrung, nach Defäkation. Die Kontrolle sowohl der Nahrungseinnahme wie der Ausscheidungen schafft grosse Macht, und noch viel mehr Macht schafft  die Koppelung der Erfüllung der materiellen Bedürfnisse mit der –  genügenden oder der ungenügenden – Erfüllung des Bedürfnisses nach Anerkennung und nach Liebe. Die Erfüllung dieser wichtigsten immateriellen Bedürfnisse wird mit einem komplizierten konditionalen System verknüpft, in welchem Beschämung und die Erzeugung von Scham beim Kind über sein ungenügendes Verhalten – ungenügend in Hinblick auf die namen- und vorbildverknüpfte normative Erwartung der Eltern –  eine wichtige Rolle spielen. Beschämung und Scham sind interne Konstrukte der Erniedrigung, die auf der Seite der Eltern wiederum wettgemacht werden durch unerreichbare Grösse sowie durch Güte, jedoch zumeist durch ein konditionales Zugeständnis von Güte. Für das Kind wird klar, dass das So- und-nicht-anders-sein-Sollen, aus welchem das Identitätskorsett geschaffen ist, nie erfüllbar ist,  dass es immer in der Schuld bleiben wird. So zeigen sich als Möglichkeiten des Verhaltens vor allem zwei: Anpassung, d.h. eine Art der demütigen Unterwerfung unter die nicht erfüllbare Norm, oder Auflehnung und Eigendefinition der Norm. So wird am einzelnen kleinen Menschen geübt und durchexerziert, was ganzen Völkern und Nationen, ganzen Kontinenten von ihren “Mutterländern” angetan wurde, zum Teil heute noch angetan wird – und was diese zu sprengen versucht haben: Kolonisation.

Die Begegnung mit der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar bestätigte diese Überlegungen. Sie präsentierte damals, als ich sie kennen lernte, ihr Buch “Le blanc d’Algérie” und einen Film  “La Zerda ou les chants de l’oubli”, den sie 1982 geschrieben und produziert hatte. Dieser Film, aus Archivaufnahmen zusammengebaut, schildert die generationenlange Geschichte der maghrebinischen Kolonisation, eine Geschichte der nationalen kulturellen Fremddefinition, eine über unzählige Menschengeschichten sich fortsetzende und sich vervielfachende Geschichte der Beherrschung über die Sprache (resp. über die Namengebung), über die Kontrolle der Bedürfnisse, eine Geschichte der mangelnden Anerkennung, der Unterwerfung und der unendlichen Demütigung. Die Demütigung, das wurde deutlich, bestand und besteht in der Verunmöglichung der Eigendefinition der Bedürfnisse und der Art und Weise deren Erfüllung.  Verun-möglichung bedeutet, im Sinn des Wortes, Unterbindung von Möglichkeit. Was als Möglichkeit unterbunden wird, soll nie Realität werden. Zumeist resultiert Verunmöglichung aus dem Missbrauch von Macht, als Folge von Herrschaft. Dass jede externe Definitionsmacht Missbrauch generiert und in Herrschaft ausartet, wurde mir bei der Betrachtung des Films in der Abfolge der Bilder einmal mehr klar, und ich war davon erschüttert.

Ich erinnere mich, wie eine ähnliche Erschütterung von Frantz Fanon’s Buch “Les damnés de la terre” ausgegangen war, diesem Manifest des 1924 in der Französischen Kolonie Martinique geborenen Bauernsohns, der in Frankreich Philosophie und Medizin studiert hatte, während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance mitkämpfte und anschliessend als Psychiater in Algerien während drei Jahren eine psychiatrische Klinik leitete, worauf er in einem öffentlichen Brief an den französischen Generalgouverneur demissionierte und sich der Algerischen Nationalen Befreiungsfront anschloss. 1961 erschien Fanon’s Buch in Paris, mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre, in welchem dieser die europäischen Länder, die “Mutterländer”, aufruft, sich in Fanon’s Buch zu vertiefen, damit sie verstehen, was auf sie zukommt, nämlich die Frucht der Demütigung, nämlich die während Generationen  zurückgehaltene Wut, die sich lange nicht als Gewalt gegen das “Mutterland” und dessen Herrschaft zu richten wagte, sondern im kolonisierten Land internalisiert und in sog. “Bruderkriegen” ausgetragen wurde. Sartre schrieb im Vorwort, dass “der Bruder, der sein Messer gegen seinen Bruder erhebt, glaubt, das verabscheute Bild ihrer gemeinsamen Erniedrigung ein- für allemal zu tilgen”. Er versuchte deutlich zu machen, worum es Fanon ging: um die Notwendigkeit, eine kollektive Neurose zu heilen, die von den Kolonialherren durch die Einführung des “Eingeborenenstatus” geschaffen worden war, eines Status der Unmündigkeit, jenem ähnlich, der für die Kinder defininiert wird. Das zutiefst Neurotisierende daran war, dass mit dem “Eingeborenenstatus” zugleich der Status des “Menschen” verlangt und verleugnet wurde, mit anderen Worten, dass von den Kolonisierten einerseits verlangt wurde, dass sie sich wie Angehörige des “Mutterlandes” bewegten, kleideten, arbeiteten, marschierten, als Soldaten kämpften, Steuern bezahlten, auch Schulen besuchen und studieren durften, dass sie sich aber andererseits immer ihrer Abhängigkeit und ihrer Minderwertigkeit bewusst bleiben sollten. Wollten sie den Status von “Menschen” im Sinn des “Mutterlandes” erlangen, mussten sie zu Komplizen der Kolonisierung werden.

Um die kollektive Neurose zu heilen, gibt es, nach Frantz Fanon, nur die Gewalt. Fanon rief mit seinem Buch zur Gewalt auf, zum Mut zur Gewalt. “Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. Sie kann nicht das Resultat einer magischen Operation, eines natürlichen Erdstosses oder einer friedlichen Übereinkunft sein”. Und Fanon  fuhr fort, dass so, wie sich die Kolonisierung unter dem Zeichen der Gewalt abspielte und erzwungen wurde, sowohl äusserlich in der Organisation des Landes, wie innerlich in den Köpfen der Kolonisierten, die Dekolonisierung nur durch Gewalt erfolgen könne. Nur über die Gewalt könne der Prozess der Rückgewinnung der zur Folklore denaturierten, fremdbeherrschten eigenen Kultur und der politischen sowie der ökonomischen Unabhängigkeit eingeleitet werden, dieser Prozess der Identitätsfindung, der letztlich unabschliessbar ist.

Ich weiss nicht, wer Fanon’s Buch noch kennt. In den sechziger Jahren, als es erschien, wirkte es wie ein Fanal. Ich war damals knapp über zwanzig. Der Aufruf zur Gewalt,  die Gewalt selbst erschreckte mich. Gleichzeitig aber ahnte ich, dass der mit Gewalt verbundene Aufstand die kollektive Sprache für jene Auflehnung war, die ich selbst seit meiner Kinderzeit als Notwendigkeit empfand, für die ich einen Ausdruck suchte und auch auf unterschiedliche Weise fand, je nach den Möglichkeiten, über die ich vorweg verfügte. Ungehorsam, Widerspruch,  Fluchten (“fugues”), künstlerische, resp. symbolische oder literarische Formen des Ausdrucks, dann auch internalisierte Gewalt, etwa ein schwerer Unfall, stets der Versuch von Gegenentscheiden zu jenen der Eltern bezüglich meiner Entwicklung und Bildung, erneute “fugues” und Eigenentscheide, eine politische Eigendefinition in völliger Abkehr von der von den Herkunftskreisen vertretenen Bürgerlichkeit, welche die Kolonisierung der Frauen als Programm aufrechterhielt, damit eine Absage an die vorgegebenen Modelle der bürgerlichen Sicherheit, Zustimmung letztlich nur noch zum eigenen Programm der Auflehnung gegen Herrschaft, gegen Missbrauch der Menschen in allen Bereichen, daher Zustimmung zu meinen Kindern als Sujekten, nicht als kolonisierbaren Objekten, Zustimmung zur Auflehnung der Schwachen im eigenen Land und anderswo, welche durch die Auflehnung stark wurden, kurz Zustimmung zu Programmen der Subversion von Herrschaft und der Eigendefinition.

Es gab Zeiten der Ermattung, in denen es schien, dass die Kraft zum Widerstand abhanden gekommen war. In diesen Zeiten, stellte ich fest, verlor ich das Gefühl von Realität, auch das Gefühl für den Rythmus der Zeit, selbst das Gefühl für Recht und Unrecht. Die Unterwerfungszugeständnisse, die ich in solchen Zeiten machte, demütigten mich vor mir selber in einem Mass, dass Frustrationen und Selbstentfremdung mich immer kleiner und ohnmächtiger fühlen liessen. Um des puren Überlebens willen liess ich die Kolonialmacht gewähren, begehrte nicht mehr auf, aber spürte, wie ich buchstäblich erstickte. Der Verlust der Widerstandskraft bedeutete Verlust der Liebe zum Leben. Als ich mir dessen gewahr wurde, verstand ich, in welchem Mass der Kampf um die eigene Definition, der Kampf um die interne, eigene Definitionsmacht dem kollektiven Prozess der Dekolonisierung entspricht. “Es gibt kein richtiges Leben im falschen”, schreibt Adorno in den “Minima Moralia”. Der Prozess um das “richtige Leben” ist der Weg zur Autonomie. Er schliesst Fehlentscheide ein, Umwege und Irrwege, er ist ermüdend und kräftezehrend, er ist unabschliessbar, doch er ist die einzige Garantie für ein gelingendes Leben – im Sinn der Zustimmung zu einer zwar kolonial geplünderten, jedoch wiederaufbaubaren Welt, in der ein vorweg neu zu leistender Aufbruch das Glück der Freiheit bedeutet.

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