Aufmerken – aufmerksam sein – Aufmerksamkeit

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Aufmerken – aufmerksam sein – Aufmerksamkeit

 

„Woher ich komme, wohin ich gehe, darauf kommt’s an. Ich verzähle mich nicht selten in der Eile, wenn ich zähle 1, 2, 3, bis 99. Ich verzähle mich nie, wenn ich rechne, hundert abwärts. Ich tauche – mein Ziel ist Tiefe. Tiefer und tiefer ich falle. Den dunkelsten Punkt in Weite erreicht, erkenn’ ich Licht des anderen Endes. Die Ausgangstür schliesst. Sogleich steh’ ich auf der Schwelle einer Eingangstüre wieder. Die Welt! Sie blendet mich! (…) Wie kann ich ahnen wollen, wenn Ende Anfang gleich –  und Alles Nichts bedeutet.”[1]

Die Zeilen hat eine junge Frau geschrieben, Joanna Lisiak, 1971 in Polen geboren, seit 1981 in Zürich. Die kleinen Gedichte und Texte, die sie veröffentlicht hat, machen deutlich, wie komplex die Lebensfragen sind, die sich der heutigen Jugend stellen. Die Herkunft – „woher ich komme” -, kann nicht gewählt werden, die Familien- und die Zeitgeschichte, die massgeblich Lebensweise und Wertgefühle der Kindheit prägen, sind weder durchschaubar noch beeinflussbar. Das Zurückzählen in der Generationengeschichte mit allem Bekannten und Unbekannten auf der Mutter- und auf der Vaterlinie, mit Notzuständen und Armut oder mit Geschichten, die voller Fragezeichen sind oder die ein Staunen wecken – „hundert abwärts” – , all dies führt in eine abgründige, dunkle Tiefe. Es ist die in der Pubertät erwachende persönliche Sehnsucht, die „Ausgangstür zu schliessen” und nicht weiter in die durch Eltern, Grosseltern und durch andere Erwachsene geprägte Geschichte hineingezogen zu werden, die Sehnsucht, einen eigenen Weg zu finden und die Aufmerksamkeit diesem zu widmen. Der junge Mensch steht auf einem Punkt, der Abschied oder Abkehr bedeutet und zugleich Entscheid, Selbstbestimmung und Neuorientierung: „Ausgangstür” und „Eingangstür” lösen sich ab. Gewiss, „wohin ich gehe, darauf kommt’s an”. Doch wie wissen, wohin? „Die Welt! Sie blendet mich”,  stellt Joanna Lisiak fest. Wo zu viel Angebote sind, gibt es keinen klaren Blick; die Angebote sind ebenso verschlüsselt wie jene der abgeschlossenen Kindheit. Wie lässt sich „ahnen”, was ihr Wert ist? Wie lässt sich eine reale Bedeutung finden, wenn „alles”, was sich als „Welt” öffnet, in einem virtuellen Raum oder auf einer abstrakten Ebene erscheint und daher „Nichts” bedeutet? Wie lässt sich aufmerken, wenn Aufmerksamkeit erfordert ist? Wie lässt sich lernen, aufmerksam sich selber gegenüber zu sein?

Die Zeilen von Joanna Lisiak geben die grosse Ratlosigkeit wider, die zugleich bei den jungen Menschen spürbar ist wie unter den Erwachsenen. Seit einiger Zeit lässt sich in allen Schichten unserer Bevölkerung, in allen Parteien, in allen Institutionen und Gremien der Gesellschaft eine Unsicherheit feststellen, die nicht nur auf eine schweizerische Krise hinweist, sondern zugleich auf eine Krise des zeitgenössischen Lebens in der westlichen Kultur überhaupt. Die Werte dieser Kultur werden zur Frage, da sie zu den Werten, die unter den aktuellen Zeitbedingungen als Fortschritt gelten, in einer grossen Diskrepanz stehen. Die Verunsicherung und das Orientierungsbedürfnis, die sich darin äussern, haben mit der Flüchtigkeit und Diversität von Angeboten zu tun, die durch Medien und Markt in einem vielfachen Propagandapuzzle angepriesen werden und wieder verschwinden. “Die Welt! Sie blendet”…

Wir wissen, dass junge Menschen in der Zwischenphase zwischen Kindheit und Erwachsenenleben des Halts in ihren Wahlmöglichkeiten bedürfen; doch diesen Halt vermissen die meisten. Sie werden geprägt durch Erfahrungen in Familien- und Schulverhältnissen, die eventuell wie Klammern auf ihnen lasten und von welchen sie sich zu entlasten wünschen. Zugleich sind sie umgeben von einer Flut von Angeboten, von Forderungen und Bedingungen, die teils betörend vorgeben, dem Fortschritt und daher der Jugend zu entsprechen, die aber gleichzeitig die eigentlichen, persönlichen Bedürfnisse der jungen Menschen überdecken und zu einem Mangelempfinden werden lassen.

Halt für die Haltlosen! Boden für die Bodenlosen! Herzen für die Herzlosen! Scham für die Schamlosen! Schutz für die Schutzlosen! Mittel für die Mittellosen! Sinn für die Sinnlosen! Nutzen für die Nutzlosen! Auswege für die Ausweglosen! Brot für die Brotlosen!”[2]

Nochmals sind es Zeilen von Joanna Lisiak, die mit lauter Ausrufezeichen einen klaren Ruf vermitteln, der die Korrektur von Mangel sucht. Ich denke, dass, was Joanna Lisiak schreibt, nicht für sie allein gilt. Ausrufezeichen setzen, heisst aufmerken und zugleich Aufmerksamkeit verlangen. Wir wollen auf das eingehen, was Aufmerksamkeit überhaupt bedeutet.

 

Was heisst Aufmerksamkeit?

Aufmerksamkeit lässt sich verstehen als Anspannung einzelner – oder aller – Befähigungen der Wahrnehmung zum Zweck der Ausrichtung des Menschen in seinem Subjektwert auf die sich auf ihn ausrichtenden Kräfte (ob von Aussen oder von Innen), denen er als Objekt ausgesetzt ist, mit dem Ziel, über seine Empfindung oder Erkenntnis zu spüren oder zu wissen, wie im Verhalten oder Handeln zu entscheiden ist.

Es sind die menschlichen Fähigkeiten der Wahrnehmung, die auf spürbare Weise Aufmerksamkeit bewirken, insbesondere die sinnesmässigen des Sehens, Hörens und Riechens wie jene der körperlichen Berührung. Dabei werden empfindungs- und gefühlsmässige Reaktionen ausgelöst, insbesondere das Gefühl von Hunger und Durst, von Neugier, Freude, Betroffenheit, Wut und Zorn, von Glück oder Angst, Sorge, Traurigkeit bis zur Todesangst, gleichzeitig nervlich bedingte Reaktionen, die als Anspannung oder Entspannung, als Abwehrverhalten, Unruhe, Depressivität und Aggressivität erlebt werden wie als intellektuelle Prozesse, die das Erkennen, Denken, Urteilen und Entscheiden möglich machen.

Schon das kleine Kind bedarf der Aufmerksamkeit, um sich selber zu schützen, um den Blick auf sich und seine Bedürfnisse zu lenken und um beachtet zu werden, um seiner Neugier gerecht zu werden und seinem Wissenshunger nachzukommen. Je nachdem, wie viel Beachtung das Kind dabei erlebt und wie es im Erwachen seiner Fähigkeiten unterstützt und gefördert wird, entwickelt sich auf verstärkte Weise Aufmerksamkeit im Sinn des Abwehrverhaltens oder der Neugier und des Wissenshungers.

Auf jeden Fall verbinden sich alle Fähigkeiten sowie jede Art und Weise der Wahrnehmung mit der Tatsache, dass der Mensch als Subjekt sich ausrichtet auf das, was um ihn und in ihm geschieht, dass er sich dabei anspannt, um aufzunehmen und um zu begreifen, was die Bedeutung dessen ist, was er aufnimmt und wahrnimmt, insbesondere um zu spüren, ob es gut und wohltuend sei, oder schlecht, widerlich oder gar bedrohlich.

Näheres zur Wortbedeutung

Die Untersuchung der Synonyma ermöglicht es, Unterschiede sowohl in der Sinngebung wie zwischen der substantivischen und der verbalen Aussage von Aufmerksamkeit, von  aufmerksam sein und von aufmerken zu erkennen. Fritz Mauthner, ein Sprachanalytiker besonderer Art, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts lebte, ging in seinen „Neuen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache”[3] gerade auf diese Unterschiede ein. Er hält fest, dass „an dem Substantiv Aufmerksamkeit alle Definitionsversuche scheitern mussten,  weil niemand zu sagen vermochte, ob es ein Zustand oder eine Tätigkeit, ein Gefühl oder eine Leistung sei; weil nicht einmal ein Oberbegriff feststand, unter den man etwa diese Tätigkeit hätte einordnen können”[4].

Als Beispiel geht Fritz Mauthner auf den Lehrer ein, „der dem Schüler eine Zensur über den Grad seiner gewohnten Aufmerksamkeit erteilt; er hat natürlich von diesen Schwierigkeiten keine Ahnung. Der Lehrer weiss nicht, dass Aufmerksamkeit und Zerstreutheit die subjektive und die objektive Seite des gleichen Zustandes sind, dass man aus lauter Aufmerksamkeit für seine besonderen Interessen zerstreut sein kann für die allgemeinen Schulinteressen, dass Talent Aufmerksamkeit ist, aber nicht immer Aufmerksamkeit für die geforderten Interessen. (…) Es gibt in der Wirklichkeitswelt überhaupt keine – heiten und –keiten, auch keine Aufmerksamkeit. Es gibt in der psychologischen Wirklichkeit nur eine besondere Arbeitsleistung, die wir nach mangelhafter Selbstbeobachtung aufmerken nennen. Das ganz unklare Gefühl, das diese Arbeit zu begleiten pflegt, wird gewöhnlich unter dem Substantiv Aufmerksamkeit verstanden. Wenn dieses Gefühl ausbleibt und wir dennoch aus den Folgen darauf schliessen, dass wir aufgemerkt haben, dass wir ohne Aufmerksamkeit aufmerksam waren, dann redet die Wissenschaft von passiver Aufmerksamkeit”[5].

Was Fritz Mauthner unterscheidet, ist einerseits, wie schon erwähnt, das über die Sinnesorgane  geweckte aktive Aufmerken, wodurch ein Erkennen und Handeln bewirkt werden kann, andererseits das passive Aufmerken, das sich nicht auf den Intellekt auswirkt, sondern auf Empfindungen und damit auf ein Verhalten, das von den Empfindungen geleitet wird. Es mag Neugier und Mut bewirken, eventuell Angst. Angst kann einen warnenden Impuls vermitteln, ein Aufmerken von besonderer Dringlichkeit und dadurch ein Wissen um den Schutzwert des eigenen Ich. Aufmerken mag auf diese Weise mit achtgeben einher gehen, nicht auf beklemmende, sondern auf stärkende Weise. Angst kann sich daher wieder auflösen und in Sicherheit übergehen, in eine Ich-Sicherheit, welche die beste Voraussetzung ist für offene Augen und für ein Lernen, bei welchem jede Erfahrung sinnvoll ist.

Wird Angst jedoch durch wiederholte negative Erfahrungen, durch vielfache Enttäuschungen oder durch entwürdigende Bewertungen, durch fortgesetzte Missverständnisse und durch zunehmenden Verlust des Gefühls eigener Sicherheit verstärkt, so kann sie zur inneren Klammer werden, durch welche das positive, stärkende Aufmerken gehemmt werden kann. Wenn es gelingt, diese anhaltende, wachsende Angst auf die Ursachen hin zu befragen und diese zu erkennen, kann über das dritte Auge in uns eine neue Aufmerksamkeit auf das innere Ich geweckt werden, durch welches Verstehen möglich wird. Ein Verstehen dessen, was war und was sich durch die beklemmenden Folgen von Wiederholung verdichtete, lässt ein neues Aufmerken und dadurch eine neue Aufmerksamkeit in Hinblick auf das zu, was neu erscheint und tangiert.

Es ist offensichtlich, dass für Fritz Mauthner das passive und das aktive Aufmerken des Menschen von grösserer Bedeutung ist als die Aufmerksamkeit. Das Substantiv vermittelt für ihn einen abstrakten Wert, während das Verb nicht nur mit einem Tun, sondern mit einer Arbeit und einer Leistung einhergeht. Jede Arbeitsleistung steht für Fritz Mauthner in Verbindung mit existentieller Sinngebung. Aufmerken im aktiven Sinn hat für ihn eine analoge Bedeutung wie sich erinnern. Beide Verben bringt er in Verbindung mit wollen. Es geht für ihn dabei um „Tätigkeiten, die wirklich sind, insofern Verben überhaupt wirklich sind. (…) Wenn ein Gegenstand der Umwelt mein Interesse erregt hat, so kann sich meine Arbeitsleistung darauf beschränken, ihn zu apperzeptieren (d.h. wahrzunehmen), ihn zu begreifen, oder ich kann den Willen empfinden, ihn zu ergreifen. Man denke z.B. daran, wie die Muskeln und Nerven des Sehapparates fein zusammenarbeiten müssen, damit das Kind einen Schmetterling auf den Fleck des deutlichsten Sehens bringen, ihn genau wahrnehmen, ihn als die gesuchte seltene Species erkennen, ihn begreifen könne. Wie nachher die Muskeln und Nerven der Beine und Arme arbeiten müssen, will das Kind den Schmetterling als Beute ergreifen. Unser Aufmerken geht also auf die Gegenwart, Wollen auf die Zukunft”[6].

Es ist tatsächlich so, dass alles, was mit einem Tun einhergeht, mit der Zeit verknüpft ist, ob mit der aktuellen Zeit, mit der nicht mehr aktuellen oder mit der noch nicht aktuellen Zeit, deren Ablauf von Bedingungen abhängig ist und damit zur Eventualität wird. Es mag um den flüchtigen Moment gehen, den wir Gegenwart nennen, oder um die vergangenen, eben vergangenen oder vorvergangenen Momente, die eventuell zum Empfinden von Dauer wurden, oder um die bevorstehenden, die Zukunft bedeuten. Indem Aufmerken sich auf die Gegenwart bezieht, stellt es sich, wie Fritz Mauthner schreibt, dem Warten entgegen. Hierin liegt die Bedeutung des Augenblicks im eigentlichen Sinn des Wortes, d.h. der Wahrnehmung durch den Blick der Augen, ob es um die Sinnesorgane des Sehens gehe oder um das innere Auge des Verstehens. Und auf analoge Weise gilt dies auch für die Wahrnehmung von Laut oder Ton durch die Ohren, die hören, von Duft und Geruch über die Nase, die beim Einatmen auch riecht, von Geschmack, der mit der Zunge aufgenommen wird, von Wahrnehmungen, welche durch Berührung über das Nervensystem der Haut vermittelt werden. All dies macht deutlich, dass Aufmerken eine vielfache, komplexe und zugleich subtile Kraft der Wahrnehmung und der Vermittlung weiteren Tuns bedeutet. Anzunehmen ist, dass durch das unbewusste, passive Aufmerken auch frühere, zum Teil verdrängte resp. vergessene Wahrnehmungen das aktive Aufmerken beeinflussen, so dass Verhaltens- und Handlungsentscheide möglich werden, die überraschen und verblüffen, die eventuell erschrecken oder die eine klärende Wirkung ermöglichen: eine andere Art von Aufmerksamkeit.

Die vielen verdrängten Erlebnisse und Erfahrungen, die im Unbewussten, dem  verborgenen Bereich der „psyche” (griechisches Wort für Seele), schlummern, können geweckt werden, wenn neue Erfahrungen, ob im Traum oder in der Aktualität und Wirklichkeit des gelebten Lebens ein Aufmerken fordern. Unbewusstes kann bewusst, Vergangenes im Augenblick präsent werden. Durch das Aufmerken wird deutlich, dass Bilder, Abläufe und Zusammenhänge von Geschehnissen und von Empfindungen, die zurückliegen – eventuell weit zurückliegen -, als Er-Innerung gewahrt wurden, dass sie jedoch verschlossen oder zugedeckt blieben, solange sie nicht geweckt werden konnten. Dass im Verborgenen des menschlichen Erinnerungsvermögens eine gespeicherte Zeitenabfolge im Sinn von Dauer  besteht, obwohl jeder Mensch der Vergänglichkeit der Zeit unterworfen ist, ist eine erstaunliche Paradoxie. Gewiss finden sich dafür Erklärungen in der neurobiologischen Erforschung der hochkomplexen cerebralen Potenzen, die das Gedächtnis ermöglichen: das Gedächtnis, vom Begriff her ein substantiviertes Partizip, das die Bedeutung einschliesst, gedacht zu haben resp. alles, was wahrgenommen und erkannt wurde durch Denkarbeit verarbeitet zu haben.

Das Erinnerungsvermögen resp. das Gedächtnis, das ermöglicht, den Wert jeder Passage des gelebten Lebens erhalten zu können und eventuell wieder zu wecken, ist eine der erstaunlichsten und geheimnisvollsten geistigen Kräfte, die dem Menschen zustehen[7]. Die sokratische Erklärung der dem Zeitlichen  enthobenen, der Vergänglichkeit nicht ausgesetzten „psyche“ mag in der Verbindung von Unbewusstem und von Bewusstsein dieser je individuellen, nicht austauschbaren Bedeutung des Erinnernkönnens näher kommen als die wissenschaftlichen Erklärungen der neurobiologischen Prozesse. Sie stimmt überein mit jener Aufmerksamkeit, die sich auf das Vergangene bezieht, so dass, was nicht mehr ist, wieder erscheint, präsent ist und in Bezug zur neuen Wahrnehmung und Erfahrung steht. Aufmerksamkeit in diesem Sinn ist daher nicht nur Synonym von Erinnerung, sondern auch von Vorstellung resp. Vorstellungskraft

“Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, dass ich zur Welt sie einzurichten kam”…

Shakespeares Klage[8] gilt auch heute. Die Zeit, der Rahmen des eigenen, persönlichen Lebens wie des Zusammenlebens der jungen Menschen von heute mit Menschen aller Generationen und Herkunftsgeschichten, ist tatsächlich „aus den Fugen” – auch hier in der Schweiz. Die Frage stellt sich, wie sich die Zeitbedingungen auf die jungen Menschen auswirken. Auf welche Werte soll sich die Aufmerksamkeit ausrichten?

Die Wertefrage zu beantworten ist so schwierig, weil Masslosigkeit die heutige Zeit kennzeichnet. Es ist eine systematische Masslosigkeit, die jegliches menschliche Mass überschritten hat. Raum- und Zeitmass bestehen nicht mehr. Dies betrifft auch den Bereich der Kommunikationstechnologie, der jungen Menschen am nächsten steht und in welchem eine Beschleunigung analog zur Lichtgeschwindigkeit erreicht wurde. Dies betrifft ebenso den Bereich der materiellen Machbarkeit, deren Grenzen schon vor über fünfzig Jahren gesprengt wurden, als die Kernspaltung realisiert wurde und mit ihr die Schaffung der Atombombe, die mit bürokratischer Berechnung ihrer Vernichtungskapazität auch eingesetzt wurde. Als gleichzeitig die ebenfalls bürokratisch geplante und systematisch durchgeführte Vernichtung von Millionen von Menschen, deren Leben den Stempel Unwert erhielt, während Jahren realisiert wurde.

Was verunsichert, ist, dass der technische und der ethische Bereich des Entscheidens und Handelns in einander übergingen, insbesondere dass der ethische Bereich masslos betrügbar wurde. Nichts geschah ohne die Zustimmung ebenso vieler Menschen, die Begründungen schrieben und verkündeten, die zuschauten, mitmachten oder wegschauten. Und die heutige Zeit führt die Masslosigkeit fort, vor einigen Jahren zusätzlich mit der Genomspaltung und -manipulation, die mit der potentiellen industriellen Produktion von Menschen das Sprechen von Menschenwert und Menschenwürde vollends zum Hohn werden lässt. Es geschieht eine vielfache Fortsetzung einer von Millionen von Menschen unterstützten Hybris autoritär diktierter und rassistisch, ethnisch, politisch, religiös und schliesslich biologisch definierter Normierung von Menschsein, von Wert oder Unwert des Menschseins.

Wie sollen junge Menschen mit diesen Zeitbedingungen umgehen, in welche sie hineingeboren wurden? Wir wissen, dass keine Reparaturleistungen in Geld wiedergutmachen können, was an Werten zerstört wird. In Hunderten von Kriegen hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das System der Menschenverachtung fortgesetzt, auch im versteckten Krieg der kapitalistischen Wirtschaft, welche die technologischen Entwicklungen in der Produktion mit der skrupellosen Kapitalgewinnsteigerung verbindet, um die Menschen je nach Bedarf aus rationalen Gründen auf die Strasse zu stellen, für überflüssig und unbrauchbar zu erklären. Bei ungezählten Jugendlichen geschieht dies, bevor sie je Gelegenheit hatten, ihr Können und ihre Fähigkeiten überhaupt zu beweisen.

Die Frage, die sich stellt, ist dringlich. Was braucht es, damit junge Menschen eine andere, nicht-virtuelle Realität erleben und zugleich eine Praxis des menschlichen Respekts?  Was braucht es, damit die Hoffnung, dass jeder Mensch in seiner individuellen Differenz geachtet wird und sich im Zusammenleben mit anderen Menschen sicher fühlt, nicht eine Utopie (u-topos) bedeutet? Zwar wurde 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte versucht, ethische Normen den staatlichen Verfassungen und allen übrigen Normensystemen überzuordnen, um gegen die masslose, getane und erlittene Barbarei das Recht jedes einzelnen Menschen, Rechte zu haben (Hannah Arendt) als unverzichtbaren Wert zu erklären. Doch 1948 führte nicht zu einer anderen Praxis des menschlichen Zusammenlebens: die nächsten Kriege waren schon geplant, die nächsten menschenverachtenden Ideologien schon im Aufbau, die Täter der vergangenen totalitären Regimes zum Teil in neuen Regimes in neuen Ämtern und Würden, und die nationalen Wirtschaften bauten sich wieder auf und boomten mit der Produktion und dem Verkauf neuer Waffensysteme und tödlicher Chemikalien. Was erneut zählte, war der wirtschaftliche Wettlauf, der Rüstungswettlauf, der technologische Wettlauf, kurz, in allem die Beherrschung möglichst grosser Märkte – auf Kosten der Menschen, insbesondere der Kinder und jungen Menschen, auf Kosten der Zukunft des Zusammenlebens der Menschen.

 

Ein “gutes Leben” heute: Aufmerksamkeit  auf Werte, die nicht Täuschung bedeuten

Wen wundert’s, dass ein grosser Teil der Jugend traurig ist, dass ein grosser Teil passiv oder aktiv Widerstand leistet gegen die Angebote ihrer Elterngeneration und diese als verloren oder als unglaubwürdig erklärt? – oder dass ein anderer Teil sich auf rastlose Weise zu zerstreuen sucht, mit Sport und games und sich auf nichts Ernsthaftes mehr einlassen mag? – oder dass ein anderer Teil sich von chemischen Ersatzangeboten des Glücks abhängig macht, sogar im Wissen um den Schaden, den sie sich selber zufügen? – oder dass nochmals ein anderer Teil die überall spürbare oder persönlich erlebte Gewalt gegen sich selber wendet oder diese auf Feindbilder projiziert, auf Schwächere und Behinderte, auf asylsuchende Fremde, auf alte Menschen oder auf  Kinder, da diese sich nicht wehren können? Es ist eine beinah spiegelbildliche Internalisierung der äussern, nach generellen Kriterien normalen, jedoch krankmachenden Masslosigkeiten. Süchte beschränken sich nicht auf den Konsum von Alkohol, Nikotin, Heroin und anderen chemischen Stoffen, sondern haben die vielfältigsten Formen, die alle Ersatz für nicht erfüllte Grundbedürfnisse sind – für das nicht erfüllte Bedürfnis nach Angenommensein und nach Zuwendung, nach Respekt und Lebensfreude, nach Sicherheit und Freiheit, nach einer gestaltbaren, sinnhaften Existenz im Zusammenleben mit anderen Menschen, nach Zukunft. Sie sind in starkem Mass ein Versuch, die Mangelerfahrungen durch Übermässigkeit von Ersatz zu kompensieren. Die Zeilen von Joanna Lisiak, die ich zitiert habe, drücken vieles davon aus.

Jedem Menschen ist seine eigene Vergangenheit, so wie sie ihm von seinen Eltern und der Gesellschaft geschaffen wurde, viel mehr eigen ist als er/sie dies je bewusst erfassen kann. Es ist häufig eine belastende Geschichte der seelischen (manchmal auch der materiellen) Entbehrungen, der Erfahrung von emotionalem Hunger, von Ängsten, von Alleingelassensein, von Stummheit und Streit, von Kälte und von Grausamkeit, häufig unter den verstörenden Beteuerungen elterlicher und familiärer oder betreuerischer Liebe.

Gleichzeitig steht jedem Menschen ein persönlicher Lebensentwurf zu. Dieser kann dann gelingen, wenn die Geschichte nicht mehr hemmende Macht ausübt, wenn Menschen aufmerken lernen, wenn der innere Blick auf sie selber sich zur neuen Aufmerksamkeit entwickelt, wenn sie sich selber und die je eigene Besonderheit, mit den je eigenen Schwächen und Talenten annehmen können. Sich annehmen können aber setzt die Erfahrung des Angenommenseins voraus. Manchmal ist dies erst in neuen  Erfahrung möglich, manchmal erst nach mehreren Versuchen in einem Mass, das ermöglicht, alles Leiden und alle Mangelerfahrungen, auch das Gefühl des eigenen Ungenügens in eine Akzeptanz und somit in tatsächliche Aufmerksamkeit zu integrieren.

Doch gibt es angesichts der Summierung von individuellen und von kollektiven Enttäuschungen und Mangelerfahrungen noch konsensfähige Werte, die auch in der heutigen Zeit aufbauend sein können? Gibt es Werte, die eine heilende und ermutigende Korrektur der umfassenden Resignation bedeuten? Auf welche Werte soll sich die Aufmerksamkeit richten?

Ich denke, dass in der Beziehung zum eigenen Ich wie in jeder zwischenmenschlichen Beziehung, ja in jeder Begegnung und Auseinandersetzung ein sorgfältiges Aufmerken dringlich ist, dass daraus Einfühlsamkeit und Verstehen, ebenso Verlässlichkeit und Offenheit wachsen können. Es geht dabei um Grundwerte, welche für junge Menschen Voraussetzungen schaffen, dem vielfachen Druck der Zeitbedingungen – dem Anpassungsdruck, dem Unterwerfungsdruck, dem Angstdruck – standzuhalten und Zukunft ins Auge zu fassen. Die Erfüllung der Grundwerte entspricht den menschlichen Grundbedürfnissen. Was von Erwachsenen, von welchen jungen Menschen in vielen Bereichen abhängig sind, nicht erfüllt wurde/wird, darf deswegen nicht in Frage gestellt werden, sondern bedarf umso dringlicher der Aufmerksamkeit.

Es sind diejenigen Werte, die das menschenwürdige Mass wiederherstellen. Es geht  insbesondere um Achtung und Aufmerksamkeit hinsichtlich des Zeitmasses, das bei jedem Menschen ein individuelles ist. Um zu lernen und zu entdecken, um zu erproben und zu wachsen muss Zeit zugestanden werden, die nicht berechnet werden darf.  Es braucht Zeit, damit der persönliche Subjektwert bewusst werden kann. Das Wissen um das Subjektsein beruht auf der Erfahrung, in einem wechselseitigen Austausch von Aufmerksamkeit im Fragen und Wissen beachtet und gehört zu werden, um zugleich hören zu können, was andere fragen und wissen möchten. Es beruht auf der Erfahrung, wahrgenommen zu werden und wahrzunehmen, all dies in der vielfachen Bedeutung von Reziprozität (recus – vorher und procus – nachher). Im Alltag des praktischen Lebens – im Unterricht, bei einer Lehrstelle, bei Behörden oder bei anderen Institutionen, auch in den Familien – bedeutet dies, dass der gleiche menschliche Wert spürbar wird, mit der gleichen Achtung und dem gleichen Wert, ohne hierarchische Differenz und ohne Willkür. Wer sich ernstgenommen und angenommen fühlt, kann andere Menschen ernstnehmen und achten, kann auch das Fragen, Zuhören und Verstehen zulassen. Wir können als Grammatik der Reziprozität bezeichnen, was die Aufmerksamkeit auf die wechselseitigen Grundbedürfnisse und Grundwerte richtet und diesen  gerecht zu werden versucht. So kann es möglich werden, der Gleichschaltung junger Menschen mit virtuellen Objekten entgegenzuwirken. Es kann auch möglich werden, die Angst, nicht bestehen und nicht genügen zu können, zu hinterfragen, eventuell aus der Angst vor der scheinbaren Allmacht der Marktdiktatur ganz aufzusteigen.

Es mag wie schöne Worte klingen, doch es geht um mehr. Es geht um wirkliche, lebensnahe Werte, die für junge Menschen, wenn sie sie erleben, eine Korrektur der heutigen Zeitbedingungen sind und die ihnen ermöglichen, diese Werte selber umzusetzen. Es ist tatsächlich so, dass Angenommensein und Aufgehobensein, Vertrauen und Freiheit sich wechselseitig bedingen. Dass die Kehrseite, d.h. die Verweigerung des einen wie des anderen,  zum Gefühl der Leere und der Verlassenheit führt, auch zur lähmenden Unfreiheit in der Suche nach Ersatz; wir wissen davon. Daher ist es dringlich, auf die Umsetzung zu achten, auf vielfältige Weise, ohne Zwang,  im wirklichen, lebensnahen Aufmerken.

Schwierigkeiten oder Widerstand dürfen nicht entmutigen. Aufmerksamkeit ermöglicht, auch beschwerliche Erfahrungen auszuhalten und eine tragfähige Voraussetzung entstehen zu lassen, um eine andere Lebenspraxis nach Wertmassstäben umzusetzen, die nicht trügerisch sind. Auf diese Weise kann gelingen, selber zu bauen, was voran trägt:

“Such den Zug, such! Verpass ihn nicht! Da ist noch ein Anschluss! Steig auf, steig auf! Der Zug fährt gleich ab.  /  Aber  –  ich baue mir doch  –  meinen eigenen Zug.”[9]

Joanna Lisiak drückt auf ihre Weise aus, um was es geht. Es geht um Werte, die dem Gestaltungsbedürfnis, dem Sinn- und Zukunftsbedürfnis junger Menschen gerecht werden. Es geht um die Möglichkeit, eigene Wege zu öffnen und eigene Fähigkeiten umzusetzen, um nicht unter dem Druck zu sein, auf den falschen Zug aufzuspringen. Es geht um Werte, die den wichtigsten Grundbedürfnisse gerecht werden: um ein Leben in tragfähigen Beziehungen und um eine existentielle Entfaltung, für welche Herkunftsgeschichte und Zeitgeschichte nicht mehr Stolpersteine sind. Aufmerksamkeit, die sich auf die Verlässlichkeit in der Beziehung zu eigenem Ich und in der Beziehung zu anderen Menschen ausrichtet, die auch zum kritischen Denken und zum sinnhaften Handeln ermutigt, wird zur tragenden Kraft, die ermöglicht, sowohl den eigenen Grundbedürfnissen wie jenen anderer Menschen auf stärkende Weise gerecht zu werden.

 

[1] Joanna Lisiak. Cocktails zum Lesen. Verlag Nimrod / Werkstatt-Reihe. Zürich 2000, S. 18-19

[2] a.a.O. S. 174

[3] Fritz Mauthner. Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Diogenes Verlag, Zürich 1980 (Nachdruck der Erstausgabe von 1910/11)

[4] a.a.O. Bd. I, S. 61

[5] a.a.O. Bd. I, S. 62

[6] ibid.

[7] betr. u.a.  Genesungsmöglichkeiten nach Hirnblutungen, auch die Bedeutung von Gedächtnis in der analytischen Traumatherapie.

[8] Hamlet I,5: “The time is out of joint, the cursed, spite that I was born to set it right”

[9] Joanna Lisiak. a.a.O.

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