Das andere Genie – Ärgernis und Ansporn – Das Denkende Herz – Denkerinnen des 20. Jahrhunderts

Das andere Genie – Ärgernis und Ansporn

Denkerinnen des 20. Jahrhunderts

 

Der Geniebegriff des 19.  und 20. Jahrhunderts wird durch das “andere Genie” erweitert. Um verstehen zu können, worin philosophie- und kulturgeschichtlich  diese Erweiterung  besteht, setzt voraus, kurz auf den herkömmlichen  Geniebegriff einzugehen.

 

1. Was bedeutet “Genie”

 

Ob es um die kritische Darstellung  der Bedeutung von “Genie” bei Goethe und Kant, Schleiermacher und Jean Paul in Fritz Mauthners “Wörterbuch der Philosophie”1  gehe,  ob die vielen Fallbeispiele  in Cesare Lombrosos’ Untersuchungen  “Genie und Irrsinn”  zählen oder ob die drei Bände von Egon Friedells3   geistreicher,  kritischer Zeitgeschichte  beachtet werden, in welcher  “jedes Zeitalter als Produkt eines Genies”4  erklärt wird,  immer ist das Genie männlich.  Gemäss Friedell braucht es einen einzigen Menschen resp.  einen einzigen Mann, um einen Abschnitt der menschlichen  Geistesgeschichte  in einem haltbaren Bild fortleben zu lassen,  z.B.  für die griechische  Aufklärung  Sokrates, für die französische Aufklärung Voltaire, für die deutsche Aufklärung Lessing,  für die englische Renaissance  Shakespeare,  für seine Zeit Nietzsche.  Das Genie sei auf dreifache Weise gekennzeichnet,  stellt Friedell fest: erstens als das Geschöpf seiner  Zeit,  zweitens sei die Zeit ganz und gar die Schöpfung des Genies  resp. des grossen Mannes, drittens habe das Genie mit seiner Zeit nichts zu schaffen und die Zeit nichts mit ihm.

Was unter “Genie”  verstanden wird,  ist somit männlich und paradox.  Die Paradoxie des Genies,  die sich in Friedells dreifacher Definition manifestiert, fasst er so zusammen,  dass das Genie einerseits “nichts anderes (ist) als die bündige Formel, das gedrängte Kompendium,  der handliche Leitfaden,  in dem knapp und konzis,  verständlich und übersichtlich die Wünsche und Werke aller Zeitgenossen  zusammengefasst sind, ( … ) nichts anderes als das starke Extrakt,  das klare Destillat,  die scharfe Essenz aus ihnen'”.   Andererseits, fährt Friedell fort, handle es sich bei den Genies um “Zauberer”, denen “niemand zu widerstehen vermag,  die beflügeln und lähmen,  berauschen und ernüchtern.  In ihrem Besitz sind alle Heilmittel und Toxine der Welt.  ( … ) Sie lösen in vielen die latente Narrheit aus, die sonst vielleicht immer geschlummert hätte.  Auch erregen sie Kriege, Revolutionen,  soziale Erdbeben”6.  Doch ebenso richtig sei es, kommt Egon Friedell zum Schluss,  ein Genie in seiner aussergewöhnlichen Besonderheit zu charakterisieren,  als  “ein exotisches Monstrum,  eine Fleisch gewordene Paradoxie,  ein Arsenal von Extravaganzen,  Grillen, Perversitäten,  ein Narr wie alle anderen, ja noch mehr als alle anderen, weil er mehr Mensch ist als sie, ein pathologisches  Original, dem ganzen dunkeln Lebensgewimmel da unten fremd,  aber auch seinesgleichen  fremd, ja sich selber fremd,  ohne die Möglichkeit  irgend einer Brücke zu seiner Umwelt( … ), der grosse Solitär:  was seine Grösse ausmacht,  ist gerade dies, dass er ein Unikum, eine Psychose,  eine völlig beziehungslose  Einmaligkeit  darstellt”7.

In allen Beispielen  und Deutungen  des Geniebegriffs wird das weibliche Geschlecht ausgeklammert  resp.  nicht beachtet. Wie erklärt sich diese Einseitigkeit,  zumal in der deutschen Sprache mit “das”  Genie das Neutrum als richtig gilt- im Gegensatz zu “le génie” in der französischen Sprache,  “il genio” in der italienischen etc.? Diese sprachlich und kulturgeschichtlich  bedingte Merkwürdigkeit,  die auch durch die Paradoxien  in Friedells Zusammenfassung der Wortbedeutung  zum Ausdruck kommt, beruht einerseits auf der etymologischen  Verwandtschaft  des im  18.  Jahrhundert aus dem Französischen  ins Deutsche übernommenen  Wortes “génie”  zugleich mit dem lateinischen Masculinum  “genius” wie mit dem Neutrum “ingenium”.  Während die Bedeutung von “genius”  – “Schutzgeist'” im Zusammenhang  des “anderen Genies” vertieft werden kann,  mag es sinnvoll sein,  hinsichtlich der – oft verwirrend wirkenden  – Bedeutung von “Genie” auf die Vielseitigkeit von “ingenium”  einzugehen.

Das Substantiv “ingenium”,  das in erster Linie “Naturanlage”  und “Gemütsart”  sowie “Fähigkeit” und “Verstand” bedeutet, in zweiter Linie “Talent” und “Genie”  sowie “geistreiche Erfindung”  (dt.  als Adjektiv sowohl  “ingeniös”  wie “genial”),  ist abgeleitet vom Verb “gignere (gigno, genui, genitus)” – “zeugen,  erzeugen”, mit welchem die männliche Schöpfungskraft von Leben ausgedrückt wird.  Wir finden “ingenium” u.a.  auch in beruflichen und militärischen Bezeichnungen wieder,  z.B.  in “Ingenieur”,  “Genietruppe”  (resp. Pioniercorps) etc.  Um die Wortbedeutung  zu verstehen,  erscheint mir wichtig zu beachten, welch hoher Wert sich in der römischen Kultur mit “gignere”  resp. “ingignere” (“einpflanzen”;  “ingenitus” – “eingeboren,  angeboren”) verbindet.  Was in den römischen Götter- und Schöpfungsgeschichten über unzählige Generationen vermittelt wurde,  drückt sich auch in der gesellschaftlichen Bedeutung der Sprache resp. der Worte  aus.  So erstaunt  es nicht,  dass “ingenuitas”  als “freie,  edle Geburt”  im  Sinn der väterlichen Herkunft verstanden wurde,  auch dass “ingens/ingentis”  als  “überaus gross” und “ungeheuer”  galt.

Es mag interessant  sein, für die deutsche  Bedeutung von “Genie”  noch kurz auf die philosophiegeschichtlich wichtigen Erläuterungen bei Kant und bei Goethe  einzugehen,  damit nachher  klarer  wird, was das “andere Genie” beinhaltet.

Immanuel  Kant hat sich mit der Bedeutung von Genie in seiner letzten Lebensphase in Zusammenhang der “Kritik der Urteilskraft”9  in den Kapiteln  46 (B 180,  181;  A 178,  179) und 47 (B 183,  184;  A 181)  der “Kritik der ästhetischen Urteilskraft”  auseinandergesetzt. Er beginnt  Kapitel  46 mit der klaren These:  “Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel  gibt”. Diese  These wird jedoch gleich  näher definiert  durch die Erläuterung, dass, da “das Talent,  als angeborenes produktives  Vermögen  des Künstlers,  selbst zur Natur gehört”,  sich “Genie”  erklären  lässt als “die angeborene Gemütsanlage (ingenium),  durch welche  die Natur  der Kunst  die Regel gibt”. Entsprechend Kants Verständnis der perfekten Schönheit,  die allein  der Natur  zukommt,  äussert  sich Genie daher als – gewissermassen göttliche – Kraft  nicht im Forschen  und Nachdenken nach Regeln,  nicht in der Wissenschaft, überhaupt in nichts, was mit Erkenntnishunger, Fleiss und Lernen oder mit Kopieren  von Mustern  und Streben nach Zweck  oder Nutzen  in Verbindung steht, sondern allein in der “schönen Kunst”,  die “für sich selber zweckmässig ist”!”.  Interessanterweise vermutet Kant daher,  dass nicht  allein  “ingenium”,  sondern  “genius”  der Bedeutung von “Genie”  inne ist.  Die “schöne Kunst”  anders  zu erklären,  erscheint  Kant nicht zulässig, ja Genies  selber sei dies nicht möglich.  Allerdings will er sich selber als Philosoph deswegen  nicht entmutigen,  wie es sich ahnen lässt,  indem  er in Zusammenhang von Newton11  und “dessen unsterblichen Werken  der Prinzipien der Naturphilosophie”  festhält,  dass “hierin (d.h.  in der Tatsache,  nicht Genie, sondern  Philosoph zu sein)  keine Herabsetzung jener grossen Männer  liegt,  denen das menschliche Geschlecht so viel zu verdanken hat”. Eben darin,  dass diese sich um immer bessere  Erkenntnisse bemühten und ihr Wissen  an andere Menschen weiter vermittelten, bestehe  “ein grosser  Vorzug vor denjenigen,  welche  die Ehre verdienen,  Genies  zu heissen: weil für diese die Kunst irgendwo  still steht, indem  ihr eine Grenze gesetzt  ist,  über die sie nicht weiter gehen kann,  die vermutlich  auch schon seit lange her erreicht  ist und nicht erweitert  werden  kann.  Und überdem  eine solche Geschicklichkeit sich auch nicht  mitteilen lässt,  sondern jedem unmittelbar von der Hand der Natur  erteilt sein will,  mit ihm  also stirbt, bis die Natur  einmal  einen anderen  wiederum ebenso  begabt”.

Bei Goethe,  der,  ein Vierteljahrhundert nach Kant geboren und nach Kant gestorben,  selber schon Zeit seines Lebens  als Genie verehrt wurde und bis heute in der dichterischen, philosophischen  und naturwissenschaftlichen Dichte und Weite seiner Talente und seines Werks als Genie gilt, bei ihm findet sich im Vierten Teil von “Dichtung und Wahrheit”, den er erst 1830,  zwei Jahre vor seinem Tod,  abschloss, eine sorgfältige Auseinandersetzung  mit dem Geniebegriff  Er versetzt seine “Betrachtungen”,  wie er dort festhält,  in die Zusammenhänge  seines Besuchs bei Johann Kaspar Lavater12  in Zürich ( auf dem Weg durch die Alpen nach Italien),  insbesondere in die mit ihm geführten Diskussionen über dessen physiognomischen Betrachtungen.  Gewiss  verbinden  sich damit auch kritische  Gedanken  zu Kants Einschränkung des Geniebegriffs auf “schöne Kunst”.

Für Goethe  steht fest,  dass “jedes Talent,  das sich auf eine entschiedene Naturanlage gründet, etwas Magisches  zu haben scheint,  weil wir weder  es selbst noch seine Wirkungen einem Begriff unterordnen können”13.  Doch  “niemand räumt gern andern  einen Vorzug ein,  solang er ihn nur einigermassen leugnen kann” setzt er als guter Menschenkenner seine Betrachtungen fort. Naturvorzüge aller Art seien am wenigsten zu leugnen,  und trotzdem sei allein dem Dichter Genie zugestanden worden, “bis plötzlich eine andere  Welt aufzugehen schien:  man verlangte Genie vom Arzt, vom Feldherrn, vom Staatsmann und bald von allen Menschen,  die sich theoretisch hervorzutun dachten” 14. Der Geniebegriff sei in einem Mass verallgemeinert worden,  dass Genie als diejenige Kraft des Menschen zu gelten begonnen habe,  “welche durch Handeln  und Tun Gesetz und Regel gibt”15.  In der Folge  seien die vorhandenen Gesetze  überschritten und die eingeführten Regeln  umgeworfen worden;  das Genie habe sich “für grenzenlos erklärt”.  Reisen  ohne Sinn und Ziel seien als “Geniereisen”, Handlungen ohne Zweck  und Nutzen  als “Geniestreich”  bezeichnet worden; junge, begabte Menschen hätten  sich darin verloren und ältere, vielleicht  talent- und geistlose,  hätten  ihre Schadenfreude darüber  gezeigt.

Dem alten Goethe  erscheint  die Bewegung des “Sturm und Drang”,  in welche  er selber als junger Mensch  hineingezogen worden war, von einer ausufernden Bedeutung von “Genie” geprägt gewesen  zu sein.  “Und  so hätten  sich die Deutschen, bei denen überhaupt das Gemeine  weit mehr überhand  zu nehmen  Gelegenheit findet als bei anderen  Nationen,  um die schönste Blüte  der Sprache,  um das nur scheinbar  fremde,  aber allen Völkern  gleich angehörige Wort vielleicht gebracht, wenn nicht der durch eine tiefere Philosophie wieder  neu gegründete Sinn fürs Höchste und Beste  sich wieder  glücklich hergestellt hätte”16.

Für Goethe  kann somit die eigentliche Bedeutung von Genie dem Missverständnis in den Turbulenzen des leichtfertigen oder gar falschen Gebrauchs  des Wortes  standhalten.  In seinem  “Nachlass”  finden  sich Notizen,  die weiterleiten.

 

 

  1. Was bedeutet “das andere Genie”

 

Dass  “grosse Talente  das schönste  Versöhnungsmittel  sind”  und dass “das Genie eine Art Ubiquität ausübt,  ins Allgemeine vor,  ins Besondere nach Erfahrung”‘”,  verweist  auf das “andere Genie”.  Das “andere Genie”  kennzeichnet ein Aussenseitertum,  auf besondere Weise ein Aussenseitertum von Frauen.  Es sind Frauen,  deren Leben und deren Werk  ebenso grosse Talente  aufweist  wie Mut,  leider oft auch Tragik.  Beispiele  im Bereich  der Philosophie,  im politischen und sozialen  Bereich,  im Bereich  der Naturwissenschaften,  der Musik,  der Dichtung,  der Malerei,  überhaupt der Kunst  sind zahlreich,  seit der Antike.  Eine Auswahl  zu treffen ist nicht einfach.

Ich entschied,  Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit des 20. Jahrhunderts zu beachten  und dabei einer Linie zu folgen, die der ursprünglichen Bedeutung von “genius”  (nicht jener  von “ingenium”) am nächsten ist,  einer Bedeutung von “genius”,  die sich in der römischen Kulturgeschichte  sowohl mit individuellem  “geistigem  Schutz”  wie mit dem Schutz eines Ortes oder gar eines Staates verbindet.

Ausgehend von diesen Überlegungen  ergab sich als Kennzeichen  des “anderen Genies”18  die kreative Vernunft des denkenden Herzens”. Es geht dabei um die schöpferische Kraft des Menschen, die sich der persönlichen  Erfahrung bedient, um über die dem Verstand zugeschriebene  sachliche und begriffliche Klärung hinauszugehen und Erkenntnisfähigkeit so zu benutzen,  dass die abstrakte wie die lebensnahe sich ergänzen; die sich auf selbstkritische sowie auf theorie- oder ideologiekritische Weise nach Werten ausrichtet,  welche den Geschehnissen der Zeitgeschichte einen Sinn geben oder, falls als nötig erachtet,  diese zu korrigieren versuchen; die sich entsprechend  der inneren Überzeugungskraft, d.h.  entsprechend der moralischen Instanz des Gewissens zum Mut ( courage / coeur) entscheidet,  der den kreativen Widerstand  sowohl gegen die das eigene Selbst verstörenden,  destruktiven Kräfte ermöglicht – gegen Verzweiflung und gegen Hass – wie gegen die kollektiv destruktive Macht der Menschenverachtung, die sich für eine Kultur des dialogischen Verstehens ( entsprechend dem gr. “sympathein”) und des reziproken Respekts (lat.  “recus”  – rückwärts, “procus” – vorwärts), für Gerechtigkeit  im Verteilen von Gewinn und für die Unantastbarkeit menschlichen Lebenswertes  einsetzt.

Zusammengefasst:  Das “andere Genie” resp. das “denkende Herz” manifestiert sich in der Suche nach Übereinstimmung von Denken und Empfinden resp. von Intellekt und Psyche,  so dass Handlungsentscheide und deren Folgen tragbar und verantwortbar  werden.

Den Titel wählte ich dank Etty Hillesum,  einer der Frauen,  auf welche ich eingehen werde, die ein knappes Jahr vor dem Abtransport von Westerbork/Holland  nach Auschwitz nach der “einmaligen,  erlösenden Formel” für das “übervolle und reiche Lebensgefühl”  suchte und auf das “denkende Herz” 19  stiess.  Gewiss boten Blaise Pascal’s “Pensées”20  der jungen holländisch-jüdischen Philologin  eine philosophische Annäherung an,  ging es dabei doch um die Auseinandersetzung über die Differenz von Intellekt und Seele resp. die Differenz zwischen mathematisch  erkennendem und psychisch ahnendem oder empfindendem Geist, die Pascal’s Erkenntnisprozess immer wieder spürbar hemmten.

Auf Etty Hillesum werden wir später näher eingehen.  Wichtig erscheint mir,  schon einleitend zu erwähnen,  dass diese Denkerin zur Zeit des Zweiten Weltkriegs ein Streben nach Erkenntnis kannte,  das begrifflich zwar vergleichbar ist mit jenem des Mathematikers  und religiös-mystischen  Philosophen  Mitte des 17.  Jahrhunderts, dass die individuelle Bedeutung der gleichen Begriffe jedoch  mit anderen Vibrationen einherging,  sich auf andere Erfahrungen abstützte und sich auf andere  Bedürfnisse der Klarheit ausrichtete.  Es geht um die feine, jedoch zentrale Differenz im zugleich zeitbedingten und je individuellen Gebrauch von Sprache resp. in der Bedeutung  der Worte. Diese Differenz hängt mit den unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen im emotionalen und im intellektuellen Bereich  des Menschen zusammen,  ein in der modernen  Neurologie zunehmend erforschtes Wissensgebiet,  das noch voll ungeklärter Hypothesen ist21.  Wenn Blaise Pascal  z.B.  festhält  “Le coeur  a ses raisons que la raison  ne connâit  pas; on le sait en mille choses”22, geht er auf  die unterschiedlichen Kenntnisse von Raum und Zeit, Bewegung und Zahlen  resp. von Grössenordnungen ein,  die durch die Vermittlung des “Herzens”  resp. durch Empfindungen einerseits  bewusst sind,  die andererseits vom Verstand  resp. von der Vernunft  (“raison”  hat in deutscher  Sprache die eine wie die andere Bedeutung) auf eigene Weise  erarbeitet werden müssen.  Für Blaise  Pascal kann es in den Resultaten von Empfinden und Denken  keine Übereinstimmung geben,  obwohl in beiden  Erkenntnisbereichen eine Sicherheit möglich  ist. Diese wegen der unterschiedlichen Erkenntnisprozesse in Frage zu stellen,  erachtet  er als sinnlos, ja als lächerlich.  “Les principes se sentent,  les propositions se concluent,  et le tout avec certitude,  quoique par différentes voies.  Et il est aussi inutile et aussi ridicule  que la raison  demande  au coeur des preuves de ses premiers  principes,  pour vouloir  y consentir  qu’il  serait ridicule que le coeur  demandait à la raison   un sentiment de toutes  les propositions qu’elle  demontre,  pour vouloir  les recevoir”23. Es geht um die Bedeutung der “certitude”,  resp. der inneren  Sicherheit sowohl  im Erkenntnisprozess des Herzens  wie in jenem  des Intellekts,  die letztlich nur durch die wechselseitige Akzeptanz der zwar unterschiedlichen,  sich im menschlichen Geist jedoch ergänzenden Fähigkeiten zustande kommen  kann.

Vielleicht kann die Akzeptanz der Differenz im Erkenntnisprozess zu jener inneren Übereinstimmung führen,  die Goethe im  hohen Alter als  “Wahrheitsliebe,  das erste und letzte, was vom Genie gefordert wird”24 erklärt.

Diese  schwierige,  vom einzelnen  Menschen sich selbst gestellte  und nur selber lösbare Forderung wird uns bei der Untersuchung der nach Übereinstimmung von Intellekt,  Emotion und Handlungsentscheid suchenden  Denkerinnen beschäftigen. Wir werden  darauf eingehen.  Zeit- und Lebensgeschichte,  auch Textanalysen werden von Bedeutung sein, um das “andere Genie” zu verstehen,  das sich als kreative  Vernunft des denkenden Herzens  bestätigt.  Die Auswahl beschränkt sich auf Rosa Luxemburg, Bertha Pappenheim, Simone Weil, Hannah  Arendt und Etty Hillesum,  auf Regula Kägi-Fuchsmann, auf Ulrike Maria  Meinhof.

 

 

 

1    Fritz Mauthner.  Wörterbuch der Philosophie.  Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache.  2 Bd.  (Erstausgabe 1910/11). Diogenes  Verlag, Zürich  1980,  S.  392-399

2  Cesare Lombroso.  Genie und Irrsinn,

3 Egon Friedell hatte 1938 in Wien eben die “Kulturgeschichte Griechenlands. Leben und Legende der vorchristlichen Seele” vollendet,  als der Eimnarsch  der deutschen Truppen in Österreich erfolgte und sein Manuskript  von der Gestapo beschlagnahmt wurde. Egon Friedell brachte die Kraft zu fliehen nicht auf und nahm sich das Leben.

4 Egon Friedell. Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen  Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg.  Verlag C.H.  Beck, München  1979.   (Erste Auflage in drei Bänden  1927 – 1931),  S. 30-31 ff.

5  cf.  3  S.  30 “cf  3  S. 31

7  cf.  3  S.  32

8  Stowasser.  Einleitung  und Etymologie  von Franz  Skutsch.  G.  Freytag Verlag, München 1957,  S. 230

9  Immanuel Kant (22.4.1724-12.2.1804).  Kritik der Urteilskraft  (drei Auflagen noch zur Lebenszeit 1790 / 1793 / 1799). Hrsg, von Wilhelm Weischedel.  Insel Verlag  1957.  S. 241-246

10  cf.  9, Kap. 44 “Von der schönen Kunst”, S.  240

11   Isaac Newton (4.1.1643-31.3 .1727), von Bedeutung u.a. wegen der Entdeckung des Gravitationsgesetztes, in: Naturalis philosophiae principia mathematica  (1687)

12  Johann Kaspar Lavater  (15.11.1741-2.1.1801);  die4 Bde.  “Physiognomische Fragmente  zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe”  erschienen  mit Beiträgen von Goethe 1775-78.

13  Johann Wolfgang Goethe.  Dichtung und Wahrheit.  Vierter Teil, 19. Buch, S. 284.  Aus:  Goethes Werke, 11. Band,  Verlag Birkhäuser, Basel  1944

14  cf.  13,  S. 285

15  cf.  13,  S.286

16  ibid.  15

17  Johann Wolfgang Goethe.  Gedanken und Aufsätze.   Aus dem Nachlass, S. 54. Aus:  Goethes Werke,  12. Band, Verlag Birkhäuser, Basel  1944

10  Interessanterweise  findet sich kein etymologischer  Hinweis auf “Genie”  im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache, Friedrich Kluge,  Strassburg  1915  (lediglich auf “genieren”).  – Ebenso fehlt im grossen Lexikon der Frau in 2 Bänden, Encyclius-Verlag, Zürich  1953  / 1954 jegliche  Klärung des Begriffs  “Genie”  oder “Genius” (auf “Geneviève” folgt “Genitale”).

19  Etty Hillesum  (1914-1943).  Das denkende Herz. Tagebücher  1941-1943.  Aus dem Niederländischen von Maria Csollany. Rowohlt  Verlag, Reinbek bei Hamburg  1985,  S.  171

20 Blaise Pascal (1623-1662).  Oeuvres complètes.  Editions Gallimard,  Paris 1954.  S.1102 ff,  S.1221-22.

21   Sehr empfehlenswert ist Alexander R.  Lurija.  Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie.  Aus dem Russischen  übersetzt von Alexandre Metraux und Peter Schwab.  Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992; lesenswert auch die jüngste  Publikation von Gerhard Roth. Fühlen, Denken, Handeln.  Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.  2001

22  cf.  20 Pensees/ 6. Le coeur,  S.  1221

23  cf.  21 S.  1222

24  cf.  17  S. 54

 

  • Die politische, soziale und menschenrechtliche Zielsetzung:

Bei Rosa Luxemburg – in Fortsetzung von Flora Tristan sowie von weiteren Denkerinnen der grossen frühsozialistischen Bewegung –  ist es die Dringlichkeit einer gesellschaftpolitischen Korrektur der durch den industriellen Fortschritt und die dafür erfolgte Benutzung der Arbeiterinnen und Arbeiter zum Zweck des kapitalistischen Gewinns sich steigernden menschlichen Ausnutzung und Entrechtung. Gleichzeitig mit dem Einsatz um soziale Gerechtigkeit verbindet sie jener um Friedenspolitik angesichts des durch die grosse Waffenproduktion sowie durch Armut und Arbeitslosigkeit ganzer Massen sich vorbereitenden Ersten Weltkriegs. – Auf analoger politischer Basis beruht auch das Werk, das Regina Kägi-Fuchsmann mit dem Aufbau des Arbeiterhilfswerks hier in der Schweiz in den 30er und 40er Jahren geschaffen hat, insbesondere die in Zusammenhang von Inflation, Spanischem Bürgerkrieg und Zweitem Weltkriegs verursachten wachsenden Armut, Verfolgung und Lebensbedrohung unzählbar vieler wehrloser Kinder und Erwachsener. – Eigentlich für eine gleiche Zielsetzung hatte sich Ulrike M. Meinhof mit ihrem kritischen Denken eingesetzt, wurde jedoch in eine zunehmend fundamentalisierte, innergesellschaftliche Kriegssituation hineingezogen.-

  • Die frauen- und friedensrechtliche Zielsetzung:

Bei Bertha Pappenheim – resp. Anna O. im Bericht über Hysterie von Josef Breuer und Sigmund Freud –  findet sich der intensive Einsatz für die Umsetzung der von Olympe de Gouges et von Mary Wollstonecraft geforderten Rechte der Frauen auf Bildung und Ausbildung, nicht auf der frühsozialistischen, sondern auf der bürgerlichen Linie. Dabei geht es insbesondere um den Schutz osteuropäischer, in  grösster Armut aufwachsender Mädchen und junger Frauen vor missbrüchlicher Anstellung und auferzwungener Prostitution. – Margarete Susman bedurfte eines langen Entwicklungsprozesses, damit ihr Denken sich vom persönlichen auf den gesellschaftsanalytischen Zusammenhang ausrichten konnte.

  • Die existenzphilosophische Zielsetzung im Vorfeld und während des 2. Weltkriegs:

Bei Etty Hillesum geht es angesichts der Unausweichlichkeit von Deportation und Konzentrationslager um die zentralen Fragen von Lebenssinn und Lebensmut, um Verstehen und Ertragen der eigenen Emotionen sowie jener der anderen Menschen, um Fragen nach einem göttlichem Ordnungsgefüge. – Bei Simone Weil um den Konflikt zwischen den nicht wählbaren Bedingungen der Zugehörigkeit resp. der Identität (Herkunft, Geschlecht) und den wählbaren (moralische, religiöse, politische Entscheide) unter Zeitbedingungen der menschlichen Entrechtung und Gewalt, um die Dringlichkeit einer Korrektur der menschlichen Entwurzelung mit Hilfe einer umsetzbaren Grammatik der Einwurzelung (enracinement). – Bei Hannah Arendt um die Komplexität des privaten und des öffentlichen Lebens, um die Kraft der Liebe und der mit der Gebürtlichkeit einsetzenden Freiheit, gleichzeitig um Ursachen, Bedingungen und Folgen politischer Macht.

 

  • Die politische, soziale und menschenrechtliche Zielsetzung

 “Sie war immer bereit, sich für die Leidenden und Unterdrückten einzusetzen. (…) Aber dieses Mitleiden konnte nicht in Einzelhilfe und Palliativmitteln Genüge finden. Ihr übermächtiges Empfinden wurde von früh an von ihrem scharfen Verstand gezügelt. (…)

Für sie gab es kein Dogma und keine Autorität, der man sich blind zu unterwerfen hatte. Der Gedanke gar, dass ihre eigenen Ideen der Kritik entzogen sein sollten, hätte sie erstaunt und empört. (…) Wo es sich um Erkenntnisse handelte, kannte sie keinen Kompromiss und erst recht keine Unterwerfung unter fremden Willen. Sich bis zum Letzten einzusetzen für die eigene Überzeugung, war ihr das Moralische (…).

Mit visionärer Kraft erfasste sie den grossen historischen Prozess”[1].

Rosa Luxemburg (5.3.1871 – 15.1.1919)

Die vielfache Beurteilung Rosa Luxemburgs durch ihren Zeitgenossen Paul Fröhlich findet sich in der “authentischen Biographie”, die er knapp vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Exil in Paris publizierte, “um ihre Gestalt den nachwachsenden Generationen ins Gedächtnis zu rufen, in einer Zeit, da viele Vorbilder fragwürdig geworden waren”[2]. Paul Fröhlich war ein Rosa Luxemburg nahestehender Zeitgenosse, der noch in den 20er Jahren von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zu einer Herausgabe ihrer Gesammelten Werke beauftragt worden war, jedoch bald darauf von der Partei ausgeschlossen wurde, so dass nur ein kleiner Teil der geplanten 9 Bände erscheinen konnte. Mit seiner persönlichen Kenntnis und dem vielen Material, worüber er verfügte, wollte er der wichtigen politischen Aufgabe im Exil in Paris gerecht werden, eine Aufgabe, die mit allen persönlichen Erschwernissen, die er nach Hitlers Machtergreifung 1933 und nach seiner Inhaftierung im Konzentrationslager Lichtenberg[3] hatte erdulden müssen, hinsichtlich Rosa Luxemburgs Geschichte noch bedeutender wurde.

Eine grosse Anzahl weiterer Biographien Rosa Luxemburgs und vielfältiger, kritischer Abhandlungen über ihre Persönlichkeit sowie über ihre Bedeutung als politische Denkerin füllt die Bibliotheken[4]. Die Beurteilungen sind sehr unterschiedlich, vor allem diejenigen, die unter dem Einfluss einer politischen – z.B. der kommunistischen –  Doktrin erfolgten. Wenn Heinz Abosch Rosa Luxemburg diesbezüglich als “Antipode der manipulierten Ideologie”[5] bezeichnet, wird er der Tatsache gerecht, dass jede Ideologie auf massgebliche Weise das individuelle Denken beeinflusst resp. einschränkt. Rosa Luxemburg selber war davon auf rastlose und zugleich auf sie verletzende Weise geprägt. Marx’s theoretischer Entwurf einer auf gerechter Verteilung von Arbeitsleistung, Zeitaufwand und Gewinn basierenden menschlichen “Gemeinschaft”[6] beruht wurde zu ihrem leidenschaftlichen Credo, das sie durch Überzeugung der Arbeiterklasse und durch deren Aufstand gegen Entrechtung und kapitalistische Ausnutzung zu realisieren suchte. Mit dieser Vision in ihr, die eine verpflichtende Bedeutung hatte, kämpfte sie gegen parteipolitische Willkür und Machtspiele, gegen narzissstische Willkür an der Spitze der deutschen, französischen und englischen, polnischen und russischen sozialistischen und kommunistischen Parteien, insbesondere gegen den von Eduard Bernstein – einem Freund Friedrich Engels – vertretenen Revisionismus, der eine sozialdemokratische Anpassung an den Kapitalismus und eine Ablehnung jeder Art von Arbeiteraufstand als dringlich erklärte. “Nichts war ihr mehr zuwider als gedankliche Mogelei, und höchster Bekennermut zeichnete sie aus”[7], hält Heinz Abosch von ihr fest, als er ihre Briefe kommentierte, die in den 80er Jahren endlich in einer – zwar immer noch reduzierten – Gesamtausgabe[8] erschienen. (Weitere  Publikationen ihres grossen Briefwechsels erschienen früher und bestehen à part[9]).

Die von Rosa Luxemburg verfassten politischen, geschichtlichen und ökonomischen Abhandlungen und Artikel[10] geben dem leidenschaftlichen Denkduktus und ihrer Unerschrockenheit Ausdruck, jedoch kaum der Überzeugungskraft und Ausstrahlung, die sie damit ausübte, noch weniger den Auswirkungen auf die offene und heimtückische Gegnerschaft, die sich dagegen bildete. Eine ihrer bedeutendsten Arbeiten, von ihr selber 1912 veröffentlicht, besteht in der Untersuchung der “ökonomischen Erklärung des Imperialismus” durch die “Akkumulation des Kapitals” –  eine Untersuchung, die unter den ideologischen Aspekten des Neoliberalismus und der amerikanischen Weltbeherrschungsziele von heute nochmals kritisch zu lesen und zu erneuern mir wichtig erscheint. Die grosse Anzahl von Schriften, die mit pausenloser Rastlosigkeit von ihr geschrieben und durch ihre Ermordung am 15. Januar 1919 abgebrochen wurden, bietet eine Möglichkeit der sich fortsetzenden Auseinandersetzung mit den Ursachen gesellschaftlicher Missstände sowie der Dringlichkeit deren Korrektur.

Auf jeden Fall findet sich das “andere Genie” Rosa Luxemburg, das in den knapp 38 resp. 39 Jahren ihres Lebens in der vielfältigen Bedeutung erkannt und bewundert sowie angefeindet, gejagt und bis zum Tod verfolgt wurde, in der Fortsetzung ihrer Bedeutung bis in die heutige Zeit. Die “visionäre Kraft”, die Paul Fröhlich in ihr spürte – so wie unzählbar viele Menschen ihrer Zeit und später –, mag erklären, weshalb es sich lohnt, erneut die Bedeutung von Leben und Werk dieser Frau zu untersuchen, auch auf die Bedeutung von Visionen einzugehen, die auf Grund von Erfahrung, denkerischer Verarbeitung und schöpferischer Erkenntnisprozesse den individuellen Bereich in kollektive Zusammenhänge sowie in Entwürfe einer politischen und sozialen Korrektur leidvoller Mangel- und Missbrauchszustände erweitern.

…” und vergessen Sie nie, dass das Leben, was auch kommen mag, mit Gemütsruhe und Heiterkeit zu nehmen ist”[11].

Das Geburtsdatum Rosa Luxemburgs steht nicht mit Sicherheit fest. Nach den meisten Biographinnen und Biographen (etwa Luise Kautsky, Paul Fröhlich oder Elzbieta Ettinger) ist es der 5. März 1870, gemäss dem Oxforder Politologen Peter Nettl ist es der 5. März 1871, nach Rosa Luxemburgs Basler Eheschein der 25. Dezember 1870. Geboren wurde sie in Zamost, dem galizischen „Klein-Paris”, wie der Schriftsteller Isaac Leib Peretz das Städtchen südöstlich von Lublin nannte, das seit dem 16. Jahrhundert als Markt- und Handelsplatz bekannt war und das Händler und Handwerker aus allen Weltgegenden und Kulturen anzog – armenische, griechische, türkische und jüdische. Schon 1588 muss sich in Zamost eine bedeutende sephardische Gemeinde hervorgetan haben, erhielt diese doch in jenem Jahr Niederlassungs- und Aufenthaltsprivilegien. Doch als Schweden im 17. Jahrhundert Polen mit einem blutigen Krieg überzog, floh fast die ganze sephardische Gemeinde. Die Ashkenasim, die später die Gemeinde wieder aufbauten, erreichten nie mehr den Wohlstand der sephardischen Gemeinde, zumal im 18. Jahrhundert mal Österreich, mal Preussen, dann von 1815 an Russland die Herrschaft über Polen beanspruchten und die jüdischen Gemeinden, auch jene von Zamost, schweren Einschränkungen unterwarfen.

Rosa Luxemburgs väterliche Vorfahren sollen im 18. Jahrhundert als Landschaftsgärtner aus Bruxelles nach Zamost geholt worden sein. Von Rosas Grossvater weiss man, dass er ein Holzhändler war, und dass seine Geschäfte ihn weit nach Osten und nach Westen führten. Schon der Grossvater wandte sich von der Orthodoxie ab. Rosas Vater, Eliasch Luksenburg, führte das Holzgeschäft weiter und setzte die Assimilation seiner Familie fort.

Rosa Luxemburgs Mutter, Lina Löwenstein, entstammte einer Familie, die siebzehn Generationen zurück lauter Rabbiner und Gelehrte zählte, deren Urahne der berühmte spanische Talmudweise Rabbi Zerachya Halevi war. Vermutlich war der frommen und gelehrten Familie die Heirat Linas mit Eliasch Luksenburg ein Dorn im Auge. Der Sabbat und die Feste wurden bei Luksenburgs wohl gefeiert, doch die Umgangssprache war Polnisch, nicht Jiddisch. Lina Luksenburg-Löwenstein, eine Kennerin der deutschen und polnischen Literatur, erzog ihre Kinder in einem weltoffenen Sinn, allerdings ohne Kontakt zu den Haskalim, der Bewegung der jüdischen Aufklärer, die sich in Zamost gegen die Orthodoxen und gegen die Chassidim nicht durchsetzen konnten. Als nach dem polnischen Aufstand gegen die russische Herrschaft von 1863 eine Reihe von Pogromen und antijüdischen Gesetzen einsetzte, gingen Eliasch Luksenburgs Geschäfte immer mehr zurück, sodass er sich 1873 entschloss, mit seiner Familie nach Warschau zu ziehen.

Rosa Luxemburg war damals drei Jahre alt, die jüngste von fünf Geschwistern. Statt in einem zweistöckigen eigenen Haus lebte die Familie nun in einer Mietwohnung an der Zlota-Strasse, nicht weit entfernt vom jüdischen Quartier, das von Armut und Elend gekennzeichnet war. Obwohl die Zlota Strasse  eine “gute Adresse” war, hatte sie eine Hinterseite, und auf der Hinterseite einen schmutzigen und armseligen Innenhof. Der Gegensatz zwischen Vorder- und Hinterseite war Rosa Luxemburgs erste Einführung in die Härte der Klassengegensätze. Fast dreissig Jahre später, als sie in Zwickau im Gefängnis sass, erinnerte sich Rosa Luxemburg an diesen Hof. Sie schilderte ihn in einem Brief an Luise und Karl Kautsky und hielt dann fest: “Damals glaubte ich fest, dass das ‚Leben’, das ‚richtige’ Leben, irgendwo weit ist, dort über die Dächer hinweg. Seitdem reise ich ihm nach. Aber es versteckt sich immer hinter irgendwelche Dächer. Am Ende war alles ein frevelhaftes Spiel mit mir, und das wirkliche Leben ist gerade dort, im Hof, geblieben”[12].

Eine weitere einschneidende Erfahrung machte sie wenig später. Wegen eines Hüftleidens musste sie zwischen dem vierten und fünften Altersjahr das Bett hüten, regungslos  eingezwängt in ein Korsett. Als sie mit fünf wieder gehen lernte, war das eine Bein beträchtlich kürzer, eine Missbildung, unter der sie ihr ganzes Leben litt. In der Zeit, als sie bettlägrig war, lernte sie lesen und schreiben, zugleich in Deutsch, Polnisch und Russisch, sie schrieb kleine Gedichte und korresponierte vom Bett aus mit den Eltern und Geschwistern, kurz, sie legte sich jene Fähigkeit zu, die sie später, während der vielen Jahre, die sie in Gefängnissen zubrachte, auszeichnete: jede Einschränkung als Chance zu nutzen.

Eine dritte tiefgreifende Erfahrung, die sie als Kind machte, hatte mit der jüdischen Herkunft zu tun, eine Erfahrung gesellschaftlicher Minderwertigkeit und Ungleichbehandlung. Der Besuch des sogenannten “Ersten Gymnasiums” war ihr, wie allen jüdischen Kindern, verwehrt. Auch das sogenannte “Zweite Gymnasium” gestattete jüdischen Kindern den Besuch nur, wenn sie eine schwierige Aufnahmeprüfung bestanden. Rosa Luxemburg bestand als Zehnjährige die Prüfung glänzend, doch die antisemitischen Schikanen nahmen damit noch kein Ende. Sie fühlte sich durch den Nationalismus der polnischen Mitschülerinnen gleich ausgrenzt wie durch die mit grosser Festlichkeit zelebrierten christlichen Feiertage, auch wenn sie als Polinnen alle unter der russischen Oberhoheit zu leiden hatten. Die antipolnischen Massnahmen spitzten sich jedoch mit antisemitischen Sonderverfügungen gegenüber den jüdischen Schülern und Schülerinnen zu.

Als Rosa Luxemburg noch nicht zwölf Jahre alt war, machte sie die einschneidenste Erfahrung. Ein nichtiger Grund löste an Weihnachten 1881 unter den Besuchern der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau eine Panik aus, die sich zu einem brutalen Pogrom ausweitete. Rosa Luxemburgs Familie musste sich tagelang versteckt halten. Die ausgestandene Lebensgefährdung versuchte sie zu verdrängen, doch es blieb in ihr die Angst vor der Unberechenbarkeit und vor der nicht kontrollierbaren Brutalität aufgepeitschter Menschenmassen. Mehrmals hielt sie fest, zum Beispiel in einem Brief an Luise Kautsky von 1917 aus dem Gefängnis, dass sie angesichts von Menschenmassen stets nur das Bedürfnis habe wegzurennen.

Man muss sich nicht wundern, dass Rosa Luxemburg schon während ihrer Gymnasialzeit an der illegalen Tätigkeit der politischen Opposition teilhatte. Auch lässt sich durch die Erfahrungen der Jugenzeit die Tatsache erklären, dass sie, sobald sie erwachsen war, einerseits nichts mehr mit dem Judentum zu tun haben wollte, dass sie andererseits keine Art menschlicher Demütigung, keine schicht- oder klassenspezifische Diskrimierung anzunehmen gewillt war, auch dass sie sehr früh zu einer hellsichtigen Warnerin vor nationalistischen Entwicklungen wurde.

In der Einleitung zu ihrer Korolenko-Übersetzung hielt Rosa Luxemburg später fest, dass sie die achtziger Jahre, die sie in Warschau als Gymnasiastin verbrachte, als eine Periode starrster Hoffnungslosigkeit empfunden habe. Massgeblich beeinflussten sie in jener Zeit die Werke des Dichters Adam Mickiewcz, der, ein politisch Verfolgter und Emigrant, im Jahr 1855, fünfzehn Jahre vor ihrer Geburt, auf ungeklärte Weise in der Türkei starb und der nicht nur zur sozialistischen Verbrüderung, sondern auch zum jüdischen wie gleichzeitig zum polnischen Freiheitskampf aufgerufen hatte.

Als Rosa Luxemburg am 14. Juni 1887 – mit 16 Jahren – das Gymnasium abschloss, war sie geheimes Mitglied der “Revolutionär-Sozialistischen Partei Proletariat”. Nur weil sie ihre Mitgliedschaft geheimhalten konnte, war es möglich, dass ihr am 5. März 1888 ein Pass ausgestellt wurde. Ein Jahr später, im Februar 1889, kam sie in Zürich an. Die Schweiz und insbesondere die Universität Zürich, die damals noch im südlichen Flügel der ETH untergebracht war, konnte sich rühmen, ein Sammelbecken der polnischen und russischen Opposition zu sein, zumal in Zürich wie an anderen Schweizer Universitäten Frauen damals schon zum Studium zugelassen waren.

Rosa Luxemburgs Vorbilder waren die jungen polnischen und jüdischen Rebellinnen, die ein leidenschaftliches Leben einem sicheren und ordentlichen Leben vorzogen: etwa Sofia Perovskaja, die nach dem Zarenattentat von 1881, als Rosa Luxemburg elf Jahre alt war, erhängt wurde. Oder Aleksandra Jentys, die ein Doppelleben führte, tagsüber als verehrte Lehrerin am Institut für “Töchter höherer Abkunft”, nachts aber als “Verschwörerin” agierte und heimliche Geliebte eines verheirateten Mannes war, und die, als Rosa Luxemburg dreizehn Jahre zählte, gemeinsam mit ihrem Geliebten Ludwig Warynski, dem Gründer der Arbeiterpartei “Proletariat”, in der Warschauer Zitadelle eingekerkert wurde, bevor sie zwei Jahre später nach Russland deportiert wurde. Oder zwei weitere Frauen, die, als Rosa fünfzehn Jahre alt war, in der Warschauer Zitadelle inhaftiert waren: die polnische Adlige Maria Bohuszewicz, die als Neunzehnjährige Leiterin des Zentralkommitees der Arbeiterpartei “Proletariat” wurde, und deren Freundin Rosalia Felsenhard, eine jüdische Lehrerin, die während des Dezemberpogroms das Leben von dreissig ihr anvertrauten Kindern schützte und retten konnte. Als Rosa Luxemburg das Gymnasium abschloss, wurden die beiden Frauen nach Sibirien deportiert und erlitten unterwegs den Tod. Politischer Widerstand, Mut und Liebe wurden für Rosa Luxemburg zu Leitplanken ihrer intellektuellen, emotionalen und existentiellen Entfaltung.

Dies waren die prägenden Erfahrungen und Vorbilder, die Rosa Luxemburg in sich und mit sich trug, als sie sich an der Zürcher Universität einschrieb: einerseits Erfahrungen, die aus der gering geachteten jüdischen Herkunft und aus ihrer körperlichen Behinderung stammten und die vielerlei Einschränkungen bedeuteten, die aber auch den Willen wachsen liessen, dagegen aufzustehen.  Andererseits Erfahrungen, die aus ihrer politischen Untergrundtätigkeit während der Gymnasialzeit ein theoretisches und erlebtes Fundament der sozialistisch-proletarischen Solidarität sowie der beispielhaften Unerschrockenheit einzelner Frauen entstehen liessen. Auf diesen Voraussetzungen baute sie ihr Verhältnis zur Herkunft auf wie ihr Verhältnis zur politischen Aufgabe in ihrer Zeit, rückwärts und vorwärts ihr Verhältnis zu sich selber als glückshungriger, tatenhungriger, hochbegabter Frau. Jede Art von Verhältnis konkretisierte sich in Beziehungen – Ausdruck davon sind ihre Briefe -, in ihren öffentlichen Auftritten und in ihrem theoretischen Werk.

Als Rosa Luxemburg sich 1889 in Zürich immatrikulierte (zuerst an der Philosophischen Fakultät, wo sie Zoologie, Botanik und Mathematik belegte, wobei sie nach drei Jahren an die Juristische Fakultät wechselte, an der sie 1897 mit einer Disseration über die industrielle Entwicklung Polens doktorierte), da wusste sie schon, dass sie nicht in der Schweiz bleiben wollte, dass ihr Wirkungsfeld Deutschland sein würde. Zwar knüpfte sie von Zürich aus Kontakte mit den führenden russischen und polnischen sozialistischen Emigranten und Emigrantinnen, die sich in der Schweiz aufhielten (etwa mit Zofia Daszynska, mit Julian Balthasar Marchlewski, mit Georg Plechanow u.a.m.), auch mit einzelnen Schweizer Sozialisten und Sozialistinnen (so mit Mathilde und Robert Seidel, mit Paul Axelrod). Am Dritten Sozialistenkongress, der im August 1893 in Zürich stattfand, lernte sie August Bebel, Karl Liebknecht, Friedrich Engels, Clara Zetkin und Karl Kautsky kennen, mit dessen Familie, insbesondere mit dessen Frau Luise, Rosa Luxemburg ihr Leben lang befreundet blieb. Über die “Sprawa Rabotniza“ sodann, das Organ der “Sozialdemokratie Polens und Litauens”, das in Paris herauskaum und wofür Rosa Luxemburg während Jahren verantwortlich war, kam sie auch in Kontakt mit bedeutenden französischen Sozialisten, z.B. mit Jules Guesde und mit Eduard Vaillant, sodann – geprägt von grossen polititschen Differenzen und ebenso grossem Respekt – mit Jean Jaurès und Alexandre Millerand.

Am bedeutungsvollsten aber war, dass sie zu Beginn ihrer Zürcher Zeit Leo Jogiches begegnete, dem aus einer grossbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie von Wilna gebürtigen Theoretiker der revolutionär-marxistischen Bewegung, der schon als Jugendlicher wegen konspirativer Tätigkeit inhaftiert worden war und der sich durch seine Flucht nach Zürich dem Militärdienst entziehen konnte. Leo Jogiches’ und Rosa Luxemburgs Beziehung war eine Liebesbeziehung, die alle Abstufungen der Nähe, der gegenseitigen Bewunderung, der Enttäuschung, Abgrenzung und Trennung, dann der erneuten freundschaftlichen und politischen Verbundenheit durchmachte. Jogiches (der unter dem Pseudonym  Jan Tyszka publizierte) nahm später aktiv an der russischen Revolution in Polen teil, stellte sich nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Dienst des Spartakusbundes, bekämpfte die Gründung der KPD und fiel 1919, nach dem Januarputsch, in die Hände der Ordnungskräfte. Nachdem er alle seine Kräfte eingesetzt hatte, damit der Mord an Rosa Luxemburg aufgedeckt und die Mörder zur Veranwortung gezogen wurden, wurde er wenig später selber in seiner Zelle meuchlings ermordet.

Rosa Luxemburg und Leo Jogiches waren von 1891 an ein Paar, nach Jogiches Wunsch und zu Rosa Luxemburgs Leiden in aller Heimlichkeit. Die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können: Jogiches war ein kühler, systematischer Denker, ein überaus disziplinierter, beinah asketischer Mensch, für den es nichts ausser der politischen Arbeit gab. Rosa Luxemburg dagegen war ebenso scharfsinnig wie überschwenglich, sie war Idealistin und zugleich, nach ihren eigenen Worten, “ins ganze Leben verliebt”. Ihre Briefe, die in grosser Zahl erhalten geblieben sind, sind eine ständige Klage über vermisste Wärme und Zärtlichkeit Jogiches’, zugleich aber auch Bestätigung ihrer Liebe sowie des nie abbrechenden Austauschs über die politische Arbeit.

Rosa Luxemburg hatte später noch andere Lieben und Liebschaften; darauf einzugehen ist hier nicht von Bedeutung. Zu erwähnen ist jedoch, dass sie am 19. April 1898, nach Beendigung ihres Studiums, mit Gustav Lübeck, dem Sohn ihrer Freundin Olympia Lübeck, in Basel eine Scheinehe einging, damit sie einen deutschen Pass erhielt, der ihr erlaubte, sich in Deutschland frei zu bewegen. Die Ehe, die nie vollzogen wurde, wurde fünf Jahre später von der preussischen Regierung anerkannt und wieder geschieden.

Interessant ist, dass sich Rosa Luxemburg auf dem Trauschein noch als “israelitisch” eintragen liess, sich später jedoch immer als konfessionslos bezeichnete. Vom Judentum löste sie sich zunehmend, in gleichem Mass, wie ihr politisches Engagement wuchs. Eine Erklärung gibt sie selbst in einem Brief, den sie am 16. Februar 1918 an Mathilde Jacob aus dem Gefängnis Wronke schrieb: “Vor allem muss man jederzeit als voller Mensch leben”. Und sie fuhr fort: “Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Ptumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe. Weisst du noch die Worte aus dem Werk des Grossen Generalstabs über den Trotha’schen Feldzug in der Kalahari Wüste? ‘Und das Röcheln der Sterbenden, der Wahnsinnschrei der Verdurstenden verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit’ – O diese erhabene Stille der Unendlichkeit, in der so viele Schreie ungehört verhallen, sie klingt in mir so stark, dass ich keinen Sonderwinkel im Herzen für das Getto habe. Ich fühle mich in der ganzen Welt zuhause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt”[13].

Bezeichnend erscheint mir, dass Rosa Luxemburg sich wegen ihrer Abkehr vom Judentum nicht mit Selbstvorwürfen oder Schuldgefühlen quälte. Das mag mit der schon im Elternhaus eingesetzten Assimilation zusammenhängen, sicher aber mit ihrem Bedürfnis, sich ohne religiöse Einschränkung und ohne psychische Hinderung für ihre politische Arbeit einzusetzen. Doch war nicht gerade ihr leidenschaftliches politisches Engagement Ausdruck ihres Wunsches zu verdrängen, was eine nicht wählbare Zugehörigkeit bedeutete? – ein Zwiespalt in ihr, der sich nicht verdrängen liess, da Name, Aussehen und Geschichte, überhaupt ihre Herkunft sich nicht leugnen liessen, auch weil der Antisemitismus von 1880 an in Deutschland immer mehr an Boden gewann. 1893 sassen im Deutschen Reichstag schon 16 Abgeordnete aus antisemitischen Parteien. Rosa Luxemburg muss sich dieser bedrohlichen Entwicklung bewusst gewesen sein, als sie im Mai 1898 nach Berlin zog und von diesem Augenblick an begann, mit einem unermüdlichen Einsatz für die Befreiung der Arbeiterschaft aus den unwürdigen Bedingungen von Ausbeutung und Abhängigkeit, von materiellem Elend und Bildungsnotstand zu kämpfen.

Als Rosa Luxemburg im Oktober 1898 am Stuttgarter SPD-Parteitag teilnahm, war sie eine von sechs Frauen unter 252 männlichen Delegierten, eine von sechs Delegierten mit einem akademischen Titel, dazu als polnische Jüdin Vertreterin einer verschwindenden jüdischen Minderheit inmitten nicht-jüdischer, häufig antijüdisch gestimmter Kongressteilnehmer. In ihren Briefen liess Rosa Luxemburg kaum etwas über die wachsende antisemitische Stimmung verlauten, als hätte sie sich davor gescheut. Leo Jogiches gegenüber, der damals noch in Zürich war, hielt sie in ihren Briefen jedoch immer wieder fest, dass sie sich in Berlin zwar “allem und allen gegenüber fremd fühle”, dass es ihr aber trotzdem gut gehe, “d.h. ich arbeite sehr viel, fast die ganze Zeit, schreibe, lerne und halte hie und da öffentliche Vorträge, verkehre (…) meisten nur mit Kautzky’s, die meine Nachbarn sind, hie und da auch mit (August) Bebel, (Franz) Mehring, (Arthur) Stadthagen etc.”[14].  Ihre Herkunft konnte sie tatsächlich nicht aufheben, doch sie verschönte sie, wie Luise Kautsky in ihren Erinnerungen festhält. Von ihrem Vater Eliasch, zum Beispiel, der als Holzhändler bei seinen Geschäften Jiddisch sprach, erzählte sie, er habe Eduard geheissen und sie betonte, was tatsächlich zutraf, er sei ein aufgeklärter Vorkämpfer sozialer Reformen gewesen .

Die tatsächlichen Beziehungen zu ihrer Familie reduzierte sie auf ein Minimum. Als die Mutter im April 1897 an Magenkrebs erkrankte und Rosa durch Briefe der älteren Schwester Anna erfuhr, wie sehr sie sich danach sehnte, ihr jüngstes Kind zu sehen, befand sich Rosa für eine Ferienwoche in Weggis am Vierwaldstättersee und antwortete mit Ausreden, versprach immer wieder zu kommen und fuhr doch nicht zu ihr. Als Lina Luksenburg am 30. September 1897 starb, weilte Rosa Luxemburg in Paris. Auf den Tag genau zwei Jahre später starb auch der Vater. Wieder hielt sie sich in Paris auf, damals am Kongress der Internationalen, und “kümmerte sich um die dringenden Sorgen der Menschheit”, wie sie in einem Brief bemerkte. Ein Jahr zuvor hatte sie mit dem Vater im Spätsommer zwei Wochen in einer Badekur zugebracht, wobei sie sich ihrer Ablehnung und Fremdheit ihm gegenüber bewusst wurde. An Jogiches schrieb sie, wie unangenehm es ihr war, mit dem gebeugten, schlurfenden alten Mann, den die Leute anstarrten, einen Spaziergang zu machen. Doch als sie nach dem Tod des Vaters die – zum Teil unbeantworteten – Briefe ihrer Eltern durchlas, wurde sie von Schuldgefühlen und Schmerz überwältigt. Auch dies teilte sie Jogiches mit. Vermutlich wurde ihr bewusst, dass das, was ihre Eltern als Lieblosigkeit empfunden haben mussten, zugleich ihr eigenes,  tiefstes Leiden war. Auch dass dieses Leiden untrennbar verbunden war mit der nicht versöhnbaren Kontingenz existentieller Widersprüche in ihr.

Der eigentliche Stachel, der ihrem Widerspruchswillen zugrundelag, war das entwürdigende Elend der Arbeiterexistenz. Hier war der Motor ihrer unermüdlichen politischen Aktivität, mit welcher sie mehr und mehr ihre Identität verband. Wie ich schon einleitend erwähnte, gab sie sich einer weitgespannten publizistischen Tätigkeit hin, doch sie begnügte sich nicht damit, sondern sie reiste unentwegt quer durch Deutschland, hielt Vorträge und Reden vor Arbeitern, vor allem in den grenznahen polnischen Industriebezirken, “an der Grenze zwischen der Zivilisation und der Barbarei”, wie sie einmal Kautskys schrieb, bestritt nächtelange Diskussionen mit den Arbeitern, hielt Reden vor SPD-Parteitagen und stand – wiederum nächtelange – parteiinterne Debatten durch, in denen sie gegen den Bernstein’schen Revisionismus und für eine echte und gerechte Verteilung des Mehrwerts, für Meinungsfreiheit und Menschlichkeit kämpfte.

Im Dezember 1905 folgte Rosa Luxemburg unter dem Namen Anna Matschke dem geliebten Jogiches (der sich das Pseudonym Otto Engelmann zugelegt hatte) nach Warschau, wo sie am 4. März 1906 verhaftet und in der Warschauer Zitadelle eingekerkert wurde, bis sie im Juni dank der Bemühungen ihrer Geschwister und einzelner Parteifreunde wieder frei kam. Nach einem Abstecher nach St. Petersburg und nach Finnland nahm sie von Frühherbst an wieder all ihre Tätigkeiten auf, wirkte von 1907 an zusätzlich als Dozentin für Nationalökonomie an der Parteihochschule in Berlin, musste kürzere Gefängnisaufenthalte absitzen, kämpfte gegen Vladimir I. Uljanow’s resp. Lenins Organisationsprinzipien, die, wie sie feststellte, einen antifreiheitlichen Kern hatten, noch vieles mehr. Gemäss Luise Kautsky war Rosa Luxemburgs Leitmotiv, zu sein “wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt”. Dies habe sie vor allem ausgezeichnet, dies habe ihrem Dasein solche Intensität verliehen, bei der Arbeit wie beim Geniessen, im Lieben wie im Kämpfen; stets sei sie von der gleichen Glut beseelt gewesen.

Doch – wie ich schon festhielt – Rosa Luxemburg hatte nicht nur die Fähigkeit, Menschen für sich zu gewinnen. Sie brachte Menschen auch gegen sich auf und wurde immer wieder zur Zielscheibe antidemokratischer und antisozialistischer, antisemitischer und persönlicher Angriffe. Sie liess sich nicht einschüchtern. Für sie galt, wie sie in ihrer Abhandlung über die Russische Revolution schrieb, dass “Freiheit immer nur Freiheit des anders Denkenden ist”

An dieser Linie hielt sie allen Anfeindungen zum Trotz fest. 1918, ein Jahr, bevor sie ermordet wurde, schrieb sie aus dem Breslauer Gefängnis in einem der “Spartakusbriefe”: Es ist „eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, dass ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen undenkbar ist (…). Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur die Freiheit der Andersdenkenden. (…). Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschliessung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt. (…). Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste, breiteste Demokratie, öffentliche Meinung”.

Der Marxismus, für den Rosa Luxemburg kämpfte, war nicht der Bolschewismus, den Lenin und Stalin durchsetzten. Ihr ging es auch nicht – wie vielen ihrer “Genossen” (u.a. Karl Liebknecht, Karl Kautsky) – in erster Linie um die Hebung des materiellen Wohlergehens der Arbeiterschaft. Ihr ging es um die Schulung der Menschen zur Freiheit. Dem Missbrauch der Arbeitermassen zu Machtzwecken suchte sie mit allen Mitteln entgegenzuwirken. Am fünften  Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in London von 1907 machte Rosa Luxemburg auch mit aller Deutlichkeit klar, dass, was mittels einer Revolution erreicht werden sollte, nicht  e i n e r  Nation zugute kommen sollte, sondern der Menscheit überhaupt. Sie warnte vor nationalistischen Zielsetzungen. Gegen die Ausschliesslichkeitsansprüche nationaler Gruppierungen, gegen Terror und ausgrenzende Machtansprüche proklamierte sie die Vision einer friedlich zu verwirklichenden Gemeinsamkeit der Lebensinteressen. Was sie als “proletarische Revolution” verstand, bestand in einer gesammelten, gezielten Fortbewegung und Veränderung resp. einer “Umwälzung” der ausgebeuteten und entrechteten Arbeiterschaft zu ihrem Recht, in “bewusster, freier Selbstbestimmung”[15] und in wechselseitiger Solidarität. Es galt, für die Arbeiterschaft  Regierungsfunktion zu erreichen und auszuüben, um ein System der menschlichen Gleichberechtigung zu schaffen. Es war ein hoch idealistischer und zugleich verzweifelter Entwurf demokratischer, gewaltfreier und nicht-diktatorischer Verwirklichung marxistischer Theorien, die sie selber durch ihr kritisches Denken weiterentwickelte.

Ihre grösste Sorge galt der Verhinderung des Weltkriegs, der eigentlich nicht mehr zu verhindern war. Sie rief zu internationalen pazifistischen Meetings auf, organisierte in Berlin eine Friedenskundgebung, an der 100’000 Menschen teilnahmen, appellierte an die Vernunft der Menschen an der letzten Sozialistischen Friedenstagung vor dem Krieg in Brüssel. Doch ihr verzweifeltes Bemühen war vergeblich. Die deutschen Sozialdemokraten waren zutiefst zerstritten. Sie begingen den für Rosa Luxemburg unverständlichen Verrat und willigten in die Kriegskredite ein.

Im Februar 1914, bei Ausbruch des Krieg, wurde Rosa Luxemburg zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Wegen eines Krankenhausaufenthaltes wurde der Strafantritt auf Februar 1915 verschoben. Ein Jahr später kam sie frei. Anfang März 1916 schrieb sie die Junius-Broschüre und im Juli wurde sie erneut verhaftet und in “Sicherheitshaft” verbannt, zuerst in der Festung Wronke, dann in Breslau, nachdem Karl Liebknecht gleich nach den Mai-Demonstrationen gefasst und Clara Zetkin in ein Irrenhaus verbannt worden waren. Nach angestrengten Bemühungen ihrer Rechtsanwälte, denen Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis selbst die Weisungen erteilte, wurde sie schliesslich am 9. November 1918 wegen ihrer Magenerkrankung aus der Haft entlassen. Noch auf dem Breslauer Domplatz hielt sie die erste Rede, reiste dann nach Berlin, wo am 14. Dezember 1918 das Programm des Spartakus-Bundes beschlossen und am 8. Januar1919 in der “Roten Fahne” veröffentlicht wurde. Jede freie Minute verwendete Rosa Luxemburg auf die Herausgabe dieser einzigen “wirklich sozialistischen Zeitung”.

Der Spartakus-Bund, dessen Führung aus Rosa Luxemburg, Leo Jogiches und Karl Liebknecht bestand, strebte die Verwirklichung des humanistisch und pazifistisch geprägten sozialistischen Programms an, das Rosa Luxemburg immer schon vertreten hatte, gegen Kompromisse (à la Kriegskredit-Zustimmung) und gegen Terror. Das hiess deutlich und unmissverständlich, dass sich der Spartakus-Bund  sowohl gegen den anpasserischen Kurs der SPD wie gegen den bolschewistischen Terror stellte.

Die Arbeit war damals unvorstellbar schwierig. Antisemitische Hetze, Angriffe und Verleumdungen, Terror und persönliche Bedrohung gehörten zum Alltag. An Clara Zetkin schrieb Rosa Luxemburg Ende 1918 und Anfang 1919[16] vom täglichen Wohnungswechsel, von der stündlichen Gefahr, von Gehetzheit und Gejagtheit. Sie riet ihr, unter diesen Umständen nicht sofort nach Berlin zu kommen, sondern zu warten, bis sich, vielleicht in einer Woche, die Situation etwas beruhigen würde.

Aber die Situation beruhigte sich nicht. In Berlin herrschte eine nicht mehr kontrollierbare Pogromstimmung. Am 15. Januar wurden Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck, der politische Leiter der KPD, von Freikorpsverbänden verhaftet und ins Eden-Hotel gebracht, das voll aufgetzter Soldaten und Offiziere war. Auch Wilhelm Pieck wurde verhaftet, kam jedoch auf Grund gefälschter Papiere nach drei Tagen wieder frei. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden voneinander getrennt. Pieck, der später einen aufwühlenden Bericht[17] verfasste,  berichtete, wie ein Hauptmann den Soldaten Zigaretten verteilte und ihnen sagte, die Bande dürfe das Hotel nicht lebend verlassen. Er hielt fest, wie ein Dienstmädchen sich einer Kollegin in die Arme warf und schluchzte, sie könne das nicht vergessen, wie die verhaftete Frau – Rosa Luxemburg – niedergeschlagen und an den Haaren herumgeschleift worden sei.

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden je einzeln abgeführt und verhört, mit Kolbenschlägen auf den Kopf, auf Nacken und Schulter auf brutalste Weise verletzt, schliesslich mit Genickschüssen getötet. Dass für die Ermordung beider eine “Kopfprämie” von je 100’000 Mark ausgeschrieben war, belegt Paul Fröhlich aufs genaueste, mit einer aufwühlenden Schilderung der Hetze, die damit einherging wie auch mit den Namen der widerlichsten Täter, sowohl jener im Hintergrund wie jener im Edenhotel[18]. Karl Liebknechts Leiche  wurde als Leiche eines Unbekannten auf einer Polizeistation abgeliefert. Rosas Körper wurde von der Lichtensteinbrücke in den Landwehr-Kanal geworfen, aus dem er erst vier Monate später, am 31. Mai 1919, an Land getrieben wurde und geborgen werden konnte.

Was Rosa Luxemburg in den letzten Stunden erlebt hat, ist von den Ereignissen her durch Zeugen und Zeuginnen vielfach dokumentiert[19]; doch wie sie innerlich verarbeiten konnte, was sie erlebte – einer brutalen Meute ausgeliefert zu sein, auf unausweichliche Weise grösster Erniedrigung, Folter und Tod – das lässt sich nur ahnen. Dass Verrat und Tod sie umlauerten, war ihr bewusst. Als Leo Jogiches am 11. Januar 1919 verhaftet wurde, hatte er noch geraten, sie und Liebknecht sollten Berlin verlassen und sich in Frankfurt am Main in Sicherheit bringen. Doch Flucht erschien Rosa Luxemburg unverantwortlich. Hatte sie vielleicht bis zum Schluss auf ein kämpferisches Überleben gehofft? Eher kaum; die Schutzlosigkeit eines Menschen vor der blinden Gewalt aufgestachelter Massen war ihr seit dem schweren Pogrom in Warschau, als sie Kind war, bewusst. Der Angst davor hatte sie durch Mut entgegengewirkt, bei all ihren öffentlichen Auftritten, bei all den Verhaftungen und Gefängnisaufenthalten. Doch in Berlin, am 15. Januar 1919, konnte Mut – die sich der Angst entgegensetzende Kraft des Herzens – allein dem grossen Unbekanntem, dem Tod, gegenüber sich bewähren. Es ist anzunehmen, dass diese tiefste und stärkste seelische Kraft Rosa Luxemburg nicht verliess. Gemäss Paul Fröhlich war eine Ausstrahlung davon spürbar: “Als Rosa Luxemburgs Körper im Kanal versenkt wurde, da ging es wie eine Sage durch die deutschen Proletarierviertel, es sei nicht wahr, dass sie ermordet sei, sie lebe, sie habe sich retten können (…). Man wollte nicht glauben, dass so viel Wille, Begeisterung und Geisteskraft durch einen Kolbenhieb vernichtet werden könnte. In diesem Glauben steckt Wahrheit. Nicht nur für die physische Welt gilt das Gesetz der Erhaltung der Kraft. (…) Kein Scheiterhaufen und kein Diktatorenbefehl kann auf die Dauer Gedanken zerstören (…). Der Siegeszug der Barbarei wird seine Schranke finden[20].

Als Rosa Luxemburg am 13. Juni 1919 auf dem Friedhof Friedrichsfeld beigesetzt wurde, folgte dem Sarg eine unabsehbare Menschenmenge: Arbeiterinnen und Arbeiter, Matrosen, uniformtragende Soldaten, eine schweigende Demonstration der Trauer um diese ungewöhnliche Frau mit dem “denkenden Herzen”, die den ursprünglich ideologiefreien, humanistischen Kern von Marx’  Lehre mit dem – letztlich biblischen – Gebot der Gerechtigkeit zu verbinden suchte, unermüdlich, ohne Schonung ihrer Kräfte, im ständigen Ertragen der eigenen existentiellen Widersprüchlichkeit, letztlich im Glauben an das unteilbare Recht aller Menschen auf das “ganze Leben”: auf das Recht auf Freiheit und auf Glück.

Der Rhythmus des Lebens verlangsamt sich. Die Nachdenklichkeit beginnt den Sieg über die Betriebsamkeit davonzutragen. Ich habe fast alle meine Funktionen abgegeben. Viele Freunde und Bekannte drängen: Benütze die Musse und erzähle Dein Leben. Lange habe ich mich dagegen gesträubt: Was ist der einzelne Mensch im gewaltigen Umbruch der letzten 50 – 70 Jahre? Ist der Einzelne Amboss oder Hammer? Hilft er mit, die Zeit zu formen, oder greift die Zeit ihn mehr oder weniger zufällig aus dem grossen Haufen heraus und hämmert ihn in die von ihr bestimmte Form? Ist es eigener Wille oder Führung und Fügung einer ausserhalb uns wirkenden Kraft, die uns unsern Platz im Leben anweist?

(…)

In der zweiten Gymnasialklasse wurde einmal unser Deutschlehrer aus der Stunde gerufen. Er liess uns einen Aufsatz schreiben. Ich wählte den Titel ‘Leben heisst Beziehungen haben’. Ich versuchte klar zu machen, zunächst mir selber, dass es in erster Linie wichtig ist, möglichst viel an sich herankommen zu lassen: Menschen, Ereignisse, Gedanken, Wissen – und dann zu wählen, so weit man überhaupt wählen kann. Es ist ja möglich, dass die von Anfang an ‘geprägte Form, die lebend sich entwickelt’[21], für einen wählt, d.h. bestimmt, was wir wählen. Oder es können die Umstände des äusseren Lebens, in denen man geboren wird und aufwächst, die Wahl, d.h. die Auswahl aus der Fülle des Lebens bestimmen.”[22]

Regina Kägi-Fuchsmann (10.05.1889 – 12.06.1972)

“Das gute Herz genügt nicht”[23]

Wer war diese Frau, die mit 77 Jahren ihre Lebensgeschichte aufzuzeichnen begann und damit eine persönliche Dokumentation ihrer Zeitgeschichte zusammenstellte, die sie seit ihrer Jugend “mit offenen, neugierigen Augen und dem Wunsch, aktiv in das Geschehen einzugreifen”[24] erlebt hatte? – einer Zeitgeschichte, die mit dem gewaltigen Umbruch zweier Weltkriege und deren zerstörerische Folgen bis in die heutige Zeit nachwirkt. Sie selber wählte als Titel, dass “das gute Herz nicht genügt” für den von ihr vorgenommenen Überblick über die nicht wählbaren und über die wählbaren, selber zu verantwortenden “Lebenskreise“, wie sie die Etappen ihres Heranwachsens, ihrer Erfahrungen, Erkenntnisse und Handlungsentscheide nannte. Als Mitbegründerin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks SAH[25], das aus der von ihr geleiteten Proletarischen Kinderhilfe und Arbeiterkinderhilfe herauswuchs und das zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs 1936 mit den Hilfeleistungen an Flüchtlinge – insbesondere an Kinder – eine menschliche und politische Bedeutung gewann, die sich im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs verdichtete und ausweitete, die sich später auf vielfache Weise fortsetzte, in all diesen Zusammenhängen sollte Regina Kägi-Fuchsmanns Mut und ihr pausenloser Einsatz nicht vergessen gehen[26]. Doch selbst wenn ihr Name bei einzelnen Menschen heute noch wach bleibt, ist wenig über ihren komplexen und vielfarbigen, unermüdlich und zielstrebig gewobenen Hintergrundteppich bekannt, deren Anfänge noch ins vorletzte Jahrhundert hineinreichen.

Als ich im Sommer 1988 mit einem Portrait Regina Kägi-Fuchsmanns ein Gegenbild zur damals wachsenden fremden- und asylfeindlichen Entwicklung in der Schweiz veröffentlichte[27], erschien es mir wichtig zu verdeutlichen, dass es schon in den Dreissiger- und Vierzigerjahren gegen die offizielle Schweiz, die sich hinter den Vorwand ihrer Neutralität und Kleinheit verschanzte und eine engherzige, beschämende Asylpolitik verfolgte, eine andere Schweiz gab, deren aktive Offenheit für politisch verfolgte, leidende Menschen mit persönlichem Mut und Einsatz echte Hilfe zustande brachte; dass diese Tatsache immer wieder ein Massstab sein könnte resp. sein sollte. Für Regina Kägi-Fuchsmann galt Neutralität nichts, wenn es um Hungernde und Verfolgte ging; grundsätzlich müsse es Unneutrale geben, hielt sie irgendwann fest, nur nach dem Schinder und nach dem Geschundenen müsse gefragt werden.

Der erste Lebenskreis: Emigrantendasein in der Schweiz

Regina Kägi-Fuchsmann hatte das Emigrantendasein hautnah gekannt, als Drittälteste von sieben Töchtern und Söhnen, deren Eltern 1886 mit der erstgeborenen Tochter Myriam und einem noch ungeborenen Kind aus der kleinen litauischen Grenzstadt Wirbalen, an der Strecke Königsberg – Riga gelegen, nach Paris geflüchtet waren. Anlass zur Flucht hatte das Militäraufgebot an den damals 26jährigen Salomon Fuchsmann gegeben, was im zaristischen Russland für einen Juden sieben Jahre Dienst bedeutet hätte. Doch in Paris konnte der junge Familienvater weder Arbeit noch Einkommen finden, zumal er weder Französisch sprach noch einen Beruf gelernt hatte. Er habe ein leichtes Schulgepäck gehabt, wusste Regina Kägi-Fuchsmann von ihrem Vater, er habe zwar ein wenig Hebräisch gelernt, jedoch das Gymnasium, das er auf den Wunsch seiner Mutter hätte besuchen sollen, früh abgebrochen. Den eigenen Vater hatte er kaum gekannt, seine Mutter war nach dessen Tod Witwe geblieben und hatte ein kleines Hotel geführt. Die Ehe mit der kaum 18jährigen Helen Berkowitz, die aus einer jüdisch-bürgerlichen Familie aus Riga stammte, sei vermutlich innerfamiliär abgesprochen worden; die beiden seien zwar doppelt verschwägert[28] gewesen, hätten sich jedoch vor der Heirat kaum gekannt.

Dass ihre Eltern sich entschieden, nicht länger in Paris zu bleiben, sei vermutlich durch die damalige Offenheit der Stadt Zürich zu erklären; weder habe es Niederlassungsschwierigkeiten noch Arbeitsbewilligungsprobleme gegeben. Ein Esswarenladen wurde eröffnet, woraus ein eigentliches Delikatessengeschäft beim Hauptbahnhof wurde. “Das vorwärtsdrängende und tragende Element dieser Existenz war aber nicht er (der Vater), der sich gerne treiben liess und das Leben lieber von der beschaulichen Seite her nahm, sondern die Mutter, die das Ganze mit Phantasie und grossem Eifer und gelegentlich beachtlichem Stimmaufwand in Schwung hielt, uns Kinder ebenso wie die Angestellten, die viele Jahre lang im gemeinsamen Haushalt lebten, auch als das Geschäft sich vergrösserte und ihre Zahl wuchs. Sie hielt uns streng am Zügel. Wir Kinder mussten alle Botengänge machen, im Laden aufräumen, auch beim Bedienen der Kunden helfen. Während meiner ganzen Sekundarschulzeit und später, als ich ins Gymnasium ging, war ich jede freie Minute im Geschäft tätig, auch an den Abenden, Samstagen und Sonntagen, denn damals gab es keine gesetzlichen Bestimmungen für den Ladenschluss. Meine Schulaufgaben erledigte ich nebenbei, meistens hinter der Ladenkasse. Mein Vater war der Meinung, ich hätte ja die ganze Woche ‘frei’, in der Schule müsse ich nur zuhören, darum könne ich nach der Schule etwas tun. Meinen beiden älteren Geschwistern[29] ging es ähnlich. Wie wir es trotzdem zustande brachten, viel zu lesen, ist mir heute noch ein Rätsel. Ich las alles Gedruckte, das mir in die Hände kam.”[30]

Regina Kägi-Fuchsmann erinnerte sich, dass sie als unruhiges Kind galt, ständig in Bewegung, mit struppigem Haar, von unstillbarem Wissenshunger. Das Elterhaus war für sie die vielfältige Lebensrealität, zu der sie gehörte, in welcher sie sich zugleich fremd fühlte und aus welcher sie sich in eine andere Welt abzusetzen versuchte – unter den Tisch, wo sie verborgen war und las, in die Schule und in die Bibliothek, später in politische Zirkel, in welchen sie Anschluss und Freundschaft fand. Von ihren organisatorischen Talenten her war sie Erbin der mütterlichen Fähigkeiten, doch die Mutter zu akzeptieren, ja eine liebvolle Beziehung zu ihr zu finden, fiel ihr schwer. Vermutlich hing Regina Fuchsmanns Ungeschicklichkeit mit Kochgeräten und Nähmaschine mit dieser inneren Abwehrhaltung gegen die Mutter zusammen, auf der alle grossen Aufgaben von Haushalt und Betrieb lasteten, Schwangerschaft und Geburt von sieben Kindern, für welche sie, die im fremden Land den Familien- und Geschäftskarren schleppen musste, in den ersten drei Lebensjahren keine Zeit zum Stillen und Wiegen fand. Die Säuglinge liess sie durch eine Amme aufziehen und holte sie in die Familie zurück, wenn sie gehen konnten und weniger Pflege brauchten. Salomon Fuchsmann, der ein Flair für kulinarische Köstlichkeiten hatte und sich gut mit den Leuten unterhalten konnte, schuf sich zwar ein Ansehen als Kaufmann, mischte sich jedoch wenig in die täglichen Aufgaben ein. Gemäss seiner Tochter Regina nahm er das Leben lieber von der bequemen Seite wahr.

Die Fremdheit zwischen Regina Fuchsmann und ihrer Mutter – überhaupt zwischen Helen Fuchsmann und ihren Kindern – erklärt sich durch den emotionalen Mangel, der durch die Trennung in der frühen Kindheit geschaffen wurde und  der auch in reiferen Jahren weder durch Verstehen der mütterlichen Lebensumstände noch durch eigene Lebenserfahrungen aufholbar war. Damit hängt auch die Tatsache zusammen, dass Jiddisch, die Mutter- und Elternsprache, von Regina Kägi-Fuchsmann bis ins hohe Alter verdrängt wurde. Deutsch, die Schriftsprache, die sie durch leidenschaftliches Lesen fast atemlos verschlang und mit grosser Präzision in ihrem kämpferischem Temperament und Engagement benutzte, sowie Zürichdeutsch wurden für sie zur  persönlichen Sprache. Die Abwehrhaltung ihrer Mutter gegenüber war gleichzeitig ein Zeichen der Nähe zu ihr, die sie jedoch in der Art und Weise, wie sie sie erlebte, nicht akzeptieren mochte. Ihr Entschluss, sich für die Frauenrechte einzusetzen, d.h. gegen die Ungerechtigkeit der Frauenrolle zu kämpfen, war ohne Zweifel auch ein Aufbegehren gegen die vielfachen Überbelastungen ihrer Mutter, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte und gegen welche ihr Gerechtigkeitsempfinden sich aufbäumbte.

Der zweite Lebenskreis: Kämpferisches Engagement gegen soziales Unrecht

Regina Fuchsmanns kämpferisches Engagement bedurfte der richtungsweisenden Linie. In den vier Gymnasialjahren, die sie mit Leichtigkeit mit der Matura abschloss, fand sie Zugang zu geistigen und politischen Kreisen. Es war einerseits der Kampf gegen Alkoholismus, der sie überzeugte: sie wurde Mitbegründerin einer Vereinigung abstinenter Mädchen, der Iduna, durch welche sie später Kontakte zu abstinenten Studentenorganisationen[31] fand und zu Hilfsorganisationen, die in den zahlreichen Familien, die durch Armut und Alkohol unter nicht tragbaren Lebensbedingungen standen, eingesetzt wurden. Andererseits war es die wache, sowohl politische wie familiäre Anteilnahme an den revolutionären Ereignissen in Russland, in deren Folge viele Intellektuelle – unter ihnen auch Rosa Luxemburg nahestehende Frauen und Männer, z.B. Rosalie Schlain, die spätere Rosa Grimm – in die Schweiz gelangten. Selbst um 1906 herum war Zürich noch ein aufnahmebereiter Ort, auch gegenüber sozialistischen Denkerinnen und Denkern. Hier fand sich der dritte Einfluss, der Regina Fuchsmann entsprach und der sie prägte. Es war die religiös-soziale Bewegung um Leonhard Ragaz, den sie verehrte. Voll Aufmerksamkeit ging sie in seine Predigten; während Jahren war Ragaz ihr Berater und Mentor. Es waren seine überzeugenden humanitären Grundsätze, die ihr Halt bedeuteten. Von religiösen Geboten hatte sie im Elternhaus nichts mitbekommen, auch die jüdischen Festtage wurden nicht beachtet. Nach der Heirat mit Paul Kägi, einem protestantischen Pfarrerssohn, wird sie zwar Weihnachten feiern, doch im Grund genommen religionsfrei bleiben, auch wenn für sie die den grossen Religionen gemeinsamen Grundgebote menschlicher Gerechtigkeit als Massstab des richtigen Handelns galten.

Als das Gymnasium zu Ende ging, hatte Regina Fuchsmann selber ihre Linie gefunden. Tätige Aufklärung und soziale Hilfe mussten Hand in Hand gehen, das war ihr klar. Ihr Vater hatte gewünscht, dass sie Medizin studierte, doch sie beschloss, Lehrerin zu werden. Ein für sie langweiliges und irgendwie überflüssiges Seminarjahr folgte, worauf sie während zwei Jahren in einem Heim für asthmakranke Kinder im Engadin arbeitete und eine völlig andere Welt kennen lernte. Mit Erschütterung erlebte sie, wie der deutsche Kronprinz zu Besuch kam und wie die ganze Bevölkerung, selbst die Kinder, in ekstatische Begeisterung ausbrachen. 1912 hatte sie in Basel den Sozialistenkongress erlebt, bei welchem eine totale Kriegsgegnerschaft deklariert wurde, die jedoch 1914, wie sie mit Entsetzen wahr nahm, in Scherben zerbrach. Was bei Rosa Luxemburg Verzweiflung bewirkte, löste bei Regina Fuchsmann ein Erschrecken aus. Fortan galt für sie grosse Skepsis offiziellen Versprechen gegenüber; Ideale und Realität, wie sie sie erlebte, stimmten nicht überein.

Regina Fuchsmann hatte ein grosses Verlangen, “wieder in den Nebel und den Rauch der Stadt hinabzusteigen” und weiter zu studieren. Gesundheitlich fühlte sie sich gestärkt; ihr schweres Augenleiden war in den Bergen gänzlich geheilt. Sie bezog in Zürich ein kleines Zimmer, gab Privatstunden, um zusätzlich zur kleinen, aber regelmässigen “Rimesse” ihres ältesten Bruders ein wenig Geld zu verdienen und sich die zweieinhalb Jahre Studium leisten zu können. Sie gehörte zum Kreis der abstinenten Studentenschaft und zu vielen Diskussiongruppen, in denen die Intensität des Gesprächs, der politischen und psychologischen Auseinandersetzung um Theorien und Zeitgeschehnisse zu zahlreichen Freundschaften führte. In diesem Kreis lernte sie Paul Kägi kennen. “Er studierte Alt-Philologie und stammte aus einem Pfarrhaus auf dem Land. Die Gegensätze unserer Herkunft und Denkweise hätten kaum grösser sein können”, hielt Regina Fuchsmann fest. “Er war ein stiller, nachdenklicher, äusserst sensibler Mensch, an allen möglichen Problemen brennend interessiert. Als Pfarrerssohn war er puritanisch erzogen worden – er hatte immer ein Beispiel für die anderen sein müssen – und es fiel ihm zunächst schwer, bei uns, die wir oft den Unsinn gar nicht verachteten, mitzumachen. Ich war eher extravertiert, immer bereit, meine Nase in alles hineinzustecken und mir auf meine Weise ein Urteil zu bilden und die Finger zu verbrennen. Mais les extrêmes se touchent”.[32]

Es war Ende des Sommersemesters von 1913; Regina Fuchsmann hatte geplant, während der Semesterferien in Siena Italienisch zu studieren. Am Morgen der Abreise wurde sie von Paul Kägi und einem ebenso stillen Medizinstudenten, Paul Conrad, zum Zug nach Italien begleitet. Für beide empfand sie ein Gefühl der Sympathie. Am dritten oder vierten Tag, wie sie in Siena war, erhielt sie von Paul Kägi einen Brief, in welchem er ihr mitteilte, Paul Conrad habe sich erschossen; niemand im Freundeskreis könne sich die Hintergründe erklären. Regina Fuchsmann war aufgewühlt; ein intensiver Briefwechsel mit Paul Kägi begann, und so verlobten sie sich, noch bevor sie zurück in die Schweiz kam und bevor Paul Kägi für ein Semester nach Göttingen fuhr. Ganz Europa befand sich in jener Zeit in täglich wachsender politischer Unruhe, “wobei die Ansicht überwog, dass ein Krieg nicht mehr möglich sein sollte, dass keine Regierung ein solches Verbrechen wagen würde.”[33] Gleichzeitig bereiteten alle Regierungen den Krieg vor. Als dieser am 1. August 1914 erklärt wurde, war das Verhängnis, das über ganz Europa hereinbrach, eine Tatsache, unter welcher jede andere Realität in Frage gestellt wurde.

Regina Fuchsmann, die in Paris ihr Französischstudium zu vertiefen wünschte, musste davon absehen und begab sich nach Genf, reiste jedoch nach wenigen Tagen wieder zurück nach Zürich, um sich für dringliche Hilfsarbeit zur Verfügung zu stellen. Es wurde um Stellvertretung für eingerückte Lehrer gesucht, und so übernahm sie im Herbst 1914 in Neubrunn bei Turbenthal eine Gesamtschule mit 74 Schülerinnen und Schülern. Über ein Drittel dieser Kinder waren Verdingkinder, von denen die meisten als Arbeitskräfte benutzt und als Objekt für die Machtbedürfnisse Erwachsener missbraucht wurden. Es war das erste Mal, dass sie voll in die dumpfen Verhältnisse des Kleinbauern- und Heimarbeiterproletariats hineingestellt wurde und dass ihr eine Schar übermüdeter, schlecht ernährter und zum Teil verwahrloster Knaben und Mädchen anvertraut war. Die Folgen von Rechtlosigkeit und Hilflosigkeit, von Hunger, Schmutz und seelischer Not, die sie später in Flüchtlingslagern und Interniertenbaracken wieder erlebte, wühlten sie auf. Als sie von der Gemeinde angefragt wurde, ob sie als Lehrerin mit einer vollen Anstellung bleiben könnte, fühlte sie sich dazu noch nicht in der Lage.

Fünfzig Jahre später, im Frühling 1964, besuchte Regina Kägi-Fuchsmann das kleine Bauerndorf wieder, danach die Ortschaften im Zürcher Oberland, wo Paul Kägi aufgewachsen war. Zwei Monate später starb dieser kluge und bescheidene Mann innerhalb weniger Minuten an einem Herzinfarkt. In seinem Nachlass fand sich das fast vollendete Manuskript einer der ersten gründlichen Analysen des Marxismus.

Das junge Paar hatte im Winter 1915 geheiratet, den Einwänden beider Eltern zum Trotz; im Frühjahr 1916 schloss Regina Kägi-Fuchsmann ihr Studium ab. Der Krieg dauerte an. Paul Kägi, der wegen Herzproblemen zuerst vom Militärdienst zurückgestellt worden war, erhielt das Aufgebot. Wenige Tage, nachdem er in die Kaserne hatte einrücken müssen, verlor Regina Kägi-Fuchsmann mit einer Frühgeburt das erste Kind. Als sie niedergeschlagen und traurig von der Klinik in die kleine Wohnung zurückkam, erwartete sie Paul Kägi, der wegen seines Herzfehlers, der als gravierend diagnostiziert wurde, endgültig vom Militärdienst entlassen worden war. Damit er seine Dissertation abschliessen und sie beide leben konnten, übernahm sie stellvertretende Lehrstellen an öffentlichen Schulen, ebenso privaten Unterricht in zwei Hotels in Zürich, wo u.a. das griechische Königspaar mit verwandten Familien und einem Tross von Personal lebten, deren zahlreiche Kinder unterrichtet werden mussten. In dieser Zeit erkrankte Paul Kägi an einer schweren Brustfellentzündung; die Gefahr einer Tuberkulose verunmöglichte eine Lehrstelle an der Kantonsschule Zürich. Eine Unterrichtsmöglichkeit in einem Schülerheim in Arosa bot während einigen Monaten die Möglichkeit zu genesen. Als der Krieg dem Ende zuging, im Sommer 1918, zog das junge Paar nach Schaffhausen, wo Unterrichtsmöglichkeit für beide in einer Sonderschule offen stand. Doch der Wunsch, zusammen im Dienst gemeinsamer Ideale tätig zu sein, war schwer erfüllbar. Die politischen Entwicklungen und persönliche Komplikationen erforderten zusätzliche Kräfte. “Im Ausland gärte es; revolutionäre Kräfte regten sich des Krieges wegen. Auch in der Schweiz herrschte Unruhe, Verbitterung. Der lange Grenzdienst hatte viele Familien in Not gebracht. Es gab damals noch keine Wehmännerentschädigung; überall herrschte Arbeitslosigkeit, viele hatten zu wenig zu essen. Diese revolutionäre Unruhe war in Schaffhausen, der Industriestadt an der Grenze zu Deutschland, besonders fühlbar.”[34]

Regina Kägi-Fuchsmann, die wieder schwanger war, erkrankte an der Spanischen Grippe, die im kriegsmüden Europa millionenfaches Sterben bewirkte. Während über zwei Monaten fühlte sie sich krank und kraftlos. Im Mai 1919 kam das Kind zur Welt, Peter, lebensstark und gesund, wie es schien. Fünf Jahre später, 1924, gebar sie den zweiten Sohn, Ueli, der körperlich weniger stark, jedoch geistig hochbegabt war[35]. Die bei Peter sich allmählich abzeichnende, ungewöhnliche Entwicklung, die später als frühkindliche Schizophrenie und Miliartuberkulose diagnostiziert wurde, erforderte eine fast pausenlose Fürsorge, die Regina Kägi-Fuchsmann allein nicht zustande brachte. Die täglichen, sorgfältigen Notizen über die rätselhafte Entwicklung ihres Sohnes, den sie von den besten kindermedizinischen und – psychologischen Fachleuten mitbetreuen liess und der mit 23 Jahren früh vergreist und gleichzeitig jugendlich-geistvoll starb, gehört zu den zutiefst bewegenden Teilen ihrer Dokumente.[36] Mit seinem Tod war für sie “das Leben dieses Kindes nicht ‘abgelegt’. Die Frage ‘warum?’ hat mich noch jahrzehntelang begleitet. (…) Vielleicht hätte ich das tausendfältige furchtbare Leid, das die geschichtlichen Ereignisse im Lauf der Jahre an mich herantrugen, nicht verstehen, nicht in mich hineintreten lassen können, wenn das kranke Kind mich nicht gelehrt hätte, demütig zu sein und die Schmerzen anderer Menschen zu verstehen. Und auch das andere: Dass ich das Glück hatte, einen gesunden, begabten, menschlich tapferen Sohn zu haben, in seiner ganzen Stärke erleben konnte und es nicht als selbstverständlich hinnahm. Ob das die ganze Antwort ist, weiss ich heute noch nicht. Nur das scheint mir sicher, dass die Krankheit dieses Kindes nicht umsonst war. Aber ich versage mir die weitere Frage, die ich viele Jahre lang als Protest immer wiederholte: Warum musste das Kind geopfert werden, damit ich lernte, das Ziel des Menschseins zu erkennen?”[37]

Während Paul Kägi den Lehrberuf aufgab und Leiter der Schaffhauser Amtsvormundschaft wurde, trat Regina Kägi-Fuchsmann dem Frauenrechtsverein und der Sozialistischen Partei bei; sie fing an, öffentliche Vorträge zu halten und sich um Hilfe für die hungernden, kriegsversehrten Kinder in Deutschland zu bemühen. Für sie stellte sich die Frage, ob sie dort eingreifen sollte, wo ihr die Not direkt entgegenschrie, oder ob sie politisch arbeiten sollte, um langfristig eine Veränderung der Notzustände zu bewirken. Der zweite Lebenskreis verdichtete sich und begann, in den dritten Lebenskreis  überzugehen.

Der  dritte Lebenskreis – “Fliehen? Man fällt ins Leere, hat keine Bleibe”

So schrieb Regina Kägi-Fuchsmann zu Beginn ihrer grossen Hilfstätigkeit, die 1932 einsetzte, als mit der Übersiedlung nach Zürich Paul Kägis Arbeit beim Fürsorgeamt begann und sie ein Jahr später das Sekretariat der Proletarischen Kinderhilfe übernahm, der späteren Arbeiterkinderhilfe. Kinder aus krisen- und armutsgeprägten Orten der West- und Ostschweiz wurden zu Erholungsaufenthalten in andere Landesteile geholt. Dazu kamen Eisenbahnzüge voller Kinder aus kriegsverarmten österreichischen Städten, zuerst aus Steyr, später aus Wien, Linz und Graz. Anfänglich wurden diese Aktionen von einzelnen sozialistischen Frauengruppen durchgeführt, bis es zunehmend klarer wurde, dass es der Koordination in einem gemeinsamen, zentralen Hilfswerk bedurfte. Die Dringlichkeit eines Schweizerischen Arbeiterhilfswerks setzte sich durch, damit in den zahlreichen Notfällen über aktive Gegenmassnahmen verfügt werden konnte. Dieses praktische, organisatorische Engagement verband Regina Kägi-Fuchsmann mit wacher, zeitanalytischer Aufmerksamkeit. Sie erkannte, auf welch  verhängnisvolle Weise die Schuld- und Schadenfolgen des Ersten Weltkriegs anwuchsen und wie die politische Entwicklung sich in Vorbereitung eines weiteren Kriegs verschärfte.

“Seit dem Jahre 1928 hatte die Macht Hitlers dank der massiven finanziellen Unterstützung durch die deutsche Schwerindustrie beständig zugenommen. Diese glaubte sich in dem Gefreiten aus Österreich ein williges Werkzeug gegen die organisierte Arbeiterschaft, vor allem gegen die Gewerkschaften, gekauft zu haben. Es ging ihr aber dabei wie dem Zauberlehrling: Das Werkzeug machte sich selbständig. Wohl zerschlugen die Nazis die Gewerkschaften und die politische Organisation der Arbeiterschaft, aber sie zwangen auch der Schwerindustrie ihr Gesetz des Handelns auf und führten sie in den totalen Krieg, der ihr zunächst riesige Rüstungsgewinne brachte, aber am Ende zur Niederlage und zur Zerstörung ihrer gewaltigen Fabrikanlagen führte. Die Abwehrkräfte gegen den Nationalsozialismus, die im damaligen Reichskanzler von Schleicher ihren offiziellen Vertreter hatten, kamen gegen die Allianz der Schwerindustrie, gegen von Papen, den ehemaligen Reichskanzler, und Hindenburg, den Reichspräsidenten, nicht auf. Am 30. Januar 1933 wurde in einer Besprechung zwischen diesen drei Männern, die in der Villa eines Grossindustriellen in Köln stattfand, die Absetzung von Schleichers und seine Ersetzung durch Hitler beschlossen. Damit begann das Dritte Reich, für Deutschland und für Europa eine Periode des Schreckens, der Brutalität, des Rückfalls in eine nicht mehr für möglich gehaltene Barbarei. Der Reichtstagsbrand vom 27. Februar 1933, von Hitlers Helfershelfern Göring und Goebbels inszeniert, leuchtete mit seinen Flammen in eine neue Zeit des Schreckens.”[38]

Für Regina Kägi-Fuchsmann weitete sich die Verantwortung für die Arbeiterkinderhilfe auf die ganze Flüchtlingshilfe aus. Von 1933 an wurde die Wohnung an der Hönggerstrasse in Zürich zum schnell anwachsenden Zentrum und immer häufiger auch zur ersten Notabsteige von Obdachlosen, ab 1939 ebenso das grössere Haus in Wipkingen, ein “Bahnhof- und Logierbetrieb”, wo auch Mirjam, die als verwitwete Emigrantin zurückgekehrte, ältere Schwester Regina Kägi-Fuchsmanns lebte und wo die Aktenberge mit der Dokumentation der Flüchtlinge von Zimmer zu Zimmer vordrangen. Oft kam es vor, dass für Ehemann und Sohn kaum mehr eine Ecke frei blieb zum Schlafen. “Die Ehe wurde oft auf eine harte Probe gestellt”, gestand Regina Kägi-Fuchsmann, doch sie fragte sich,  ob “ein volles Leben der Frau die einzige Ursache für Eheschwierigkeiten” sei, ob nicht “die Leere vieler Frauenexistenzen” die grössere Belastung bedeute.[39] Für sie wurde jeder Tag zu einem 14- bis 15-Stundentag: Kinderzüge organisieren, geeignete Gastfamilien oder Aufnahmehäuser finden, Helfer und Helferinnen ausbilden, die Sammeltätigkeit antreiben, die Hilfsaktionen des SAH mit jenen anderer Organisationen koordinieren, sich um die Flüchtlinge selber kümmern, um die vielen verstörten, verängstigten Kinder und um ebenso viele traumatisierte Frauen und Männer, sich bei Kranken um medizinische Hilfe bemühen, die zahlreichen Auffang- und Interniertenlager im Ausland und in der Schweiz besuchen, mit den Behörden verhandeln, Aufklärungsvorträge halten, Geld auftreiben, immer von neuem.

Ab 1936, als der Spanische Bürgerkrieg wie eine Einübung des Zweiten Weltkriegs begann, verschlangen für Regina Kägi-Fuchsmann am meisten Zeit und Kraft die Reisen in die Kriegsgebiete selbst, in Lastwagen voller Pakete mit Nahrungsmitteln und Medikamenten, mit der Erfahrung von Bombardierungen und unsäglicher menschlicher Verzweiflung in den Flüchtlingssammelstellen von Barcelona, von Valencia, von Madrid. “Ich habe viele Flüchtlingslager gesehen, in Österreich, in der Tschechoslowakei, in Griechenland, in Frankreich, in Deutschland, auch in der Schweiz. Nirgends habe ich eine so gänzlich niedergeschlagene, jeder Energie beraubte Menschenmenge erlebt. Mit besonderer Erschütterung denke ich noch heute an eine junge Frau,, die im einen Arm einen Säugling hielt und mit anderen Hand den Griff eines Vogelkäfigs mit einem toten Vogel umkrampfte. Sie schaute blicklos vor sich hin. Wenn ich an die Insassen der vielen Flüchtlingslager denke, die ich während der folgenden zehn Jahre besuchte, so scheint mir, dass die Menschen, die das Flüchtlingsschicksal erleben mussten, umso vernichtender getroffen wurden, je einfacher sie waren. Es war ein Geschick, dem sie ohne seelisches Rüstzeug ausgeliefert waren.”[40]

Für Regina Kägi-Fuchsmann war die Frage, ob es zu verantworten war, Kinder von ihren Müttern zu trennen, um sie besser ernähren und schützen zu können, schwer beantwortbar. Im Fall der spanischen Kinder erschien es ihr sinnvoller, sie an weniger gefährdeten Orten in Spanien selber unterzubringen und für bessere Ernährungsmöglichkeiten von der Schweiz aus zu sorgen. Im Fall der verfolgten jüdischen Kinder gab es kaum Schutzmöglichkeiten in den Herkunftsländern, nach Juni 1940 selten mehr und ab dem Sommer 1942 überhaupt keine mehr in Frankreich, wo Regina Kägi-Fuchsmann mehrmals das elende, auf blossem Sumpfgelände errichtete Barackenlager von Gurs[41] am Fuss der Pyrenäen (nicht weit von Lourdes entfernt)  besuchte, das zu einem der französischen Zwischenlager für die Ausschaffung nach Auschwitz wurde. “Unser früheres Weltbild, eng umgrenzt durch unsere kleinbürgerliche Herkunft, wurde in schmerzhaften Wachstumsschüben geweitet. Viele, viele Illusionen zerstoben. Die Welt war keine Kinderstube mehr, in der die braven Kinder keinen Alkohol tranken und die bösen bestraft wurden; sie war ungeheuer verwickelt, verwirrt und widersprüchlich  und meistens teuflisch.”[42]

Es war nicht ideelle, sondern praktische Hilfe, die erfordert war und die eine der Menschenverachtung entgegengesetzte Linie erstarken liess, in Zusammenarbeit mit Hunderten von Frauen und Männern, deren Namen, deren Verlässlichkeit und deren Einsatz von Regina Kägi-Fuchsmann in ihrem Lebensrückblick immer wieder genannt werden, ob in Zusammenhang der “colis suisses”, die ab 1940 täglich zu Hunderten, dann zu Tausenden gepackt und verschickt wurden, ob in Zusammenhang der administrativen Arbeit, der Suche nach Finanzierungshilfe, der Reisen durch die Kriegsländer von Lager zu Lager, der Unterbringung von Hilfesuchenden in der Schweiz, der Bemühungen um Rettung einzelner Verfolgter quer durch Europa, der Besorgung von Visa für die Weiterreise in Länder ausserhalb Europas – in all den vielen, nicht auflistbaren Aufgaben, durch welche eine kleine, aber wichtige, menschliche Korrektur der millionenfachen, qualvollen Unmenschlichkeit geschaffen wurde.

Mehr und mehr wurde  Regina Kägi-Fuchsmann sich ihrer eigenen jüdischen Herkunft bewusst, ob sie 1938 nach der Besetzung des Sudetenlandes durch die deutsche Armee sich in Prag befand, ob sie auf der Rückreise durch Nazideutschland während Stunden einem Offizier der Hitlerarmee gegenüber sass, ob sie in der Schweiz von Behörden oder einfachen Leuten auf der Strasse, ja selbst von einem Offizier, der zum Ausschuss des Roten Kreuzes gehörte, antisemitische Bemerkungen schlucken musste, die mit den nationalsozialistischen Verfemungen übereinstimmten, ob sie im Lager von Gurs in einer der fensterlosen, stickigen Baracken an einem Freitagabend erschüttert eine Sabbatfeier miterlebte, inmitten von Menschen, die, während Tagen und Nächten in geschlossenen Viehwagen zusammengepfercht, von Deutschland ins französische Lager deportiert worden waren. Fühlte sie sich selber gefährdet? Bangte sie um ihre eigenes Leben und um jenes ihrer Familienangehörigen, um das Lebens ihres Sohnes, ihrer Geschwister und Verwandten? Regina Kägi-Fuchsmann lässt wenig davon wissen. Als sie auf der Durchreise in Südfrankreich einmal von der Vichy-Polizei aufs Revier vorgeladen und befragt wurde, spürte sie eine grosse Spannung in sich hinsichtlich der Sorgfalt ihrer Antworten. Sollte sie im Fall persönlicher Gefährdung lügen oder gab es andere Möglichkeiten? In erster Linie versuchte sie, sich auf  ihren Schweizer Pass und auf ihre innere Verpflichtung hilflosen Verfolgten gegenüber abzustützen. Doch sie selber fühlte sich in all diesen Jahren kaum tragbarer Judenfeindlichkeit nie hilflos.”Wenn ich versuche, an jene Zeit in Frankreich zu denken, steigen ungezählte Erlebnisse vor mir auf. Es scheint mir oft unwahrscheinlich, dass ich das alles mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, mit eigenem Herzen immer und immer wieder erlitten habe.”[43]

Von Anfang ihrer Hilfstätigkeit an handelte Regina Kägi-Fuchsmann entgegen der offiziellen Schweizer Flüchtlingspolitik, nicht gemäss dem Gesetz, sondern gemäss dem Gewissen. Sie erachtete diese Grundhaltung als innere Verpflichtung, gleichzeitig als ihr politisches Recht. Sie war sich bewusst, dass gerade in diesem Zusammenhang das gute Herz nicht genügt.  Klugheit war erfordert, das Erwägen von möglicher Zusammenarbeit in einem wachsenden Beziehungsnetz, das Ertragen von Misstrauen, Verunglimpfungen und Anschuldigungen, das Bestehen auf Zielsetzungen, auch wenn Umwege und Wartezeiten erfordert waren.

Als der Krieg zu Ende ging, war weitere Hilfsarbeit erfordert. Das Dringlichste war die Wiederaufbauarbeit in den hungernden und zerstörten Nachbarländern der Schweiz. Auch die Flüchtlingsprobleme rissen nicht ab; ungezählte verwaiste und verwahrloste Kinder bedurften der Hilfe. Während einiger Zeit leitete Regina Kägi-Fuchsmann zusätzlich die gemeinsam mit Pfarrer Hellstern vom HEKS und weiteren Verantwortlichen gegründete “Europahilfe”. Ihr Organisationstalent und ihr umfassendes Wissen wurden vielfach gebraucht. Als sie 1952 von der Leitung des SAH zurücktrat, übernahm sie ohne Zögern die Mitverantwortung für das Initiativkomitee eines – wie ihr schien – dringlichen Schweizerischen Hilfswerks für aussereuropäische Gebiete SHAG, das unter dem Namen Helvetas noch heute wirksam ist.

Regina Kägi-Fuchsmann, deren persönliches Engagement und deren Weitsicht sie immer wieder zum Objekt politischer Anfeindung oder persönlicher Eifersucht gemacht hatte, erlebte erneut, wie schwierig es ist, in der kleinen, traditionellen Schweiz etwas Neues aufzubauen. Sie war überzeugt, dass Entwicklungshilfe zu den vordringlichsten Aufgaben des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts gehörte. “Ich bin in meinem Leben, wie jeder Mensch, der sich auf die wilde See der Öffentlichkeit hinauswagt, oft angegriffen worden, aber nie so gehässig und ausdauernd wie bei der Organisation des SHAG. Die Entwicklung hat mir aber recht gegeben.[44] Sie reiste nach Nepal und nach Tunesien und sie wurde sich bewusst, wie heikel und wie schwierig es ist, Entwicklungshilfe ohne Eingriff in bestehende Kulturen zu realisieren. In der gleichen Zeitspanne erlebte sie mit grossen Ängsten um ihr nahestehende Menschen, insbesondere um ihren Sohn Ueli und dessen Familie, den ungarischen Aufstand und den brutalen Einmarsch der sowjetischen Armee; wenig später die erneute Besetzung Tibets durch die chinesische Armee.

Der letzte Lebenskreis:  Schwer, zur Ruhe zu kommen

Nach dem Tod von Paul Kägi im Sommer 1964 und nach Abschluss ihres Lebensrückblicks, der 1968 veröffentlicht wurde, nahm Regina Kägi-Fuchsmann sich vor, zur Ruhe zu kommen. Doch sie war der Umsetzung ihres Vorsatzes nicht gewachsen. “So zwischen Wachen und Träumen sitze ich auf meinem Balkon über der Stadt, eine alte Frau, mit einem stattlichen Bündel Altersbeschwerden belastet, aber glücklicherweise auch noch mit Lebenskraft und immer noch wachem Interesse am Geschehen der Welt”.[45] Von ihrem Lebensmotto “tun, nicht zuschauen” konnte sie sich nicht lösen. “Weil helfen möglich ist, muss man es auch tun”, das sei der Sinn der Existenz, hatte sie mehrmals festgehalten. Doch “je mehr sich mit den Jahren der Schatz an Tatsachenkenntnissen häuft, umso weniger verstehe ich die Welt. Aber – muss ich sie denn verstehen? Ist meine Aufgabe (…) nicht vielmehr, einfach zuzugreifen, mit Verstand und Überlegung zuzugreifen, wo Not und Elend ist?”[46]

Für Regina Kägi-Fuchsmann wurde es zu einer schwierigen Erfahrung, nicht mehr “zugreifen” zu können, als ihre eigenen Kräfte zunehmend schwanden und sie selber Hilfe brauchte. Das Lebensziel, das sie als Jugendliche formuliert hatte – Beziehungen haben, Menschen, Ereignisse, Gedanken und Wissen an sie herankommen lassen und wählen, so weit sie wählen konnte -, sie hatte dessen Erfüllung gesucht. Hatte sie es erreicht? – oder suchte sie weiter nach mehr Erfüllung?

In den letzten drei Lebensjahren entwickelte sich in ihr ein Abbau der zeitlichen und räumlichen Orientierungsmöglichkeiten, die Alzheimer’sche Krankheit. Was in ihr vorging, konnte sie nicht berichten und niemandem erklären; sie wurde zur Gehetzten und Fliehenden. Immer wieder verliess sie das Altersheim, das sie noch selber ausgesucht hatte, und machte sich verwirrt auf den Weg, irgend wohin. Waren es lang verdrängte Kindheitswünsche, die sie einholten? – oder waren es belastende Identifikationen mit den zahllosen Fliehenden, denen sie in ihrem Leben begegnet war? Oder wünschte sie einfach, aus der Enge des dunkeln Alltagslebens zu fliehen? Eines Tages wurde Regina  Kägi-Fuchsmann während vielen Stunden vermisst. Zu Fuss muss sie die Strecke von Zürich bis Rapperswil zurückgelegt haben, erschöpft und hilflos wurde sie zuvorderst auf einem Schiffsteg gefunden, von wo aus sie nicht weitergehen konnte. Eine Zeit des zusätzlichen Kräftezerfalls folgte, des Wartens und Schweigens.

Als Regina Kägi-Fuchsmann am 12. Juni 1972 starb, 83 Jahre alt, war es ein sanftes Einschlafen. Erst als ihr Herz ihr zugestand, dass kein Streben und Tun mehr erfordert war, kam sie zur Ruhe. Und mit grosser Schlichtheit, wie sie es gewünscht hatte, ohne religiöse Zeremonie, wurde sie im städtischen Friedhof Nordheim in Zürich beigesetzt.

Mochte der letzte Lebenskreis, als er sich schloss, ohne dass Regina Kägi-Fuchsmann selber dafür hätte Worte finden können, vielleicht den Worten entsprechen, die sie für den ersten Lebenskreis festhielt? Das Bild des Kreises wird ja der Tatsache gerecht, dass Lebensanfang und Lebensende sich durch stetes Lernen und Wachsen finden. Im Rückblick auf sich selber als junge Frau erinnerte sie sich des Gedichts von einem deutschen Dichter,” ich glaube, er hiess Konrad Falke, das ich damals und immer wieder, mein ganzes Lebens lang, gelegentlich vor mich hinsagte:

“Herr, lass mich hungern dann und wann –           Gibt leichten Fuss zu Spiel und Tanz,

satt sein macht stumpf und träge,                           Flugkraft in goldne Ferne.

und schick mir Feinde, Mann um Mann,                und häng den Kranz, den vollen Kranz,

Kampf hält die Kräfte rege.                                    Mir höher in die Sterne.[47]

“Angeklagte haben es seit je in Deutschland schwerer als in anderen europäischen Ländern. Untersuchungshaft gilt den Nachbarn schon so viel wie Knast und selbst ein Freispruch schafft den Verdacht nicht aus der Welt. Es wird schon etwas Wahres daran gewesen sein.

Vor Gericht endet in Deutschland die Würde des Individuums, jenseits des Kreidekreises, von der Publikumsschranke an bis in den letzten dörflichen, städtischen, sozialen und asozialen Winkel setzt mit dem ersten Verhandlungstag der Rechtsstaat aus, das Volksempfinden ein, der scheinbar gesunde Menschenverstand, der messerscharf erkennt: Wer sich verheddert bei der Erinnerung an einen vor zwei Jahren im Kölner Hauptbahnhof visierten Fahrkartenschalter, dem glaubt man nicht; wer Freundinnen Nerzmäntel stiehlt, der steckt auch Häuser an, wer Männer hat, mordet auch welche. – So dünn ist in Deutschland die Decke der Republik, dass dem Volk aufs Maul geschaut soviel heisst wie: Der Obrigkeit zustimmen, noch ehe sie fordert; den Angeklagten schuldig sprechen, eh das Gericht so weit ist; jedem Laffen von der Polizei eher recht geben als dem unschuldigsten Verhafteten, und im Verteidiger sieht man immer schon etwas von einem Komplicen (…).”[48]

 

“Wir wissen (…), dass wir Deutschen mehr Schwierigkeiten als andere mit unseren unterdrückten Aggressionen haben, weil wir die, die wir hassen müssten, die unsere Aggression unterdrückt haben – Vorgesetzte, Eltern, die da oben – nicht hassen durften.”[49]

 

Ulrike Maria Meinhof (7.10.1934 – 8.5.1978)[50]

Ulrike Maria Meinhof, wie sie mit dem ganzen Namen hiess, war nur wenige Jahre älter als ich. Lebte sie noch, hätte sie am 7. Oktober 2006 den 72. Geburtstag gefeiert. Wie würde sie reagieren, wenn sie nicht mehr auf der Liste der “Terroristen” aufgeführt wäre, sondern z.B. auf der Liste der “1000 Frauen für den Friedensnobelpreis”? – wenn sie als Beispiel des “anderen Genies” Beachtung fände, das zwar Ärgernis, jedoch auch Asporn weckte?

Es ist merkwürdig, in Zusammenhang von Ulrike Meinhof, wie sie verkürzt genannt wird, gleite ich beim Nachdenken über das “andere Genie” in die Vorstellung einer hypothetischen Irrealität ab, in Wunschträume einer Korrektur ihrer tragischen – und zugleich absurd erscheinenden – Geschichte, die Teil der jüngsten Vergangenheit ist. Ist es, weil mich bei ihrer Lebensgeschichte einmal mehr die Nichtübereinstimmung von innerer Zeit und von Zeitgeschichte in allem, was sie prägte, aufwühlt? – von Ernst und Verantwortung in der Kindheit und Jugend, Nachholen von Neugier, Aufbegehren und Wagnis im Erwachsenenalter, Verstrickung in gewaltbesetzte kollektive Geschehnisse. Vielleicht auch, weil ich mich an Überlegungen klammere – wie sie zum Beispiel der Einstein’schen Relativitätstheorie zugrunde liegen -, durch welche jede Art von Berechnung in Frage gestellt werden kann, auch jede historische und strafrechtliche, jede wissenschaftliche oder ideologische Berechnung, damit auch jede Art von Urteil über Ulrike Meinhofs Abgleiten in die Baader-Gruppe und in den Tod. Weil mit diesen Überlegungen die Ablehnung jeder Alleinrichtigkeitsbehauptung einhergeht, jeden Zwangs von Aussen wie von Innen. Daher eine Auflehnung gegen “Martyrertum”, wofür die extreme Linke ihren Tod benutzt, doch ebenso gegen die neuropathologischen Übergriffe, welche sich sowohl in der menschenrechtlich inakzeptabeln Entfernung von Ulrike Meinhofs Hirn aus ihrem Schädel bei der Obduktion und dessen Benutzung als in Formalin aufbewahrtes Forschungsobjekt kund tun[51] wie in der damit verbundenen wissenschaftlichen Überheblichkeit, mit welcher heute die neurologische Entschlüsselung der Rätsel weiblichen “Terrorismus'” vorgegeben wird.

Der klärende Diskurs als Methode der analytischen Untersuchung

Ulrike Meinhof hätte vermutlich bis 1970 diese Überlegungen unterstützt. Sie hatte danach gestrebt, die Kraft des denkenden Herzens als Massstab wirken zu lassen; sie hatte die menschliche Würde als Voraussetzung für die Korrektur von Machtlosigkeit verteidigt, bis sie unter dem Druck der Zeitgeschehnisse den eigenen Boden – das sprachgewandte Leben in der Öffentlichkeit, schliesslich ihre Freiheit – verlor. Fragen drängen sich auf:

– Warum nur gelang es ihr nicht, im öffentlichen Raum stehen zu bleiben? Warum musste sie sich dem Zwang zur Flucht, zum Leben im Untergrund und zur vielfältigen Einkerkerung ausliefern? Warum war es ihr auch nicht möglich, gegen die sich steigernde Gewalt in der zuerst kleinen, dann anwachsenden Baader-Gruppe Widerstand zu leisten und daraus auszusteigen? – nicht im Sinn eines Verrats, d.h. weder aus politischen noch aus gruppendynamischen Gründen, sondern im dialektischen Sinn, d.h. in Hinblick auf eine konstruktive Korrektur ihres eigenen Lebens, auch unter den Bedingungen, unter denen Deutschland und ganz Europa den Krieg und die Folgen des Kriegs übertünchten. Warum konnte zum Beispiel nicht ihre Verantwortung  für die sprachlosen Kinder aus Armutsverhältnissen sie dazu bewegen, für deren Lebenswert und deren Rechte sie sich als Journalistin und als Pädagogin eingesetzt hatte? Warum nicht die Liebe zu ihren eigenen zwei Töchtern?

– Warum nur fügte sich Ulrike Meinhof, die als Frauenrechtlerin gegen die soziale und arbeitsrechtliche Entwürdigung von Frauen gekämpft hatte, als Frau den Forderungen Andreas Baaders, eines pathologisch narzissstischen “Führers”? Warum liess sie ihre Intelligenz zum Zweck von dessen herrschsüchtiger Skrupellosigkeit benutzen? Gaubte sie, die neun Jahre älter war als er, auch drei Jahre älter als Gudrun Ensslin, eine Art mütterlich-schwesterlicher Schutzfunktion übernehmen zu müssen? Spürte sie nicht, in welchem Mass sie hierfür missbraucht wurde? Warum nur kam sie vom Gestrüpp der Gewalt, das sie auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene durchschaut hatte, auf der Ebene des Untergrundes nicht los und tat sich selbst Gewalt an?

– Genügt es, sie als das tragische Opfer einer verhärteten und damit inhuman gewordenen Theorie des richtigen Handelns zu sehen, als welches sie für viele ihrer linken Zeitgenossen und Zeitgenossinnen galt, einer Theorie, die sich nicht mehr über Sprache, sondern über Gewalt durchzusetzen versuchte? Genügt es zu trauern, dass die Freiheit der Sprache in doppelter Weise in ihr erstickt wurde, einerseits durch die Staatsgewalt, andererseits durch die Gewalt der Gruppenzugehörigkeit? Warum liess sie zu, dass sie zum Instrument und zum Objekt von Gewalt – zur Märtyrerin – wurde?

“Ich wollte ja mal Vogelforscher werden”[52]

Der Komplexität dieser Fragen will ich nachgehen, im Diskurs mit Ulrike Meinhof selber. Mehr als drei Jahre vor ihrem Tod hatte sie festgehalten, dass weder Täuschung noch Hoffnung zugelassen seien, damals im Isolationstrakt des Gefängnisses von Ossenburg, in welchem sie sich während acht Monaten befand, gut drei Jahre vor ihrem Tod. “Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebenschance hat. Völliges Scheitern, das zu vermitteln … Das Gefühl, Zeit und Raum sind verschachtelt”.[53] Damals notierte sie auch, es stimme nicht, “dass sie noch nie mit den Krähen geredet hätte”[54].

An ihre damals zehnjährigen Töchter schrieb sie in der gleichen Zeit, im Oktober 1972, dass “vom Rhein her manchmal Möwen rüber fliegen. Kennt Ihr die Drosseln? Das sind Nachmacher. Sie gehören zur Familie der Amseln. Aber sie singen nicht wie Amseln, auch wie Rotschwänze, Scherenschleifer, Zaunkönige. Gibt’s so was in Eurem Garten? Ich wollte ja mal Vogelforscher werden. Aber die Vogelforscher haben auch’n bisschen ‘n Tick. Trotzdem. Sie haben gute Ohren… Lasst mal ruhig von Euch hören. Ihr zwei. Eure Mami“.[55]

Schon im voraus steht fest: Die Komplexität der Fragen beruht auf der Komplexität nicht-übereinstimmender Teile in Ulrike Meinhof selbst und in der  Zeitgeschichte. Auf sie nochmals einzugehen, wühlt mich auf. Vor zehn Jahren tat ich es im Zusammenhang des Protestes gegen den Jugoslawienkrieg[56]; in der aktuellen Situation ist es ebenso dringlich, in welcher weltweit Kriege gegen “Terroristen” mit destruktiver Fernsteuerung wie mit praktischer Brutalität umgesetzt werden, ohne dass die Ursachen für den “Terror” von Machtlosen untersucht und zu korrigieren versucht würden, Kriege, in denen es nie um den Lebenswert  und Schutz von Menschen geht, sondern letztlich um Kontrolle und Besitz von wirtschaftlich wichtigen Weltregionen.

Mehrere Schichten der Untersuchung müssen dabei beachtet werden:

– die anamnestische, in welcher die  Zusammenhänge von Ulrike Meinhofs persönlicher Entwicklung zu hinterfragen sind, gleichzeitig die politisch-zeitgeschichtlichen: die Situation des damaligen Nachkriegsdeutschland, die Zeit des Kalten Kriegs, des Vietnam-Kriegs und der Weltherrschaftsansprüche der USA;

– die gesellschaftsanalytische, welche den damaligen Protest der Jugend gegen die machthabende Vätergeneration thematisiert; schliesslich

– die psychoanalytische, in welcher die Klärung der allmählichen Verzweiflung in der Isolationshaft im Gefängnis von Köln-Ossendorf und von Stuttgart-Stammheim gefordert ist.

“Der Friede macht Geschichte”[57]

Welche Geschichte machte der Friede? Wie war die Lebensgeschichte dieser Frau, die nicht einmal 42 Jahre alt werden konnte? Wie waren die inneren und die äusseren Geschehnisse, die sie prägten?

Ulrike Marie Meinhof war am 7. Oktober 1934 als zweite Tochter von Werner und Ingeborg Meinhof in Oldenburg zur Welt gekommen. Zwei Jahre später zog die Familie nach Jena, wo ihr Vater, der in einer würtembergischen Pfarrerfamilie aufgewachsen war, Direktor des Stadtmuseums wurde. Ulrikes Meinhofs Mutter war die Tochter eines sozialistischen Lehrers und Schulinspektors aus Hessen, dem aus politischen Gründen ab 1933 keine Berufsausübung mehr erlaubt wurde und der als Handelsvertreter zu überleben versuchte. Die Eltern gehörten der protestantisch-hessischen “Renitenz-Kirche” an, die das Hitlerregime ablehnte, ohne öffentlich dagegen Stellung zu beziehen.

Als 1939 der Krieg ausbrach, war Ulrike Meinhof somit fünf Jahre alt, und sie zählte sechs Jahre, als sie ihren Vater verlor. Wo und wie er starb, hat sie nicht festgehalten, nicht die Trauer und nicht die Ängste der Kriegszeit, auch nicht das Verhältnis zu ihrer vier Jahre älteren Schwester. Konnte sie spielen, fühlte sie sich geschützt? – oder musste sie vor allem still und tapfer sein? Wie erlebte sie die Schule, den Unterricht, die täglichen Radionachrichten?

Die Verdrängung schwieriger, leidvoller Alltagsrealität ist überlebenswichtig. Was feststeht, ist, dass Ingeborg Meinhof, Ulrike Meinhofs Mutter, von der Stadt Jena ein kleines Stipendium erhielt, um das Studium fortzusetzen, auch dass eine Studienkollegin, die Historikerin und Pädagogin Renate Riemeck, nach dem Tod von Werner Meinhof mit ihr und ihren Töchtern zusammenlebte, auch nach Kriegsende gemeinsam mit ihnen von Jena nach Oldenburg floh. Die beiden Frauen verband eine echte Freundschaft. Gemeinsam promovierten sie und gemeinsam betreuten sie die zwei Mädchen.

Ulrike Meinhof war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie 1949 auch ihre Mutter verlor, wegen tödlicher Infektion nach einer Krebsoperation. Renate Riemeck übernahm die gesetzliche Vormundschaft und wurde zur viel bewunderten Pflegemutter. Sie trug kurz geschnittenes Haar und Hosen, sie war in jeder Hinsicht eine unabhängige Frau. 1951 wurde sie als Dozentin an die Pädagogische Hochschule in Oldenburg und in Braunschweig gewählt, ein Jahr später in Weilburg, wo Ulrike M. das Gymnasium abschloss.

Weil sie Vollwaise und hochbegabt war, erhielt sie von der “Studienstiftung des deutschen Volkes” ein Stipendium. In Marburg, wo sich auch Hannah Arendt immatrikuliert hatte, begann sie mit dem Studium in Psychologie und Pädagogik, in Soziologie und Germanistik. Sie wollte an die hohen Ideale glauben, die im deutschen Grundgesetz von 1948 festgehalten waren. Für Ulrike M. war massgeblich, dass es im gleichen Jahr wie die UNO-Menschenrechtserklärung zustande gekommen war. “Das Grundgesetz ist das einzige Programm der bundesrepublikanischen Demokratie, das nicht vom Diktat einzelner Interessengruppen bestimmt ist, noch von perfektionistischen Weltanschauungssystemen sich herleitet. Seiner Entstehung und seinem Inhalt nach ist es vielmehr ein Stück Zeitgeschichte, präziser: Nachkriegsgeschichte.” [58] Es sollte damit “die Basis einer durch keine Barbarei zerstörbaren Welt geschaffen werden”.[59]

Kompromisslos wollte Ulrike Meinhof sich von Beginn der Studienzeit an für die Achtung der politischen und sozialen Rechte aller Menschen innerhalb der staaatlichen Gemeinschaft einsetzen, für ein Menschenbild, das auf der gleichen Achtung vor dem gleichen Menschsein aller Menschen beruhte – der Kinder, der Armen und der Greise, der Fremden und der Einheimischen, der Schwachen, Kranken und der Starken. Sie las mit grösster Intensität, was sie lesen konnte. Einen kritischen Austausch über Literatur und Politik ermöglichten ihr Gespräche mit der nur 14 Jahre älteren Renate Riemeck, welche damals SPD-Mitglied war, jedoch von der Partei zurücktrat, als diese 1955 für die Wiederbewaffnung Deutschlands stimmte.

“Die Würde des Menschen wäre wieder antastbar”[60]

Allmählich empfand Ulrike Meinhof die politischen Verhältnisse im damaligen Deutschland als Restaurationssystem alten Stils, mithin als demokratischen Betrug. Ihre Aufmerksamkeit wurde immer wacher. Sie wollte auf keinen Fall mit Mächtigen paktieren, die ihren Aufstieg durch Beihilfe im nationalsozialistischen System geschafft hatten und nach Kriegsende bloss das Hemd wechselten, um weiterhin an der Macht zu bleiben. Denn so war die Vätergeneration, aus welcher in einzelnen Bundesländern und in Bonn, in der Armee und bei der Polizei zahlreiche regierten; in Ulrike Meinhof, die den eigenen Vater kaum gekannt hatte, lösten sie mehr als Skepsis aus.

In Marburg, später in Münster und in Hamburg war sie Mitglied der linken Studentenorganisationen. Sie wurde zur kritischen Beobachterin der zunehmend vom Kalten Krieg – statt von der im Grundgesetzt festgehaltenen Friedensverpflichtung – sowie von den amerikanischen Weltherrschaftsansprüchen geprägten deutschen Klassengesellschaft, sie wurde aktiv in der Anti-Atomwaffen-Bewegung, nahm an den Ostermärschen sowie an den studentischen Diskussionen und Demonstrationen teil, sie trat insbesondere gegen den Vietnam-Krieg auf, in welchem Deutschland im politischen und technologischen Schlepptau der USA mitmarschierte. Ohne zu zögern hielt sie in Berichten und Kommentaren die nicht duldbare Gewalt der Polizei gegen Menschen fest, die nichts anderes beanspruchten, als Art. 5 des Grundgesetztes umzusetzen, ob es sich um einen Abiturienten handelte, der für ein Referat über die Teilung Deutschlands Informationen aus Ost-Berlin brauchte und deswegen vor die Kriminalpolizei geladen wurde, oder ob es um schwerwiegende polizeiliche Übergriffe auf Demonstrierende[61] ging: “Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äussern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten? Wenn ich nicht irre, steht das im Grundgesetz, Artikel 5. Wir können noch lange nicht ruhig und zufrieden sein”.[62] 

Auch die in der innerdeutschen Klassengesellschaft sich fortsetzende soziale Ungerechtigkeit wurde ihr zunehmend bewusst, die sie ebenso wenig ertragen konnte. Sie setzte sich für Kinder aus armen Familien ein, die in Sonderschulen oder Heime abgesondert, als minderwertig eingestuft und ausbildungsmässig benachteiligt wurden; sie untersuchte die fortgesetzte Diskriminierung der Frauen und den Missbrauch von Arbeitern und Arbeiterinnen zu Produktionszwecken bei der Fliessbandarbeit.

1958 wurde Ulrike Meinhof Mitglied der damals verbotenen Kommunistischen Partei und lernte Klaus Rainer Röhl kennen, der 1951 den “Studentenkurier – Magazin für Kultur und Politik” mitgegründet hatte. Daraus wurde 1957 die Zeitschrift “konkret”, in welcher ab 1959 Ulrike Meinhof publizierte und 1962 Redaktionsmitglied wurde. Sie war zur viel beachteten und bewunderten politischen Stimme geworden, auch im Fernsehen und Radio. Sie trat von der Redaktion zurück, als sich 1964 die KPD von der Zeitschrift distanzierte, blieb jedoch bis 1969 die “Star”-Kolumnistin.

Ende Dezember 1961, als Ulrike Meinhof 25 Jahre alt war, hatten sie und Klaus Rainer Röhl geheiratet. Sie wurde schwanger. Schwere Kopfschmerzen und Sehstörungen traten auf und verstärkten sich; ein Hirntumor wurde vermutet. Einem Schwangerschaftsabbruch mochte sie nicht zustimmen. Nach siebeneinhalb Monaten kamen mit Kaiserschnitt Zwillinge zur Welt, Bettina und Regine. Der als dringlich erklärten Gehirnoperation unterzog sie sich erst, als die zwei Mädchen nicht mehr des Brutkastens bedurften, sondern von Renate Riemeck betreut werden konnten. Es stellte sich heraus, dass es nicht ein Tumor war, unter welchem Ulrike Meinhof litt; es war ein Hämatom, das mit einer Silberklammer abgeklemmt wurde. Ob diese Operation tatsächlich ihre Empfindungen in einem Mass verändert hat, dass deswegen die Ehe mit Klaus-Rainer Röhl zerbrach und sie zur “Terroristin” wurde, wie im nachhinein von neuropathologischer Seite zu begründen versucht wurde, ist anzuzweifeln. Ich werde auf ihre psychische Entwicklung eingehen.

Tatsache ist, dass sich die widersprüchliche Komplexität ihrer äusseren und ihrer inneren Realität zunehmend verstärkte. Da waren einerseits Ehe und Kinder sowie gesellschaftlicher Erfolg, ein schönes Haus in Blankenese und Ferien auf Sylt. Andererseits stand sie der kritischen linken Studentenschaft nahe und hielt ihr kritisches Denken uneingeschränkt wach. Für sie galten nach wie vor die politischen und sozialen Gefühle der Zugehörigkeit zu den Schwachen und Sprachlosen der Gesellschaft. Sie empfand die deutschen Verhältnisse als amerikanisch-imperialistische Komplizenschaft, letztlich als beschämend masslose Unterwerfungs- und Profithaltung in der Wirtschaftspolitik wie in der militärischen Vernichtungsstrategie.

“Dreierlei erscheint lebensmässig unvereinbar”[63]

Als im April 1967 die Berliner Studentinnen und Studenten gegen den Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey protestierten und Quarkpudding anrührten, um ihn damit zu bewerfen, wurde dies in der Springer-Presse als geplanter Strengstoffanschlag verbreitet und die Protestierenden wurden gefangengenommen. Ulrike Meinhof war aufgebracht über die offizielle Willkür in der Definition von Recht und Unrecht: “Nicht Napalmbomben auf Frauen, Kinder und Greise abzuwerfen ist demnach kriminell, sondern dagegen zu protestieren. Nicht die Zerstörung lebenswichtiger Ernten, was für Millionen Hunger und Hungertod bedeutet, ist kriminell, sondern der Protest dagegen. Es gilt als unfein, mit Pudding und Quark auf Politiker zu zielen, nicht aber, Politiker zu empfangen, welche Dörfer ausradieren lassen und Städte bombardieren… Napalm ja, Pudding nein”.[64]

In einer Tagebuchnotiz aus dem gleichen Jahr 1967 hielt sie fest: “(…) dreierlei, was lebensmässig unvereinbar erscheint, zerrt an mir, reisst an mir”.[65] Es war die zunehmende Distanz zwischen ihr und Klaus Rainer Röhl in emotionaler wie in politischer Hinsicht; die Ehe war für sie zum gesellschaftlichen Schein geworden, gleichzeitig waren die Zwillinge von zentraler Bedeutung. Dazu kam, dass sie als kritische Linke und als Stimme der Machtlosen durch die Verquickung innerdeutscher und weltpolitischer Entwicklung zunehmend in den Sog von Empörung und aktiver Auflehnung geriet. Die vielen Teile dieser Entwicklung bewegten sich im Frühling und Frühsommer 1967 immer massiver auf einem Schraubstock von Gewalt: Es kam zur Militärdiktatur in Griechenland, zum israelischen “Blitzkrieg” unter dem Kontrollszepter der USA im Nahen Osten, zur Steigerung des Vietnam-Kriegs; gleichzeitig zu immer schärferen Polizeieinsätzen gegen Studentendemonstrationen, dann am 2. Juni 1967 anlässlich  des Schah-Besuchs in Berlin zu einer mit persischen Schlägertrupps voraus geplanten, brutalen Strassenschlacht der deutschen Polizei gegen die demonstrierenden Jugendlichen – bis zur Tötung von Benno Ohnesorg, dem scheuen Studenten, der das erste Mal an einer Demonstration teilgenommen hatte.

Die Vorkriegs- und Kriegskinder waren erwachsen geworden. Ihre Forderung, als Ausserparlamentarische Opposition ernst genommen zu werden, um eine Entflechtung zwischen Väter-Grossväter-Nazigeschichte und aktueller Herrschaft in den politischen und gesellschaftlichen Etagen zu erreichen – sowohl auf Regierungs- und Wirtschaftsebene wie bei der Massenpresse -, führte in den Universitäten zu einem kritischen und kreativen Diskurs, der auch eine Veränderung in den hierarchischen Strukturen bewirkte. Gegen die anfänglich friedlichen Demonstrationen auf der Strasse kam es jedoch zum gewalttätigen, beinah kriegsmässigen Einsatz von  Polizei. Zum Feind erklärt, statt angehört zu werden, weckte bei Einzelnen hilflose Wut. Die von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein durchgeführte Brandstiftung in Frankfurt, bei der es um einen symbolischen Angriff nicht auf Menschen, sondern auf das, was sie als deutsche Scheinwelt empfanden, führte zu deren Verhaftung. Es war eine Spirale der Zuspitzung von Nicht-ernst-genommen-werden und Hilflosigkeit zur Wut. Anlässlich einer Demonstration gegen den Springer-Konzern in Berlin als “Protest der Intellektuellen gegen die Massenverblödung[66] artete die Strassenschlacht ins Masslose aus; in München kam es zum Tod eines Pressefotografen und eines Studenten.

Für Ulrike Meinhof war die Glaubwürdigkeit des deutschen Grundgesetzes in Frage gestellt. Sie thematisierte in “konkret” die “Funktionsunfähigkeit dieser Demokratie, ihre Inhaltlosigkeit, ihre radikale Unglaubwürdigkeit“.[67] Ihre Aufmerksamkeit richtete sich noch auf das breitere Umfeld der kritischen Gleichaltrigen, auf die Frauenbewegungen, auf die Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie auf die rechtlichen und öffentlichen Möglichkeiten der Kommunistischen Partei. Doch mit dem sowjetischen Angriff vom 21. August 1968 auf die Tschechoslowakei zerbrach in ihr auch die politische Hoffnung.

“Widerstand ist (…) nicht mehr mitmachen”[68]

Existentielle und theoretische Spaltungen sowie Gefühle der lähmenden Auflehnung schnürten Ulrike Meinhof zunehmend ein. Nach dem – von der Springer-Presse aufgehetzten – Mordversuch an Rudi Dutschke, den Ulrike M. mit Martin L. King verglichen hatte, ging sie in ihrer Kolumne “Vom Protest zum Widerstand” der Grenze des Ertragbaren nach: “Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass alle anderen auch nicht mehr mitmachen. (…) Die Grenze zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke in den Osterfeiertagen erstmals massenhaft (…) überschritten worde. Stellen wir fest: Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftungen hier verurteilen, nicht aber die (…) Bomben auf Vietnam, nicht den Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika (…), deren Argumentation ist heuchlerisch” und sie warnte “Nun (…) muss neu und von vorn über Gewalt und Gegengewalt diskutiert werden. (…) Gegengewalt läuft Gefahr, zur Gewalt zu werden, wo die Brutalität der Polizei das Gesetz des Handelns bestimmt, wo der paramilitärische Einsatz der Polizei mit paramilitärischen Mitteln beantwortet wird”. [69]  Ulrike Meinhof fasste zusammen, was sie von der Black-Power-Bewegung auf die Jugendbewegung in Deutschland übertrug.

Für Ulrike Meinhof beruhte die Nichtakzeptanz der politischen Situation auf der Verzweiflung über eine eventuelle Wiederholung der Dreissigerjahre. Schon 1960 hatte sie festgehalten[70], Deutschland 1960 werde von jedem Dritten mit Deutschland von 1933 verglichen; es sei nicht akzeptierbar, dass der Verrat am Grundgesetz von 1948 eine parlamentarisch abgesegnete Tatsache sei. Das Grundgesetz sei schliesslich aus dem Wissen geschaffen worden, dass die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland systematisch geplante und grenzenlos durchgeführte Menschenverachtung auf der Grundlage ursprünglich demokratisch geschaffener Gesetze und durch die offene oder schweigende Zustimmung von Millionen von Menschen geschehen war. Sie fragte sich, was ein Grundgesetz bedeute, wenn die darin enthaltene Menschenrechtsgarantie sich Schritt für Schritt auflöste? – zuerst durch die 1956 beschlossenen “Wehrmachtartikel”, die atomare Aufrüstung der BRD im Rahmen der NATO mit dem Verrat am Bekenntnis zu einem unbedingten Frieden, wenige Jahre später die “Notstandsartikel” mit dem Verrat an einer widerspruchsbereiten, veränderungsfähigen, politisch offenen Demokratie. Sie hielt fest, es würden zwar in Deutschland nicht wieder Verbrennungsöfen für Menschen gebaut, aber Deutschland sei wieder aktives Mitglied in einem Militärbündnis, das vor konventionellen, chemischen, biologischen und atomaren Waffen strotze und bereit sei, diese einzusetzen, um Menschen zu töten, nicht anders wie im jüngst vergangenen Krieg. Auch die Medien, stellte sie fest, seien wieder Zudiener und Trabanten der Mächtigen. Aus Machtkalkül würden wieder Feindbilder gezimmert, mit deren “Bekämpfung” – unter dem Vorwand “des Erhalts des Friedens und der Abwehr der kommunistischen Gefahr” -, wie die Formel hiesse, wieder Gesetze geschaffen und Waffen legitimiert würden– auch zum Einsatz gegen die eigene Jugend.

Vom “Kolumnismus” zu den “Gängstern”

Für Ulrike Meinhof stand fest, dass, wenn Gewalt aus “Staatssicherheitsgründen” gerechtfertigt werde, auch die Presse, die sich instrumentalisieren lasse, fragwürdig sei. Damit richtete sie sich als Journalistin gegen sich selbst: nicht nur gegen ihre eigene Arbeit, sondern auch gegen “konkret”. Nach der harschen Kritik, die sie in ihrem Text über “Kolumnismus” publizierte[71], zog sie sich zurück.

Geschieden von Klaus-Rainer Röhl, lebte Ulrike Meinhof mit den Zwillingen allein in Berlin. Sie arbeitete an ihrem Dokumentarfilm “Bambule”. “Doof – weil arm”[72]  war für sie eine nicht akzeptierbare gesellschaftliche Tatsache. Sie hatte Schüler und Schülerinnen aus Sonderschulen befragt und festgestellt, dass die meisten ohne Selbstwertfühl und voller Ängste waren, dass viele schon als Kinder als “Gängster” bezeichnet wurden, weil sie mit der Polizei zu tun gehabt hatten. Sie kämpfte für Ganztagesschulen und Fünf-Tage-Woche für alle Kinder, damit diese eine gute Zukunft hätten, unabhängig von Elterngeschichte und Lebensverhältnissen. Eindrücklich ist die analytische Sorgfalt, mit welcher sie in Zusammenhang des Prozesses gegen Jürgen Bartsch die Hintergründe dieses durch Heime gestossenen und geprügelten, der Adoption als unwürdig beurteilten Jungen untersuchte, der homosexuell und zum Mörder wurde[73].

War es die Identifikation Ulrike Meinhofs mit den Machtlosen in der Gesellschaft, mit den schutzlosen Kindern, deren trotziges Aufbegehren gegen das diskriminierende Regelsystem sie als Mut deutete und als überlebensnotwendig erachtete, wodurch die allmähliche Sympathie für die “Brandstifter” zu erklären ist? Gudrun Ensslin, Andreas Baader und die zwei anderen Angeklagten hatten Mitte Juni 1969 mehr als ein Drittel der Haftstrasse wegen der Brandstiftung abgesessen; auf November war die Revision angesetzt. Sie hatten sich in Frankfurt mit Jugendlichen zusammengefunden, die aus Heimen ausgebrochen waren. Es entstanden unterschiedliche Wohnkollektive: Gudrun Ensslin[74] bemühte sich um finanzielle Unterstützung bei den Behörden, damit die Jugendlichen Abendschulen besuchen konnten und nicht in die Illegalität, in die Drogenszene etc. abtauchten. Andreas Baader[75] dagegen betrachtete geregelte Arbeit als bürgerlich und animierte zu jeder Art von Willkür und ungeregeltem Leben, auch zu jeder Art von Diebstahl und Streit. Als bei der Revision die Haftstrafe den Brandstiftern nicht nachgelassen wurde, tauchten diese unter.

Im Februar 1970, als Ulrike Meinhof die Dreharbeiten zu “Bambule” abgeschlossen hatte, erschienen eines Abends Gudrun Ensslin und Andreas Baader vor ihrer Tür und baten um Unterkunft. Etwa zwei Wochen lebten sie bei ihr versteckt. Die Zwillinge konnten Baader nicht leiden, er war in ihren Augen hartherzig, skrupellos und feige, ständig fordernd und die Kinder verachtend. Eines Nachts überredete Gudrun Ensslin Ulrike Meinhof zu einem ersten LSD-Trip, der, wie ich annehme, den Bezug zwischen Empfinden und kritischem Denken beeinflussten und ihre Entscheidungsfreiheit veränderten.

Anfang April 1970 wurde Andreas Baader bei einer Polizeikontrolle gefangengenommen. Dessen Befreiung erachtete Gudrun Ensslin als zentrale Aufgabe. Dazu bedurfte sie Ulrike Meinhofs Hilfe. Mit einem Schreiben des Verlags Klaus Wagenbach an die Gefängnisleitung wurde vorgegeben, Ulrike Meinhof und Andreas Baader planten ein Buch über randständige Jugendliche. Von Horst Mahler, Baaders Anwalt, wurde bestätigt, es sei dringlich, dass sein Klient im Institut für Soziale Fragen mit Ulrike Meinhof  Zeitschriften aus den Zwanzigerjahren prüfen könne. Die Täuschung gelang. Am 14. Mai 1970 wurde mit dem Einsatz von Waffen, die Gudrun Ensslin beschafft hatte, ein Institutsangestellter schwer verletzt. Baader sprang aus dem Fenster, Ulrike Meinhof  ebenfalls. Ein Fluchtauto stand bereit.

Damit begann Ulrike Meinhofs Leben in der Illegalität, getrennt von ihren Kindern, in zunehmender Verstrickung mit einer Gruppe – von mehr Frauen als Männern -, die sich um Andreas Baader gebildet hatte. Deren Auflehnung gegen den “totalen Rechtsstaat” lehnte die Fortsetzung des kritischen, dialektischen Diskurses als sinnlos ab. Wurde nicht von der Jugend die gleiche politische Anpassung gefordert, welche von den Machthabenden in den Dreissigerjahren erbracht worden war? Argumentation hatte sich daher zu Aktionsopposition gebüschelt, aus kritischen Linken war eine anwachsende Gruppe von “staatsfeindlichen Terroristen” geworden, die im Untergrund zunehmend angefacht wurde, sich gleichzeitig verengte und erweiterte. In der Öffentlichkeit hiess sie “Baader Meinhof Gruppe”. Ulrike Meinhofs Name wurde benutzt und geschluckt; ihre äussere und ihre innere Identität wurden gespalten.

Nach dem Ausbildungstraining bei den palästinensischen Fatah bezeichnete sich die Gruppe selber als “Stadtguerilla”, mit der Zeit als “Rote Armee Fraktion”als RAF. Staatsmacht und Untergrundopposition schaukelten sich über sog. “legitimierte” Gewalt gegenseitig auf. Deutschland setzte die Notstandsgesetze tatsächlich um, deren Planung Ulrike Meinhof wegen der eindeutigen Verfassungswidrigkeit in zahlreichen Artikeln angefochten hatte. Es kam zu einem gesamtstaatlichen Überwachungs- und Kontrollsystem, zur Gefangennahme einer grossen Anzahl der bei der RAF Beteiligten, zu strengster Isolationshaft und zu einer grossen Anzahl von Gerichtsverfahren. Jenes von Stuttgart-Stammheim, bei welchem auch Ulrike Meinhof auf der Anklagebank sass, mutet bei der Lektüre der Prozessdokumente vom Verfahren her irreal an. Ihr Warnung vor dem Zerfall der Demokratie erwies sich als prophetisch. Es ist heute kaum zu fassen, dass alles, was damit einherging, als rechtmässig erklärt werden konnte und als patriotische Notwendigkeit daherkam, und gleichzeitig ist es merkwürdig nah zur aktuellen politischen Situation mit der weltweit sich verschärfenden Aufpeitschung von “Terror”-Verdacht.

“Es schien ihr, dass keine Zeit mehr zu verlieren sei”[76]

So ist Ulrike Meinhof in die Geschichte eingegangen. “Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt”[77], hielt sie fest, als sie von Mitte Juni 1972 an während acht Monaten allein in einer Zelle im leeren Gefängnis von Köln-Ossendorf eingekerkert war, im “Toten Trakt”, der Teil des “Tigerkäfig”-Systems war, welches das damalige Westdeutschland von den USA im Verfahren gegen politische Gefangene in Saigon übernahm. “Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müsste eigentlich zerreissen, abplatzen) – das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepresst – das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen wie Backobst z.B. – das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich unter Strom, man würde ferngesteuert – das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt – das Gefühl, man pisst sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht halten kann – das Gefühl, die Zelle fährt, nachmittags, wenn die Sonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen. Man kann das Gefühl des Fahrens nicht absetzen. Man kann nicht klären, ob man vor Fieber oder vor Kälte zittert – man kann nicht klären, warum man zittert – man friert. Um in normaler Lautstärke zu sprechen, Anstrengungen, wie für lautes Sprechen, fast Brüllen – das Gefühl, man verstummt – man kann die Bedeutung von Worten nicht mehr identifizieren, nur noch raten – der Gebrauch von Zischlauten – s, ss, tz, sch – ist absolut unerträglich – Wärter, Besuch, Hof erscheint einem wie aus Zelluloid – Kopfschmerzen – flashs – Satzbau, Grammatik, Syntax – nicht mehr zu kontrollieren. Beim Schreiben: zwei Zeilen – man kann am Ende der zweiten Zeile den Anfang der ersten nicht mehr behalten – das Gefühl, innerlich auszubrennen – das Gefühl, wenn man sagen würde, was los ist, wenn man rausgelassen würde, das wäre, wie dem anderen kochendes Wasser ins Gesicht zischen, wie z.B. kochendes Trinkwasser, das einen lebenslänglich verbrüht, entstellt –(…)”[78]

Vorausgegangen waren zwei Jahre Flucht- und Untergrundleben, das mit einem wachsenden Netz Mitverantwortlicher durch Autodiebstähle, Bankenüberfälle bis zur geheimen Beschaffung und Herstellung von Waffen, bis zu deren Einsatz auch gegen Menschen immer widersprüchlicher, enger und stickiger geworden war. hatte sie sich auch in “klarem Bewusstsein” entschieden, ihren Weg der Illegalität und der Isolation zu gehen? Wie viel Freiheit hat der Mensch im Geflecht der Zeit? Sie wurde sich selbst mehr und mehr fremd, bewahrte gleichzeitig ihre Wachheit. Als im selben Jahr am 5. September während der Olympischen Spiele in München der palästinensische Angriff auf die israelischen Sportler erfolgte, von denen zwei erschossen und neun als Geiseln festgehalten wurden, versuchte Ulrike Meinhof nochmals, über die Sprache im öffentlichen Raum präsent zu sein, jedoch nicht mehr mit ihrem Namen, sondern mit jenem der RAF. “Die Genossen vom Schwarzen September”, schrieb sie, “haben ihren eigenen Schwarzen September 1970 – als die jordanische Armee 20’000 Palästinenser hingemetzelt hat – dahin zurückgetragen, wo dieses Massaker ursprünglich ausgeheckt worden ist: Westdeutschland, früher Nazideutschland, jetzt imperialistisches Zentrum. Dahin, von wo aus die Juden aus West- und Ostdeutschland nach Israel auszuwandern gezwungen worden sind. Dahin, von wo Israel sein Wiedergutmachungskapital bezog und bis 1965 offiziell Waffen. Dahin, wo der Springerkonzern Israels Blitzkrieg im Juni 1967 als antikommunistische Orgie gefeiert hat…”.[79]

Ulrike Meinhof wurde für diese Erklärung, die tausendfach kopiert und in den deutschen Universitäten aufgelegt wurde, aufs schwerste angegriffen, auch von den RAF-KollegInnen, insbesondere von Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Dass sie darauf antwortete: “Im materiellen Angriff die propagandistische Aktion – der Akt der Befreiung im Akt der Vernichtung”[80] macht deutlich, wie ausweglos die Situation für sie war. Diese richtete sich gegen sie in ihrer ganzen Identität: jede Art von Gewalt hatte sie abgelehnt, fand sich nun aber auf ein Gewaltkarrussell einbezogen, auf welchem sie Gewalt zu verteidigen hatte, wenn es Gegengewalt im Sinn der “propagandistischen Aktion” war. Doch “Propaganda”  wofür? Für die Anklage Deutschlands? – für die Anklage der Väter? Bedurfte es hierfür der “Vernichtung” – der Selbstvernichtung?

Noch bis zum nächsten Jahr hielt sie den Kontakt mit ihren Kindern aufrecht. Im Mai 1973 schrieb sie ihnen: “Haltet die Daumen, dass wir mit unserem Hungerstreik was erreichen. (…) Mal zusammen Fussball spielen? Hätt ich natürlich Lust”.[81] Im Spätherbst: (…) “Meine Idee, dass Ihr mal sagen sollt, wie ich denn bei Euch heisse, war, glaube ich, eine Schnapsidee. Ich bin eben die Mami, Eure, fertig”.[82] Das konnte und mochte sie Bettina und Regine gegenüber nicht in Frage stellen. Diesen Teil ihrer Identität versuchte sie zu schützen, so lange sie eine kleine Hoffnung wahrte, dass daraus wieder eine Realität würde. Doch welche  Hoffnung? – Hoffnung auf welche Realität? Im Gefängnis Ossendorf hielt sie fest: “Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt.Das ist das Schlimmste. Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebenschance hat; völliges Scheitern, das zu vermitteln”.[83] Das “man” war sie selber, kein Ich mehr. Das “klare Bewusstsein” ging einher mit der Erkenntnis ihrer Verzweiflung. Wenig später konnten die Kinder “die Mami” nicht mehr erreichen, auf ihre Briefe antwortete sie nicht mehr. Jede Art von Sprache war sinnlos geworden. “Das Gefühl, Zeit und Raum sind ineinander verschachtelt – das Gefühl, sich in einem Verzerrspiegelraum zu befinden – torkeln –”.[84]

Die zur Verzweiflung führende persönliche Desorientierung durch die Isolation nahm überhand, doch gleichzeitig versuchte Ulrike Meinhof, ihren kämpferischen, kritischen Geist wach zu halten. Die von ihr verfassten Briefe, Gesprächprotokolle und Notizen belegen ihr Bemühen, den Widerstand nicht aufzugeben, unter der Folter tonloser Isolation, die  mit zunehmender Zerstörung des Gleichgewichts und schmerzhaftester Gehirnwäsche einher ging, sich nicht zu ducken, sich immer wieder Momente der Konzentration zu ermöglichen, um festzuhalten, was sie erlebte: “Ohrendröhnen, aufwachen, als würde man verprügelt. Das Gefühl, man bewege sich in Zeitlupe. Das Gefühl sich in einem Vakuum zu befinden, als sei man in Blei eingegossen. Hinterher: Schock. Als sei einem eine Eisenplatte auf den Kopf gefallen. Vergleiche, Begriffe, die einem da drin einfallen: (Psycho)Zerreisswolf – Raumfahrsimuliertrommel, wo den Typen durch die Beschleunigung die Haut plattgedrückt wird – Kafkas Strafkolonie – der Typ auf dem Nagelbrett – pausenloses Achterbahnfahren. Zum Radio: Es verschafft minimale Entspannung, als wenn man z.B. von Tempo 240 auf 190 runtergeht”.[85]

Auf die Zeit im Hochsicherheitstrakt der Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim einzugehen, wohin Ulrike M. im April 1974 verlegt wurde, ist hier nicht möglich[86], nicht auf die Hungerstreiks, die für einzelne Streikende zum Tod oder wegen des Wasserentzugs zu schweren Nierenschäden führten, nicht auf die Methode und den Ablauf des Prozesses in Stammheim, nicht auf die Entführungen, Erpressungen und  Tötungen ausserhalb der Gefängnisse – nicht auf die zermürbende Vervielfachung brutaler Absurdität. Die letzten zwei Jahre ihres Lebens waren für sie ausweglos eng und grell, “ohne Überlebenschance”, nicht weil sie das Überleben ablehnte, sondern weil ihr kein Überleben zugestanden wurde. Sie selber hielt in einer knappen Biographie fest: “Erst Protestaktionen im Rahmen der Ostermarschbewegung, dann die ersten Schritte in der Praxis, Bambule,Film, die Agitation in Heimen, Mitarbeit im Märkischen Viertel. Im Heim schlug die Anstaltsleitung zurück und beendete ihre Arbeit (…), im Märkischen Viertel wurden sie mit anderen Besetzern aus dem leerstehenden Fabrikraum, der das Jugendzentrum werden sollte, von den Bullen herausgeprügelt. Ihre Praxis endete (…) an der repressiven Gewalt der Exekutivorgane des Staates”[87].

Die Lektüre der Dokumente verschlang bei mir die Kraft von Wochen. Zutiefst erschütternd war für mich, Ulrike Meinhofs psychische Veränderungen mitzuerleben, die Veränderung ihres Selbstbildes, auch die Anpassung ihrer Sprache an Baaders “Scheisse-Arsch-Bulle-Sau”-Diktat in der nur noch von wechelseitiger Kontrolle, Isolation und Hass diktierten, qualvoll eingeschlossenen, gegenseitigen Abhängigkeit im Gefängnis von Stammheim, mit den vielfach verriegelten Fenstern und Türen und der pausenlosen Tag- und Nacht-Überwachung durch eine wechselnde Menge von Personal. Am 8. Mai 1976 in wurde Ulrike Meinhof in ihrer Zelle tot aufgefunden, erstickt, erhängt.

Die von der Staatsanwaltschaft erklärte und durch die regierungsnahen Medien verbreitete Erklärung von Ulrike Meinhofs Selbstmord wurde von ihrem Rechtsanwalt Klaus Croissant, ihrer Schwester, von kritischen Ärzten wie auch von Gudrun Ensslin, Ingrid Schubert, Andreas Baader und weiterer ihr nahestehender Menschen unmittelbar nach dem Tod als unwahr erklärt. Doch jede kritische Ermittlungsarbeit, jede Spurensuche wurde von offizieller Seite zu verunmöglichen versucht. Trotz dieser Verhinderungstaktik hat eine Internationale Untersuchungskommission eine sorgfältige medizinische und kriminalistische Klärung vorgenommen. Am 15. Dezember 1978 wurde von dieser Kommission, der zehn Fachleute aus verschiedenen europäischen Ländern angehörten, ein eingehender Bericht abgeschlossen[88], in welchem nachgewiesen wird, dass Selbstmord als Todesursache ausgeschlossen werden muss. Dass auf Grund der Untersuchungsergebnisse mit an Sicherheit angrenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, dass Ulrike Meinhof in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1976 sexuell missbraucht, erwürgt und anschliessend am engen Gitter des Zellenfensters aufgehängt wurde.

Die Frage, wer die Täter sind, wurde bis heute nicht geklärt.

“Dass diese Privatsache keine Privatsache ist…”[89]

Was ist “die Würde” der Menschen? Ulrike Meinhof hat sie angestrebt und verteidigt, sie hat sie repräsentiert, trotz der verhängnisvollen Verstrickung in den RAF-Widerstand gegen “die deutschen Verhältnise, die sie umgebracht haben”[90], wie Klaus Wagenbach bei der Grabrede am 15. Mai 1976 festhielt. Für sie galt ursprünglich als höchster Wert “die Würde für alle Menschen, für alle Zeiten, für alle Situationen, für die fetten und die mageren Jahre”[91], wie sie 1962 geschrieben hatte.

“Würde” mag heute formelhaft und abgenutzt klingen. Das Wort ist zur Hülse geraten. Trotzdem, was die Würde der Menschen ist, weiss jeder Mensch für sich selbst, spürt es, ohne dass Würde beschrieben werden könnte. Denn das Wichtigste zeigt sich gerade in diesem Wissen, das nicht zuletzt Ausdruck findet im Widerstand gegen die Entwürdigung, zeigt sich im Widerstand und als Widerstand gegen die subtile, alltägliche oder totale Zerstörung der Würde.

Als Ulrike Meinhof – damals in der Isolationshaft – sich noch an der Zukunft ihrer Kinder beteiligt fühlte, dem “klaren Bewusstsein” zum Trotz, hatte sie ihnen geschrieben, sie habe in der Jugend “mal Vogelforscher werden wollen”. Gab sie ihnen damit nicht zu verstehen, was für sie von grösstem Wert war? Hatte der Brief die geheime Bedeutung eines Testaments? – Ich nehme an, sie sagte ihren Töchtern damit, sie mögen nicht abweichen von dem, was sie sich selber einst gewünscht hatte. Sie mögen sich nicht in Theorien und nicht in Zeitgeschehnisse mitreissen lassen, sondern zuhören und betrachten, um mehr zu verstehen und zu wissen. Mehr über die Sprache und das wechselseitige Verhalten der gefiederten Lebewesen zu verstehen und zu wissen – von den “Krähen” zu den “Drosseln und  Amseln, den Rotschwänzen, den Scherenschleifern, den Zaunkönigen” -, führt dies nicht nah heran an das bessere Begreifen des vielseitig animalischen, geheimnisvoll instinkthaften Teils im Menschen? Kommt nicht darin Ulrike Meinhofs Sehnsucht zum Ausdruck, die bei ihr unerfüllt blieb? – die Sehnsucht, ohne Bedrohung zu leben, die Sehnsucht nach Freiheit, nach Würde und nach einem Platz unter ihresgleichen – ohne Missverständnis und ohne Missbrauch ihres denkenden Herzens?

Was bei diesem “anderen Genie” an kritischem Denken und an kreativer Kraft durch Gewalt erstickt wurde, mag Analogien wecken in Zusammenhang der perversen Rechtfertigung von staatlicher Gewalt gegenüber Menschen, deren politischer Widerstand nicht von der Begründung her beachtet und ernst genommen wird, sondern als „Terror“ erklärt wird, der die Vernichtung rechtfertigt – bis in die weltweite Aktualität hinein.

  1. Die frauen- und friedensrechtliche Zielsetzung

“Die Funktion der Ironie kommt nirgends deutlicher zum Ausdruck als in ihren selbstverfassten Nachrufen (1934), die ihre Kritik an sich selbst und an der Gesellschaft ihrer Zeit miteinander verbinden:

für ‘Familienblatt’: “Sie war eine Frau, die jahrzehntelang eigensinnig für ihre Ideen eingetreten ist, Ideen, die in der Zeit lagen. Aber sie tat es oft in Formen und auf Wegen, die einer Entwicklung vorgreifen wollten, so wie sie auch nicht nach jedermanns Sinn und Geschmack waren. Schade!”

für ‘Jüdische Rundschau’ : “Eine eifrige, alte Gegnerin unserer Bewegung, der dennoch jüdisches Bewusstsein und Kraft nicht abzusprechen sind. Wo sie deutsch zu sein glaubte, war sie doch nur eine Assimilantin. Schade!”

für ‘Blätter des jüdischen Frauenbundes’: “Sie gründete im Jahr 1904 den jüdischen Frauenbund, dessen Bedeutung längst nicht erfasst ist. Die Weltjudenschaft – Männer und Frauen – könnten ihr für diese soziale Tat dankbar sein. Sie sind es nicht. Schade!”[92]

Bertha Pappenheim (27.2.1859 – 28.5.1936)

Ein Jahr, nachdem Bertha Pappenheim einen dreifachen Nachruf auf sich und ihr Werk geschrieben hatte, ironisch und knapp, ohne Selbsttäuschung, wurde bei ihr Leberkrebs diagnostiziert. Im Frühsommer 1935 unterzog sie sich in München einer Operation, machte wenig später, im September des gleichen Jahrs, eine Reise nach Amsterdam, um wegen der Auswanderungsmöglichkeiten Jugendlicher nach Palästina (Jugend-Alijah) mit der 73jährigen Henrietta Szold[93] zusammenzutreffen, und fuhr im November ein letztes Mal nach Polen, nach Krakau, um die dortige Mädchenschule zu besichtigen und zu beraten. Zurück in Deutschland, wenige Wochen später, im Januar 1936, wurde Bertha Pappenheim in Offenbach von der Gestapo verhört. Krankheit, Verhör und weitere mit der politischen Entwicklung einhergehende Belastungen schwächten sie zunehmend. All dies hinderte sie nicht, nochmals die Übersetzung der Manuskripte von Mary Wollstonecraft’s “Vindication of the Rights of Women” zu überprüfen, die sie ein erstes Mal 1899 unter dem Namen Paul Berthold publiziert hatte. Auch veröffentlichte sie ihre Gebete[94], zu welchen Margarete Susman, die Bertha Pappenheim 1933 vor ihrer definitiven Ausreise in die Schweiz besucht hatte, ein Nachwort verfasste. Im Frühling desselben Jahres, am 28. Mai 1936, starb Bertha Pappenheim in Neu-Isenburg bei Frankfurt. Die unbeugsame Beharrlichkeit dieses “weiblichen Moses”[95], wie sie bezeichnet wurde, hatte in einem grossen Umfeld Ansporn und Anstoss erregt; gleichzeitig blieb sie in ihrer Persönlichkeit vielfach verschlüsselt und rätselhaft. Nur wenig liess sie von sich selber wissen. “Der wirklich überwältigende Eindruck, den man auch nach dem kürzesten Zusammensein mit ihr mit sich nahm, war: Hier ist ein unbeugsamer, arbeitsbesessener Wille, klarster Verstand, äusserste Zielsicherheit, Teilnahme an allen grössten und kleinsten Dingen der Gegenwart, all dies ungemindert und ungeschwächt durch den leidenden Zustand ihres überzarten Körpers”[96].

Wer war Bertha Pappenheim, die – wie seit der Freud-Biographie von Ernest Jones[97] auch ausserhalb der wissenschaftlichen Kreise bekannt ist  – die gleiche Frau ist, die als Anna O. in den 1895 veröffentlichten “Studien über Hysterie” als Patientin von Josef Breuer (1842-1925), dem Lehrer und Freund Sigmund Freuds (1856-1939), von Freud zur ersten psychoanalytischen Fallgeschichte erklärt worden war? – die ihre ersten Publikationen zuerst anonym, dann unter dem männlichen Psyeudonym Paul Berthold veröffentlichte[98], bis sie es wagte, als Bertha Pappenheim sowohl literarische Texte[99] wie eine grosse Anzahl gesellschaftskritischer, sozialpolitischer, frauenrechtlicher und friedenspolitischer Untersuchungen[100] zu veröffentlichen, in welchen sie danach trachtete, Werte jüdischer Kultur, frauenrechtliche Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Sie gehörte in ihrer Gesellschaftskritik keiner revolutionären, marxistischen Bewegung an, wie  z.B. Rosa Luxemburg, sondern trachtete nach Verbindungen innerhalb der bürgerlichen jüdischen Gesellschaft, um gegen die verheerenden Folgen von Armut und Unwissen, gegen jeglichen Machtmissbrauch gegenüber Frauen und Kindern, insbesondere gegenüber Mädchen zu kämpfen und zugleich für deren Bildung und deren politischen Rechte sich einzusetzen. Die Verantwortung für das jüdische Mädchenwaisenhaus in Neu-Isenburg, in welchem sie ihr Welt- und Menschenbild und eine darauf beruhende Pädagogik umzusetzen begann, übernahm sie 1895, als 36jährige, d.h. im gleichen Jahr, als mit einem Foto von ihr die Krankenakte der Anna O. erschienen. Massgeblich für sie war nicht eine politische Theorie, sondern ihre eigene Erfahrung, ihre eigenen Erkenntnisprozesse und somit grösste Lebensnähe, wie ihre Briefe sowie die literarischen und sozialkritischen Texte beweisen.

Auf die Dichte und Vielseitigkeit ihrer Entwicklung und ihrer sozialen Arbeit werde ich im 2. Teil eingehen. Einleitend erscheint mir wichtig zu erwähnen, dass in den zunehmend vom Nationalsozialismus aufgepeitschten Zeitzusammenhängen der Mut und die Offenheit Bertha Pappenheims, mit der sie ihre innerjüdische Kritik am geschäftsmässigen Missbrauch von Armut und Unwissen formulierte sowie die Tatsache von Mädchenhandel und erzwungener Prostitution im erschreckenden, von ihr dokumentierten Ausmass anklagte, unvorhersehbare Folgen hatte. Ihre Publikationen wurden vom eigentlichen Zweck entfremdet und durch die nationalsozialistische Presse zu antisemitischen Zwecken benutzt (z.B. im “Stürmer” als Beweis für die “verwerfliche Unsittlichkeit” der Juden); Bertha Pappenheim selber wurde auf perfide Weise angegriffen. Die Tragik, die mit dem zielgerichtet judenfeindlichen Missbrauch ihrer moralischen Überzeugung einherging – einer Überzeugung, bei welcher Intellekt und Empfinden mit den Handlungsentscheiden zu Gunsten wehrloser Menschen übereinstimmten -,  bestand in der kollektiven Anprangerung, Entwertung und Verachtung ihrem Volk gegenüber, zu welchem sie selber und ihre Schützlinge gehörten.

Was bedeutete daher die Ironie (gr. “eironeia” –  Verstellung, vorgegebene Unwissenheit, Spott), die Bertha Pappenheim sich selbst gegenüber bekundete, als sie mit 74 Jahren die Nachrufe über sich verfasste? War Ironie in ihrer ganzen Lebensentwicklung von Bedeutung gewesen? – eventuell auch in der Zeit zwischen 1880 und 1882, als Josef Breuer, Hausarzt der Familie Pappenheim, sie wegen der seelischen Belastungen, die sich bei ihr mit somatischen Folgen bis hin zu Lähmungen äusserten, mit Hypnose zu behandeln suchte?

Wir wissen, dass Bertha Pappenheim in den Sitzungen mit Breuer sehr wach war und viel Unausgesprochenes zu erzählen begann, dass die von ihr selber geschaffene “talking cure”[101], die sie auch als “chimney sweeping”[102] bezeichnete, für die Entwicklung der Psychoanalyse massgeblich war. Dass sie dabei die eigentlichen Ursachen ihrer Ängste und Unruhen nicht klären konnte, wie es durch die “kathartische Methode”[103] hätte gelingen sollen, wurde deutlich durch den sich fortsetzenden Krankheitszustand. Als Breuer Bertha Pappenheim auf Grund seiner eigenen Ängste im Stich liess, bestätigten sich ihre Empfindungen weiblicher Wertlosigkeit. Während Jahren lebte sie mit der Diagnose einer “psychisch Kranken”, einer “Hysterikerin” in einer separaten, vor der “gewöhnlichen Welt” geschützten Realität,  ebenso abgeschottet und ebenso abhängig von vorgegebenen Normen und Kriterien von “richtig” und “falsch” resp.”gesund” und “krank” wie zur Zeit von Kindheit und Jugend als Tochter einer “höheren” jüdischen Familie. In den Jahren nach der Breuer’schen Behandlung, während der Isolation durch Erholungsaufenthalte in Sanatorien und Kliniken, von welchen wenig bekannt ist, staute sich in Bertha Pappenheim zunehmend eine andere Methode der Klärung und der Befreiung an. Zu deren Umsetzung bedurfte sie, wie wir sehen werden, zuerst einer Art Übergangsmaske – eines Pseudonyms -, um ihre persönliche Methode des literarischen Erzählens der Öffentlichkeit preiszugeben. In einer zweiten Etappe wird sie auf das Pseudonym verzichten können und ihren Herkunftsnamen ohne Scheu benutzen, vermutlich um ihre Unabhängigkeit als jüdische Frau mit allem leidvoll Verdängten damit zu schützen. Es kann somit angenommen werden, dass ihr Stolz auf den eigenen Namen, mit welchem sie die innerjüdische Kritik, die sie wagte, quasi als ihr – in gesellschaftlich hierarchischer Hinsicht- zustehend vorgeben konnte, nochmals einen ironischen Beiklang hat und als Maske verstanden werden kann.

Somit lässt sich annehmen, dass die psychischen Hintergründe und unbewussten Impulse, die bei Bertha Pappenheims Ironie massgeblich waren, die Suche nach Übereinstimmung mit ihrem eigenen Ich widerspiegeln, in der ganzen Komplexität der mit ihrer Weiblichkeit und ihrer Herkunft verbundenen, von ihr weder gewählten noch aufhebbaren, zentralen Aspekte ihres Ichseins. Die “wechselnde Maskierung und Demaskierung”[104], die, wie Amy Colin schreibt, die Ironie kennzeichnet, mag teilweise wohl einem “Versteckspiel des eigenen Ich” gedient haben, wie die gleiche Autorin annimmt, an welchem Bertha Pappenheim ihre Kräfte mass. Gleichzeitig aber ging ein Schutzbedürfnis mit einher, das sie selber wählte. (Worin sich Ironie und Witz[105] unterscheiden, worin Ironie und Humor ist eine weitere Klärungsaufgabe, die zusätzlicher Untersuchungen bedarf). Auf jeden Fall werden die Fragen nach der Bedeutung von Ironie als psychoanalytische wie als zeitgeschichtliche Komponente die Untersuchung von Bertha Pappenheims Leben und Werk immer wieder massgeblich begleiten.

Doch wie lassen sich Freiheit und Emanzipation der Frauenrechte mit Religion verbinden?

“… von bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger Kombination und scharfsichtiger Intuition: ein kräftiger Intellekt, der auch solide geistige Nahrung verdaut hätte und diese brauchte, nach Verlassen der Schule jedoch nicht erhielt”[106].

Über Ursachen und Bedeutung der Hysterie:

Mit den Anfängen einer Lebensgeschichte einzusetzen, beruht zugleich auf sachlichen Informationen wie auf Spekulationen. Es ist sicher, dass Bertha Pappenheim am 27. Februar 1859 in Wien-Leopoldstadt zur Welt kam, als drittes Kind von Recha Pappenheim-Goldschmidt, die aus einer vornehmen jüdischen Familie aus Frankfurt stammte, und  von Sigmund Pappenheim, der ungarisch-jüdischer Herkunft war. Das zweite Kind, eine Tochter, war kurz vor Berthas Geburt gestorben; ein knappes Jahr nach ihrer Geburt kam noch ein Sohn zur Welt. Die erstgeborene Schwester starb, als Bertha acht Jahre zählte. Durch ihren Tod wurde sie zur ältesten Tochter.

Tod und Leben waren in dieser wohlhabenden, zugleich offenen und orthodox-religiösen Familie nah vernetzt. Was als gottgewollt galt, durfte nicht angefochten werden; Trauer und Auflehnung mussten verdrängt werden. Für Bertha Pappenheim, die aufgeweckt und lernhungrig war, bahnten sich innere Konflikte an, die sie verdrängen musste. Zwar durfte sie, da es in Wien keine jüdischen Mädchenschulen gab, für einige Jahre eine katholische Privatschule besuchen, doch es standen nur wenig intellektuelle Bildungsmöglichkeiten offen, ein Studium blieb ihr untersagt, während es ihrem Bruder Wilhelm, der weniger begabt war wie sie, zustand. Zwar durfte sie Fremdsprachen lernen – Französisch, Englisch und Italienisch -, hatte Unterricht im Malen und Klavierspielen, im Spitzenklöppeln und Reiten, doch in erster Linie musste sie als ein Mädchen aus “höherem Haus” – das war Bertha Pappenheim ebenso wie ihre Freundin Martha Bernays, die Sigmund Freuds Braut und Ehefrau wurde – die Jugend in Vorbereitung und Erwartung von Hochzeit und Ehe zubringen. “Ich habe als Kind oder junger Mensch nie etwas organisiert, habe keine Organisationen kennen gelernt und bis etwa 1890 das übliche Leben einer ‘höheren Tochter’ aus streng jüdischer, orthodox bürgerlicher Familie geführt”[107], hielt sie Jahre später fest. Das herkömmliche Rollenspiel, das ihr zustand, empfand sie als ungenügend und falsch, in ihrer Sehnsucht nach einem anderen, freieren Leben gar als lähmend; sie musste es erfüllen, auszubrechen war nur möglich in Phantasien. Der grosse psychische Zwiespalt, der damit einherging, drängte sich in ihr zusammen.

Krankheit und Tod in der Familie Pappenheim hatten nicht nur in der Kindheit Bertha’s Platz und Funktion im Familiensystem verändert. Als sie zwanzig war, starb der Vater ihrer Freudinnen Martha und Minna Bernays, und ihr Vater übernahm deren Vormundschaft. Wieder ein Jahr später, 1880, erkrankte ihr eigener Vater. Fortan verbrachte sie die Tage schlafend im verdunkelten Zimmer; nachts war sie wach als Pflegerin ihres Vaters. Sie begleitete ihn in nächster Nähe während eines ganzen Jahres und länger, auch beim allmählichen Schwächerwerden auf den Tod hin. Dabei wurde sie selber zunehmend kränker. Im Herbst 1880 litt sie an keuchendem Husten, an Ess- und Sprachstörungen, an Lähmungserscheinungen und Verkrampfungen, an Halluzinationen und an grosser Unruhe, kurz an einer Menge von Krankheitssymptomen, deren Ursachen keiner der beigezogenen Ärzte erklären konnte. Schliesslich wurde Doktor Josef Breuer um Konsultation angefragt, damals 38 Jahre alt und Vater von sechs Kindern, der als einer der ersten Hypnose (gr. “hypnos” – Schlaf) als Behandlungsmethode verwendete, der auch die Zusammenhänge von Atmung und Gleichgewichtssinn bei somatischen Beschwerden als wichtig erkannte.

Täglich machte Breuer bei Familie Pappenheim zwei Hausbesuche, morgens und abends. Der komplexe Krankheitszustand seiner Patientin, den er als “Hysterie” (gr. “hystera” – Gebärmutter) bezeichnete – eine Neurose mit frauenspezifischen, psychischen Traumata als Ursache -, bedurfte seiner therapeutischen Präsenz, der Aufmerksamkeit und Konzentration, damit verdrängte, schwer belastende Erinnerungen sich lösen konnten, allerdings nicht, wie er von seiner neuen Methode her beabsichtigte, im somnambulen, sondern im wachen Zustand. Jede Frage, die er Bertha Pappenheim stellte, löste bei ihr eine Flut von Bildern und Geschichten, die danach drängten, erzählt zu werden; weder Abwehr noch Widerstand stellten sich ein, im Gegenteil. Wie sich aus Breuers Notizen ergibt, war er selber erstaunt über die Wirkungen: “So wurden die Kontrakturparesen und Anästhesien, die verschiedenen Seh- und Hörstörungen, Neuralgien, Husten, Zittern und dgl. und schliesslich auch die Sprachstörungen wegerzählt”[108]. Allerdings wuchs das Verhältnis zum behandelnden Arzt in Bertha Pappenheims Phantasien tiefer und näher, und ohne Zweifel wirkte sich eine starke Übertragung ihrer Gefühle auch auf Breuer aus[109]. Seine Frau wurde zunehmend beunruhigter und verlangte den Abbruch der therapeutischen Sitzungen. Er erklärte seine Patientin als geheilt und versprach seiner Frau eine zweite Hochzeitsreise nach Venedig, doch in derselben Nacht wurde Breuer von Berthas Mutter nochmals notfallmässig an Bertha’s Bett geholt. In ihren Phantasien stand sie Geburtswehen durch; voll Schmerz sollte das gemeinsame (geistige) Kind zur Welt kommen. Entsetzt zog Breuer sich zurück und brach mit Bertha Pappenheim jeglichen Kontakt ab[110]. Wenig später starb ihr Vater. Zweifel am Lebenssinn und an ihrem eigentlichen Ich nahmen überhand und versetzten sie in einen Krankheitszustand, der monatelange Klinikaufenthalte nötig machte.

Die Begleitung ihrer Mutter war in dieser Zeit für Bertha Pappenheim masssgeblich. 1886 zog sie mit ihr von Wien weg nach Deutschland, wo sie  im Kreis der mütterlichen Familie zu leben begann, erst in Karlsruhe, dann ab 1988 in Frankfurt am Main, der Geburtsstadt ihrer Mutter. In Karlsruhe verstärkte sich die Freundschaft mit ihrer Cousine Anna Ettlinger, einer Schriftstellerin, die sie ermutigte. Auch Bertha Pappenheim begann zu schreiben und zu veröffentlichen, zuerst anonym die “Kleinen Geschichten für Kinder” sowie Artikel zur Frauenfrage, ab 1890 bis 1901 zahlreiche Schriften unter dem – wie schon erwähnt – männlichen Psyeudonym Paul Berthold[111].  Unter diesem “täuschenden” Namen (gr.”pseudos” – Unwahrheit, Täuschung; “pseudein” – täuschen, irreführen),d.h. unter ihrem Decknamen veröffentlichte sie auch den Roman “In der Trödelbude”[112], der aus vielen sich aneinanderfügenden Geschichten besteht, die gewissermassen die selbstanalytische Arbeit Bertha Pappenheims wiedergeben. Sie handeln von zerbrochenen Gegenständen, die sich in einem Trödelladen finden und von denen keiner sich den Schaden selber zugefügt hat. Jeder Gegenstand war Objekt resp. Opfer von Geschehnissen, von Willkür oder mangelnder Sorgfalt und wurde dadurch zum wertlosen Plunder. Der Inhaber des Trödelladens empfindet sich selber ähnlich zerbrochen wie die Ware, die sich bei ihm anstapelt. Auf einen beruflichen Aufstieg hatte er verzichtet, um Frau und Familie ernähren zu können, doch die Ehe entsprach weder ihm noch seiner Frau. Nachdem sie ihn verlassen hatte, zog er sich noch mehr in seine Phantasien und in sein Sammelsurium zurück. Doch dieser Rückzug in eine Phantasiewelt ermöglichte ihm in keiner Weise, einen Lebenssinn zu finden. Diesen aufzubauen gelang ihm erst, als er die Verantwortung für die kranke Tochter seiner verstorbenen Frau übernahm, sie pflegte und für sie sorgte.

Die knappe Zusammenfassung der “Trödelbude” mag deutlich machen, wie Bertha Pappenheim unter dem Deckmantel des männlichen Pseudonyms die Gestalt eines weltfremden, in völliger Isolation sich an Traumbildern und Ramsch festhaltenden Menschen nicht nur schildert, sondern die Ursachen seiner Traurigkeit wie auch den Prozess der Reaktivierung seiner Kräfte ergründet. Dies geschah durch das Bewusstwerden einer sozialen Aufgabe, von deren Erfüllung der Lebenswert eines anderen Menschen abhing und dadurch den eigenen Lebenswert deutlich machte. Beim Trödler ging es um Bertha Pappenheim selber.

Als 1905 ihre Mutter starb, hatte sie ihren inneren Kampf um ihre eigene Identität und ihren Platz in der Gesellschaft schon mit zunehmender Klarheit gefestigt: jede Art von Heirat lehnte sie ab, ihrer jüdisch-bürgerlichen Herkunft wollte sie treu bleiben, doch gleichzeitig eine persönliche Form der Religiosität finden, um ihrem Bedürfnis nach freiem Denken und Handeln gerecht zu werden, insbesondere um ihre Unabhängigkeit im Kampf um Frauenrechte und um eine Verbesserung der untragbaren sozialen Misstände, die auf Menschen in grosser Armut lasteten, so umzusetzen, dass Schadenfolgen auf die Wehrlosesten – auf Kinder, auf Mädchen und junge Frauen – verhindert oder gemindert werden konnten. Bertha Pappenheim wählte sich mutige Vorbilder aus: für das Recht der Frauen auf Bildung und Unabhängigkeit Mary Wollstonecraft (1759-1797), die in London geborene, in einer armen Familie aufgewachsene Verfasserin der 1792 veröffentlichten “Vindication of the Rights of Woman”, die sie 1899 das erstemal ins Deutsche übersetzte und veröffentlichte; für die selbständige Lebensgestaltung einer jüdischen Frauen, wie sie ihr entsprach, Glückel von Hameln (1769-1826), eine weit zurückliegende Verwandte ihrer Mutter, die “tief in ihrer Zeit wurzelnd, durch ungewöhnliche Geistgaben hervorragte, die treu war ihrem Glauben, treu ihrem Volk, treu ihrer Familie und treu sich selbst”, wie sie im Vorwort zu dem von ihr verdeutschten und 1910 herausgegebenen Band “Memoiren” festhielt.

Das lange psychische Leiden Bertha Pappenheims, von ihren Ärzten als “Hysterie” bezeichnet, war gewiss kein ironisches “Maskenspiel”, sondern Ausdruck zugleich von Angst und Sehnsucht: einerseits grosser Angst vor den mit ihrer Weiblichkeit verbundenen sexuellen Verboten und Geboten, andererseits Sehnsucht nach selber wählbarer, freier Umsetzung ihrer Weiblichkeit wie ihrer geistigen Fähigkeiten. Es war letztlich eine verzweifelt schwierige und gewagte Auflehnung gegen die jahrhundertalte, traditionelle Frauenrolle, gewissermassen eine persönliche, schmerzhafte Kulturrevolution, durch welche Bertha Pappenheim die Entfaltung ihrer Persönlichkeit erarbeitete. Was sie ab1888 – d.h. ab dem 29./30. Altersjahr – als furchtlose jüdische Frauenrechtlerin (in der ganzen Widersprüchlichkeit) sowie als kämpferische und zielsichere soziale Denkerin, gleichzeitig als strenge und zugleich liebevolle Erzieherin von Waisen- und Findelkindern, insbesondere von Mädchen und jungen Frauen, was sie zu deren Schutz, gegen deren Verwahrlosung und vielfachen Missbrauch unternahm in Deutschland, in Galizien, in Polen, in anderen Gebieten Russlands, in Rumänien, in Belgien, immer wieder in Deutschland und überall in Osteuropa zustande brachte, was sie an Briefen und Schriften hinterliess, wird nur in einer knappen Zusammenfassung geschildert werden können.

Wie kam es zum Entscheid für Unabhängigkeit und soziale Verantwortung?

“Sie wusste, dass nicht nur von Innen her die Befreiung kommen kann, dass diese im realen Leben, in äusseren Umständen sich verankern muss, um losgelöste Kräfte zu binden”[113]

“‘Womit haben Sie den Tag verbracht?’ war Pappenheims Frage zur Begrüssung, und ‘zu Ende denken’ ihre ständige Forderung”[114].

“Unter Hilfe verstehe ich natürlich keine Hilfe im Sinn von Wohltätigkeit, sondern ich verstehe darunter Rat, Schutz und Förderung sowie das Zugeständnis aller rechtlichen und politischen Mittel, deren jeder Mensch, Mann und Frau, zur Aufrechterhaltung seiner (und ihrer) physischen und sittlichen Existenz bedarf”[115].

Mit der Übersiedlung nach Frankfurt a.M. begann somit für Bertha Pappenheim eine neue Lebensetappe. Dabei ging sie sehr methodisch vor. Sie nahm Kontakt auf zu Vereinen und Institutionen, auch zu einer Reihe aktiver, emanzipierter Frauen. Wichtig für sie waren u.a. Henriette Fürth, Hella Flesch, Anna Edinger und insbesondere Jenny Apolant, Leiterin der “Zentralstelle für Gemeindeämter” des “Allgemeinen Deutschen Frauenvereins”, der die politischen, bildungsmässigen und sozialpolitischen Forderungen zahlreicher Frauenbewegungen unterstützte.

Für Bertha Pappenheim galt, die herkömmliche, je individuell unterschiedlich verpflichtende  jüdische Wohltätigkeit in eine wirksame soziale Fürsorge umzuwandeln[116]. Um dies zu erreichen, untersuchte sie die bestehenden Angebote, deren Möglichkeiten und Mängel; ebenso sorgfältig ging sie der Beachtung aktueller Bedürfnisse von Kindern und jungen Frauen, den Ursachen von Missständen, von Schäden und deren Folgen nach. Was sie als dringlich erachtete, beruhte auf eigener Kenntnis.

1895 übernahm Bertha Pappenheim eine erste organisatorische Aufgabe; sie wurde Heimleiterin des Israelitischen Mädchenwaisenhauses und begann, ein neues Betreuungs- und Erziehungssystem umzusetzen. Es sollte sich nicht länger um “Waisen” handeln, sondern einfach um junge Menschen, die sich zu tüchtigen, selbständigen und lebensfähigen jungen Frauen entwickeln sollten. Interessant mag erscheinen, dass sie, um der armutsbedingten Verwahrlosung der aus Osteuropa – insbesondere aus Galizien – nach Frankfurt emigrierten jüdischen Mädchen entgegenzuwirken und erste Hilfe zu bieten, eine Suppenküche einrichtete, wo sie kostenlos essen konnten sowie, um ihnen – ebenfalls kostenlos – sehr einfache, praktisch und alltäglich umsetzbare Kenntnisse zu vermitteln einen Verein “Unentgeltliche Flickschule” gründete, in welcher offenbar gegen 10’000  Mädchen und junge Frauen unterrichtet wurden. Bald wurde ihr deutlich, dass die Hilfe ausgebaut werden musste. Sie gründete den Verein “Weibliche Fürsorge”, zu welche eine Bahnhofhilfe, ein Wohnheim sowie Säuglingspflege, Kindergarten, Berufsvermittlung, Rechtsbeistand und vieles mehr gehörte. Es gelang ihr, zu bewirken, dass für diesen Verein sowohl jüdische Gemeinden und Hilfsorganisationen wie die Frankfurter Stadtverwaltung Beiträge leisteten.

Für Bertha Pappenheim wurde es immer dringlicher, die Ursachen der wachsenden Anzahl junger Frauen – insbesondere aus Galizien -, die in Frankfurt und anderswo auf der Strasse oder in Bordellen landeten, zu untersuchen. 1903 machte sie erstmals eine mehrmonatige Reise nach Galizien, besuchte kleinere und grössere Städte sowie Dörfer, um die jüdischen Lebensbedingungen praktisch zu erleben. Über das Ausmass an Armut und mangelnder Hygiene, an Unwissen und Trostlosigkeit, war sie entsetzt, besonders über die sich auf junge Frauen auswirkenden Folgen, die für jede Art von Emigrationsangebot, für jeden Schwindel und jeden Betrug ansprechbar waren. Der Mädchenhandel, um den es dabei ging, war für sie untragbar. Nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt publizierte sie, um die Weltöffentlichkeit wachzurütteln, einen tagebuchartigen Bericht sowie ihre Überlegungen unter dem Titel “Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reiseeindrücke und Vorschläge zur Verbesserung der Verhältnisse”[117]. Sie wusste, wie gewagt jegliche Offenlegung tabuisierter Tatsachen ist. Einleitend hielt sie fest:

“Ich weiss, dass, was ich  im Nachstehenden sage, vielen nicht gefallen wird. Den Orthodoxen kann es zu modern, den Modernen zu altmodisch, den Philantopen zu sozialistisch, den Sozialisten zu philantropisch, den Gelehrten zu laienhaft, den Indolenten zu unbequem, den Vorsichtigen zu unvorsichtig, den Draufgehern zu zahm sein. Für alle diese habe ich nur eine Erwiderung: ich gebe die Dinge wieder, wie ich sie sah, wie ich sie auffasste. Ich konnte mich nicht dazu verstehen, auf Kosten der subjektiven Wahrheit objektiv scheinen zu wollen.[118]

Mit der gleichen Offenheit schildert Bertha Pappenheim jede nicht tragbare Tatsache, die als Lebensrahmen Kindern, sowohl Knaben wie insbesondere Mädchen, zugemutet wird. So klagt sie z.B. als “Unterrichtshöhlen” mit unbeschreiblicher Hygiene, in welchen 60 bis 100 Kinder “wie die Schafe in einem Pferch sitzen, stehen oder kauern”[119] die Cheder (Thora-Schulen) mit deren “furchtbaren, einseitig geistigen Drills[120] an. Überhaupt das mangelnde oder dürftige Schulsystem; dass Mädchen die Möglichkeit des Schulbesuchs überhaupt zur Verfügung stände, sei eine Seltenheit. “Mir sind nur sechs Stellen bekannt geworden, an denen man sich von jüdischer Seite mit Mädchenerziehung beschäftigt: die drei Waisenhäuser in Krakau, Lemberg und Brody, und die drei Haushaltungsschulen in Tarnow, Stanislau und Kolomea”[121]; diese seien zudem gekennzeichnet durch erschreckende Orthodoxie. Am schwerwiegendsten seien Entwertung und Vernachlässigung, Mangel an Erziehung und Verwahrlosung der unehelichen Kinder, deren tragisches Schicksal für Bertha Pappenheim Folge der Verachtung und des sexuellen Missbauchs gegenüber Dienstmädchen, überhaupt gegenüber Mädchen und Frauen armer Herkunft sei. Auch besuchte Bertha Pappenheim Krankenhäuser und Altersheime sowie in den Städten und Dörfern ungezählte “Wohnhölen”, wie sie schrieb, und war immer wieder von neuem entsetzt über das Elend, die mangelnde Kanalisation, das Fehlen von Betten und Möbeln, über das Zusammengepferchtsein der magern, hungrigen Kinder und Erwachsenen, die den vielen Kindern weder Gesundheit noch Ausbildung, überhaupt keine Sicherheit bieten konnten. Auch die Arbeitsbedingungen in jüdischen Fabriken, in Puppen-, Haarnetz- und Krawattenfabriken, das System der Leihkassen, die handwerklichen Ausbildungsmöglichkeiten, jede Art von Handel und Gewerbe untersuchte Bertha Pappenheim auf Aspekte der Löhne und des Gesundheitszustand der Arbeiterinnen resp. auf die Frage deren Ausbeutung hin. Zusätzlich ging sie auf ebenso kritische Weise dem unterschiedlichen, weit verbreiteten Einfluss von Chassidismus und Zionismus nach.

Den letzten Teil ihrer Untersuchungen widmete Bertha Pappenheim den meist tabuisierten und beschämendsten Folgen der grossen Armut in Galizien: der Tatsache der zahlreichen “öffentlichen Häuser”, der Bordelle, der weit verbreiteten geheimen Prostitution, insbesondere der Tatsache des Mädchenhandels. Dieser mit der Täuschung und dem Missbrauch junger, lebenshungriger Menschen einhergehende “Sklavenhandel”, wie sie ihn bezeichnete, wird sie während Jahren am stärksten beschäftigen; sie wird ihn weiter untersuchen und anklagen, doch gleichzeitig ihre Kräfte und ihr grosses Beziehungsnetz zu Frauen aus der Aristokratie und zur  “höheren jüdischen Gesellschaft” einsetzen, um eine Korrektur der Ursachen zu erreichen: durch Bekämpfung der Armut und der mangelnden Bildung von Mädchen sowie durch Stärkung der persönlichen Wahlmöglichkeit im Bereich von Arbeit und Beziehung. Die Berichte und Reden, die Artikel und Briefe, die von Bertha Pappenheim vorliegend, sind umso aufwühlender, als sie heute noch von Bedeutung sind[122].

Bertha Pappenheim machte nach der ersten Reise nach Galizien (damals noch Teil Polens) zahlreiche weitere Reisen – 1909 in den Balkan, insbesondere nach Rumänien, 1911 in den Nahen Osten, dann noch während des Ersten Weltkriegs ins besetzte Belgien sowie in die deutschen Munitionsfabriken, um die Betreuung ostjüdischer Zwangsarbeiterinnen zu organisieren, nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder nach Polen, in die Sowjetunion, nach London, nach Berlin, ins Ruhrgebiet, nach Ostdeutschland, nach Genf, Wien etc. etc. Sie nahm an zahlreichen Internationalen Kongressen teil, an Friedenskongressen, an jüdischen Frauenkongressen, an Kongressen gegen den Mädchenhandel, sie trat mit ihren Anliegen ebenso vor die jüdischen Gemeindevorsteher wie vor Organisationen mit Weltbedeutung, so vor die Jewish Agency, den Jüdischen Frauenbund, den Völkerbund u.a.m. Eine Fülle privater Trägerschaften, Stiftungen und Vereine wurden durch Bertha Pappenheim gegründet, deren Zweck die Verhinderung und Korrektur folgenschwerer weiblicher Lebensschicksale war. Es ging um die Gründung und Einrichtung von Auffangorten für Kinder – für Waisenkinder und uneheliche Kinder, für Tausende überlebender Kinder der Pogrome in Polen und in der Sowjetunion, für die Betreuung von Kriegskindern und Strassenkindern -, es ging um medizinische Hilfe (bei Schwangerschaften und Geburten, bei Sexualkrankheiten, Tuberkulose und andere Lungenkrankheiten, psychischen Belastungen u.a.m.), um Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsvermittlung für arbeitslose  Frauen etc. etc. Immer war das zentrale Anliegen Bertha Pappenheims, jüdische Mädchen und Frauen aus dem Gefühl der “Wertlosigkeit” herauszuführen, und ebenso dringlich war für sie, innerhalb ihres eigenen “Volkes”, innerhalb der jüdischen Gemeinden und der jüdischen Gesellschaft das Bild der Frau als Sexual- und Gebärobjekt  zu korrigieren. Sie war ununterbrochen und pausenlos tätig.[123]

Der zunehmend judenfeindliche, politische Druck verstärkte bei Bertha Pappenheim die innere Verantwortung für die unzähligen notleidenden und gefährdeten Kinder und jungen Frauen in Deutschland und in Osteuropa. 1934 begleitete sie ein Gruppe von Waisenkindern aus dem Isenburger Heim in sichere Heime in England und Schottland. Empfand sie sich selber in Gefahr? Es finden sich wenig Informationen über ihre Einschätzung der nationalsozialistischen Bedrohung, ausser dass sie selber jede Auswanderung abwies. Sie war umgeben von befreundeten Frauen – insbesondere von Hannah Kaminski, die ihr am nächsten stand und die in jeder Hinsicht ihrem Vorbild folgte[124] -, doch sie war in der steten Kontrolle ihrer Gefühle, in asketischer Lebensweise ihrem Pflichtbewusstsein resp. der Fürsorge für andere Menschen getreu – und letztlich allein. Sinnlichen Bedürfnissen kam sie mit grosser Vorsicht entgegen. Es gab einen künstlerischen Bereich – jener des Klöbbelns und Stickens, der Herstellung von Ketten und Spitzen -, der ihr viel bedeutete und der eine weiblich verspielte und gleichzeitig aesthetisch präzise Seite in ihr wach hielt. Wenn sie in Moskau, in Krakau oder in Wien einen Moment Zeit fand, liebte sie es, auf Altwarenmärkten oder in kleinen Geschäften sich nach Spitzen umzusehen; oft finden sich kleine Hinweise in ihren privaten Briefen. Im Sommer 1935, als sie schon Kenntnis von ihrem Leberkrebs hatte, brachte sie ihre kostbare Spitzensammlung – über 1100 kleinere und grössere Objekte – nach Wien und vermachte diese dem Wiener Museum für Kunstgewerbe.

Wie sehr Bertha Pappenheim ihr eigenes Herz kannte und wie sehr sie dieses zu schützen trachtete, mögen die ironischen Nachrufe deutlich machen, die einleitend zitiert wurden. Doch ebenso deutlich wird diese Selbstkenntnis in einem ihrer späten (unveröffentlichten) Gedichte, in welchem ihr keine Maske mehr nötig erschien:

“Mir ward die Liebe nicht –

Drum leb’ ich wie die Pflanze

Im Keller ohne Licht.

Mir ward die Liebe nicht –

Drum tön ich wie die Geige,

der man den Bogen bricht.

Mir ward die Liebe nicht –

Drum wühl ich mich in Arbeit

Und leb mich wund an Pflicht.

Mir ward die Liebe nicht –

Drum denk ich gern des Todes

Als freundliches Gesicht.”[125]

Es ist anzunehmen, dass Bertha Pappenheim in dieser Klarheit dem Tod begegnen konnte, als sie am 28. Mai 1936 im Arm von Hannah Kaminski einschlief.

“Ein Zeichen sind wir, deutungslos,

Schmerzlos sind wir und haben fast

Die Sprache in der Fremde verloren”.

 

Margarete Susman  (14.10.1872 – 16. 01.1966)

Wer war Margarete Susman? Worin bestand – und besteht heute noch – die besondere Bedeutung dieser Frau, dieser Denkerin und Dichterin? Über 32 Jahre lebte sie in Zürich im Exil. Viele Menschen dieser Stadt haben sie gekannt und als ein “anderes Genie” prophetischer Art verehrt, und trotzdem scheint ihr Werk im Staub der Vergangenheit zu versinken und zu verstummen, als ob die ersten drei Zeilen aus Hölderlins Gedicht “Mnemosyne”, die sie über die Einleitung ihres Lebensrückblicks “Ich habe viele Leben gelebt”[126] gesetzt hatte und womit diese Seite beginnt, als Ahnung von ihr gewählt worden seien. Es ist eine merkwürdige Diskrepanz in der Bedeutung von “mnemosyne”“Gedächtnis, Erinnerung” und vom Bewusstsein der Flüchtigkeit menschlichen Lebens, das sich vergeblich über die Sprache Dauer zu gewähren versucht.

Exil als Chance  –  Irdischer Heimat verirrter Schein[127]

Ihren Lebensrückblick beendete Margarete Susman 1963, drei Jahre vor ihrem Tod, im Auftrag des Leo Baeck Instituts. Sie war damals völlig erblindet, und die Niederschrift hatte viele Jahre beansprucht. Sie war des Diktierens ungewohnt war und empfand es als schwer, die Geschichte des eigenen Lebens zu wecken und festzuhalten. Warum war dies schwer für sie? – weil diese Geschichte “nicht wie die eines anderen Lebens eine ruhig geschaute, sondern eine selbstgelebte ist, in der sich die Wahrheitsfrage anders und weit schwieriger stellt”, wie sie festhielt, zumal, “eine grosse Welt von Worten und Werten seit meiner Jugend versunken und nicht nur eine ganze Sprachwelt, sondern auch eine ganze Epoche mit sich gerissen hat”. Wie sollte sie da unter allem, was sie erfahren hatte, genau das wählen, was “den Wert des Aussagbaren” hatte?

Es sind diese Fragen – die Wahrheitsfrage, die Wertfrage und die Frage der Sprache -, die Margarete Susman ihr Leben lang beschäftigten. Es ist

  • die Wahrheitsfrage, welche die Auseinandersetzung mit dem Judentum prägte, das sie nicht gewählt hatte, sondern als Herausforderung ihrer deutschen Herkunft zu verarbeiten hatte;
  • die Wertfrage in der Auseinandersetzung mit den künstlerischen und sozialen Strömungen ihrer Zeit sowie mit ihren persönlichen Bindungen und Beziehungen;
  • die Frage der Sprache, die ihr eigenes literarisches und politisches Wirken betrifft sowie das Werk anderer Menschen ihrer Zeit, nachdem ihre Sprache, die deutsche Sprache, zum Instrument tödlicher Propaganda und Täuschung, zum Instrument eines kaum benennbaren Regelsystems der Vernichtung geworden war.

Wie hatte Margarete Susman die verschiedenen Epochen ihres langen Lebens gelebt? Welches waren die wichtigsten, die bestimmenden Begegnungen und Erfahrungen, die ihren Weg mitgestalteten und ihn so werden liessen, wie er im Rückblick erkannt werden konnte?

“Mein ganzes Leben von Kindheit an war ein Erwachen aus einem immer erneuten Traum, und bei jedem Erwachen war die Welt und ich selbst eine andere geworden. Doch konnte ich nie sogleich das Ganze und die Folgen der Wandlung überschauen und nicht sogleich zu dem anderen Menschen werden, den die neue Wirklichkeit von mir forderte”.

Die Verzögerung zwischen der Erkenntnis – dem “Erwachen“, nach ihren Worten – und dem Handeln, das “die Stunde erforderte”, ob diese Verzögerung Augenblicke oder Jahre betraf, liess Margarete Susman doch nie irre werden an einem Grundwissen, dass die “Gestalt” ihres Lebens betraf, diese Übereinstimmung von innerem und äusserem Leben, die sie mit der Erfahrung der “Rechtzeitigkeit” in Verbindung brachte. Was sie weder planen noch fordern konnte, wurde ihr auf nicht erklärbare Weise zugelassen oder gewährt. “Rechtzeitigkeit ist immer Gnade. Man möchte diese seltene Gnade als einen Augenblick bezeichnen, in dem die Zeit sich aus unserem Leben zurückzieht und nur die reine Gegenwart übriglässt, und je öfter dies geschieht, um so mehr ist ein Leben ein Leben gewesen. Es liegt aber auch etwas Furchtbares darin, als wäre alles bisher Gelebte falsch gewesen”, hielt sie fest. Auf knappeste Weise fasste Margarete Susman so die Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz – und ihres eigenen Lebens – zusammen: Vergänglichkeit und Wandel, das Glück und zugleich das jähe Erschrecken, durch welches Erkenntnis geschieht, alles in allem die Erfahrung der “Gnade”.

Vergänglichkeit und Wandel: Als Margarete Susman am 14. Oktober 1872 in Hamburg zur Welt kam, in einer der “schönsten Städte Deutschlands”, wie sie schrieb, und in einem grossbürgerlichen, assimilierten Milieu aufwuchs, in dem Bildung, Reichtum und Schönheit die bestimmenden Werte waren, da war ihr Elternhaus insofern keine Ausnahme, als, nach ihren Worten, “die gehobenen jüdischen Schichten sich bereits ganz als Deutsche empfanden und ein heute kaum mehr verständliches, deutsch geprägtes Leben lebten”. Die Fragwürdigkeit dieses Lebens habe sie erst nach dem Zusammenbruch zu ahnen begonnen, erkannte sie rückblickend als alte Frau.

Von früher Kindheit an schrieb sie Gedichte, sowohl in Hamburg wie in Zürich, wohin die Familie Susman zog, als Margarete elf Jahre zählte. Vom Leben im Zürcher Quartier Enge, vom Schwimmen im See, überhaupt von der damaligen Zeit sprach sie voll Glücksgefühl. Allerdings war es hier in Zürich, dass sie das erstemal die Erfahrung sozialer Unterschiede machte, da sie in der Volksschule als “reiches” Kind galt. Hier war es auch, dass sie die erste Begegnung mit dem Tod machte, eine verstörende Begegnung, als eine Mitschülerin starb und sie die leblose Starre im Sarg mit Entsetzen wahrnahm und hilflos, ohne Erklärung durch die Erwachsenen über Leben und Tod, mit diesem Bild allein gelassen wurde. Auf sprachlose Weise habe sie diese Erfahrung einordnen gelernt, hielt sie als alte Frau fest, indem sie eines Morgens das vertraute Gesicht des Vaters vor sich gesehen habe und gewusste habe, dass zwar “die Liebe den Tod nicht bannen kann, aber dass sie im Leben die Erlösung vom Tod ist”.

Als Margarete Susman fünfzig Jahre später, in der Sylvesternacht 1933/34, das zweite Mal nach Zürich kam, nun als Flüchtling unter dem Druck der ängstigenden Entwicklung in Deutschland, gelangte sie zwar ins Exil, jedoch zugleich in eine kindheitsgeprägte Welt möglicher Geborgenheit – “irdischer Heimat verirrter Schein” -, wie sie in einer Verszeile in einem Traumgedicht von 1922[128] vorweg festgehalten hatte.

Zwischen der Kindheit und dem Exil jedoch war eine lange Entwicklung. Stärker als die Wirklichkeit, von der sie lange wie verschint blieb, prägten sie in der Jugend Dichtung und Literatur. Hieraus schöpfte sie ihre Vorstellungen von Leben und Liebe, von Gut und Böse. Als sie nach Abschluss der höheren Töchterschule einen ihrer Lehrer fragte, zu welchem Beruf er ihr rate, habe dieser gesagt: “Hüten Sie sich, Gretchen Susman, Sie führen eine gute Feder, Sie sollten aber durchaus und zunächst Frau und Mutter werden”. Und da auch ihr Vater geschworen habe, dass, solange er nicht unter der Erde sei, sie nicht studieren werde, gab sie sich damit zufrieden, nicht zu studieren, dafür aber Malunterricht zu nehmen und zu lesen, von Schiller über Jacobsen zu Nietzsche. Es war ein grosses Denkangebot auf der Linie des heroischen Atheismus, das sie ratlos machte.

Im Jahre 1891, als sie 19 Jahre, begleitete ihr Vater sie zu entfernten Verwandten nach Wien. Auch hier bewegte sie sich in der behüteten und eleganten Welt des “Fin de siècle”, hatte aber auf merkwürdige Weise das Gefühl, wie sie festhielt, dass sie sich ständig selbst im Weg stand und dass immer wieder eine unbegreifliche Traurigkeit über sie kam.

Wieder zurück in Zürich, ein Jahr später, starb ihr Vater. Margarete Susman war zwanzig Jahre alt. Zur Mutter, die schon seit Jahren schwer krank und pflegebedürftig war, verband sie keine warme Beziehung, sondern eine schwierige und widersprüchliche. Margarete Susmans “guter Geist” war fortan die ein paar Jahre ältere Schwester. Das äussere Leben hatte sich mit einem Schlag verändert. Die drei Frauen zogen von Zürich weg nach Hannover. Zwar beschäftigte sich Margarete Susman neben der Pflege der Mutter weiter mit Zeichnen und Malen, und doch begann sich ihr inneres Leben zu verändern. Einerseits erfuhr sie bei einer Augenkontrolle, dass sie mit grosser Wahrscheinlichkeit erblinden würde, andererseits begann sie, sich fürs Judentum zu interessieren. Die ersten Kenntnisse erhielt sie von Rabbiner Caesar Seligmann, mit dem sie befreundet blieb, solange er lebte. Er gab ihr den väterlichen Halt, den sie brauchte und den sie nach dem Tod ihres Vaters verloren hatte. Einerseits das Grübeln und Suchen, andererseits die ständige Pflege der Mutter liessen sie immer schwermütiger werden. Ein älterer Verwandter konnte sie bewegen, von Hannover fortzugehen und ihr Leben selbst an die Hand zu nehmen.

So begann Margarete Susman ihre Lehr- und Studienzeit relativ spät, zuerst in Düsseldorf, dann in München und in Berlin. Nach dem zurückgezogenen Leben mit Mutter und Schwester wurde dies für die junge Malerin, Kunststudentin und Dichterin im Kreis von Künstlern und Dichtern eine rauschhafte Zeit. In Düsseldorf lernte sie auch Eduard von Bendemann kennen, dem ihre erste Liebe galt und den sie viele Jahre später, 1906 in Paris, wieder treffen und wenig später heiraten wird. Dazwischen aber erlebte sie Begegnungen und Freundschaften mit Menschen, die sie prägten. Zu diesen gehörte der früh verstorbene Literaturwissenschafter und Denker Erwin Kircher. Sie erfuhr von seinem Tod über einen Traum, den sie während eines Italienaufenthaltes hatte. Dessen bedeutendes Buch über die Romantik wird sie nach dessen Tod veröffentlichen, gemeinsam mit Heinrich Simon, dem späteren Herausgeber und Chefredakteur der “Frankfurter Zeitung”.

In München begann auch ihre Freundschaft mit Gertrud Kantorowicz, über die sie einerseits Zugang zum Kreis um Stefan George fand und Karl Wolfskehl begegnete, durch die sie andererseits den Philosophen Georg Simmel und dessen Frau Gertrude Simmel kennenlernte[129]. Georg Simmel wurde für Margarete Susman zum verehrten Lehrer – auch eine Art Vaterersatz -, unter dessen Leitung sie Platon, Spinoza und Bergson zu studieren begann und sich intensiv mit Fragen der Ethik befasste. In Simmel Haus begegnete sie auch einem leidenschaftlichen, unbürgerlichen jungen Philosophen, Bernhard Groethuysen, der ihr die französische Philosophie nahebrachte und den sie auf scheue Weise liebte. “Immer war bei Groethuysen das Wort, vor allem das mündliche, von solcher Überzeugungskraft, dass Worte von ihm auch später noch wie Messer in mein Leben eingeschnitten oder es wie ein jäher Blitz erleuchtet haben. Durch seine gespenstische Auffassung der Liebe hat er mich aber damals sicher noch tiefer in ein Bündnis hineingetrieben, das mir Leben und wirkliche Liebe an Stelle einer schattenhaften, wirklichkeitsfremden Beziehung verhiess.

Das “Bündnis”, das sie damit andeutete, war das Ehebündnis mit dem Maler und Kunsthistoriker Eduard von Bendemann. Das sei wie ein Schicksal über sie gekommen, beurteilte sie es später. Die seelische Verwandtschaft, die sie mit ihm verband, war gewiss geringer als diejenige, die sie in anderen Freundschaftsbeziehungen erlebt hatte. Doch als sie ihm 1906 in Paris mitten auf den Champs-Elysées wieder begegnete, da war die Liebe wie etwas Unentrinnbares. Noch in Paris verlobten sie sich. Als sie wenige Monate später in Berlin dem Freund Heinrich Simon die Verlobung mitteilte, traten diesem die Tränen in die Augen, und Margarete Susman fragte sich, ob sie nicht eher zu Simons Welt gehörte als zu derjenigen von Bendemanns. Da sie und Simon mitten in der herausgeberischen Arbeit am Buch von Erwin Kircher waren, reiste Heinrich Simon dem jung vermählten Paar auf der Hochzeitsreise nach Florenz nach, damit die Arbeit nicht unterbrochen wurde.

Als die Vermählung nahe stand, sah sich Margarete Susman vor einen anderen wichtigen Entscheid gestellt. Die Eltern von Bendemanns drangen auf sie ein, dass sie sich taufen lasse. Sie willigte erst ein, da sie sich durch Literatur und Dichtung dem Christentum nahe fühlte, nahm auch Unterricht, doch am Vorabend der Taufe “ergriff sie”, wie sie schrieb, “die Gewissheit der vollkommenen Unmöglichkeit” dieses Schritts. Sie sandte dem Pfarrer ein Telegramm – und damit sei dieses Kapitel abgeschlossen gewesen, wie sie lakonisch bemerkte.

Ein Jahr später gebar Margarete Susman in Berlin einen Sohn. Beinah gleichzeitig starb ihre Mutter, völlig umnachtet. Das Kind, “anfangs ein hässliches Geschöpf”, wie sie schrieb, wuchs zu einem begabten, frühreifen Jungen heran. Über ihre Ehe schwieg sich Margarete Susman aus. Sie verstand diese Diskretion als Treuepflicht. Eine knappe Bemerkung findet sich in ihren Memoiren: “Es war eine gute Ehe, in der trotz der Verschiedenheit der Naturen nie ein böses Wort gefallen ist. Doch weiss ich heute, dass ich mit dieser Ehe den Fehler begangen habe, den Goethe in den Wahlverwandtschaften rügt: dass ich auf einer späteren Stufe eine Verbindung eingegangen bin, die auf einer früheren angelegt und nicht gelebt worden war. Auch hier das Problem der Rechtzeitigkeit, das in meinem Leben eine so grosse Rolle gespielt hat”.

Was feststeht ist, dass sich mit der Eheschliessung und der Geburt des Kindes eine Vervielfachung der Aufgaben ergab. Sie hatte für das Kind, den Mann und den Haushalt zu sorgen, hatte verschiedene Umzüge zu organisieren, 1912 von Berlin nach Rüschlikon, 1915 während des Kriegs nach Frankfurt, 1917 wieder zurück nach Rüschlikon, 1919 nach Säckingen am Rhein – , all dies neben der schriftstellerischen und publizistischen Tätigkeit.[130]

1910 erschien Margarete Susmans Buch “Das Wesen der modernen Lyrik”[131], in welchem sie als deren zentrale Besonderheit den Verlust des Religiösen bezeichnete. “Die Religion, sie ist verschüttet, verdeckt, von anderen Grundlinien gequert. Es ist nicht zu bemessen, was für ein Abgrund uns hierin von den früheren Zeiten trennt, welch ungeheurer und unheimlicher Weg es ist, der uns von dem felsenfesten, schlichten Glauben eines Luther und Bach, von der leuchtenden Klarheit der letzten  grossen religiösen Zeit in unsere schwankende, losgerissene Existenz hinübergeführt hat.”[132]  Für Margarete Susman wurde klar, dass mit dem Ersten Weltkrieg jede Art von allgemein gültigem Massstab lyrischer Aussage ungültig wurde, dass allein das Individuum galt, das über die Lyrik allerdings “kein Ich im real empirischen Sinne” widergab, “kein gegebenes, sondern ein erschaffenes Ich. (…) Das empirisch gegebene Ich der Person hat am lyrischen Kunstwerk genau so viel Anteil wie die Puppe am Schmetterling, der Keim an der Blüte”[133]. Es war der kritische, auf die Besonderheit individuellen Menschseins sich ausrichtende, existenzphilosophische Einfluss, den sie in der Beurteilung der damaligen Dichtung zum Ausdruck brachte, jedoch in sich selber zu  verdrängen suchte.

Dies wird deutlich in dem zwei Jahre später Gertrud Simmel zugeeigneten, kleinen Werk “Vom Sinn der Liebe”[134], in dem Margarete Susman  “das Leben selbst als die Verwandlung” beschrieb, da “jede seiner Formen teil hat  an seiner Einheit wie an einem Wechsel. Jede ist sie selbst und das Vergehen und Werden der anderen.[135]  Damit verband ein völlig traditionelles Geschlechterbild, das “den Dienst der Frau vor dem Mann” als deren höchste Bestimmung bezeichnete. “Dies ist der Dienst der Frau vor dem Mann. Sie stellt ihr Leben in den Dienst der grossen Gedanken und Enthüllungen des männlichen Geistes. Sie baut an ihnen und bewahrheitet und erfüllt sie durch ihr Leben, das zu demselben Ziel drängt wie des Mannes gestaltende Kraft und seiner schauenden Klärung auf dem dunklen gefährlichen Wege bedarf. (…) Die Hingebung Gretchens, die tausendfach missverstandene, ist das tiefe weibliche, das hinanziehende Vertrauen auf den Genius, der – wie er auch handeln, was er auch fehlen möge – mehr und Tieferes vom Leben weiss und erkennt als wir, der dem weiblichen Geist das Mysterium des Lebens aufschliesst, durch das er zu sich selbst gelangen soll”.[136]

Gewiss,“wie er auch handeln, was er auch fehlen möge” war leicht gesagt, solange Margarete Susman nicht selbst darunter litt. Als Eduard von Bendemann in der Zeit der wachsenden Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, als die Bendemanns in Säckingen auf dem Land in einem Bauernhaus lebten, das Bendemann gekauft hatte, ohne seine Frau zu fragen, dessen Bewirtschaftung beide überforderte, als er eine Liebesgeschichte mit einer anderen Frau begann und als plötzliche Entfremdung, Lüge und schliesslich 1928 die Scheidung Tatsache wurden,da konnte Margarete Susman sich im monatelangen Leidens- und Trauerprozess, der sie krank werden liess, der damit verbundenen Erkenntnis nicht entziehen, dass sie einerseits während ihrer ganzen Ehe versucht hatte, einen täglich erneuerten Traum aufrechtzuhalten, dass andererseits das traditionelle Geschlechterverhältnis ein ungerechtes Herrschaftsverhältnis zu Lasten der Frauen ist.

Diese Erkenntnis hatte sich schon vorher angebahnt. Margarete Susman war der Frauenbewegungen gewahr geworden, der, wie sie annahm, “die Frage nach dem Sein oder Nichtsein des heutigen Menschen” zugrunde lag und in welche sich “die Frage der Frau nach sich selbst, als Frage des Mannes nach der Frau und als Frage beider nach einer gemeinsamen Welt”[137] einspannte. Schon im 1926 entstandenen Essay “Das Frauenproblem in der gegenwärtigen Welt” hatte sie geschrieben: “Das Heraustreten der Frau aus dem Bild des Mannes ist in seiner Verwirklichung kein einfaches, gradlieniges Geschehen, keine blosse Entfaltung und nicht einmal eine blosse Revolution, sondern ein unendlich schwerer, verwickelter und tausendfach unterbundener Prozess. Die Revolution der Frau hat nicht einfach den gesetzhaften Verlauf und Rhythmus anderer Revolutionen (…): Hier bindet eine andere Macht der Freiheit gebieterisch die Hände, hier werden Ketten Kränze und Kränze Ketten”. Gegen Schluss des Aufsatzes hielt sie fest:  “Wie unendlich weit auch diese Generation noch von einer wirklichen Lösung des Problems entfernt ist – es ist wenigstens als Problem deutlich sichtbar geworden. (…) Nie wird und darf das männliche Werk der Frau letzter Zweck, endgültiges Ziel sein”. Aber, hielt sie damals noch fest, “jeder Schritt vorwärts zur Lösung des Frauenproblems wird auch ein Schritt zur Lösung des Problems des Mannes und des wahren Zusammenlebens von Mann und Frau und damit zuletzt der Weg zu einer neuen Menschheit sein”. Allerdings war es eine Hoffnung, die durch den Ersten Weltkrieg zusammenbrach und die sie als ein “naives Streben nach Gleichberechtigung” empfand. “Der Mann hatte der Frau gar keine Welt mehr anzubieten; alle seine Ordnungen und Gesetze waren zerfallen”[138].  Wie schwierig wurde unter diesen Bedingungen eine gerechte Realisierung der Frauenrechte und gleichzeitig die Erfüllung der grossen Aufgaben der Mutterschaft, wie schwierig in einer Welt, in der sich “nur noch Vernichtung und Verzweiflung ansammelten” und in welcher den Kindern nichts mehr Unverletztes anzubieten war.

In diesen Jahren der gesamteuropäischen Krise und der schwierigen persönlichen Sinnsuche pflegte Margarete Susman eine reiche Korrespondenz. Ihre Briefpartner waren Gustav Landauer, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Eugen Rosenstock – viele mehr, die dazu beitrugen, dass sich ihr Denken weiter und tiefer erschloss, auch dass sie über den Austausch und die geistige Nähe wirkliche Freundschaft erfuhr.

Nach der Scheidung zog Margarete Susman für eine Weile nach Basel. “Ich war frei, jedoch so sehr im Bann des Geschehenen, dass ich nur mühsam wieder Boden untr den Füssen fand. Ich war frei, aber zu was für einem Leben? Ich weiss nur, dass ich eigentümlich ruhig war, und dass der Abschied von meinem bisherigen Leben mir  auch eine leise Erleichterung schien”. Kaum war sie wieder etwas bei Kräften, zog sie nach Frankfurt, wo sie bis Ende 1933 lebte, umgeben von Menschen, die ihr nahe standen und angezogen durch eine Vielzahl von literarischen und philosophischen Aufgaben. Insbesondere war es die europäische jüdische Geschichte, überhaupt das Judentum, womit sie sich auseinandersetzte.

Sie vertiefte sich in die Schriften Franz Kafkas, dessen Werk sie durch Groethuysen kennengelernt hatte. 1929 – fünf Jahre nach Kafkas Tod – veröffentlichte sie eine von Klarsicht geprägte Studie[139], in welcher sie sich auf Hiob bezog, den mit Gott hadernden Juden, der Gerechtigkeit forderte und der leer ausging, ohne Antwort von Gott, und “so entzieht er sich dem modernen Juden im allgemeinen Schicksal. Darum wird der Prozess mit Gott seine Gestalt ändern (…), in der späten abendländischen Welt, dieser menschgeschaffenen, gottverlassenen Welt (…). Es ist eine fremde und unheimliche Welt. Ein labyrinthischer Wahnsinn scheint in ihr alle Wege um sich selbst gedreht und ineinander geschlungen zu haben. (…) Es ist die rationalisierte, versachlichte und immer mehr von der Sache und von den Sachen überwältigte Welt, in der wir leben, in der die Seele ganz den Dingen unterworfen und von ihnen erdrückt wird.”[140]  Es war die zum Alltag verdinglichte Welt, in welcher Margarete Susman lebte, und zugleich war es die Welt, die sie bei Kafka qualvoll eingefroren wiederfand, “als eigentümlich nüchterne, überklare Sachwelt und zugleich als Darstellung eines seltsam verwirrten, gleichsam unfertigen Traumlebens, desen halluzinatorische Allzuwirklichkeit nur der Ausdruck seiner hoffnungslosen Unwirklichkeit ist, in dem nichts Menschliches ganz und eindeutig zur Gestalt kommt, indem es eine geschlossene menschliche Persönlichkeit nicht gibt.”[141]  Die leidenschaftslose Hilflosigkeit jedes Menschen in Kafkas Werk, das Annehmenmüssen des Unverständlichen – sei es bei der “Verwandlung”, im “Prozess”, im “Schloss”,  beim “Hungerkünstler” wie auch in den anderen Geschichten – können durch keine Klage gelöst werden. “Gott würde ja die Klage gar nicht hören”.[142]  Noch geht Margarete Susman nicht auf Kafkas Verhältnis zu dessen übermächtigen und unerreichbaren Vater ein, gegen den keine Art von Auflehnung oder Klage die Tatsache, dass er der Vater ist, verändert; sie wird es erst in der vergleichenden Auseinandersetzung mit Franz Rosenzweigs Vater tun. In erster Linie überträgt sie die Aussichtslosigkeit auf das Menschsein überhaupt, auf die Menschen als göttliche Gefangene, die – analog zum Gefangenen Kafkas – auf die endgültige Befreiung harren. Nicht eine existenzphilosophische, sondern eine messianische Bedeutung findet sie in Kafkas Zielsetzung des Ausharrens, der “paradoxen Kraft der Hoffnung”[143], die für sie die zentrale Überlebenskraft des Judentums erklärt.

Ebenfalls in jener Zeit liess Margarete Susman sich in die Auseinandersetzung mit dem Chassidismus ein, vollendete ihr Buch über die “Frauen der Romantik”[144] und begann, Freud zu studieren, dessen Werk sie als eine der “weltumwälzenden Entdeckungen”[145] bezeichnete. Zwar seien zahlreiche Einzelheiten in seiner Lehre überholt und naturwissenschaftliche Standpunkte hätten sich verändert, auch möge Freud selber seine Kompetenzen überschritten haben, aber “es gibt kein Lebensgebiet, keine Wissenschaft, keine Kunst, die durch seine Entdeckungen nicht mitberührt und entscheidend umgestaltet worden wär[146]. Aber es war Margarete Susman nicht mehr möglich, “abzuheben”, wie sie dies früher zu tun pflegte. Die äussere Realität wurde zunehmend härter. “Die Schattenwelt um mich her liess sich von meiner Arbeit nicht bannen”, schrieb sie im Lebensrückblick. “Was das Leben ist und was der Tod, hatte ich wohl schon immer gefragt, ich war ja dicht am Rande gewesen; aber die Menschen, so wie sie nach dem Ersten Weltkrieg geworden waren und einander bedrängten und zerstörten, waren mir im letzten fremd geblieben. Auch alle einzelnen Verhältnisse zeigten in jener Zeit ein neues Gesicht. Die Arbeitslosigkeit unzähliger Menschen griff mit ihren schwarzen Händen in das schwache, ermüdete Deutschland ein. Was diese Arbeitslosigkeit bedeutete, verstand ich zuerst noch nicht ganz; aber als dann so viele Ehen, Arbeitsgemeinschaften, Betriebe auseinanderbrachen, alle Einigkeit unter den Menschen mehr und mehr zerfiel, da begann ich sie allmählich als das furchtbare Schicksal zu begreifen, das sie für dieses ausgesogene Land bedeutete”.

Das “furchtbare Schicksal” bahnte sich an, ein “namenloses Grauen breitete sich aus”, schrieb Margarete Susman. Noch gab es etwas wie Atempause, wie Aufschub: In Frankfurt begegnete sie Franz Rosenzweig wieder, den bedeutenden Hegelforscher und frühen Existenzphilosophen, der zusammen mit Martin Buber eine neue, ungewöhnliche Übersetzung der Bibel in Deutsche gewagt hatte. Rosenzweig, schwer krank, starb 1929, kaum 43 Jahre alt. Als sie über ihn schrieb, ging sie ausführlich auf seine Grundhaltung des zugleich kritischen Ungläubigen und kritischen Gläubigen ein, die sein Werk prägte. Sie brauchte für ihn die Worte, mit denen er einen Heiligen zu definieren versucht hatte: “Ein Mensch des äusseren Kreises, der nicht aus Wahl, sondern aus Schicksal berufen wird; ein Mensch, dem jeder glauben muss, weil keiner mehr etwas mit ihm gemein hat”. Bei der Bestattung von Franz Rosenzweig traf sie auch das erste Mal mit Leo Baeck zusammen, dessen Buch “Das Wesen des Judentums” sie kurz vorher besprochen hatte, den sie wegen seiner Menschlichkeit verehrte. Und sie lernte Berta Pappenheim kennenlernen, der sie Unterricht über die Philosophie der Vorsokratiker gab und zu deren “Gebeten” sie ein Vorwort schrieb, gleichzeitig Hannah Kaminski, die Bertha Pappenheim nahe stand, die ihr Werk fortsetzte (auch als Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes) und die, statt sich in die Schweiz zu retten, wo ihre Schwester lebte, die Kinder aus dem Isenburger-Heim nach Auschwitz in den Tod begleitete.

Margarete Susman selbst emigrierte im Sommer 1933 aus Deutschland “als Deutsche”, wie sie sagte. Sie reiste zuerst in die Schweiz, dann nach England, von dort nach Holland, wo sie den 15jährigen Jehudi Menuhin spielen hörte, schliesslich in der Silvesternacht 1933/34 definitiv in die Schweiz, als einzige Passagierin dieses Nachtzugs, der sie nach Zürich in die Geborgenheit führte, jedoch in eine Geborgenheit voller Sprünge und voller Fremdheit. “Ich ging durch die Strassen wie im Traum, und es war wirklich ein Gefühl von Freude, das trotz allen Schreckens in mir auflebte, und nur eines entsetzte mich immer wieder: Wenn in dem Land des mir von Kind auf vertrauten Schweizer Dialekts plötzlich Klänge der anderen Sprache auftauchten, die meine eigentliche Heimatsprache war. Man kann sich dies Entsetzen kaum denken: die Sprache, die ich selber sprach, war mir zu einem Schrecknis geworden”.

Damit begann für Margarete Susman die Zeit des Exils, das fast 33 Jahre dauerte. Sie war, als sie wieder nach Zürich kam, wo sie schon einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, 61 Jahre alt. Hier traf sie auf den Kreis der Religiösen Sozialisten um Leonhard Ragaz[147]. Sie verehrte diesen “Streiter für das Reich Gottes”, wie sie ihn nannte, zutiefst; im Nachruf[148], den sie nach seinem Tod schrieb, ging sie auf die Bedeutung von “Religion” – ob christlich oder jüdisch –  ein, die sie mit ihm teilte: “Denn unter Religion ist im Gegensatz zum üblichen Sprachgebrauch,mit tiefer gedanklicher und geschictlicher Begründung, gerade das verstanden, was nicht Gott und Gottes ist, was vielmehr im Lauf der Geschichte die Menschen aus Gott gemacht, was sie an leeren, toten Ersatzbildern, an erstarrten Fomen, Formeln und Dogmen an die Stelle des lebendigen Gottes gesetzt, als Gott ausgegeben und womit sie das umgangen haben, worauf  allein es vor dem Gott der biblischen Verkündigung ankommt: die Verwirklichung des Reiches und seiner Gerechtigkeit für die Erde.” [149]In Ragaz’ “Neuen Wegen” publizierte sie Gedichte sowie eine Vielzahl wichtiger Aufsätze, zum Teil unter dem Pseudonym Otto Reiner, da sie während des Kriegs als Flüchtling ein Publikationsverbot hatte. So erschien zum Beispiel 1939 ein Aufsatz, in dem Margarete Susman “Die geistigen Tragkräfte des modernen Kollektivismus” untersuchte: Staatsvergottung, Todesverfallenheit, ausweglose Angst, die Ersetzung des Menschen und der Beziehungen zwischen Menschen durch die Herrschaft der Sache, den auf die Zerstörung alles Menschlichen, alles Lebendigen und alles Göttlichen hin tendierenden Nihilismus. eine Analyse, an deren Ende sie sich fragte, was trotz all des Furchtbaren hieraus zu lernen sei, was zu tun sei. Ihre Antwort war: “Nur auf den Spuren des Menschenbruders können wir die eigene lebendige Seele wiederfinden (…). Wo immer du die Fussspur eines Menschen findest, zieht Gott vor dir her”.

Hier in Zürich wird sie ihr bedeutendstes Werk schaffen, das aus der drängenden, unentrinnbaren Auseinandersetzung mit dem Schicksal ihres Volkes entstand: Das “Buch Hiob”, das 1946, im Jahr nach dem Kriegsende, erschien.

Eigentlich arbeitete Margarete Susman seit 1929, seit sie sich mit Franz Kafk befasste, an diesem Buch. Die Auseinandersetzung mit dem verschlüsselten, geheimnisvollen Werk Kafkas war gleichzeitig der Beginn ihrer Auseinandersetzung mit dem verschlüsselten, geheimnisvollen Schicksal des jüdischen Volkes. In dieser Auseinandersetzung greift sie zurück in die Geschichte, in die Texte der Propheten, insbesondere in jene von Jesaia und mit der gleichen Hartnäckigkeit in jene Hiobs. In dieser Auseinandersetzung findet sie den besonderen prophetischen Ton, der diese Texte auszeichnet. “Der Hader mit Gott, der Prozess des Menschen mit Gott um seiner Gerechtigkeit willen hat im Judentum früh begonnen und niemals aufgehört. Er ist die Kehrseite des Lebens unter dem Gesetz, das die unbedingte Gerechtigkeit Gottes voraussetzt. Je reiner die göttliche Forderung an den Menschen erfasst und gelebt wird, umso unbedingter muss der Mensch auf seiner Forderung der unbedingten Gerechtigkeit Gottes bestehen. (…) Das Urentsetzen des Buches Hiob ist das jähe Erkennen, dass die Stimme Gottes auf die Stimmes des einzelnen Menschen überhaupt nicht antwortet, dass weder die Stimme des Menschen Gott, noch die Stimme Gottes den Menschen zu erreichen vermag: dass das Schicksal des einzelnen; mein Schicksal, mein Leben – und ich habe ja kein anderes als dieses – rechtlos, hilflos vor Gott im Lebensganzen ertrinkt”[150], Margarete Susman schon im Kafka-Aufsatz schreibt, und wie sie das Thema in ihrem Hiob-Buch[151] vertieft.

Wie Hiob erlebt das jüdische Volk, dass es für eine Schuld gezüchtigt und erniedrigt wird, um die es nicht weiss. “Göttliche und menschliche Gerechtigkeit können nicht zusammenkommen… Es ist die furchtbare Einsicht in die Vergeblichkeit persönlicher Unschuld, die das ganze Buch Hiob durchzieht. Bis zu der persönlichen Schuldlosigkeit dringt Gott gar nicht vor. Dazu sind wir zu tief in die allgemeine Schuld hineingestellt (…)[152]“. Doch worin besteht diese Schuld?  Gemäss Margarete Susman ist “die eigentümliche Schuld, mit der das Gesetz von Anbeginn das Volk belastet, mag auch die menschliche Anklage dies ahnungslos verwischen, der schuldlosen Schuld Hiobs verwandt. Israel hat am Sinai die Thora angenommen, und es hat sie nicht nur für sich, es hat sie für die Menschheit angenommen”[153]. Durch diese stellvertretende Gesetzesannahme habe das Volk sich einer Bestimmung übergeben, die es nicht verwirklichen könne, die erst am Ende der Geschichte erfüllt werden könne, doch setze hier, in diesem unvergleichbaren Vollkommenheitsanspruch, auch alle Feindschaft gegen Israel an. Dies sei die Wurzel des Judenhasses aller Zeiten. Weil das jüdische Volk in seiner Gegenwärtigkeit ständig auf die Menschheit hinweise, die noch nicht sei, indem es die Menschheit in der Erlösungserwartung, in der “reinen Zukunft” vertrete, sei es ein Gegenbild zu den übrigen Völkern. Denn in der Überfülle und Unerklärbarkeit des Leidens könne es trotzdem nicht anders als an der Hoffnung festhalten, an der messianischen Hoffnung, an welcher jede einzelne Seele dereinst gerichtet werde, gemäss dem Wort des Talmud “Hast du gehofft auf das Heil?”

Margarete Susman erklärt somit den seit Jahrhunderten schwärenden Judenhass “in seiner wirklichen Tiefe als metaphysischen Hass; er ist in Wahrheit nicht gegen eine empirische Gemeinschaft gerichtet, sondern gegen das, was sie gründet; er ist eine aus der Tiefe des Menschenwesens selbst aufsteigende Urmacht”[154]. Allerdings kommt sie zum Schluss, dass sowohl dieses geschichtliche Phänomen wie der moderne Antisemititsmus “zugleich immer ein soziales und politisches Ablenkungsmanöver” sei. “Am Stand der Wirtschaftsnot eines Volkes” habe man seit jeher den Stand der Judenverfolgungen ablesen können. Die Bezeichnung  “Pariavolk[155]“allerdings  widerspiegle die mit der indischen Seelenwanderungslehre gemeinte Korrektur der Bitterkeit zeitlicher Endgültigkeit; “das Leben ist nur eine Minute in der Weltzeit der Wandlungen”[156]. Doch diese gehe einher mit “Verwundungen und Entstellungen des Volkskörpers”, die notwendig auf die anderen Völker zurückwirken und die immer neu ihre Ablehnung wecken wie der Anblick des mit einer bösartigen Krankheit geschlagenen.

Im Vorwort zur Zweiten Auflage, die 1948 unmittelbar nach der Gründung des Staates Israel erschien, fragt sich Margarete Susman, ob nun, wo das jüdische Volk ein Staatsvolk mit festem Territorium, somit ein Volk wie andere Völker, geworden sei, ob diese Veränderung zum Guten des Volkes geschehe. Sie sagt: “Gewiss, der in den Wehen und Wirren des Heute geborene kleine Staat ist nicht ein Staat wie andere Staaten. (…) Es geht ihm in ihm allein um die Wahrung und Stärkung eines lebendigen Zentrums, von dem aus das Volk nach der grauenvollsten Zerstörung seiner Geschichte sich wieder neu aufbauen kann. Es geht ihm darum, den wenigen Überlebenden der Katastrophe, die verlassen über die Erde irren, eine Zuflucht, eine Heimat, ein Stück festen Bodens unter den Füssen zu geben (…)” Aber, fährt sie etwas weiter fort, “mit dieser kriegerischen Verteidigung wie mit dem Staat, der sie erfordert, hat doch das Volk ein Stück des ihm fremden Chaos in sich selbsts hineingezogen und damit, schwerer noch als seinen äusseren, seinen inneren Bestand gefährdet. Es hat mit dieser Lebensform teil an den blutigen Verirrungen und Verzerrungen der ihm selbst zutiefst widerstrebenden Völkerwelt; es hat teil am Fluch des Nationalismus, teil an der wachsenden Erstarrung des Lebens, an dem apokalyptischen Erkalten des Herzens, in dem das Leben der Menschheit erkaltet”. Und sie fragt: “Kann in einer solchen Wirklichkeit das messianische Erbe noch verwaltet werden? Ist in ihr – es ist dieselbe Frage – die Verwirklichung des einfach Menschlichen noch möglich?

Die Gleichsetzung von “messianischem Erbe” und dem “einfach Menschlichen” hat für Margarte Susman die Bedeutung eines Axioms. Von diesem Axiom aus formuliert sie auch die Aufgabe, die sich Israel fortan stelle, “dringlicher als je”, wie sie hervorhebt: “Die Vertretung einer überinternationalen Friedensordnung, auf die das Ganze der Weltentwicklung als auf die allein rettende Entscheidung hinzielt, das Ausharren in der Hoffnung”[157].

Margarete Susman war, als das “Buch Hiob” erschien, 74 Jahre alt, eine nicht mehr junge Frau, die jedoch ihr Leben lebte, wie sie es immer gelebt hatte, auch wenn das Augenlicht zunehmend schwächer wurde. Sie war offen den Menschen gegenüber, die ihr neu begegneten, die sie aufsuchten und verehrten – darunter Hermann Levin Goldschmidt, Jacob Taubes, Paul Celan, Michael Landmann, Elazar Benjoetz, ihr Arzt Manes Kartagener, Paul Tillich, der Komponist Robert Oboussier, Manfred Schlösser, Rietli Hardmeier aus Thalwil, die sie als ihre “Arbeitshilfe ganz besonderer Art” bezeichnete, Bertha Huber-Bindschedler aus Glarus und viele mehr. Margarete Susman blieb auch offen gegenüber neuen Aufgaben. Unter anderem war sie mehrmals gebeten worden, Vorträge in Deutschland zu halten, was sie regelmässig abgelehnt hatte, bis sie eines Tages einverstanden war, in Heidelberg vor Studenten über das Thema der messianischen Hoffnung zu sprechen. Als sie im Begriff war abzureisen, verfehlte sie die oberste Stufe der Treppe und fiel kopfüber die steinerne Treppe hinunter. Mehrere Wochen brauchte sie, um einigermassen zu genesen.

Dieser Sturz war nicht der erste gewesen. Immer wieder, seit sie eine junge Frau war, war sie gestürzt und war in der Folge wochen-, wenn nicht monatelang bettlägrig und pflegebedürftig gewesen. Am Schluss ihres Lebensrückblicks fragte sich Margarte Susman, was das wohl bedeuten möge, dass sie so oft gefallen sei. Und warum das Fallen, auch wenn grosse Schmerzen damit einhergehen, immer ein wenig lächerlich sei. Sie kam zum Schluss, dass sich in diesem Stürzen wohl ihr Verhältnis zur Erde Ausdruck schaffe. So oft sei sie mit dem Denken anderswo gewesen als auf der Erde, als am wirklichen Erdenort, wo sie nie wirklich beheimatet gewesen sei, eben “irdischer Heimat verirrter Schein”. Doch mit jedem Sturz habe ihr die Erde zu verstehen gegeben, dass sie hierher gehöre. Der Mensch sei überhaupt ein Fremdling auf Erden. Ihr Fallen könne hierfür als Symbol gelten.

Wie Margarete Susman ihre letzten Jahre verbrachte, hielt sie selbst fest: “Der Lebensabend – er gleicht dem Abend, der sich auf eine Landschaft niedersenkt, nur dass er voller letzter Fragen ist, wie sie der Abend in der Natur nicht kennt. Es ist jene eigentümliche Zeit, in der schon die Dinge für unser Auge aus ihren wirren Verflechtungen sich lösen und das Leben durchsichtig wird für sein Gesetz: das Gesetz des Lebens und Sterbens”. (…) “Die Lider schliessen, verstummen und lauschen – das scheint mir das Grunderlebnis des Alters. Das Lauschen in das dunkelnde Leben. Wie viele Stimmen werden da laut, die man am Tag nicht vernommen hat. Durch diese Stimmen glaubte ich lange, nicht in Ruhe sterben zu können, weil so vieles in mir Angelegte in meinem Leben sich nicht verwirklicht hat. Nun bin ich, was mich selber angeht, langsam geduldig und ruhig geworden. Die Gabe des Alters ist ja die Ruhe – und was alles ist in diesem Wort enthalten. Ja, in dieser Ruhe liegt gewiss auch noch eine Hoffnung, aber nicht mehr für das eigene Leben, sondern eine, die sehr viel weiter reicht: die Hoffnung auf ein der blossen Natur enthobenes Recht des Friedens (…)”.

Und die damals 92jährige schloss ihre Aufzeichnungen ab. “Wie dunkel und unbegreiflich ist die Zeit, wie schnell und wie langsam ist mein Leben vergangen. Und wenn ich an das Bibelwort denke: ‘Des Menschen Leben währet siebzig Jahr, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahr’, dann kommt es mir zuweilen vor, als wäre ich gar nicht mehr im Leben. Wenn ich aber den Zusatz lese: ‘Und wenn es köstlich gewesen ist, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen’, dann scheint mir doch, als ob ein solches Leben letztlich mein Teil gewesen wäre, wie sehr auch der Tod zu ihm gehört. Denn da der Tod nur für den Einzelnen tragisch, im Ganzen aber notwendig und sinnvoll ist, ist für uns, im Leben und im Sterben, nur die einzige Möglichkeit, ihn still in das Ganze aufzunehmen”.

Exil als Chance? Margarete Susman hatte es während 33 Jahren zu nutzen vermocht, vielleicht ihr Leben lang. Was “das Ganze” bedeutet oder “alles”, hat Margarete Susman versucht zu beantworten, indem sie sich den zentralen Fragen unentwegt stellte: der Frage nach der Wahrheit, nach der Wahrheit des Menschlichen, nach der Wahrheit des Göttlichen; der Frage nach den Werten, nach denen sich das Leben auszurichten lohnt; der Frage nach der Sprache, die als Vermittlung zwischen den Menschen dem, was war, dem, was ist und dem, was sein soll und sein wird, Ausdruck verleiht. Sie starb in Zürich am 16. Januar 1966.

III. Die existenzphilosophische Zielsetzung im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs

“Also dann los! Dies ist ein peinlicher und kaum zu überwindender Augenblick für mich: mein gehemmtes Inneres auf einem unschuldigen Blatt linierten Papiers preiszugeben. Die Gedanken sind manchmal so klar und hell in meinem Kopf und meine Gefühle so tief, aber sie aufzuschreiben will mir noch nicht gelingen. Hauptsächlich liegt es, glaube ich, am Schamgefühl. Grosse Hemmungen, getraue mich nicht, die Gedanken preiszugeben, frei aus mir herausströmen zu lassen, und doch muss es sein, wenn ich auf die Dauer das Leben rechtschaffen und befriedigend zu Ende bringen will”. (Samstag, 9. März 1941)[158]

“Ich habe eigentlich keine Angst. Nicht weil ich besonders tapfer wäre, sondern in dem Gefühl, dass ich es immer mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen will, jede Äusserung zu verstehen, von wem sie auch sei, sofern mir das möglich ist.” (…) “Das Leben wird sehr schwer werden. Wir werden getrennt werden, wir alle, die wir einander teuer sind. Ich glaube, dass die Zeit nicht mehr fern ist. Man sollte sich innerlich bereits darauf vorbereiten.” (Freitagmorgen, 27. Februar 1942 (…) Donnerstagabend, 12. März  1942)

“Siehst du, ich leide immer noch an demselben Übel: ich kann mich nicht dazu entschliessen, mit dem Schreiben aufzuhören. Ich möchte noch im letzten Augenblick die einmalige erlösende Formel finden. Für alles, was in mir ist, für das übervolle und reiche Lebensgefühl ein einziges Wort finden, mit dem ich alles auszusagen vermag (…), mein Gott, dass es gut und schön ist, in deiner Welt zu leben, trotz allem, was wir Menschen einander antun: Das denkende Herz der Baracke” (Dienstagmittag, drei Uhr, 5. September 1942).

“Ich bin sehr müde, schon seit einigen Tagen, aber auch das wird wieder vorbeigehen, alles verläuft nach einem eigenen, tieferen Rhythmus (..). Auf diesen Rhythmus zu horchen ist das Wichtigste, was ein Mensch in diesem Leben zu lernen hat.” (Westerbork, 18. August 1943)

Etty Hillesum  (15.1.1914 – 30.11.1943)

Ein schmales Buch von 222 Seiten liegt vor, aus neun aneinandergereihten Heften, in denen Etty Hillesum während der letzten zweieinhalb Jahren ihres Lebens – bevor sie von Amsterdam nach Westerbork kam und von Westerbork nach Auschwitz deportiert wurde – in fast stenographischer Schrift unter spürbarer Dringlichkeit alles festhielt, was ihr wichtig erschien. Seite für Seite ist es ein Dialog der jungen Frau mit ihrem eigenen verborgenen Ich, dessen aufmerksamer, erkenntnishungriger Teil durch die körperlichen Impulse und Bedürfnisse ebenso verunsichert und aktiviert wurde wie durch die vielfachen unterschiedlichen Empfindungen, die einerseits durch das nicht wählbare Beziehungsgeflecht von Herkunft, Zugehörigkeit und Zeitgeschichte, andererseits durch das wählbare und gestaltbare von Freundschaft, Liebe und Glauben geweckt, geformt und ernährt  wurden.

Die kritische Sorgfalt, die Intensität und Dichte der Selbstbefragung stiessen dabei immer wieder an Grenzen, die Etty Hillesum selber wahrnahm und zu ergründen suchte. Einerseits erlebte sie das Ungenügen der Sprache; sie ging auf die Auseinandersetzung mit dem Sagbaren und dem Unsagbaren ein sowie mit der symbolischen Kraft der Worte, die wie die symbolische Kraft von Sachen sich mit dem Ungenügen der sprachlichen Übersetzungsmöglichkeit aufwühlender Gefühle verbindet, insbesondere jener von lähmender Angst und von Sehnsucht nach Angstfreiheit, auch von Sehnsucht nach hassfreier, zeitunabhängiger Sinnhaftigkeit des vom Naziregime als unwert erklärten, mit Deportation und Tod bedrohten Lebens. Die Suche nach innerem Halt in einem transzendenten, nicht religions- oder theoriedefinierten Gott war dabei von grosser Bedeutung. Andererseits war es unausweichlich, dass sie die zunehmende Erschöpfung und die durch mangelnde Bewegungsfreiheit, Ernährung und Krankheit bedingte Kraftlosigkeit, die das Schreiben behinderte, zu verarbeiten versuchte. Doch bis zu den letzten Zeilen, die in Briefen aus Westerbork an ihr nahestehende Menschen gelangten, ist die ungewöhnliche Kraft des Bewusstseins spürbar, das ihrem Ichsein und ihrem Dasein – das sie in der Ausweglosigkeit mit unzähligen Menschen teilte – das hilflose Weggleiten in die destruktiven Kräfte des Unbewussten, in Verzweiflung oder Hass, wie ein persönlicher Schutzgeist ersparte.

Lebensgeschichte

Die Jahre von Etty Hillesum’s Kindheit und Jugend, von Studium und allmählichem  Erwachsenwerden, die der Zeit des immer enger, kälter und dunkler werdenden Ghettolebens vorangingen, in welchem die Niederschriften erst begannen, sie werden ab und zu von ihr angehaucht, jedoch kaum in der ganzen, erlebten Entwicklung geschildert. Der Kenntnis, die J.G. Gaarlandt, der Herausgeber des Buches,  davon hatte, ist zu verdanken, dass auch über diese Zeit eine knappe Darstellung möglich ist. Hier eine Zusammenfassung der Lebensgeschichte:

Esther (Etty) Hillesum kam am 15. Januar 1914 im holländischen Middelburg zur Welt; später war das Elternhaus in Deventer an der Jissel. Ihre Mutter, Rebecca Bernstein, musste ihre in Russland lebenden Familienkreise infolge einer der zahlreichen Pogrome verlassen, gelangte auf der Flucht nach Holland und lernte dort Louis Hillesum kennen, einen Altphilologen, der ein Gymnasium leitete und der durch seine Gelehrtheit und innere Ruhe, doch auch durch seine Weltverlorenheit und seinen Humor verblüffte. Etty Hillesums frühe Kindheit wie jene der zwei jüngeren Brüder Michael (Mischa) und Jaap war somit durch die Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieg wie durch die weit sich von einander differenzierenden Herkunftsgeschichten und Temperamente ihrer Eltern geprägt, die zu häufigen familiären Turbulenzen führten. Religiöse Gebote und Verbote, Wochen- oder Jahresrituale waren ohne Bedeutung. Vielfache, ungewöhnliche Begabtheit kennzeichnete alle drei Geschwister. Jaap, der als unauffällig kluger, verlässlicher Mensch galt, wurde Arzt; von Mischa ist bekannt, dass er so unangepasst und eigenwillig war, dass er in der Pubertät für einige Zeit in eine psychiatrische Klinik versetzt wurde, dass jedoch seine Musikalität, insbesondere sein ausserordentliches Klavierspiel ihn in der damaligen Beurteilung zu einem der bedeutendsten Pianisten Europas prädestinierte.

Etty Hillesum selber hatte nach dem Gymnasium zuerst in Amsterdam das Jura-Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, gleichzeitig hatte sie begonnen, slawische Sprachen und Deutsch zu studieren und als Russisch-Übersetzerin und Lehrerin Geld zu verdienen. Das weitere Studium in Psychologie wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, durch die deutsche Besetzung Hollands und die zunehmende Diskrimierung, Ghettoisierung, Aushungerung und schliesslich Deportation der jüdischen Bevölkerung verunmöglicht. Sie hatte ein Zimmer in der Gabriel Metusstraat 6 in Amsterdam bewohnen können, gemeinsam mit vier anderen jungen Menschen; der Besitzer, Han Wegerif, war während einiger Zeit sowohl ein Freund wie ein Geliebter von ihr. Am 15. Juli 1942 wurde ihr eine Stelle in der “Kulturellen Abteilung” des Jüdischen Rates in Amsterdam zugesprochen, um welche sie sich auf Anraten ihres Bruders Jaap beworben hatte[159], doch länger als zwei Wochen hielt sie diese Art Sonderstellung nicht aus; sie empfand sie als  unerträglich. Anfang August 1942 wurde sie ins Ausschaffungslager von Westerbork überwiesen, ohne dass sie sich dagegen sträubte. Es ihr anfänglich noch ein Besuchsrecht in Amsterdam zugesprochen, so dass sie ab und zu einige Tage ausserhalb des Lagers verbrachte, oft krank oder  in schwerem Erschöpfungszustand. Am 7. September 1943 wurde Etty Hillesum wie auch ihre Eltern und ihre zwei Brüder “auf Transport geschickt”. Mischa hätte als anerkannter “Kultur-Jude” sich davor retten können; doch für ihn stand fest, dass er diese Möglichkeit nur nutzen würde, wenn gleichzeitig seinen Eltern und seinen Geschwistern die Deportation erspart bliebe. Dem minutiösen Bericht eines Freundes und “Waffenbruders”[160] von Westerbork zufolge  – Jopie Vleeschouver –  erfolgte der “Abstransport” unerwartet plötzlich[161], obwohl alle wussten, dass er bevorstand. Niemand von der Familie überlebte Auschwitz. Etty Hillesum wurde laut einem Bericht des Roten Kreuzes am 30. November 1943 umgebracht.

Was die junge Frau in den knapp zweieinhalb Jahren – zwischen den ersten Eintragungen vom 9. März 1941 und den letzten vom 21. August 1943 – an Denkleistung zustande brachte, wie sie ihre Erkenntnisprozesse, ihre seelischen und körperlichen Empfindungen, ihre Erfahrungen als eigenverantwortliches Individuum wie als Teil eines entwerteten, zusammengepferchten und dem Tod preisgegebenen Kollektivs schutzloser Menschen selber zu verstehen und in einen tragbaren Einklang zu bringen trachtete, das soll in den kommenden Abschnitten untersucht werden.

Über das Ich und die Anderen, über Angst, Schamgefühl und innere Freiheit

Die nicht-wählbaren Gegebenheiten menschlichen Lebens – die Herkunftsgeschichte, das Geschlecht, die gesellschaftlichen und politischen Zeitgeschehnisse u.a.m. – sind verbunden mit individuell wählbaren Möglichkeiten, damit umzugehen. Was wie eine banale Tatsache klingt, gehört zu den hoch komplexen Umsetzungsprozessen jenes Grundbedürfnisses, das innere Freiheit heisst.

Dieses Grundbedürfnis stösst an vielfache Hindernisse und Bedingungen, die mit der vollständigen existentiellen Abhängigkeit des kleinen Kindes von seinen Eltern sowie von anderen Erwachsenen, die eine hierarchische[162] Position und Funktion innehaben, ihren Anfang nimmt. Die damit verbundene Erfahrung innerfamiliärer oder fremder Macht und eigener Ohnmacht kann von lang anhaltender Prägung sehr unterschiedlicher Art sein: von angstbesetzter Anpassung und Unterwerfung oder von kämpferischem Widerstand, von Selbstschutz durch Rückzug in eine innere, andere Realität, eventuell in eine Phantasiewelt, oder von Ausbruchsversuchen aus dem engen Netz durch wache Aufmerksamkeit, durch Erkundungs- und Erkenntnishunger, durch kritisches Infragestellen öffentlicher Wertekategorien sowie der Zuständigkeit von Macht, durch allmähliches Entdecken und Umsetzen eigener Macht im Empfinden und Denken, im Beurteilen und Tun, trotz der fortbestehenden familiären und gesellschaftlichen, zeitbedingten Bedingungen. Erstaunlich ist, dass dieser innere Prozess der Veränderung von angstbesetzter und schambesetzter Ohnmacht zum selbststärkenden und selbsttragenden Wissen der Eigenverantwortung nicht alters- oder zeitgebunden ist, sondern dann einsetzt, wenn das Ich des Menschen sich dazu bereit erklärt.

Etty Hillesum war sich dieser Entscheidungsfähigkeit bewusst: “Zur Erniedrigung sind zwei Leute notwendig. Einer, der erniedrigt, und einer, den man erniedrigen will, oder vor allem, der sich erniedrigen lässt. Entfällt das letztere, ist also die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann verpuffen die Erniedrigungen in der Luft. Was übrig bleibt, sind nur lästige Verordnungen, die das tägliche Leben beeinflussen, aber keine Erniedrigung oder Unterdrückung darstellen, die die Seele bedrängen.” [163]

Das Wagnis, sich aus engen, ängstigenden und erniedrigenden Umklammerungen zu befreien, geht einher mit dem Gewahrwerden und Umsetzen der dem Menschen innewohnenden Freiheit, dieser Grundpotenz, die dem mit der Geburt – der Gebürtlichkeit, wie Hannah Arendt formuliert – verbundenen Grundbedürfnis zu leben und für das Leben einzustehen gerecht werden kann. Etty Hillesum war die Gefahr bewusst, unter den Zeitbedingungen menschlicher Entwürdigung den eigenen Ich-Wert als ungebührlich zu erachten und in den Sog kollektiver Wehrlosigkeit zu geraten, ob sich diese in Depressivität, in Aggressivität oder in kaltblütiger Berechnung eigener Vorteile und Aussonderungsmöglichkeiten äussere. “Das grosse Leid überall treibt einen dazu, sich zu schämen, dass man sich selbst mit all seinen Stimmungen so ernst nimmt. Aber man muss sich selbst weiterhin ernst nehmen, man muss selbst im Mittelpunkt bleiben und versuchen, mit allem, was in der Welt geschieht, fertig zu werden. Man darf die Augen vor nichts verschliessen, man muss sich mit dieser Zeit auseinandersetzen und versuchen, eine Antwort zu finden auf die vielen Fragen von Leben und Tod, die diese Zeit einem stellt. (…) Ich lebe nur einmal.”[164]

Kindsein von Vater und Mutter

Etty Hillesums Auseinandersetzung mit dem Zwiespalt in ihr als Intellektueller und als Frau, als freier Denkerin, als Gottsucherin und zugleich als Teil der zunehmend rechtlosen und als menschlicher Unwert erklärten jüdischen Bevölkerung legte ihr nahe, ihr Verhältnis zu ihren Eltern zu klären, sowohl Mutter wie Vater besser zu verstehen wie auch die Besonderheit der Brüder, insbesondere jene Mischas, zu akzeptieren. Sie fühlte sich hin- und hergerissen.

Einerseits bedeutete Deventer die Weite von Erde und Himmel, da “waren die Tage sonnige Ebenen, jeder Tag war ein grosses, ungebrochenes Ganzes, es bestand Kontakt zu Gott und zu allen Menschen, vermutlich weil ich kaum Menschen sah”[165], andererseits war da “im Haus das sonderbare Gemisch aus Barbarei und Hochkultur. Das geistige Kapital liegt zum Greifen nahe, aber es liegt ungenutzt und unbewacht da, unordentlich auf einen Haufen geworfen. Es ist deprimierend, tragikomisch, weiss der Himmel, was für ein verrückter Haushalt das ist, hier kann ein Menschen nicht gedeihen”[166], in diesem “Gemisch” gleichzeitig die Küche mit “der lieben Mamynka, die ihre ganze Liebe in Hühnerschenkel und hartgekochte Eier verwandelt”[167].

Die Mischung von Mutterliebe resp. von “Opposition gegen die Mutter”, von Essen  und Essproblemen beschäftigte Etty Hillesum zunehmend. “Mir wird plötzlich klar, dass dieses Essproblem aufschlussreich sein könnte. Es ist letzten Endes nur ein Symbol. Auch in meinem geistigen Leben gibt es vermutlich eine solche Gier. Ich will unmässig viel verschlingen, was dann hin und wieder zu schweren Verdauungsstörungen führt. Irgendwo muss ein Grund dafür vorhanden sein. (…) Mutter redet immer vom Essen, für sie gibt es nichts anderes.”[168]  Die Erinnerung an einen Anlass, bei welchem sie die Mutter beim Essen beobachtete, wie sie “mit Gier und Hingabe” ass, liess sie nicht mehr los, “als hätte sie Angst, im Leben zu kurz zu kommen. Es war etwas erschreckend Klägliches und Abstossendes an ihr. (…) Diese Angst, im Leben zu kurz zu kommen, und wegen dieser Angst kommt man dann erst recht überall zu kurz. Kommt man an das Wesentliche nicht heran.[169]

Einerseits wurde es für Etty Hillesum dringlich, ihre Mutter sowie ihr Verhältnis zur Mutter besser zu verstehen, andererseits ihr eigenes Ich aus der Opposition gegen die Mutter zu lösen. “Ich habe meine Opposition gegen die Mutter noch immer nicht aufgegeben, und deshalb tue ich die Dinge, die ich an ihr verabscheue, in genau derselben Weise wie sie. (…) Dass ich mir mit Wissen und Willen, oder besser gesagt, gegen mein bewsseres Wissen immer wieder den Magen verderbe, dahinter steckt etwas. Damit zusammen hängt auch meine grosse Sehnsucht nach Askese (…): Man kann Lebenshunger haben. Aber mit Lebensgier verfehlt man das Ziel.”[170]  Etwas später hält sie fest: “Ich will nichts Besonderes sein, ich will nur versuchen, zu der zu werden, die in mir nach völliger Entfaltung sucht”.[171]

Die Widersprüchlichkeit der Eltern hatte sie auf widersprüchliche Weise geprägt, und so widersprüchlich empfand sie ihr eigenes Empfinden und Verhalten ihnen gegenüber. Als Mischa ihr den Besuch des Vaters ankündigte, untersuchte sie dieses mit ebenso viel Selbstkritik wie jenes der Mutter gegenüber; denn “es ist etwas sehr Prinzipielles und Wichtiges und Schwieriges, Deine Eltern innerlich zu lieben. Das heisst, ihnen alle Schwierigkeiten zu verzeihen, die sie dir einzig und allein durch ihre Existenz bereitet haben: die Bindungen, die Abscheu, die Beschwernis, die sie durch ihr eigenes kompliziertes Leben deinem gleichfalls recht schwierigen Leben hinzugefügt haben”.[172] (…) “Schliesslich liebe ich ihn (d.h. den Vater) sehr, aber das ist – oder besser war – eine komplizierte Liebe: überspannt, krampfhaft und mit so viel Mitleid vermischt, dass mir das Herz brach. Aber ein Mitleid, das masochistische Züge hatte. (…) Dann wurde mir ein Zusammenhang klar. Mein Vater hat im vorgerückten Alter all seine Unsicherheiten, Zweifel, vermutlich auch einen gehörigen körperlichen Minderwertigkeitskomplex, Eheschwierigkeiten, mit denen er nicht fertig wurde usw. mit seiner philosophischen Einstellung übertüncht, die völlig echt ist, liebenswert, humorvoll und sehr scharfsinnig, aber bei allem Scharfsinn doch sehr vage. (…) Unter der Oberfläche der resignierten Lebensphilosophie gähnt das Chaos. Und es ist dasselbe Chaos, das mich bedroht, aus dem ich heraus muss, dem zu entkommen ich als meine Lebensaufgabe betrachte und in das ich jedes Mal wieder zurückfalle. Und auch die kleinsten Äusserungen meines Vaters, Äusserungen des Verzichtes, des Humors[173] und Zweifels appellieren an etwas in mir, das ich mit ihm gemein habe, aber aus dem ich mich weiter entwickeln muss.”[174]

Etty Hillesum ging es um viel mehr als um das Aufzeigen und Dulden von Differenzen. Schon im Dezember 1941, als sie bei den Eltern zu Besuch weilte, begann sie, Entfernung und Unbehagen zu hinterfragen: “Viele Menschen sind in ihren Vorstellungen zu stark festgelegt, zu fixiert, und legen dadurch bei der Erziehung ihrer Kinder diese auch wieder fest. Deshalb zu wenig Bewegungsfreiheit. Bei uns war es gerade umgekehrt. Anscheinend wurden meine Eltern von der unendlichen Kompliziertheit des Lebens so sehr überwältigt, und zwar in zunehmendem Masse, dass sie nie eine Entscheidung treffen konnten. Ihren Kindern liessen sie grosse Bewegungsfreiheit; sie konnten ihnen aber auch keinen Halt geben, weil sie selber nie einen Halt gefunden hatten; sie konnten nichts zu unserer Formung beitragen, weil sie selbst nie eine Form finden konnten. Und immer wieder und stets deutlicher erkenne ich unsere Aufgabe: ihren armen, herumirrenden, nie zu Form und Ruhe gelangenden Talenten eine Gelegenheit zu bieten, in uns heranzuwachsen, zu reifen und ihre Form zu finden.”[175]

Für die junge Frau bedeutete das allmähliche Erkennen der “Ungeformtheit” ihrer Eltern ein anderes Verhältnis zu ihnen: Abwehr war nicht mehr nötig, geht doch das Verstehen einher mit einer wachsenden Akzeptanz all dessen, was an Mangel erlebt wurde und was zugleich eine Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung zuliess. Diese zu realisieren, hiess für sie “Form finden”. Sie verstand darunter eine Art dialektischen Prozesses, bei welchem aus dem leidvollen Erleben und dem schwierigen Klären – das heisst aus zwei belastenden resp. negativen Erfahrungen – etwas Umfassendes und Einheitliches resultiert, das positiv ist. Ich nehme an, dass es dabei um jene sich ergänzende und nicht hemmende Übereinstimmung von Empfinden und Denken geht, durch welche Verhaltens- und Handlungsentscheide angstfrei werden. “Die Einheit ist nur gut, wenn sie alle Gegensätze und irrationalen Momente in sich einschliesst; sonst wird daraus nur eine Verkrampfung und Fixierung, die dem Leben Gewalt antut.”[176]

Als Einschränkungen und Verbote sich in Holland fast täglich vermehrten – ab Anfang Juni 1942 durften Juden die Gemüseläden nicht mehr betreten, mussten die Fahrräder abliefern, durften die Strassenbahn nicht mehr benutzen, durften auf keine öffentlich Bank sich setzen, durften durch keine Pärke, Gärten oder Wälder mehr spazieren, bald nur noch in wenigen Strassen sich bewegen, mussten abends nach acht Uhr zu Hause sein und vieles mehr -, da wuchs in Etty Hillesum eine noch grössere Achtsamkeit auf Werte, die nicht von Aussen gemindert werden konnten. Die Beziehung zu ihrem eigenen Ich gehörte dazu. “Während ich ging,  hatte ich plötzlich das Gefühl, als sei ich nicht allein, sondern ‘zu zweit’. Ich war allein, und doch war mir, als bestünde ich aus zwei Personen, die sich innig aneinander schmiegten und sich wohltuend wärmten. Sehr enger Kontakt mit mir selbst und dadurch grosse Wärme in mir. Und völliges Selbstgenügen. Dabei unterhielt ich mich angeregt mit mir selbst und spazierte vergnügt die Amstel-Allee entlang, ganz in mich versunken. Und mit einer gewissen Genugtuung stellte ich fest, dass ich allein mit mir selbst in guter Gesellschaft bin und gut mit mir auskomme. Auch am nächsten Tag blieb das Gefühl bestehen.” [177]

Zu den Werten, die nicht durch Gesetze oder fremde Machtwillkür bestimmt werden können, gehörte auch die Beziehung zu nahe stehenden Menschen. Am 27. Juni 1942, als Etty Hillesum ihren Bruder Mischa nach seinem Klavierspiel in Amsterdam noch ein wenig begleitete, da sei sie vom Gefühl eines rasch nahenden Abschieds übermannt worden. “Vielleicht haben wir überhaupt keine Zukunft mehr“, habe sie zu ihm gesagt. Er habe geantwortet, dass dies zutreffe, “wenn man den Begriff Zukunft im materialistischen Sinn auffasse, ja dann…”.[178]

Es war nicht mehr nur eine Ahnung, sondern ein Wissen, dass, wie Etty Hillsum drei Tage später festhielt, “alle Juden aus Holland deportiert werden sollen, über Drenthe[179] nach Polen. Der englische Sender berichtete, dass seit dem vergangenen Jahr 700’000 in Deutschland und in den besetzten Gebieten umgekommen sind.[180]

Es war aus dem Heideland von Drenthe, aus Westerbork selbst, dass am 10. Juli 1943 ein Brief Etty Hillesums an Maria gelangte, eine Freundin und Mitbewohnerin des schmalen Wohnhauses in Amsterdam: “Zehntausende sind von diesem Ort fortgegangen, bekleidet und unbekleidet, Alte und Junge, Kranke und Gesunde (…). Mutter und Mischa wollen noch etwas tun, sie wollen die ganze Welt auf den Kopf stellen, und ich bin vollkommen machtlos dagegen. (…) Barneveld ist für Vater und Mutter abgelehnt worden, gestern haben wir es erfahren. Und es wurde hinzugefügt, dass sie sich für den Transport am Dienstag bereit halten sollen. (…) Vater gibt sich nach aussen sehr gelassen. Aber hier in der grossen Baracke wäre er schon nach wenigen Tagen draufgegangen, wenn es mir nicht gelungen wäre, ihn ins Krankenhaus zu stecken, wo das Leben auch zunehmend unerträglicher für ihn wurde. (…) Als ich zu ihm kam, stand er kerzengerade, mit ruhigem Gesicht vor mir, der Rucksack stand gepackt neben seinem Bett, über die Abreise wurde nicht weiter gesprochen, er las mir verschiedene Texte vor, die er geschrieben hatte, wir philosophierten noch ein wenig. (…) Gegen mein Schicksal fühle ich mich gewachsen, gegen das meiner Eltern nicht. Das ist der letzte Brief, den ich vorläufig schreiben darf.[181]

Körper und Seele – Frausein und Liebe

Zukunft “im materialistischen Sinn”, die gemäss Mischa ihm und seiner Schwester und vielen weiteren Menschen nicht mehr zustehen sollte, schliesst den Körper ein, diese  tragende und pulsierende Materie”des Lebens, das geheimnisvolle Hauthaus, in welchem die geistige Kraft – die Seele – ihren Platz hat. Etty Hillesum’s jungem Körper, dessen Bedürfnisse ungestüm nach Erfüllung drängten, sollte Zukunft nicht zustehen? Wie ging sie mit dieser doppelten Realität und deren auseinanderklaffenden Nichtübereinstimmung um?

Einen Monat, bevor Etty Hillesum mit ihren Aufzeichnungen begann, war sie Julius Spier (geb. 25. April 1887, d.h. doppelt so alt wie sie) begegnet, einem jüdischen Flüchtling aus Berlin, den sie zuerst als übergriffig und übermächtig empfand und den sie abzuwehren versuchte, der sie mit fast magischer Kraft anzog, der sie aufwühlte, den sie zunehmend verehrte und während einiger Zeit auch selber begehrte. “S” oder “Jul”, wie sie ihn nannte, war zuerst Bankdirektor gewesen, entdeckte dann seine Fähigkeit, aus der Hand der Menschen deren Leben und Lebensprobleme zu entschlüsseln und begann, Gesangunterricht zu nehmen, bei C.G. Jung in Zürich eine Lehranalyse zu machen und als “Pychochirologe”[182] zu wirken. Von seiner nicht-jüdischen Frau liess er sich 1935 scheiden, und seine zwei Kinder – Ruth und Wolfgang – blieben bei ihr zurück, als er 1939 nach Amsterdam emigrierte. Wo er auftrat, bildete sich eine Anhängerschaft um ihn, insbesondere von Frauen, die von ihm fasziniert waren. Etty Hillesum wird – ein wenig spöttisch und zugleich gelassen –  von seinem “Haarem” sprechen; sie erachtete ihn als ihren “Lehrmeister”, bezeichnete sich selber als seine “russische Sekretärin”, was sie für ihn empfand als jene innere Kraft und Bindung/Verbindung mit dem Namen “Liebe”, die sie als merkwürdig widersprüchlich empfand, als belastend, aufwühlend und sie beherrschend, wogegen sie sich immer wieder wehrte, doch auch als beflügelnd und tragend, als wahr – letztlich als grossen Widerspruch in ihr, den sie ebenso zu verstehen und zu lösen versuchte wie jenen der Elternliebe, gerade weil es ein ganz anderer Widerspruch war. Er betraf  ihren weiblichen Körper, die drängende Unruhe des körperlichen Begehrens, die sie spürte, und gleichzeitig den Widerstand gegen den viel älteren Mann, der das Begehren weckte und dessen Nähe bis zum Verschmelzen sie eigentlich nur im Geistigen, ja im Transzendenten wünschte. Es war dieser Teil der Bindung, der nach kurzer Zeit der tragende wurde. Ein tiefes Empfinden der Gottnähe wuchs in ihr an, der gemeinsamen wie der persönlichen, das ausserhalb jüdischer oder christlicher Religionsbedingungen allein den Namen “Gott” trug und für sie zur grossen, tragenden Kraft wurde, auch über den Tod von Julius Spier hinaus, der  – “nur noch ein kindischer, ausgezehrter Greis”[183]  –

am 15. September 1942 in Amsterdam, in seinem eigenen Bett “ein natürliches Ende” finden durfte. Eine kleine Auswahl aus den Eintragungen macht deutlich, was für Etty Hillesum diese letzte Erfahrung zuerst heftiger und aufwühlender, dann vielfach sich vertiefender, menschlicher und geistiger Liebe bedeutete:

“Ich habe manchmal ein Gefühl, als sässe ich in einem höllischen Fegefeuer und würde zu etwas geschmiedet. Zu was? Das ist wiederum etwas Passives, ich muss es mit mir geschehen lassen. Aber dann auch immer wieder das Gefühl, als müssten alle Probleme dieser Zeit im Besonderen und der Menschheit im Allgemeinen ausgerechnet in meinem kleinen Kopf ausgetragen werden. Das ist etwas Aktives. (…) Es ist möglich, dass ich mich zu ‘wichtig nehme’, aber ich möchte auch, dass andere mich ‘wichtig nehmen’. S. zum Beispiel. Ich möchte dass er weiss, wie sehr ich leide, aber gleichzeitig verheimliche ich es vor ihm. Sollte das etwas mit der Oppositiion zu tun haben, die ich so gegen ihn verspüre?[184]

“Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der über so viel Liebe, Kraft und unerschüttertes Selbstvertrauen verfügte wie S. An jenem gewissen Freitagabend sagte er ungefähr: ‘Wenn ich meine ganze Liebe und Kraft auf einen Menschen los liesse, würde ich ihn zugrunde richten.’ Und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich unter ihm verschüttet werde. Ich weiss nicht. Manchmal meine ich, ich müsste bis ans andere Ende der Welt laufen, um ihn loszuwerden, und weiss doch gleichzeitig, dass ich hier an diesem Ort bei ihm und mit ihm klarkommen muss.[185]

“Ja, wir Frauen, wir törichten, idiotischen, unlogischen Frauen, wir suchen das Paradies und das Absolute. Und doch weiss mein Verstand, mein vortrefflich funktionierender Verstand, dass es nichts Absolutes gibt (…) Wir Frauen wollen uns im Mann verewigen. Das heisst, ich will, dass er mir sagt: Liebste, du bist die Einzige und ich werde dich ewig lieben. Das ist eine Fiktion. Aber solange er es nicht sagt, hat alles andere keinen Sinn (…). Und das ist das Verrückte: ich will ihn ja gar nicht, ich will ihn keineswegs als den Einzigen für immer und ewig, fordere es aber von ihm. (…) Ich würde mir ja keinen Rat wissen, wenn jemand ständig Feuer und Flamme für mich wäre. Es würde mich belasten und langweilen und mir das Gefühl der Unfreiheit geben. O Etty, Etty.”[186]

Einige Tage später: “Ich bin kein Weibchentier mehr, und das gibt mir manchmal ein Gefühl der Minderwertigkeit. Das Urkörperliche wird bei mir auf vielfache Weise durch einen Vergeistigungsprozess durchbrochen und abgeschwächt. Und manchmal scheint mir, als würde ich mich gerade dieser Vergeistigung wegen schämen“.[187]

Es wurde Ende Juli 1942, als Etty Hillesum schrieb: “Der Ring unseres Verhältnisses hat sich geschlossen., ganz einfach und selbstverständlich. Als hätte mich nachts nie etwas anderes zugedeckt als diese geblümte Decke“.[188] Nähe, Eigenleben und Trennung widersprachen sich nicht mehr. “Wir haben genügend Zeit gehabt, um uns auf die katastrophalen Ereignisse dieser Tage vorzubereiten, volle zwei Jahre. Und gerade dieses letzte Jahr ist das entscheidende, das schönste Jahr meines Lebens geworden. Ich weiss mit Sicherheit, dass es eine Kontinuität geben wird zwischen diesem Leben und dem Leben, das nun kommen wird. Denn dieses Leben spielt sich in den inneren Bereichen ab, das äussere Dekor wird immer belangloser.[189]

“Man sitzt am Boden in einer Zimmerecke bei dem geliebten Mann und stopft Strümpfe, und zugleich sitzt man am Ufer eines gewaltigen, grossen Gewässers, das so kristallklar und durchsichtig ist, dass man bis auf den Grund schauen kann. So etwa ist das Lebensgefühl in einem bestimmten Augenblick, der unvergesslich ist.[190]

Mit dieser Aufzeichnung vom 29. Juli 1942 ging Etty Hillesums Zeit in Amsterdam dem Ende zu. Sie bekam den “weissen Aufruf”, sich in Westerbork melden zu müssen. Körperlich sehr geschwächt, mit Fieber und dem Gefühl, krank zu sein, bekam sie Anfang September die Erlaubnis, nochmals für kurze Zeit nach Amsterdam zurückzukehren. Ein letztes Mal suchte sie die zwei kleinen Zimmer an der Courbetstraat 27 auf, wo sie die erste Begegnung mit S. und die weitere Entwicklung der Beziehung erlebt hatte. Nun erlebte sie dessen Sterben und Tod, gelassen und zugleich ergriffen, gemeinsam mit Tide (Henny Tidemann), einer ihr nahestehenden Freundin, die ebenfalls im Bann von Julius Spier gestanden hatte und an wen sie – fast ein Jahr später, am 18. August 1943 – einen ihrer letzten Brief aus Westerbork schrieb:  “Tideke, (…) ich bin sehr müde, schon seit einigen Tagen, aber auch das wird wieder vorübergehen, alles verläuft nach einem eigenen, tieferen Rhythmus (…), auf diesen Rhythmus zu horchen, ist das Wichtigste, was ein Mensch in diesem Leben zu lernen hat. (…) Der Wellenschlag meines Herzens ist hier breiter und zugleich bewegter und ruhiger geworden, und mir ist, als würde mein innerer Reichtum noch grösser.  –  Auf unerklärliche Weise schwebt Jul in letzter Zeit über der Heide, er führt mich weiter von Tag zu Tag. Es gibt doch Wunder in einem Menschenleben, mein Leben ist eine Verkettung innerer Wunder, gut, das wieder einmal jemandem sagen zu können.[191]

Das denkende Herz

Die stärksten Bemühungen Etty Hillesums richteten sich darauf aus, keiner Umklammerung anheim zu fallen, durch welche ihre innere Freiheit – das denkende Herz – beeinträchtigt würde. Dazu gehörten Empfindungen, die sie als Folge unverarbeiteter Erfahrungen bei zahllosen Menschen als deren das Denken erstickende, innere Gewalt erkannte: Todesangst, Rachegfühle und Hass.

“Was ist das im Menschen, das die anderen vernichten will?” hatte Jan Bool, ein Studienfreund, sie am 19. Februar 1942 gefragt, als bekannt wurde, dass ein Freund von ihen zu Tode gefoltert worden war und dass eine grosse Anzahl der alten Professoren von Amsterdam als Gefangene in einer zugigen Baracke auf erbärmliche Weise eingekerkert waren. “Ich sehe keine andere Lösung, ich sehe wirklich keine andere Lösung, als sich dem eigenen Innern zuzuwenden und dort all das Schlechte auszurotten. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir an der äusseren Welt etwas verbessern können, solange iwr uns nicht selbst im Inneren gebessert haben. Das scheint mir die einzige Lehre dieses Krieges zu sein. Dass wir gelernt haben, das Übel nur in uns selbst zu suchen und nirgendwo anders.”

Jan Bool, selber krank vor Kälte und mangelnder Ernährung, habe ihr zugestimmt.

“Es ist so schäbig, sich seinen Rachegefühlen zu überlassen. Sein Leben nur auf den einen Augenblick der Rache auszurichten. Das nützt uns doch gar nichts.”[192]

Als Etty Hillesum am 27. Februar 1943, d.h. Ende des gleichen Monats, am frühen Morgen in einer grosse Gruppe Menschen im Lokal der Gestapo stehen und warten musste, wurde ihr mit grosser Klarheit bewusst, dass es an ihr lag, ob sie Angst hatte und Angst spüren liess oder nicht. “Wir waren alle im selben Raum, die Männer hinter dem Pult ebenso wie die Befragten. Aber das Leben eines jeden war durch die Art bestimmt, wie er sich innerlich dazu stellte. Am meisten fiel ein hin- und herlaufender junger Mann mit unzufriedenem Gesicht auf, er verbarg seine Unzufriedenheit keineswegs und wirkte aufgeregt und gequält. Er suchte nach Vorwänden, um die unglücklichen Juden anzuschreien. (…) Ich fand ihn bedauernswerter als die Angeschrienen, und diese nur insofern bedauernswert, als sie Angst hatten.[193]

Etty Hillesum spürte in sich keine Notwendigkeit, Angst zu haben. “Nicht weil ich besonders tapfer wäre, sondern in dem Gefühl, dass ich es immer mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen will, jede Äusserung zu verstehen, von wem sie auch sei, sofern mir das möglich ist.”[194]  Ihr wurde mit zunehmender Klarheit bewusst, dass Angst den Menschen zum Objekt anderer Menschen werden lässt, die dessen Angst benutzen, um sich selber mächtiger zu fühlen und so ihre eigenen Ängste zu unterdrücken. Der junge Uniformierte im Büro der Gestapo in Amsterdam wurde für sie zum Beispiel für viele, die auf Grund eigener Mängel, eigener Ängste und Hassgefühle Teil eines menschenverachtenden und menschenvernichtenden Systems wurde.

“Beängstigend ist (…), dass die Systeme über die Menschen hinauswachsen und sie in ihren satanischen Griff bekommen, und zwar die Erfinder und die Opfer der Systeme gleichermassen, wie grosse Gebäude und Türme, von Menschenhand gebaut, uns überragen und beherrschen, aber auch über uns zusammenstürzen und uns begraben können.[195]

Es war für Etty Hillesum eine stete, schwierige Aufgabe, mit sich selber in Übereinstimmung zu sein. Sie gab sich aufs sorgfältigste Rechenschaft. Einerseits war am Morgen bei der Gestapo

“die überaus starke Empfindung, dass ich trotz allen Leides und Unrechts, das überall geschieht, die Menschen nicht hassen kann, und dass all das entsetzliche und grauenvolle Geschehen nicht etwas geheimnisvoll Fernes und Drohendes von aussen ist, sondern uns sehr nahe steht und aus den Menschen hervorgeht.”[196]  Doch ebenso spürte sie rings um sich “diese Todesangst auf den Gesichtern. Alle diese Gesichter, mein Gott, diese Gesichter[197].

Es kam vor, dass sie selber der Verzweiflung nicht zu entkommen vermochte, dass sie dies auch festhielt und dabei eine Art selbsterzieherischer Kontrolle ausübte: “Heute Mittag (…) da war alles in mir wie ausgelöscht vor Verzweiflung; ich erkannte die Zusammenhänge nicht mehr, und dazu der überwältignde Kummer. Und danach wieder tausend kleine Sorgen, Fussschmerzen nach einem halbstündigen Gang und so starke Kopfschmerzen, dass sie mir den Schädel fast zersprengten und so weiter. Nun ist wieder alles vorbei. Ich weiss, dass ich noch oft kaputt und zerschlagen auf Gottes Erde liegen werde. Aber ich glaube, dass ich sehr zäh bin und immer wieder aufstehen werde. Obwohl sich heute Mittag ein Prozess der Abhärtung und Abstumpfung in mir abspielte, der mich ahnen liess, was extreme Umstände über Jahre hinweg aus einem machen können. (…) Doch ich gehe einen Weg, auf den ich geführt werde. Immer wieder gelange ich zu dieser Erkenntnis, und dann weiss ich besser denn je, was ich tun soll. Nicht, wie ich handeln soll, sondern dass ich es bei der jeweiligen Gelegenheit wissen werde.[198]

Etwa drei Monate später, am 27. Juli 1942, erschien ihr wichtig, sich dieser inneren Gewissheit noch stärker bewusst zu werden: “Ich glaube, dass irgendwo eine Art Regulator in mir vorhanden ist. Ich werde jedes Mal gewarnt, wenn ich durch eine Verstimmung auf einen falschen Weg geraten bin. Und wenn ich ehrlich und offen bleibe und den guten Willen nicht aufgebe, wirklich diejenige zu werden, die ich sein sollte, und das zu tun, was mir mein Gewissen in dieser Zeit vorschreibt, dann kommt alles wieder in Ordnung. Ich glaube, dass das Leben sehr grosse Anforderungen an mich stellt und viele Pläne mit mir vorhat, aber ich muss auf die innere Stimme horchen und ihr Folge leiste, ich muss offen und ehrlich bleiben, und darf auch meine Gefühle nicht versiegen lassen.[199]

Etty Hillesums Aufzeichnungen sind für sie selber oft wie ein moralisches Geländer, mit welchem sie sich einen Halt gibt. Sie ist sich jedoch bewusst, wie widerspenstig, wie verbraucht oder wie  trügerisch die Sprache sein kann. In ihrem Bestreben, “offen und ehrlich” zu sein, befasst sie sich immer wieder damit: “Ich schreibe jetzt nicht gern, es ist als verblassten und alterten die Wörter augenblicklich unter meinen Händen und verlangten nach neuen Wörtern, die  noch längst nicht geboren sind.[200] Sprache und Angst unterstanden für sie einer Art vergleichendem Massstab. “Ich will nur Wörter schreiben, die sich organisch in ein grosses Schweigen fügen, und nicht Wörter, die nur dazu bestimmt sind, das Schweigen zu übertönen und zu zerstören”[201], hielt sie Ende Mai 1942 fest, doch was sie als ihren Willen empfand, war nicht dasselbe wie das, was sie vom Unbewussten her spürte. Es war “die Angst, die Unsicherheit, die Prüfung nicht zu bestehen.”[202]

Etty Hillesum wusste, dass das Unbewusste, das sich in der Angst äussert, nur gebändigt werden kann, wenn es in seinen Ursachen durchschaubar wird. So war ihr zumute, als sie nach dem Tod von S., bevor sie wieder nach Westerbork zurückkehren musste, nochmals an ihrem Schreibtisch sass und ihren Lebensprozess zu verstehen versuchte. “Man muss mit sich selbst leben, als lebte man mit einem ganzen Volk von Menschen. Und an sich selbst lernt man dann alle guten und bösen Eigenschaften der Menschen kennen. Man muss zuerst sich selbst die eigenen schlechten Eigenschaften vergeben, wenn man den anderen vergeben will. Das ist wohl das Schwierigste, was ein Mensch lernen muss (…): sich selbst seine Fehler und Irrtümer zu verzeihen.”[203]

Was Etty Hillesum als Aufgabe sich selbst gegenüber festhielt, ermöglichte ihr zunehmend, auch das Unaussprechbare anderer Menschen zu verstehen. “Ich habe früher einmal in eines meiner Tagebücher geschrieben: Ich möchte mit meinen Fingerspitzen die Konturen dieser Zeit abtasten. Ich sass damals an meinem Schreibtisch und wusste nicht so recht, wie ich an das Leben herankommen könnte. Der Grund dafür war, dass ich noch nicht zum Leben in mir selbst gekommen war. Zum Leben in mir bin ich gelangt, noch während ich an diesem Schreibtisch sass. Und dann wurde ich plötzlich in einen Brennpunkt menschlichen Lebens geschleudert, an eine der vielen kleinen Fronten, die es überall in Europa gibt. Und dort erlebte ich plötzlich dies: Aus den Gesichtern der Menschen, aus Tausenden Gesten, kleinen Äusserungen und Lebensgschichten begann ich diese Zeit – und noch viel mehr als diese Zeit – herauszulesen. Weil ich in mir selbst lesen gelernt hatte, bemerkte ich, dass ich auch in den anderen lesen konnte. (…) Dort, in den Baracken voll aufgeregter und verfolgter Menschen habe ich die Bestätigung für meine Liebe zum Leben gefunden. Das Leben in jenen zugigen Baracken stand keineswegs im Gegensatz zum Leben in diesem geschützten, ruhigen Zimmer. Ich war keinen Augenblick lang vom Leben abgeschnitten, das angeblich vorbei ist, es bestand eine grosse, sinnvolle Kontinuität. Wie soll ich das alles irgendwann beschreiben? (…) Eines weiss nun schon bestimmt: ich werde es nie so niederschreiben können, wie es das Leben selbst mit lebendigen Lettern vor mir hingeschrieben hat. Ich habe alles mit meinen eigenen Augen gelesen und mit meinen Sinnesorganen wahrgenommen. Ich werde es nie so niederschreiben können. Das könnte mich zur Verzweiflung bringen, wenn ich nicht gelernt hätte, dass man auch mit den unzulänglichen Kräften, die man besitzt, ans Werk gehen und mit ihnen arbeiten muss.[204]

Es ging ein knappes Jahr vorüber, in welchem Etty Hillesum das Leben noch zugestanden blieb, dann nicht länger. “Nachdem die Leitung des Jüdischen Rates erklärt hatte, nichts für sie tun zu können, wurde als letzte Chance ein Brief an den 1. Dienstleiter geschrieben mit dem Ersuchen, in ihrem Fall zu intervenieren”[205] – jedoch vergebens. “Ich sehe Mutter und Vater H. und Misch in den Waggon Nr. 1 einsteigen. Etty kommt in den Waggon Nr. 12, nachdem sie eine gute Bekannte in Waggon nr. 14 besucht hatte, die zuletzt noch herausgolt wurde. Da fährt der Zug an, ein schriller Pfiff und die 1000 ‘Transportfähigen’ setzen sich in Bewegung. Noch ein Blick auf Mischa, der  aus einem Spalt des Güterwaggons Nr. 1 winkt und dann bei Nr. 12 ein fröhliches ‘Taaag’ von Etty, und fort sind sie. – Fort ist sie. Da stehen wir, beraubt, aber nicht mit leeren Händen. Wir werden einander bald wiederfinden (…) Denn eine Freundschaft wie die ihre kann nicht verloren gehen, sie ist und bleibt bestehen.[206]

Tatsächlich bleibt die Kraft des denkenden Herzens, die den Tod überdauert.

“Jedes Wesen schreit im stillen, um anders gelesen zu werden”[207] hielt Simone Weil im Frühling 1941, zwei Jahre vor ihrem Tod, in ihrem Notizheft fest. Sie schrieb weiter, in jedem Menschen sei ” etwas anderes, vielleicht etwas ganz anderes, als was man in ihm liest”.[208]

Simone Weil (3.2.1909-24.8.1943)

Der Notiz vorangestellt ist der Begriff “Gerechtigkeit”. Ob Simone Weil mit “Gerechtigkeit” das moralische Gebot im zwischenmenschlichen Verhalten meinte, das sie sich in all ihren Lebenszusammenhängen auferlegt hatte, oder ob sie damit der in ihr nagenden Sehnsucht Ausdruck gab, selber “Gerechtigkeit” zu erleben und “anders gelesen zu werden”, liess sie offen. “Gerechtigkeit” war eine klare Linie, die als Massstab moralischer Pflicht ihr politisches und soziales Handeln immer beeinflusst hatte Es kann angenommen werden, dass ihr in diesem Zeitpunkt  – sie war damals 32 Jahre alt – die Beziehung zu ihr selbst und damit der tiefe Wunsch, so “gelesen” resp. gedeutet und verstanden zu werden, wie sie tatsächlich war, als “die andere, die ganz andere” und nicht als diejenige, als die sie “gelesen wurde” als ihr eigener “Schrei im stillen” bewusst wurde. Was sie zusätzlich notierte, war allerdings eine Art Bedingungserklärung für die Erfüllung dieser Sehnsucht: es sei “ein Fehler”, schrieb sie weiter, “verstanden werden zu wollen, bevor man sich selbst mit seinen eigenen Augen klar gesehen hat“. War es ihr möglich, sich selber “mit eigenen Augen” zu sehen?

Subjektsein und Objektsein

Mit dieser Frage verbinden sich weitere Fragen. Worin besteht die unterschiedliche Bedeutung zwischen “sich selber sehen” und “in jedem Wesen das andere, ganz andere lesen”? Geht es bei den beiden Aussagen Simone Weils um die als Mangel erlebten Werte der Identität? – einerseits um den Ich- und Selbstwert in der Beziehung zu ihr selbst in ihrem Subjektsein, andererseits um die Tatsache der Ausgesetztheit und Ohnmacht in der Erfahrung des Objektseins?

Ich nehme an, dass für Simone Weil die Verbindung zwischen der Forderung nach “Gerechtigkeit” und der Sehnsucht nach Klarheit im Wissen um das eigene “Andere” in der Gleichzeitigkeit von Subjektsein und Objektsein besteht. In intellektueller Hinsicht wusste sie um diese Tatsache; sie wusste, dass hierin die Bedingung für die Erfüllung der beiden geheimen menschlichen Bedürfnisse liegt, die eigene Besonderheit selber zu verstehen sowie in dieser Besonderheit verstanden zu werden. Wie aber erklärt sich die Tragik von Simone Weils Lebensentwicklung, der in intellektueller Hinsicht die Klarheit der Erkenntnis nicht verschlossen blieb? Warum war diese für sie selber nicht umsetzbar?

Es stellen sich zahlreiche Fragen; sie können nicht von Simone Weil selber beantwortet werden. Als sie die Überlegungen, von denen ich ausgehe, notierte, war sie in einer Situation von grösster Bedrängnis. Sie befand sich mit ihren Eltern als Flüchtling in der unbesetzten Zone in Frankreich, in Marseille, gehörte als Jüdin zu einem Kollektiv von Hundertausenden von Menschen, deren Überleben davon abhing, ob eine weitere Flucht gelingen würde. Jüdischen Menschen – und sie war eine unter ihnen – war auch von der Vichy-Regierung jeder persönliche Lebenswert als Subjekt in einer kollektiven Objektentwertung abgesprochen worden. Es war eine Erfahrung nagenden Wartens in der Ausgesetztheit von Deportation und Tod oder von Emigration und Überleben, die seit dem Exodus aus Paris nach dem Einmarsch von Hitlers Armee am 15. Juni 1940 schon Monate dauerte, ohne Kenntnis wie lange sie weiter dauern würde.

Als am 14. Mai 1942 für Simone Weil sowie für Bernard und Selma Weil, ihre Eltern, endlich die Ausreise aus Frankreich möglich wurde, befand sie sich in einem Zustand körperlicher Erschöpfung. Auf einem überfüllten Schiff erreichten sie Casablanca, wurden dort während beinah drei Wochen in einem der Flüchtlingslager einquartiert, wo Simone Weil mit Denken und Schreiben nicht absetzte. Am 6. Juli 1942 erreichten sie die USA, wo die Eltern Weil während der Kriegszeit blieben.

Simone Weil aber schiffte sich im November des gleichen Jahres für die Rückreise nach Europa ein und gelangte Mitte Dezember nach London. Verzweifelt hoffte sie, im Rahmen der französischen Exilregierung eine Aufgabe zugeteilt zu bekommen – als Französin, als französische Denkerin, als Syndikalistin und Kämpferin. Nur als Jüdin “gelesen” zu werden und als Teil des europäischen Judentums für überflüssig und rechtlos erklärt zu sein, war für sie eine Un-“Gerechtigkeit”, die mit ihrem Subjektsein nicht übereinstimmte. Gleichzeitig spürte sie, dass es sinnlos war zu fordern, “anders gelesen zu werden”, ohne zur wirklichen  Klarheit mit sich zu gelangen. Doch wie? War es Simone Weil überhaupt möglich, die Widersprüche in ihren Identitätsempfindungen zu klären?

“Lesen” und “gelesen werden” – Freiheit und Abhängigkeit

Auf die Fragen eingehen heisst, sich mit der Nicht-Übereinstimmung zwischen emotionalen und intellektuellen Teilen in Simone Weils Identität befassen. Die Nicht-Übereinstimmung hat ihre ganze Entwicklung und ihr ganzes Werk beeinflusst. In diesem Zusammenhang ausschliesslich auf “La pesanteur et la grâce”[209] (“Schwerkraft und Gnade”) einzugehen, der in der Öffentlichkeit am meisten Beachtung findet, ist ungenügend. Die aphorismenähnlichen Aussagen, die im kleinen Band vorliegen, wurden kurz nach dem Krieg durch den Laientheologen Gustave Thibon aus den “Cahiers” ausgewählt und herausgegeben. Es sind Gedanken über das Unglück, über die Leere, über Notwendigkeit, Entwurzelung und Einwurzelung, über Ent-Schöpfung, über die Gottesliebe, auch ablehnende und zum Teil hassbesetzte Aussagen über das jüdische Volk und das Judentum.

Als ich diese Aufzeichnungen das erste Mal las, war ich selber am Anfang des Philosophiestudiums sowie in eigenen religiösen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Viele davon erschienen mir blasphemisch. Zugleich liess mir das Geheimnis des anderen Genies, das ich in dieser Denkerin entdeckte, keine Ruhe mehr. Doch erst als mir ihre vollständigen “Cahiers“ und ihre zahlreichen Essays, ihre Gedichte, Briefe, die “Fabriktagebücher” und Übersetzungen vorlagen, auch das von Albert Camus herausgegebene letzte Werk “L’enracinement” und ihre letzten Aufzeichnungen aus Casablanca, aus New York und aus London, erst als ich ihr Werk[210] in der Komplexität ihres Denkens und Leidens “lesen” konnte, wurde mir klar, mit welch einseitigem Blick die Aufzeichnungen in “La pesanteur et la grâce” ausgewählt und geordnet worden waren. Eine der Folgen dieser Veröffentlichung war, dass Simone Weil während langer Zeit von christlichen Kreisen vereinnahmt und beinah zur – quasi heiligen – Märtyrerin und Mystikerin erklärt wurde.

Es mag in der Tragik der aufwühlenden Widersprüchlichkeit liegen, dass während mehr als vierzig Jahren Simone Weil mich nicht losliess, in philosophischer wie in psychoanalytischer Hinsicht. Mein erstes Untersuchungsresultat  – “Eine Logik des Absurden”[211] – veröffentlichte ich als meine Dissertation, als ich 43 Jahre alt war; die zahlreichen späteren Untersuchungsbeiträge, die zum Teil publiziert wurden, zum Teil Gegenstand von Vorlesungen und Seminarien waren und unpubliziert blieben, erachtete ich immer als Beiträge des Verstehens resp. des “anders Lesens” –  eine Arbeit, die hier fortgesetzt wird.

Dichte der Widersprüchlichkeit

Quälend und letztlich erschöpfend war für Simone Weils “denkendes Herz” die Widersprüchlichkeit in allen Belangen, die mit ihrem massgeblichen Bedürfnis nach Gerechtigkeit und nach Klarheit einhergingen:

– im Denken resp. in intellektueller Hinsicht durch den Einfluss der in Frankreich massgeblichen kartesianischen, spinozanischen und kantischen Philosophie im Streben nach rationaler Erkenntnis von Wahrheit, gleichzeitig durch jenen der sokratischen und existenzphilosophischen Skepsis jeder theoretischen Wahrheitserklärung gegenüber, vor allem im Bereich der politischen und sozialethischen Theorien und deren tatsächlichen Umsetzung;

– im Empfinden resp. in emotionaler, psychischer Hinsicht durch die Nicht-Akzeptanz ihrer selbst als Frau sowohl im Zusammenhang von Körperlichkeit und Liebe wie im Streben nach höchster Klarheit des Denkens und Erkennens, sodann durch die Nicht-Akzeptanz ihrer selbst als Jüdin und damit ihrer religiösen Zugehörigkeit, verstärkt durch die antisemitische Zeitgeschichte und gleichzeitig durch den nicht stillbaren Hunger nach zeitloser, transzendenter Gottesnähe;

– im gelebten Leben resp. in existentieller Hinsicht durch die moralische Verpflichtung des persönlichen Umsetzens von Gerechtigkeit, einerseits als Philosophin, andererseits als kritische und parteiunabhängige Sozialistin sowie als kämpferische Anarchistin und Französin – all dies mit der zunehmenden körperlichen und psychischen Erschöpfung durch die Nicht-Erfüllbarkeit ihrer Zielsetzungen, letztlich durch die lähmende Verzweiflung im Verhältnis von Denken und Empfinden zu ihrem eigenen Lebenswert.

Von massgeblichem Einfluss auf den verschlüsselten Fächer der Kontingenz waren Herkunft und Zeitgeschehnisse, deren Klärung sich mit der Lebensgeschichte wie mit der Entstehungsgeschichte des Werks von Simone Weil verknüpft. Diese voneinander zu trennen wäre in analytischer wie in philosophischer Hinsicht problematisch. Die Kontingenz besteht in der wechselseitigen Verstrickung der in der Lebenszeit nicht lösbaren Widersprüchlichkeit, aus welcher das Werk entstanden ist, das über den frühen Tod hinaus zugleich Anstoss und Ansporn auslöst. Worauf gründet diese überzeugende Kraft, auf welche ich schon in der Einleitung verwies?

Elternort – Besonderheit und Geborgenheit

Von klärender Bedeutung ist es, auf einen Teil der Kindheits- und Jugendgeschichte Simone Weils näher einzugehen, nachdem Teile der späteren Lebensphase knapp erwähnt wurden. (Die genauesten Angaben finden sich in der ausführlichen Biographie, welche von der Simone Weils Studienkollegin Simone Pétrement verfasst wurde). [212]

Als zweites Kind ihrer Eltern kam Simone Adolphine Weil am 3. Februar 1909 gegen Ende des achten Schwangerschaftsmonates in Paris zur Welt. Ihr Vater Bernard Weil war Arzt, zur Zeit der Geburt von Simone 37 Jahre alt. Er war in Strasbourg geboren, stammte aus einer Familie, die seit langer Zeit im Elsass ansässig war. Bernard Weil soll sich als Agnostiker und Anarchist bezeichnet haben, dies wenigstens in jungen Jahren; gleichzeitig war er ein hilfsbereiter Mensch, vor allem Armen gegenüber in seiner Tätigkeit als Arzt. Er soll unter starken Migränen gelitten haben. Ob die Kopfschmerzen, die Simone Weil von der Zeit des Studienabschlusses an bis zum Tod gequält haben, sich durch Vererbung erklären lassen, bleibt offen; in den Gesichtszügen glich sie ihrem Vater auf erstaunliche Weise.

Simone Weils Mutter, Selma Reinherz, war in Rostov am Don zur Welt gekommen. Ihr Vater Adolphe Reinherz (zu dessen Erinnerung Simone Weils zweiter Name Adolphine gewählt wurde, da er bei ihrer Geburt nicht mehr lebte) stammte aus Galizien, und ihre Mutter Hermine Sternberg aus Wien. Infolge der in Russland einsetzenden Pogrome gelangte Adolphe Reinherz 1882 mit seiner Familie nach Antwerpen, wo er bald wieder Wohlstand und Ansehen erwerben konnte und mit der belgischen Staatsbürgerschaft geehrt wurde. Die Familie Reinherz fühlte sich jüdisch, jedoch in weltoffener, liberaler Weise.

Simone Weils familiärer Hintergrund war somit das emanzipierte, grossbürgerliche Milieu, in welchem eine humanistische Bildung – eine intellektuelle mit Vorbehalt – selbstverständlich war, wo auch existentielle Privilegien zum Alltag gehörten, etwa Ferienaufenthalte am Meer oder in den Bergen. Vor dem Ersten Weltkrieg und teilweise noch in der Zwischenkriegszeit war dieser Lebensstil in jüdischen Kreisen in Europa nicht selten. Während des Ersten Weltkriegs wurde Bernard Weil als Truppenarzt eingezogen. Selma Weil folgte ihm mit den Kindern quer durch Frankreich, wo immer er stationiert war.

Den stärksten Einfluss übte in jener Zeit auf Simone Weil ihr zweieinhalb Jahre älterer Bruder André aus. Er war der enge Spielgefährte ihrer Kindheit, ihr Vorbild und Masstab in intellektueller Hinsicht während ihrer ganzen Jugendzeit. In der frühen Kindheit war sie häufig krank gewesen. Als zu früh geborenes Kind, anfällig für jeden Infekt, bedurfte sie der intensiven Pflege und Nähe ihrer Mutter. Als diese selber erkrankte und die knapp einjährige Simone nicht länger stillen konnte, reagierte das Kind darauf mit Ernährungsverweigerung und grosser Traurigkeit. Erst als schon ein besorgniserregender Gewichtsverlust eingetreten war, liess sich eine andere Ernährungsmethode finden, auf welche das Kind gewillt war einzugehen.

War es Angst, die symbiotische Nähe und Liebe der Mutter zu verlieren, welche durch die plötzliche Entwöhnung geweckt wurde? Auf jeden Fall konnte Simone wieder genesen, blieb aber in gesundheitlicher Hinsicht gefährdet. Zugleich war sie unternehmungsfreudig und hochbegabt, ausser in manuellen Belangen, wo sie linkisch war. Im Vergleich mit ihrem Bruder kam sie sich jedoch immer ungenügend vor. Später hielt sie fest, sie sei, als sie vierzehn Jahre zählte, wegen der Mittelmässigkeit ihrer Fähigkeiten in eine bodenlose Verzweiflung gefallen. Sie habe gespürt, dass sie nicht in jenes transzendente Reich vordringen könne, zu welchem der Zugang nur wirklich grossen Männern ermöglicht werde und wo die Wahrheit ihren Sitz habe, auch dass sie lieber sterben wollte, als ohne Wahrheit zu leben.

Bedeutung der Kindheitsprägungen

Drei Kindheitsprägungen sind hervorzuheben, die Simone Weils spätere Entwicklung zutiefst beeinflussten:

Die erste betrifft die starke Identifikation mit dem bewunderten Bruder. Diese schürfte in ihr schon früh das Bedürfnis, alle wichtigen Fragen der Erkenntnis ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und somit nicht ein “weibliches” Leben nach damaligen Kriterien, sondern ein “männliches” Leben anzustreben. In der Kindheit wurde dieses Streben vermutlich durch ihre Mutter unterstützt, die selber mit der Tatsache haderte, dass ihr als Mädchen das Recht zu studieren abgesprochen worden war.

Dazu kam der zu jener Zeit gerade im gehobenen Bürgertum übliche Reinlichkeitswahn, der vermutlich Simone Weils übersteigerte Selbstkontrolle beeinflusst hat. Es war die Zeit der Bakterienphobie. Die Kinder Weil wurden angehalten, sich ständig zu waschen, vor allem, wenn sie fremden Menschen die Hand gaben oder öffentlich benutzte Türklinken oder andere “schmutzige” Gegenstände benutzt hatten. Das führte dazu, dass Simone Weil einen Widerwillen – “dégout” (als Kind sagte sie „dégoutation”) – vor jeder Berührung entwickelte. Mag sein, dass dies in ihrem Verhalten den Eindruck burschikoser Härte bewirkte, die in keiner Weise mit ihrer mitempfindenden Psyche übereinstimmte.

Dass Simone Weil das “Reich der Transzendenz” allein “grossen Männern” vorbehalten erschien, hat in der Pubertät die Abwehr gegen ihre Weiblichkeit verstärkt. Allein dadurch aber lässt sich ihre zunehmende Askese und die Ablehnung aller körperlichen Lust nicht erklären, die während des Londoner Exils 1943 in die tödliche Anorexie mündete. Diese wurde durch weitere psychische Belastungen bewirkt, die zur gravierenden Nichtübereinstimmung zwischen ihrem Existenzwert und den Forderungen führte, denen sie zu genügen suchte. Alles Erkennen musste der Idealisierung der rationalen Kontrolle gehorchen. Noch im Band der Cahiers I, in welchem Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1940 vorliegen, hielt sie fest: “Wie man sie auch betrachtet, erdrückt die Zivilisation, in der wir leben, den menschlichen Körper. Der Geist und der Körper sind einander fremd geworden. Die Verbindung ist weg“.[213]

Zweitens führten in Simone Weils Kindheit die Ereignisse des Ersten Weltkriegs dazu, dass sie schon früh ein soziales Gewissen zu entwickeln begann, das immer bestimmender wurde. Schon als Kind und als Jugendliche erkannte sie, dass Menschen nicht durch ihr Menschein Opfer sind, sondern zu Opfern gemacht werden. Mit ihnen wollte sie sich solidarisieren, nicht mit jenen, die Macht ausübten. Später erkannte sie, dass diejenigen Menschen, die Opfer von Machtmissbrauch und Gewalt werden, ein Ausmass an Demütigung erleiden, das ihnen die Kraft raubt, selber Widerstand zu leisten, ob dies Soldaten seien, die als Kanonenfutter eingesetzt werden, oder Arbeiter und Arbeiterinnen, die als Produktionsmittel wie Maschinen benutzt werden. Sie ging auf die Folgen von Diktatur, Totalitarismus und Faschismus ein wie auf jene von Kapitalismus, von Masslosigkeit industrieller Produktion und Entfremdung durch Fliessbandarbeit. Nur die Entrechtung und Lebensbedrohung von Menschen durch Rassismus, insbesondere durch Antisemitismus, thematisierte sie kaum, obwohl sie selber dieser Tatsache ausgesetzt war.

Schon früh erschien ihr wichtig, dass Menschen in erster Linie befähigt werden müssen, sich selbst als handlungsfähige und denkende Individuen wahrzunehmen. Später wird Simone Weil – auf Grund der schon in der Kindheit intuitiv erfassten Zusammenhänge – eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in erster Linie als Erziehungs- und Bildungsproblem der Arbeiterschaft erkennen. Doch damit habe ich vorgegriffen.

Drittens war die jüdische Herkunft von Bedeutung. Diese war nicht anzuzweifeln, aber Simone Weil wurde kaum davon geprägt. Sie erlebte sie durch die Besuche oder die Präsenz der Grossmütter als Teil familiärer Selbstverständlichkeit im Rhythmus der Wochentage und der Jahresfeste, jedoch nicht als tragende Struktur religiöser Zugehörigkeit, da im persönlichen Verhalten der Familienmitglieder immer eine Differenz akzeptiert wurde. Mit der Zeit geriet Simone Weil in eine Art Abwehrhaltung.

Während ihrer Gymnasial- und Studienzeit traten viele jüdische Intellektuelle, darunter einige ihrer Lehrerinnen, zum Katholizismus über. Zum Teil versuchten diese auch, jüdische Schülerinnen in dieser Hinsicht zu beeinflussen. Simone Weil nahm auf Grund ihres Wissenshungers während der Schulzeit an Diskussionszirkeln teil, die teilweise missionarische Zielsetzungen hatten. Doch sie beabchsichtigte schon damals in keiner Weise, wie sie eines Tages ihren Eltern versicherte, die Religion zu “wechseln”. Gemäss ihren Aufzeichnungen war die Gottesfrage für sie wichtiger als die Religionsfrage. Allerdings zeigte sie während des Studiums eine Art Befangenheit, wenn die Rede auf ihre jüdische Herkunft kam. Simone Pétrement, ihre Studienkollegin und Biographin, erzählt, dass eines Tages, als sie zusammen durchs Quartier Latin spazierten, eine Gruppe von Studenten eine Zeitung als „anti-métèque et anti-youpin” anpriesen. Sie habe Simone Weil gefragt, was das bedeute. Diese sei rot geworden und habe abweisend bemerkt, dass sei so ein Schimpfwort für die Juden. Damit einher ging vermutlich, dass sie begann, die Zugehörigkeit zum Judentum zu verdrängen, ja zu negieren.

In Simone Weils Jugendzeit nahm der ständig latente und – wie gerade die „Dreyfus-Affaire” bewies – schon im 19. Jahrhundert schnell aktivierbare Antisemitismus und Rassismus immer unverschämtere Formen an (die Zeitung der Studenten war ja zugleich antijüdisch und anti-mestizisch, das heisst gegen alle „Mischlinge”), bis er ab 1933 im Zug der Entwicklung im benachbarten Deutschland und in Österreich auch in Frankreich in offene Hetze ausartete. Doch nicht diese Tatsache, scheint mir, hat Simone Weils Verhältnis zum Judentum am stärksten beeinflusst. Ihrem moralischen  Bedürfnis entsprechend, sich mit den Unterdrückten zusammenzuschliessen, hätten die Tatsachen eine aktive Solidarisierung bewirken können. Es war eine viel geheimere und kompliziertere Abwehr, die parallel zur Abwehr ihrer Weiblichkeit ging. Die Abwehr der jüdischen Spiritualität war – eventuell als Schutzmechanismus – Ausdruck des Widerstands gegen das Judentum überhaupt, das sie auf der Ebene des Denkens ausschliesslich mit der Darstellung Jahwes in der Tora in Verbindung brachte.

Die zwei völlig verinnerlichten Negationen zentraler Teile ihrer persönlichen Besonderheit  – Frausein und Jüdischsein – müssen einen erschöpfenden Leidensdruck bewirkt haben. Sie setzte diesem die Unerbittlichkeit ihres moralischen Strebens nach Gerechtigkeit und ihrer intellektuellen Wahrheitssuche entgegen, nach der sich ihr Studium, ihr politisches und soziales Engagement wie ihr Weg der mystischen Erfahrung, die sie selber als Denken verstand, ausrichteten. Gerade angesichts dieser unbedingten Wahrheitssuche erscheint die Zurückweisung ihrer Geschlechtlichkeit und ihres Judentums als schwer verständlich. Sich selber nachzuspüren und die Ursachen ihrer Abwehr zu finden, um sie lösen zu können, erlaubte sie sich nicht; die Psychoanalyse lehnte sie als trügerischen Erkenntnisweg ab.

Unerbittlichkeit im Streben nach Gerechtigkeit

Als Simone Weil das Gymnasium abschloss und das Baccalauréat machte, war sie sechzehn Jahre alt. Wie ihr Bruder André schrieb auch sie sich an der Ecole Normale Supérieure ein, jedoch nicht für das Mathematikstudium, sondern für Philosophie. Ihr Lehrer war Alain, der damals hoch geschätzte Autor der “Propos”. Simone Weil gehörte zu einer kleinen Gruppe von Studierenden, in welcher die Forderung nach konsequenter Übereinstimmung von Denken und Lebenspraxis galt. In jener Zeit fühlte sie sich vermutlich beinah glücklich. Niemanden störte ihr eigenwilliges Aussehen, das männliche Kostüm mit den grossen Taschen, das sie täglich trug, die Lebhaftigkeit ihrer Gesten, die monotone, leise Stimme, wenn sie diskutierte. Simone de Beauvoir, die gleichzeitig mit ihr an der Sorbonne studierte, hält in ihren “Mémoiren einer Tochter aus gutem Haus” fest, dass Simone Weil ihr wegen ihrer Gescheitheit und wegen der bizarren Aufmachung auffiel. Vor allem habe sie bei ihr Achtung geweckt; sie habe sie um ihr Herz beneidet, das imstande gewesen sei, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.[214]

Die beiden Studentinnen hatten grundlegend verschiedene Interessen. Die soziale Frage, die für Simone Weil im Zentrum stand, interessierte Simone de Beauvoir kaum, während die Geschlechterfrage, mit der Simone de Beauvoir sich schon früh beschäftigte, von  Simone Weil verdrängt wurde. Als die Gruppe der Studierenden um Alain sich zu einer Art Arbeiterbildungsorganisation zusammenschloss, um regelmässig Bahnarbeitern Unterricht zu erteilen, hätte Simone Weil auch über die Frauenfrage sprechen sollen, nachdem sie Gesellschaftskunde, Philosophie und griechische Poesie unterrichtet hatte. Über die Frauenfrage zu sprechen weigerte sie sich. Sie sei keine Feministin, erklärte sie kurz, und bat eine Mitstudentin, sie zu vertreten. Ähnlich wie Rosa Luxemburg wollte sie sich mit der Ausbeutung der Arbeiterschaft befassen und dabei die doppelte Ausbeutung der Frauen, auch deren Rechtlosigkeit, gar nicht wahrnehmen.

Nach Abschluss des Studiums wurde Simone Weil eine erste Anstellung als Philosophielehrerin in Le Puy zugeteilt, in der Industrieregion von Saint-Etienne. Sie sammelte dabei wichtige Erfahrungen. In Le Puy weckte sie harsche Kritik, nicht nur wegen der Methode ihres Unterrichts, sondern auch wegen ihres politischen Engagements für die arbeitslosen und erwerbslosen Industrie- und Landarbeiter der Region, an deren Spitze sie sich bei Demonstrationen stellte. Sie wurde in der regionalen Presse als “la juive Weil” und als “vierge rouge” gestempelt. Die Hetze, die gegen sie losging, mit Polizeiverhören und anonymen Drohbriefen, und die schliesslich zur Beendigung ihrer Anstellung führte, hatte einen deutlich antisemitischen Hintergrund.

Trotzdem – oder gerade deshalb – entschloss sie sich, den Sommer und Herbst 1932, unmittelbar vor Hitler Machtergreifung, in Berlin zu verbringen. Sie wollte sich mit dem Kräfteverhältnis der Parteien befassen, mit den sozialen Bedingungen der Arbeiterschaft, die einen grossen Teil der acht Millionen hungernden Erwerbslose in Deutschalnd ausmachte, mit den Chancen und Schwächen der Gewerkschaften, sodann mit dem zunehmenden Bedrohungspotential von Hitlers Nationalsozialismus und den Gründen seines Erfolgs – kurz mit der wachsenden Lähmung der demokratischen Strukturen und mit der fortschreitenden Verelendung der Bevölkerung. Sie spürte, dass die Lage revolutionär war, und sie fragte sich, warum trotzdem keine Revolution ausbrach.

Ihre Analysen und Kommentare, die sie im  gleichen und im darauf folgenden Jahr in “L’Ecole émancipée”[215] veröffentlichte, erachte ich als etwas vom Scharfsinnigsten, was kurz vor Hitler Machtübernahme über die heillose Handlungsunfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Kommunisten, aber auch über das verhängnisvolle Verführungspotential des Nationalsozialismus geschrieben wurde. Sie schloss darin auch Untersuchungen über den zur Staatsbürokratie verkommenen Marxismus in der damaligen UdSSR ein. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, zu denen etwas mehr als zehn Jahre früher Rosa Luxemburg gehört hatte, war Simone Weil ihrer Zeit weit voraus. Sie unterliess es jedoch, die bedrohliche Lage der jüdischen Bevölkerung, zu welcher sie selber gehörte, in ihre Studie einzubeziehen.

Wichtig erscheint mir Simone Weils Überlegung zur Tatache, dass 1932/33 in Deutschland keine Revolution ausbrach. Sie kam zum Schluss – wie sie in ihren Beiträgen für “La Révolution prolétarienne” und “L’Ecole émancipée” festhielt -, dass von einem bestimmten Grad der Entwürdigung an eine Revolution nicht mehr möglich ist, sondern nur noch die vollständige Unterwerfung der Menschen unter die Bedingungen der Machthabenden. Diese Bedingungen bestanden, nach ihrer Beurteilung, in erster Linie in der Instrumentalisierung der Arbeiter. Menschen, die wie Maschinen allein zum Zweck der Produktionssteigerung benutzt würden, seien nicht mehr in der Lage, sich für ihre menschlichen Werte zu wehren. Lähmend sei – gemäss der Erkenntnis Simone Weils – die Herrschaftsstrategie, deren Opfer nicht allein von den Eigentumsverhältnissen bezüglich der Produktionsmittel abhängig seien, sondern ebenso eindeutig von den Produktionsverhältnissen, von der völligen Entpersönlichung der Arbeit durch Fliessbandarbeit und Massenproduktion.[216]

Ihre Überzeugung war, dass die Anonymität der Arbeiter deren Ohnmachtsgefühl bewirkte. Sie erachtete es als dringlich, die Struktur der industriellen Produktion zu verändern, ob diese durch privaten Kapitalismus oder durch Staatskapitalismus getragen werde. Es ging darum, die neue Versklavung der Menschen, den Taylorismus, aufzuheben. Dies war, gemäss Simone Weil, wie ich schon erwähnt habe, in erster Linie ein Bildungsproblem. “Die einzige subversive Kraft ist das Denken”, hielt sie mehrmals fest. Nicht allein durch Verkürzung der Arbeitszeit, sondern nur durch ein neues Konzept der Arbeit, durch welches der Arbeit wieder Würde zukomme, könne die demütigende Entwertung der Arbeitenden und deren Rückzug auf die blosse Subsistenz, damit deren Verzicht zu denken, aufgehoben werden.

Nach der Rückkehr aus Deutschland und nach kurzer Lehrtätigkeit in Auxerre, später in Roanne, entschloss sich Simone Weil, selber Fabrikarbeit zu leisten, um die Bedingungen der entfremdeten Arbeit nicht nur aus der Theorie oder aus der Beobachtung, sondern im gelebten Leben zu kennen. Im Dezember 1934 begann sie als ungelernte Arbeiterin zu arbeiten, an grossen Werkzeugmaschinen, an Öfen und am Fliessband, unter Akkordbedingungen, im ohrenbetäubenden Lärm. Es war eine erschöpfende, erniedrigende, peinigende Erfahrung, zumal sie ständig unter schweren Kopfschmerzen litt. Ihr “Fabriktagebuch”, sowie Briefe und kürzere Aufzeichnungen aus jener Zeit geben davon Zeugnis.

Simone Weil erkannte nicht nur, sondern erlebte, wie schwer es ist, in einem oppressiven System ein Bewusstsein der Freiheit und der Würde zu erhalten. Neun Jahre später, in ihrem letzten Lebensjahr, wird sie diese Erkenntnisse in einem programmatischen Werk, das sie in London schrieb, festhalten. Was unter dem Titel “L’Enracinement” durch Albert Camus 1949 veröffenlticht wurde, muss als ihr eigentliches Testament betrachtet werden. Von massgeblicher Bedeutung ist darin der Gedanke, dass die gleiche Bedürftigkeit der Menschen die Grundlage ist für die gleiche verbindliche Verpflichtung, deren Bedürfnisse zu erfüllen. Von Rechten könne erst gesprochen werden, wenn die Verbindlichkeit ernstgenommen werde: “La notion d’obligation prime celle de droit”. (Auf die Bedeutung dieses Werks ging ich im Vorspnn II ein). Es war Albert Camus, der festhielt, Europa könne nach dem Krieg nur wieder erstarken, wenn die von Simone Weil aufgestellten Forderungen ernstgenommen würden.

Auflehnung gegen Unterdrückung

Den Zweck jeder Gemeinschaft, auch jenen des Staates, erkannte Simone Weil in der Verhinderung der Unterdrückung des einzelnen Menschen, insbesondere in der Verhinderung von Krieg. Krieg verstand sie als gewalttätigste Zuspitzung jedes Systems der Unterdrückung und der Menschenverachtung, weniger als ein Ereignis zwischen den Staaten als ein Ereignis im Inneren der menschlichen Gesellschaft: als Krieg der Mächtigen gegen diejenigen, die ihn führen müssen. Nicht die Nation werde gepeinigt, hielt sie fest, sondern Mensch um Mensch um Mensch.

Die Bedeutung des Kriegs und der unkontrollierbaren Gewalt, die durch ihn freigesetzt und quasi legitimiert wird, war ihr schon im Ersten Weltkrieg nahegerückt, als sie mit Mutter und Bruder in der Nähe der Front lebte. Das Ausmass an Gewalt wurde ihr 1936 erneut deutlich, als sie sich der Internationalen Anarchistengruppe – der Kolonne Durruti – anschloss, um auf Seiten der Republikaner am Bürgerkrieg in Spanien teilzunehmen. Sie war damals siebenundzwanzig Jahre alt. Zwar musste sie nach wenigen Wochen infolge schwerer Verbrennungen durch siedendes Öl evakuiert werden; trotzdem hatte sie genug erlebt, um die Lüge jedes “gerechten” Kriegs zu durchschauen.

Noch bevor sich 1940 der Zweite Weltkrieg auch in Frankreich mit der deutschen Besetzung, mit dem Arbeitsverbot für Juden, mit der Notwendigkeit der Flucht oder mit deren Abtransport in die Lager, schliesslich in die Vernichtung zuspitzte, wurde für Simone Weil die Frage nach ihrer Zugehörigkeit durch den sich verschärfenden Antisemitismus immer quälender. Ihre Nähe zum Judentum zeigt sich trotz ihrer Abwehr, wie mir scheint, vor allem in der Ethik, die ihrem Entwurf einer gerechten Gesellschaft zugrundeliegt. Hier ist ihr Platz in der Fortsetzung Spinozas[217], ihr Platz in einer langen Tradition, auch wenn sie dies nicht anerkennen konnte. Doch gerade dadurch spitzte sich der Widerspruch, den sie sich durchzustehen zwang, aufs schmerzlichste zu.

Dieser Widerspruch schmerzte sie in allen Fragen zutiefst. Dass in psychoanalytischer Hinsicht von Selbsthass gesprochen gesprochen wird, erscheint mir zu einseitig.[218] In politischer Hinsicht verlangte dieser quälende und zugleich fordernde Widerspruch von ihr eine fortgesetzte Korrektur von Positionen: vom Marxismus zum Anarcho-Syndikalismus, dann zu einer nach Gerechtigkeitskriterien ausgerichteten demokratischen staatlichen Ordnung sowie zu einer nach Kriterien der Verantwortlichkeit abgestuften gesellschaftlichen Hierachie. Geprägt und während langer Zeit beherrscht von einem – zwar skeptischen – kartesianischen Rationalismus, gelangte sie in ihrem letzten Werk zu einem völlig anderen Konzept der Bedeutung des Subjekts.

Einerseits ging Simone Weil dabei auf die zentrale Bedeutung der “Einwurzelung” des Menschen ein. Sie bezeichnete sie als das wichtigste und am meisten verleugnete menschliche Bedürfnis: “L’enracinement est peut-être le besoin le plus important et le plus méconnu de l’âme humaine”[219], kannte sie doch selber das Leiden der “Entwurzelung”, letztlich der völligen Heimatlosigkeit. Gleichzeitig entwarf sie einen existenzphilosophisch umgekehrten Ansatz der Existenzerfüllung “par la décréation”, durch das “Entwerden”, der eine überraschende Nähe zu Aspekten der Kabbala aufzeigt, zur persönlichen Schöpfungsaufgabe jedes Menschen, verbunden mit Erklärungen der Bedeutung der Zeit und des Bösen. Das ist erstaunlich. Von aufwühlendem Einfluss auf sie war ja die christliche Mystik gewesen, insbesondere über den gregorianischen Choral und das Bild des leidenden Jesu. Zum römischen Katholizismus hatte sie sich jedoch noch während ihres Aufenthalts in Marseille in klare Distanz gesetzt, nicht nur wegen der durch das Papsttum geschaffenen hierarchischen Macht, sondern auch weil sie es nicht fertig brachte, ihre Verbindung mit den nicht-christlichen Religionen, letztlich ihre Zugehörigkeit zum Judentum, aufzugeben. “Je sentais que je ne pouvais pas honnêtement abandonner mes sentiments concernant les religions non chrétiennes et concernant Israël – et en effet le temps et la méditation n’ont fait que les renforcer”, schrieb sie dem Dominikanerpater Jean-Marie Perrin im Mai 1942.[220]

Simone Weils Beziehungsnetz wurde in London zunehmend enger, ihre Einsamkeit zunehmend grösser. Die französische Exilregierung lehnte ihr Gesuch, mit einer Mission im besetzten Frankreich beauftragt zu werden, mit der Begründung ab, sie sähe dafür zu jüdisch aus; es wurden ihr Schreibtischarbeiten zugewiesen. In diesem Zusammenhang entstand “L’Enracinement”. Gleichzeitig vertiefte sich ihr spirituelles Suchen. Über Juan de la Cruz näherte sie sich Erklärungen und Bildern, die an Isaac Luria, Cordovero oder Haim Vital erinnern.[221] Doch Entbehrungen und Enttäuschungen, in allem eine nicht mehr tragbare Nichtübereinstimmung ihrer intellektuellen und psychischen Forderungen mit der Realität schwächten ihren Lebenswillen dermassen, dass sie im April 1943 in Spitalpflege kam. Sie verweigerte jede Ernährung. Als sich zusätzlich eine Lungentuberkulose einstellte, wurde sie nach Ashford (Kent) gebracht, wo sie am 24. August 1943 starb.

Franz Kafkas Parabel vom ” Hungerkünstler” mag auch für Simone Weil gelten. “Warum kannst du denn nicht anders”, fragt der Aufseher den sterbenden Hungerkünstler, und dieser flüstert, “weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaub mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle”.[222]

Abschliessende Überlegungen

 

Hebel und Blindenstab

Simone Weil hatte seit der Fabrikarbeit und der zusätzlichen Erfahrung menschlicher Entwertung in ihren Aufzeichnungen häufig das Bild des Hebels verwendet. In der Wartezeit in Marseille hielt sie fest: “Begriff des Hebels auf das innere Leben angewendet (dem Begriff der Energie entsprechend). Wenn kein Hebel da ist, verändert man auf der gleichen Ebene, anstatt in Richtung auf einen grösseren Wert umzugestalten. Hebel und Blindenstock”.[223] Ein wenig später folgte: “Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?”[224]  Hatte für sie das “sym-pathein” – das “Mit-leiden” als Massstab der Empfindung die Bedeutung des Hebels?

Mit dem Bild des Hebels hatte Simone Weil einen physikalischen Vergleich gewählt, um dem Geheimnis der Handlungsentscheide und deren Umsetzung auf die Spur zu kommen. In ihrem Bedürfnis nach klarem Denken verband sie Philosophie mit Mathematik bzw. Physik. Da, wo es sich um den Einsatz von physikalischer Energie – von Kraft handelt -, kommt dank dem Hebel eine vielfache Steigerung der Wirkung zustande, ohne dass der Aufwand vergrössert werden müsste. Es heisst bei ihr ja unmissverständlich, sie verstehe den “Begriff des Hebels auf das innere Leben angewandt (dem Begriff der Energie entsprechend)”. Sie hatte genügend erfahren, dass, solange Wissen an Wissen addiert wird,Veränderungen höchstens “auf der gleichen Ebene” erfolgen, im Sinn einer Summierung von Wissen, dass auf diese Weise jedoch keine Veränderung der Wirklichkeit entstehen kann. Sie überlegte sich, welche Form der Energie die Hebelwirkung auslösen könnte. “Wie funktioniert das?” Sie hielt fest, es gehe dabei um “das innere Leben“. Heisst das, dass für sie die Verinnerlichung des Wissens vom intellektuellen Bereich in jenen der geheimen Kräfte der Psyche – der Empfindungen – akzeptiert wurde? Dass sie die klärende Selbstbefragung zuliess, um die verschlossene innere Tür vom Unbewussten ins Bewusstsein, von den Empfindungen ins Wissen, zu öffnen?  Bedeutete dies für sie “hin zu mehr Wirklichkeit”?

In der gleichen Zeit hielt Simone Weil die Erkenntnis fest, der sie den Begriff “Gerechtigkeit” voranstellte, dass “jedes Wesen im stillen schreit, um anders gelesen zu werden”. Konnte der “Hebel (auf das innere Leben angewendet)” das “anders lesen” ermöglichen? Doch wie? Bedurfte es in der Summierung von Erfahrungen, durch welche sie immer wieder “einen Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaffen wollte[225] der äussersten Verzweiflung?

Die Kraft des Verdrängens hatte für Simone Weil tatsächlich eine Schirmfunktion gehabt. Sie hatte sich mehrere Schichten eines “Schirms” geschaffen, und diese hatten zu Handlungsentscheiden stimuliert, die kompensatorischen, verhüllenden, hemmenden oder abwehrenden Charakter hatten. Es waren Abwehrmechanismen gegen die vielfachen Teile der inneren Wirklichkeit, die “anders zu lesen” sie sich selbst nicht gestattete. Der Schirm war so dicht und undurchdringlich geworden, dass er zur Kapsel wurde und zur Abkapselung führte, bis zur letzten Flucht nach London mit dem Wunsch, sich als Französin für Frankreich zu opfern. “Das Sich-selbst-Belügen geht aus einer lebenswichtigen Notwendigkeit hervor, wenn man nicht entschlossen ist zu sterben”[226] hatte sie notiert.

Wiederum war es ein Entweder-Oder, das in ihr zu einem Entscheid drängte. Warum ermöglichte sie sich nicht einen dritten Weg, auf welchem weder ein Verdrängen des vielschichtigen inneren Lebens noch ein Sich-selbst-Belügen nötig war, um zu leben? Warum verband sie die innere Klarheit, durch welche sie das eigene “Andere” in sich lesen konnte, mit dem Entschluss zu sterben? War es tatsächlich der letzte verzweifelte Versuch, das moralische Gebot der Gerechtigkeit durch das “sym-pathein” zu erfüllen? An Hunger zu sterben, weil ihr als Jüdin unter den herrschenden Zeitbedingungen das Recht zu leben nicht zugestanden war?

Simone Weil selber hatte in jener Zeit Fragen notiert, die auf ihre eigene Auseinandersetzung hinweisen: “Wie ist der Widerspruch zu ertragen zwischen: im voraus jede mögliche Sache, ohne Ausnahme, für den Fall, dass sie eintritt, annehmen – und zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einer bestimmten Situation fast über die Grenze dessen, was man vermag, hinausgehen, um zu verhindern, dass eine gewisse Sache eintritt?”[227] Heisst dies, dass sie, die schon 1941 von der Lebensbedrohung der Juden durch die Nazis auch in Frankreich wusste, die 1943 vermutlich von der systematischen Tötung der Menschen in den Konzentrationslagern erfahren hatte, sich entschlossen hatte, eher selber zu sterben als getötet zu werden? Und da ihr die Möglichkeit, als Französin an der Front zu sterben, nicht zugestanden wurde, selber “über die Grenze dessen, was man vermag, hinauszugehen”?

Immer wieder frage ich mich, warum Simone Weil die Grenze ihrer Kräfte überschritt, auch als sie keiner Selbsttäuschung mehr bedurfte. Sie notierte, als würde sie sich einer Weisheit aus dem Buch Kohelet erinnern: “Spüren, dass die eigene Dauer auch die Zeit der Welt ist”[228]. War es erst die letzte, äusserste  Verzweiflung, die ihr die Erkennntis der “Einwurzelung” zugestand? Mit grösster Konzentration schrieb sie ihren Entwurf einer gerechteren Struktur des menschlichen Zusammenlebens nach dem Krieg zu Ende, tatsächlich im Sinn eines Nachlasses.

Konnte Simone Weil die vielfache “Entwurzelung”, die durch die Kontingenz der Widersprüchlichkeit in ihr die Intensität des Suchens nach “Einwurzelung” bewirkt hatte, tatsächlich als “das Andere” in ihr selber “lesen”? Ich nehme an, dass ihr dies möglich wurde, dass aber zugleich die Erkenntnis, dass alles, was sie vorher als Denken auf eine Ebene der Abstraktion versetzt hatte, zutiefst mit ihren Empfindungen vernetzt war, die letztlich auch ihre Handlungsentscheide beeinflussten. “Uns sind (in gewissem Sinne) nur Empfindungen gegeben, und was wir auch tun, wir können niemals, niemals etwas anderes denken (in gewissem Sinne) als Empfindungen. Aber wir können niemals die Empfindungen denken; wir lesen durch sie hindurch. Was lesen wir? Nicht irgend etwas, wie es uns beliebt. Und auch nicht etwas, das in keiner Weise von uns abhinge”.[229]

Was Simone Weil zuletzt in sich “lesen” konnte, auch wenn sie das moralische Gebot der Gerechtigkeit voransetzte, war die “dunkle Nacht” ihrer Erschöpfung, die Erschöpfung ihres Körpers und ihrer Seele, ein Ausmass an Erschöpfung, das die Möglichkeit des Tragbaren überschritten hatte und nur noch als Verzweiflung spürbar war. “Dunkle Nacht. Vielleicht muss der Mensch (jedes Mal bis zum höchsten Zustand?) die Prüfung der fortwährenden Dauer durchlaufen (Hölle), bevor er Zutritt zur Ewigkeit erhält?”[230]  hatte sie als Frage notiert. Konnte oder wollte sie die Zeitlosigkeit der “Prüfung” nicht abwehren?

“Dunkle Nacht”. Als für Simone Weil die Komplexität ihrer Identitätsprobleme in London in das völlige Alleinsein mündete – allein als “Kind”, da erstmals von der Nähe der Mutter und der “Gesundheitskontrolle” der Eltern getrennt, allein als Frau, allein als Denkerin und allein als Jüdin -, als weder Selbsttäuschung noch Negation mehr Sinn machten, als auch kein moralisches Engagement mehr als “absolute” Pflicht erklärt werden konnte, blieb ihr, die vierunddreissig Jahre und etwas mehr als sechs Monate zählte, keine Kraft mehr, ihrem Lebenswert zuzustimmen. Hierin bestand die Ätiopathogenese ihrer Anorexie: sie ernährte sich nicht mehr, sie hungerte bis sie verhungerte.

Kann ein Mensch – konnte Simone Weil – erst “anders gelesen werden”, wenn er/sie nicht mehr lebt?

Ich nehme an, dass für Simone Weil die Dauer des gelebten Lebens mit vielen Prüfungen durchgestanden war wie die “Zeit der Welt”, so dass sie nur noch auf den “Zutritt zur Ewigkeit” wartete, auf die “Pforte, die sich öffnete, als alle Hoffnung aufgegeben war”, wie sie in einem Gedicht geschrieben hatte. In den letzten Zeilen fügte sie bei, was vermutlich viel weiter ging als das “Erkennen der Transzendenz”, wozu sie an der Grenze zwischen Kindheit und Jugend meinte, nicht fähig zu sein, da sie nie den hohen Rang, der nur Männern zustehe, erreichen werde:

“Nur der unendliche Raum aus Leere und Licht

War mit einem Mal vollkommen da, erfüllte das Herz

Und wusch die Augen, fast erblindet unter dem Staub.”[231]

Ergänzung zu Simone Weil:

Empfinden und Denken als kreative Vernunft

Das Öffnen des Fächers

„Nur das Begehren kann unser Erkenntnisvermögen führen. Und um etwas zu begehren, müssen Lust und Freude da sein. Unsere Verstandeskräfte wachsen und bringen ihre Früchte nur in der Freude[232]“.

Was Simone Weil in einer kleinen Abhandlung als Voraussetzung des Erkennens festhielt, ist im Vergleich mit ihrer eigenen Geschichte aufwühlend. Sie bezeichnet das „Begehren“ und die damit verbundene „Freude“ als Voraussetzung des Denkens. Die „Réflexions“, aus denen ich eben zitierte, verfasste sie neben zahlreichen anderen Aufsätzen, neben Briefen und Gedichten 1941/42, in den kurzen Monaten ihres Aufenthalts in Marseille, wohin sie aus Paris unter heftigem Widerstand nach der Besetzung Frankreichs durch Hitler fliehen musste, in diesen Zwischenort der Flucht, den sie ebenso widerstrebend in Begletung ihrer Eltern wieder verlassen musste, um über Casablanca nach New York zu gelangen, von dort allein noch im gleichen Jahr, im November 1942, wieder zurück in die Nähe Frankreichs, nach London, in den Kreis der französischen Exilregierung, wo sie jedoch keinen Ort fand, der ihrem „Begehren“ entsprach, keine „Freude“, sodass sie weiterflüchtete, in den Hunger, in den Tod. Im August 1943, mit 34 Jahren, starb sie unter den Folgen der zunehmenden Verweigerung von Nahrung.Diese letzte, definitive Flucht stellt viele Fragen. Warum konnte Simone Weil die philosphischen Erkenntnisse, die sie in ihren theoretischen Werken mit grosser Intensität vermittelt, nicht existentiell umsetzen? Warum liess sie nicht zu, das, was sie denkend mit Klarheit erkannte, als gefährdenden Widerspruch der eigenen Erfahrungen und Empfindungen, als sich zuspitzenden Mangel an Freude zu spüren? Warum floh sie vor der Möglichkeit, das eigene psychische Leiden zu erkennen, in die philosophischen Theorien ihres letzten Buches (unter dem Titel Enracinement“[233]), worin sie die mit moralischen Pflichten verbundenen Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens formulierte, jedoch sich selber, ihr eigenes Leben, zugleich mit sich verengenden charismatischen Regeln verband?

In den erwähnten „Réflexions“ über Schule und Studium hielt Simone Weil die Methode und das Ziel der inneren Flucht fest: „Der Geist soll hinsichtlich aller besonderen und schon ausgeformten Gedanken einem Menschen auf einem Berge gleichen, der vor sich hinblickt und gleichzeitig unter sich, doch ohne hinzublicken, viele Wälder und Ebenen bemerkt. Vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.“ Was sie darunter verstand, war letztlich die mystische Erkenntnis des Göttlichen. Aber warum verweigerte sie jede Umsetzung von „Begehren“ auf die körperlichen und psychischen Bedürfnisse des lebendigen Lebens? Warum liess sie nicht zu, dass ihr Wissen sich als kreative Vernunft zu Gunsten ihrer selbst umsetzte? – warum verweigerte sie jede Art von Skepsis gegenüber ihrer inneren Flucht?

In den langen Jahren meiner philosophischen Arbeit – sie begannen mit der auf Simone Weil[234] bezogenen „Logik des Absurden“ und setzten sich in zahlreichen weiteren Studien fort – faszinierte mich neben dem theoretischen Erkenntnisbereich und der spezifischen Besonderheit philosophischer Werke immer zugleich die Untersuchung der komplexen Herkunfts- und Existenzbedingungen, auch der gesellschaftspolitischen Hintergründe von Denkerinnen und Denkern, die in der gleichen Zeit lebten. Das 20. Jahrhundert, Simone Weils Zeit, war eine Zeit der extremen Gefährdung menschlichen Lebens. Flucht drängte sich auf – aber, was bedeutete Flucht? Keine generelle Antwort ist möglich.

Rosa Luxemburg, zum Beispiel, wusste um die sich zuspitzende Bedrohung und warnte in ihren letzten Schriften vor der gewaltbesetzten Entmenschlichung, doch eine sie rettende Flucht gelang ihr nicht. Sie wurde ermordet, als Simone Weil zehn Jahre zählte. Hannah Arendt erschreckte die Notwendigkeit der Flucht nicht, weder von Deutschland über Prag und Genf nach Frankreich, noch von Paris und Gurs über Portugal in die USA, solange sie nicht um die systematische Tötung ihres Volkes wusste; während Jahren verband sie Flucht mit kreativen Entfaltungsmöglichkeiten der Freiheit, im Denken wie in Begegnungen, in welchen das Begehren auf vielfältige Weise geöffnet und erweitert wurde. Auch Margarete Susman gelang es, noch vor dem Krieg aus Deutschland in die Schweiz zu flüchten, als philosophisch Denkende mit Klarheit wie als empfindungsmässig Hungrige mit tiefer Niedergeschlagenheit, jedoch ohne Verdrängung und ohne versteifende Fixierung auf theoretische Arbeit. Simone Weil aber konnte/wollte die dringliche äussere Flucht nicht akzeptieren, da sie ihr Jüdischsein nicht akzeptieren mochte, so dass sie eine sich zuspitzende innere Flucht vor dem weiblichen Menschsein ins reine Denken wählte.

Ich werde mich auf die verhängnisvollen Auswirkungen der inneren Flucht Simone Weils konzentrieren, auf die Bedeutung der Empfindungen und auf das Bild des Fächers eingehen, anschliessend zu klären versuchen, was ich unter kreativer Vernunft verstehe.

Denken – Flucht vor den Empfindungen?

Während meiner philosophisch-analytischen Arbeit wurde mir zunehmend bewusst, dass das Denken als itellektuelle Möglichkeit des Erkennens nicht genügt, wenn es als Flucht vor den Empfindungen benutzt wird. Das mag auf verschiedene Weise so sein, zum Beispiel, wenn infolge der Sprachabhängigkeit des Denkens ausschliesslich die Befolgung der damit verbundenen grammatikalischen und begrifflichen Regeln zum Massstab wird – so bei Ludwig Wittgenstein. Oder wenn das Denken mit leidenschaftlicher Absolutheit auf gesellschaftspolitische Entwicklungen fixiert wird – wie bei Rosa Luxemburg, deren eigene Lebensmöglichkeit dadurch zunichte ging. Oder wenn das Denken schliesslich mit dem selbstvernichtenden Vollkommenheitsbild eines unmenschlich-charismatischen Erkenntnisziels verknüpft wird – wie bei Simone Weil.

Denken kann eine kreative, innere Architekturmöglichkeit des Erkennens und Wissens sein, wenn es einerseits die Skepsis vor dem ausschliesslich strukturellen Intellekt und dem dadurch ermöglichten Erkennen zulässt, andererseits den weiten Fächer der Empfindungen, die, auf spürbare Weise mit bedürfnismässigen, körperlichen und psychischen Erfahrungen verbunden, häufig jedoch ins Unbewusste verdrängt werden. Empfindungen entsprechen der weiten Schicht der Gefühle, die sich im komplexen Zusammenhang der Erfüllung, Enttäuschung oder Verletzung zentraler Bedürfnisse entwickelt haben, häufig in Verbindung mit der weit zurückliegenden Herkunftsgeschichte oder mit den Erfahrungsgeschichten der Eltern und Ahnen.

Was bedeutet das Bild des Fächers als Möglichkeit des Erkennens der Empfindungen?

Mit der Vielzahl von Teilen, die sich im Kern zusammenschliessen, stellt der Fächer ein Bild der Psyche dar, die mit ihren zahlreichen Strukturen und Stufen das menschliche Leben im Verborgenen bewegt. Die Hand, die den Fächer hält, widerspiegelt die Stärke der körperlichen Lebendigkeit, mit der schützenden Haut und dem unter der Haut alles belebenden, wärmenden Blutkreislauf, in Verbindung mit den Atemfunktionen und dem Organ der Nahrungsverarbeitung, mit den sinnlichen Wahrnehmungs- und Vermittlungsbefähigungen, auch mit den intellektuellen Verarbeitungs– und Schöpfungsmöglichkeiten. Hand und Fächer sind somit ein Abbild des komplexen Potentials der subjektiven wie der zwischenmenschlichen, resp. der beziehungsmässigen Verbindungen, im Stärkenden wie im Leidvollen, Schwierigen oder traumatisierend Belastenden. Wird der Fächer geöffnet, zeigt sich, dass eventuell einzelne seiner Teile verklebt oder verletzt sind, andere offen, vom zusammengehaltenen, zentralen bis zum weit entfalteten Bereich.

Alle Teile des Fächers durch Selbstfindung und Selbstzustimmung zur Selbstentfaltung zu bewegen, ist nicht leicht. Es geht dabei um das Aufdecken und Wecken von Verdrängtem und Verborgenem, um das Erkennen und das Verarbeiten von Ängsten, nicht zuletzt der Angst vor der vielseitig spürbaren Kraft des Begehrens – des Eros. Wenn dies gelingt, kann sich eine stärkende geistige „Atemfähigkeit“ entwickeln, welche das Lebenspotential wieder spürbar werden lässt, d.h. eine klärende Untersuchung der ins Unbewusste verdrängten Hintergründe der inneren Flucht und zugleich eine aufmerksame Dialogik von Psyche und Intellekt, von Empfinden und Denken, vielleicht vergleichbar dem wunderbaren Atem, den der reale, durch die haltend Hand bewegte Fächer ermöglicht.

Wie aber kann die innere Dialogik zustandekommen?

Interessanterweise verweist Simone Weil als Methode auf die „Aufmerksamkeit“, worauf sie sich, vom Begriff her, auf Anna Freud abstützt. Während jedoch Anna Freud von der „schwebenden Aufmerksamkeit[235]“ spricht, dank welcher sich eine „starke Erinnerungsfähigkeit“, auch eine „innere Wachheit“ bemerkbar machen, somit eine aktive, „schwebende“ Annäherung an das Verborgene, eventuell gar an das Fremde im Menschen, das mit den Empfindungen verbunden ist, bezeichnet Simone Weil die „Aufmerksamkeit“ als „Anstrengung, vielleicht die grösste von allen, aber sie ist eine negative Anstrengung. (…) Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten, die verschiedenen, bereits erworbenen Kenntnisse, die man zu benutzen genötigt ist, in sich, dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten, ohne dass sie ihn berühren.“

Simone Weils Erklärung der „Aufmerksamkeit“ macht deutlich, was sie darunter versteht: dass jedes angestrebte Wissen ein Geheimnis ist, wie das verborgene Fremde im Menschen, wenn das Denken sich nicht zurückzieht –im Sinn einer „negativen Anstrengung“ – und dadurch einen Raum öffnet, in welchem das Unbekannte sich nähert. Interessant ist, dass die enorme Differenz zwischen Anna Freud und Simone Weil in der Deutung von „Aufmerksamkeit“ nicht nur mit der theoretischen Wissensdifferenz zwischen einer Psychoanalytikerin und einer Philosophin verbunden ist, sondern schon mit der Sprache. Die Differenz der Sprache ist von grosser Bedeutung. Während Simone Weils „attention“ mit „attente“ verknüpft ist, d.h. „Aufmerksamkeit“ mit „Warten“, findet sich für Anna Freud in der Vielzahl der im Deutschen üblichen Begriffsdeutungen von Aufmerksamkeit eine Nähe zu „sich merken“ und zu „Wachheit“. Die unterschiedliche Bedeutung von „Aufmerksamkeit“ lässt die enorme Differenz der hinter der Sprache, resp. hinter Begriffen sich im Unbewussten verbergenden persönlichen Erfahrungen ahnen. Wiederum: wie geht das Denken damit um?

Ich erwähnte schon, dass die kreative Vernunft (wie ich sie verstehe) die Vielfalt der verborgenen, aber im Empfinden spürbaren psychischen Teile des Geistes mit den im Denken erkennbaren intellektuellen Teilen in eine sich ergänzende Kraft umzusetzen vermag. Die Art und Weise dieser Umsetzung realisiert sich zumeist durch Intuition und durch Fragen. Das Ziel ist die Aufhebung des Widerspruchs zwischen philosophischer Theorie und lebendigem Leben des denkenden Menschen. Das älteste Vorbild ist wiederum Sokrates, der mit dem schrittweisen Fragen sowohl das Denken wie das Empfinden aufweckte und in einen kreativen Erkenntnisprozess hinein aktivierte, dadurch aber den Behörden so bedrohlich erschien, dass sie ihn zum Tod durch Gift verurteilten. Die nach Innen gerichteten Fragen verbinden tatsächlich das Denken mit dem Empfinden (wenn dies zugelassen wird), wodurch sich eine schöpferische Kraft des innermenschlichen Gesprächs entfalten kann, im Sinn „aufmerksamer“ Zwiegespräche, die mit dem Aushalten und Stehenlassenkönnen der Differenz verbunden sind, der anderen Argumente und der spürbaren Hintergründe anderer Gefühle – kurz, der Andersheit der anderen Teile des gleichen Menschseins. Was Simone Weil nicht umzusetzen vermochte, war die kreative Zustimmung zur vielfachen Differenz zwischen ihrem wissensbesetzten Denken und ihren flucht- und angstbesetzten, mit Theorien zugedeckten Empfindungen.

Das Öffnen des Fächers entspricht somit einer spürbaren Notwendigkeit, die Angst vor den verborgenen Empfindungen zu klären. Sokrates hat bekanntlich diese Art der inneren Dialogik als ein gegen- und wechselseitiges Fragen und Zuhören initiiert, im inneren Gespräch zwischen Geist und Eros, so wie im äusseren Gespräch zwischen denkenden Menschen. Da Eros dem „Begehren“ in einer Vielfalt von Deutungen entspricht, auch jener, die Simone Weil als Bedingung des Erkenntnisvermögens bezeichnet, kann Eros sowohl der Kraft des Empfindens wie jener des Denkens nahestehen, ohne dass Sicherheit bestände, dass das Begehren erfüllt wird. Simone Weil konnte die umfassende Bedeutung des Eros nicht zulassen, auch nicht das klärende Verstehen ihrer Gefühle. Die versteifende, einengende Unsicherheit kommt der Verzweiflung nahe, die sie zum Tode führte.

Die Frage, die sich stellt, ist, wie die skeptische Kraft des Denkens unter Einbezug der Empfindungen eingesetzt werden kann, damit menschliches Leben nicht länger als unnütz, als lästig, als überflüssig erklärt werden kann. Die Beantwortung der Frage kann nicht innerhalb eines einzigen Systems gefunden werden. Die kreative Vernunft mag das Potential des psychischen Mutes sein. Dies ist nicht eine Utopie, sondern ein dringliches Projekt – dringlich wegen der vielen Menschen, die das Leiden, die Demütigung des Ausgeschaltetwerdens, die erzwungene Flucht und die Zukunftsangst nicht mehr ertragen. Die suizidale Zuspitzung von Simone Weils Leben mag ein Beispiel dieser Dringlichkeit sein.

Der Abend hat mich zugedeckt                                     Der Abend hat mich zugedeckt

So weich wie Samt, so schwer wie Leid.                          So weich wie Samt, so schwer wie Leid.

Ich weiss nicht mehr wie Liebe tut                                  Und nirgends sich Empörung reckt

Ich weiss nicht mehr der Felder Glut                              Zu neuer Freud und Traurigkeit.

Und alles will entschweben                                             Und alle Weite, die mich rief

Um nur mir Ruh zu geben.                                              Und alles Gestern klar und tief

Ich denk an ihn und hab ihn lieb                                     Kann mich nicht mehr betören.

Doch wie aus fernen Landen                                           Ich weiss ein Wasser gross und fremd

Und fremd ist mir das Komm und Gieb                          Und eine Blume, die keiner nennt,     

Kaum weiss ich was mich bangt.                                    Was soll mich noch zerstören?

Der Abend hat mich zugedeckt                                Der Abend hat mich zugedeckt

So weich wie samt so schwer wie Leid                            so weich wie Samt, so schwer wie Leid. [236]

Hannah Arendt (14.10.1906 – 4.12.1975)

Das Gedicht schrieb die damals knapp 19jährige Hannah Arendt, nachdem das Dilemma der zugleich aufwühlenden und unmöglichen Liebe zu Martin Heidegger auf Grund seines Entscheides nach einem Jahr einen Abbruch fand – Abbruch und Aufschub zugleich. Denn noch in ihren reifen Jahren schrieb Hannah Arendt als Kommentar zu einer Serie von Photos, die sie von Martin Heidegger gemacht hatte – “… dem ich die Treue gehalten habe und nicht gehalten habe, und beides in Liebe”[237]dies nach ihrer lang zurückliegenden ersten Ehe mit Günther Stern (Günther Anders), dem Sohn der mit ihren Eltern befreundeten Kinderpsychologen Clara und William Stern, den sie 1929, nach dem einen Jahr romantischer und zugleich wehmütig stimmender Erfahrung mit Martin Heidegger, auf den Rat ihrer Mutter geheiratet hatte, ohne dass sie eine andere Nähe als die der freundlich-verlässlichen Fremdheit hätten finden können, auch nach der über dreissig Jahre dauernden zweiten Ehe mit Heinrich Blücher, den sie als nächststehenden Menschen mit nie abbrechender Intensität geliebt und mit dem sie zutiefst kommuniziert hatte. In ihrer späten Abhandlung über “Das Denken”, 1973 im Rahmen der Gifford Lectures an der Universität von Aberdeen vorgetragen[238], hielt sie fest, dass “jede Emotion eine körperliche Erfahrung ist; mein Herz tut mir weh, wenn ich bekümmert bin, mir wird warm von Mitgefühl, öffnet sich in den seltenen Augenblicken, da Liebe oder Wonne mich überwältigt (…). Es gibt keine Empfindungen, die den geistigen Tätigkeiten entsprechen”[239].

Eine erstaunliche Tatsache ist, dass Hannah Arendt die Jugendliebe, die sie als knapp 18jährige für den 17 Jahre älteren Denker aus Bayern empfunden hatte, durch dessen politisches Verhalten und durch ihre Erfahrungen als Jüdin während der Hitlerzeit nicht als Irrtum oder als frühen Romantizismus beigelegt  hatte, sondern als etwas Bedeutungsvolles beibehielt. Dass sie Heideggers nationalsozialistisches Mitläufertum zu verstehen versuchte und es ihm nicht nachtrug. Denn die Haltung, die sich hinter ihrem Bekenntnis zur gleichzeitigen Treue und Freiheit in der Liebe zeigt, gilt nicht nur für das Verhältnis zu Martin Heidegger, sondern für alle Verhältnisse, die für Hannah Arendt im Sinn von Liebe und von Freundschaft (im engeren und weiteren Sinn) Bedeutung hatten – nicht in Blindheit oder in kritikloser Benommenheit, im Gegenteil. Von sich selber hielt sie im Gespräch mit Günter Gaus 1964 fest: „Ich habe mich mit den Leuten auseinandergesetzt, ich bin nicht sehr freundlich, ich bin auch nicht sehr höflich, ich sage meine Meinung“. Liebe und Skepsis hielten sich in ihr als Band zwischen Fühlen und Denken, und boten zugleich den Massstab für die moralische Beurteilung des Handelns. Quasi rückblickend hielt sie 1973, mit 67 Jahren fest: “Ohne den sexuellen Drang (…) gäb es keine Liebe; der Drang ist immer derselbe, doch wie gross ist die Vielfalt der tatsächlichen Erscheinungen der Liebe!” –  und sie fügt bei: “Der Mutige ist nicht einer, in dessen Seele diese Emotion nicht vorkommt oder der sie ein für allemal überwinden kann, sondern einer, der sich entschlossen hat, keine Furcht zu zeigen”[240]. Was Hannah Arendt unter der “Vielfalt der Erscheinungen der Liebe” verstand und welche Werte sie damit verband, das wird in erster Linie Gegenstand der Untersuchung sein.

Neben zahlreichen Briefen, die im grossen Briefwechsel mit Martin Heidegger, mit Heinrich Blücher, Mary McCarthy, Karl Jaspers, Kurt Blumenfeld und weiteren bedeutenden Menschen vorliegen, neben Gedichten und persönlichen Aufzeichnungen sind es drei von Hannah Arendts Werken, die ganz der Bedeutung von Liebe gewidmet sind. Die ersten zwei sind im Rahmen der universitären Zusammenhänge von Ausbildung und Karriereplänen entstanden und geben wieder, was sie in ihrer Jugendzeit zu klären versuchte: einerseits die Untersuchung des Liebesbegriffs bei Augustinus – jenes „appetitus“, der dem Streben nach einem „Freisein von Angst“ -„metu carere“ – gerecht zu werden sucht, womit sie ihr Doktorat erlangte, andererseits die Darstellung von Rahel Varnhagens Lebensgeschichte,  jene „Entwicklung einer deutschen Jüdin aus der Romantik“[241], deren Briefe zu lesen und deren Geschichte nachzugehen ihr nach dem Abbruch mit Martin Heidegger von Anne Mendelssohn empfohlen worden waren – als Trost einer „wirklich besten Freundin, die nur leider schon 100 Jahre tot ist“, wie Hannah Arendt festhielt. Dass sie sich mit der Biographie Rahel Varnhagens ursprünglich zu habilitieren dachte, kam wegen der Zeitgeschehnisse nicht zustande, doch das Buch behielt für sie eine prioritäre Bedeutung. Sie schloss es in den USA ab, wo es noch vor der Übersetzung und Publikation in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Was Hannah Arendt über die suchende, immer wieder enttäuschte Sehnsucht nach Verlässlichkeit in der Liebe darzustellen vermochte, über die Sehnsucht einer Frau, die zwischen traditionellem Rollenverständnis und Emanzipation, zwischen gesellschaftlich diskriminiertem Judentum und höfischem Leben einen persönlichen Weg zu gehen versuchte, war teilweise, ein Jahrhundert später, auch ihr Weg zwischen den Welten.

Einen anderen Teil von Hannah Arendts eigenem Weg findet sich im dritten Werk, das mir im Zusammenhang dessen, was sie unter Liebe versteht, wichtig erscheint: im „amor mundi“[242] – resp. in der „Vita activa“. Was sich im „amor mundi“ manifestiert, ist letztlich die unverbrüchliche Zustimmung zum Leben als Mensch unter Menschen, d.h. zur Existenz in der Welthaftigkeit. Existenz allein, ohne die Rückkoppelung in der Pluralität des Zusammenlebens, ist für Hannah Arendt sinnlos, da Existenz sich gemäss ihren Überlegungen über die Freiheit definiert, und da Freiheit wiederum sich nur aus der Pluralität heraus konstituiert: gegeben durch die nicht wählbare Natalität – die Gebürtlichkeit – mit allen Herkunfts- und Zeitbedingungen sowie begrenzt durch die Tatsache der Mortalität, die Sterblichkeit, jene Tatsache, die in ihrer angstbesetzenden Unausweichlichkeit wiederum mit dem Geheimnis des augustinischen  appetitus nach Liebe eine Ertragbarkeit sucht.

Hannah Arendt, obwohl seit ihrer Jugend der Existenzphilosophie verbunden, hätte sich nie mit dem Nachdenken über das “Geworfensein” der Existenz begnügen können, wie es Martin Heidegger tat, dem sie, wie ich schon erwähnte, mit kaum 18 Jahren als junge Studentin an der Universität Marburg begegnete war, fasziniert durch dessen Ausstrahlung als genialer Denker und Naturbursche, eine Liebe, die dieser, fasziniert durch die besondere Intensität und Klugheit der jungen Frau, eingeläutet hatte, die er jedoch nach knapp einem Jahr der geheimen Begegnungen nicht fortzusetzen dachte. Hannah Arendt, obwohl verletzt, versuchte, statt zu urteilen, zu verstehen, so dass die mehr als freundschaftliche Beziehung zwischen ihr und Heidegger 1949, als sie im Auftrag der Jewish Cultural Construction  in Deutschland weilte, zu einer neuen Begegnung und zu einem zweiten sowie in den späten Jahren zu einem dritten – zum Teil intensiven – Austausch gegenseitiger Bewunderung des Denkens führte. Dass sie Heidegger nicht ihrem Urteil aussetzte, hing damit zusammen, dass ihrer Ansicht nach Urteilen, resp. das klare Unterscheiden von Recht und Unrecht, die Fähigkeit zum politischen Handeln begründet, die jeder Mensch selber übernehmen muss, dass aber in den Belangen der Liebe – ob der Leidenschaft oder der Freundschaft – es gemäss ihrer Auffassung jener nährenden, generösen Zustimmung zur Differenz und zur Besonderheit bedarf, wodurch Unvollkommenheiten, ja selbst Enttäuschungen ertragen werden.

Diese von Leidenschaft, Zärtlichkeit und Leiden geprägte Zustimmung zur Existenz in der zeit—und geschlechterbestimmten Welthaftigkeit – auch mit allen belastenden und schweren Teilen -, resp. ihre Liebe zu einer Reihe bedeutender Menschen in den gelebten Verhältnissen beeinflusste zutiefst Hannah Arendts Verhältnis zu ihrer jüdischen Herkunft, zur deutschen Sprache und zur Kulturgeschichte Europas,  insbesondere im Ausdruck der griechischen und römischen wie der späteren Kunst und Literatur. Jüdische und deutsche Herkunft prägten ihre Identität auf eine für sie selber nicht widersprüchliche Weise. Am unmissverständlichsten setzte sich diese Übereinstimmung in der Liebe zu Heinrich Blücher um. In ihr spiegelte und konkretisierte sich nicht nur Anziehungskraft und Lebendigkeit in den sinnlichen, emotionalen und alltäglichen Zusammenhängen, sondern auch in den intellektuellen und politischen. Diese Liebe ging einher mit verlässlicher partnerschaftlicher Freundschaft für die Dauer ihres ganzen Lebens – obwohl die Bereiche des Intellekts und der Psyche – der politische und der persönliche – gemäss ihrer Antwort auf Günter Gaus’ Frage im Fernsehinterview von 1964 eine je verschiedene Einstellung voraussetzen. “Wenn man diese Dinge miteinander verwechselt, wenn man also die Liebe an den Verhandlungstisch bringt, um mich einmal ganz böse auszudrücken, so halte ich das für ein sehr grosses Verhängnis[243].

Hannah Arendt formulierte sich entschieden und unmissverständlich, ohne verhindern zu können, dass die Aussagen manchmal widersprüchlich erscheinen. Im gleichen Gespräch sagte sie auch, in der Freundschaft und in der Liebe werde ein Mensch direkt, ohne Weltbezug, angesprochen, während die politischen Verhältnisse sich ausschliesslich im Weltbezug abspielen würden. Trotzdem gilt, meine ich, dass alle Verhältnisse sich innerhalb des Weltbezugs resp. der Welthaftigkeit bilden und realisieren, sogar das Verhältnis zur Transzendenz, das religiöse Verhältnis. Auch dieses wird vom Menschen aus seiner Weltbedingtheit heraus angestrebt.

Über den Mut zur Besonderheit von Empfinden, Denken und Verantwortung – zur Freiheit

Um einen Menschen in den Gefühlsentscheiden, in der Gefühlsstärke oder in der Abwehr und Absenz von Gefühlen zu verstehen, gleichzeitig in der Besonderheit und Vielfalt seiner intellektuellen Fähigkeiten und seiner existentiellen Besonderheit, ist es nützlich, die Kindheit zu befragen. In welchem Milieu wuchs Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Königsberg geboren, auf?  Welches waren die entscheidenden Bindungen und Vorbilder[244]?

Unbestritten prägte sie die Liebe ihrer Eltern für- und zueinander, beide gebildet und emanzipiert, beide auch Mitglied der – damals in Deutschland noch verbotenen – sozialistischen Partei. Es war eine so starke Beziehung, dass Martha Cohn, im Wisssen um die Jahre zurückliegende Syphilisinfektion Paul Arendts, beschloss, ihn trotz der Krankheit zu heiraten. Damals glaubte man, einen Syphilisinfekt durch eine sekundäre Infektion mit Malaria-Fieber zu heilen, und Paul Arendt unterzog sich dieser Therapie. Er war denn auch während einiger Jahre, bis die kleine Hannah zwei Jahre alt war, symptomfrei. Als er 1914 starb, nach einem Leiden, das die Einlieferung in die psychiatrische Klinik von Königsberg erforderte, hatte die achtjährige Hannah eine fürsorgliche, zärtliche Beziehung zu ihm aufgebaut, deren Ausgewogenheit ihre Mutter erstaunte. Ein Jahr zuvor war auch der geliebte Grossvater, Max Arendt, aus dem Leben geschieden. Mit beiden so früh verlorenen Vaterfiguren war sie über Geschichtenerzählen, Spaziergänge, Kartenspielen und wieder Geschichtenerzählen auf persönliche Weise verbunden. Ich vermute, dass sowohl ihre Lebensmaxime – “put all your sorrows into a story and tell it” – wie ihre Liebe zu auch väterlichen Elementen des „masculini generis“, wie sie insbesondere Heinrich Blüchers Persönlichkeit bezeichnete, auf diese frühe Kindheitserfahrung zurückgehen.

Die Bindung an die Mutter und deren Vorbild als unerschrockene, emanzipierte Frau  – ihr Rat war „sich nie zu ducken” –  war für die heranwachsende Hannah entscheidend gewesen, wobei sich im Lauf der Jahre zunehmend die Rollen vertauschten. Als der Nationalsozialismus Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre immer bedrohlicher wurde, und als 1933, nach einer glimpflich abgelaufenen Verhaftung,  Hannah – damals Stern-Arendt  – beschloss, Deutschland über die grüne Grenze zu verlassen und mit Zwischenhalten in Prag und Genf nach Paris zu emigrieren, wohin Günther Stern sich nach dem Reichstagsbrand schon abgesetzt hatte, da schloss sich Martha Arendt der Tochter an, obwohl ihr zweiter Ehemann, Martin Beerwald, Königsberg nicht zu verlassen gedachte. (Hannah Arendt war 14 Jahre alt gewesen, als ihre Mutter diese zweite Ehe eingegangen war, wodurch sie nicht nur einen Stiefvater, sondern auch zwei ältere „Schwestern“, Clara und Eva Beerwald, gewann. Clara, begabt, jedoch schwer geprägt durch unglückliche Liebeserfahrungen, nahm sich 1933 das Leben; Eva überlebte durch Emigration nach England. Martin Beerwald hatte das Glück, eines natürlichen Tods zu sterben, bevor er in Gefahr war, deportiert zu werden, während Marthas Schwester Margaret Fürst, die in Berlin lebte, in ein KZ deportiert und umgebracht wurde). Martha Beerwald-Arendt folgte ihrer Tochter nicht nur nach Paris, sondern schliesslich auch in die Emigration nach New York. Sie starb 1948, als sie auf dem Weg von den USA nach England war, wohin sie umzuziehen dachte, um bei Eva Beerwald zu leben. Es war die Zeit, als Hannah Arendt an der Abschlussarbeit von „Origins of Totalitarism“[245] war, überbeschäftigt und fern von ihrer Mutter.

Die Beziehung zur Mutter war für Hannah Arendt während Jahrzehnten nicht nur die nie in Frage zu stellende emotionale Sicherheit, die als “holding security” ihre Kindheit geprägt hatte; sie wurde auch zum Modell für langdauernde zärtliche Freundschaften mit Frauen – mit Anne Mendelsohn, Hilde Fränkel, mit Mary McCarthy und mit Lotte Köhler -, während der frühe Tod des Vaters zu einem Bedürfnis nach „Ersatzvätern” führte.

Die erste Liebe dieser Kategorie hatte Rabbi Vogelstein gehört. Der mit der Familie befreundete Hermann Vogelstein[246] – auch er ein Mitglied der Sozialistischen Parte und der Begründer der Königsberger Reformgemeinde – war nicht nur Hannahs Religionslehrer seit den frühesten Schuljahren, sondern auch der Mann, von dem die Neunjährige behauptete, sie würde ihn heiraten, wenn sie gross sei. Und als Hannah mit 14 Jahren ihm gegenüber kundtat, sie glaube nicht mehr an Gott, fragte er gelassen, wer denn dies von ihr verlangt hätte.

Eine andere Art „Vaterbeziehung“ bahnte sich mit Kurt Blumenfeld an, der ebenfalls mit den Eltern befreundet gewesen war und dem sie Anfang der Dreissigerjahre wieder in Berlin begegnete, einem Juristen, der als langjähriger Sekretär des Zionistischen Weltverbandes und als Präsident der zionistischen Vereinigung für Deutschland Hannah Arendt  eine Möglichkeit bot, sich dem wachsenden Antisemitismus gegenüber nicht hilflos zu fühlen. Hannah trat der zionistischen Vereinigung nicht bei, reiste jedoch als Studentin in deren Auftrag mit Aufklärungsvorträgen gegen den Antisemitismus in ganz Deutschland umher und engagierte sich in Berlin auch im Rahmen eines Forschungsauftrags über Antisemitismus in Berufs- und Verbandsblätttern. Diese Tätigkeit in der Nationalbibliothek zog die Verhaftung nach sich, wie ich schon erwähnt habe. Mit Kurt Blumenfeld, der 1933 ins damalige Palästina auswandern konnte, blieb sie bis zu dessen Tod in naher Verbindung, die, wie der 1995 veröffentlichte Briefwechsel beweist[247], zärtlich, vertraut geschwätzig, und, wenn es um das Austragen von Meinungsverschiedenheiten ging, schonungslos offen war. In wichtigen Fragen, etwa in jenen, die das deutsche Judentum betrafen, insbesondere in Fragen der Assimilation und der Antisemitismusanalyse, war Hannah Arendt dankbar um die Unterstützung, die sie von dem älteren Freund bekam. Auch in Bezug auf Israel, auf das, was sie den Nationalismuskonflikt nannte, stimmten sie in vielem überein. Die grösste Differenz entstand nach Hannah Arendts Rapport über den Eichmann-Prozess und konnte nicht mehr geklärt werden, da Kurt Blumenfeld 1963, im gleichen Jahr, als das Buch erschien und das er selber nicht gelesen hatte, sie anlässlich ihres Besuchs in Jerusalem nicht mehr sehen wollte; wenig später starb er.

Die offen ausgesprochene jüdische Selbstkritik, die sie am Rand der vielseitigen Untersuchung von Eichmanns Schuld machte, wurde von vielen der langjährigen Freunde als Affront missverstanden, etwa von Gershom Scholem, Hans Jonas oder Robert Weltsch, so dass sie die Freundschaft mit Hannah Arendt abbrachen. Dies belastete sie stärker als der öffentliche „Krieg“, der ihr gegenüber von verschiedenen Seiten angetan wurde, insbesondere angestachelt durch Blumenfelds Freund Siegfried Moses, während Jahren auf erniedrigende Weise, eigentlich bis 1967, als mit dem Siebentagekrieg die Aufmerksamkeit nicht mehr auf Hannah Arendt gelenkt werden konnte. Die Art der Beurteilung und Bestrafung ihres Denkens aus den eigenen Kreisen war für Hannah Arendt unverständlich. Nicht nur sie fühlte sich davon verletzt, sondern zutiefst auch Heinrich Blücher, der sie in allem zu verteidigen suchte. Ihr wichtigstes Anliegen war, dass Menschen, die einander nahe stehen, sich durch Meinungsverschiedenheiten nicht verlieren. Was sie Gershom Scholem geschrieben hatte, als er sich wegen eines noch während des Weltkriegs publizierten Artikels – “Zionism reconsidered”[248] -, in welchem sie ihre Überzeugung eines föderalistischen, bi-nationalen Staates mit menschenrechtlich gesicherter, friedensichernder Gleichberechtigung vertrat,  mit ihr überworfen hatte, drückt ihre Haltung aus: „Vielleicht können sie sich in diesem Fall entschliessen, es so zu halten wie ich: nämlich, dass Menschen mehr wert sind als ihre Meinungen, aus dem einfachen Grund, weil Menschen de facto mehr sind, als was sie denken oder tun.”[249]

Dieser Grundsatz der prinzipiellen Zustimmung, ohne dass es einer völligen Übereinstimmung bedurft hätte, erscheint mir für alle Beziehungen Hannah Arendts entscheidend. Er versteht sich, denke ich, aus ihrem Verständnis von Freiheit, das auch das Irren und Fehlen einschliesst. Eine Freundschaft, die auf Generosität gebaut ist, ist ohne dieses Verständnis von Freiheit ein konditionales Konstrukt. Hannah Arendt selbst war dieser Generosität rückhaltlos verpflichtet. Dazu kam als weiteres wichtiges Element für die Bildung langdauernder Freundschaft der sprachliche Austausch, insbesondere über die deutsche Sprache. Als sie nach dem Krieg, nach einem Unterbruch von 17 Jahren, das erstemal wieder nach Deutschland reiste, im Auftrag einer amerikanisch-jüdischen Organisation, ein Inventar der nach der nationalsozialistischen Vernichtung noch vorhandenen Kultgegenstände und -orte zu machen, und als sie nach ihrem Eindruck gefragt wurde, da sagte sie unumwunden, das stärkste Erlebnis sei gewesen, dass “auf der Strasse deutsch gesprochen wurde”. Und über die Wiederbegegnung mit Heidegger in Freiburg sagte sie, dass sie “durch ihn wie immer die deutsche Sprache in ihrer ganzen eigenartigen Schönheit wieder  empfing, als wirkliche Dichtung”.[250]

Auch Karl Jaspers – neben Kurt Blumenfeld, der den jüdischen „Vater” ersetzte – eine Art deutscher Vaterfigur in ihrem Leben, Doktorvater und jahrzehntelanger Gesprächspartner[251], verehrte sie seit den Studienjahren in Marburg zutiefst nicht nur wegen seines Humanismus, sondern auch wegen seiner Sprache. “Wo Jaspers spricht, wird es hell”, antwortete sie mit lächelnder Ergriffenheit, als Günther Gauss sie im schon erwähnten Fernsehinterview auf diese Beziehung hin ansprach. Jaspers gegenüber liess sie viel von der verzeihenden Generosität spüren, mit der sie die Beziehung zu Heidegger für sich rettete und die sie Scholem gegenüber verteidigte. Nie machte sie Jaspers den leisesten Vorwurf, dass er seine Stimme auch nicht ein einziges Mal gegen die Naziverbrechen erhoben hatte oder dass er in keiner Weise bei einer der Widerstandgruppen mitgewirkt hatte. Er war mit seiner jüdischen Frau aus Deutschland emigriert und hatte sich in Basel niederlassen können, wo Hannah Arendt ihn nach dem Krieg fast jährlich besuchte, und die Gespräche, die sie mit ihm führte, waren für sie, wie sie immer wieder versicherte, ungetrübte Labsal.

Bevor ich auf Heinrich Blücher eingehe, will ich noch eine wichtige Freundschaft erwähnen: diejenige mit Walter Benjamin. Dieser grüblerische Aussenseiter unter den deutsch-jüdischen Denkern stand ihr in den Pariser Jahren nahe, nicht zuletzt, weil sie in ihm den „Paria” verkörpert sah, den sie innerhalb des Judentums als den „eigentlichen Menschen” betrachtete, wie sie mehrmals schrieb. Die Erinnerung an ihn hielt sie viele Jahre nach seinem Tod in einem hervorragenden Essay fest[252]. Die antisemitische Verfolgungswelle, die auch das Leben in Frankreich zu einem Albtraum werden liess, hatte nach dem Einmarsch von Hitlers Armee 1940 sowohl die Verhaftung politischer Flüchtlinge – darunter Heinrich Blüchers – wie die Internierung jüdischer Frauen zwischen 17 und 55 Jahren, somit auch Hannah Arendts, im Vélodrome d’Hiver, dieser grossen Sportarena in Paris, bewirkt, aus welcher sie nach einer Woche ins Lager Gurs[253] am Fuss der Pyrenäen wegtransportiert wurden. Die chaotischen Verhältnisse Ende 1940 machten es möglich, dass sowohl Blüchers Entlassung wie die Freilassung Hannah Arendts und Martha Beerwalds aus dem Pyrenäenlager möglich wurde. Benjamin war gleichzeitig über Lourdes in die Gegend von Marseille gereist, der einzigen noch unbesetzten Zone Frankreichs, von wo aus er mit einer kleinen Gruppe anderer Flüchtlinge über das Gebirge nach Spanien zu gelangen dachte, um dann mit Hilfe eines Notvisums in die USA zu reisen[254]. Aber an jenem Tag, als Benjamin in Spanien anlangte, wurden die französischen Transit-Visa, die in Marseille ausgestellt worden waren, für ungültig erklärt. Die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland sollten nicht durch Spanien durchgelassen werden, um Portugal und ein Schiff in die USA erreichen zu können. Walter Benjamin nahm sich das Leben, völlig erschöpft von der Menschenjagd, als deren Opfer er sich fühlte. Eine schwere Tasche mit Manuskripten hatte er über die Berge geschleppt, die irgendwo verschwand. Andere Manuskripte musste er in Paris zurücklassen; sie wurden von der Gestapo beschlagnahmt und nach Potsdam abgeführt. Seinen letzten Text – die Thesen „Über den Begriff der Geschichte”[255] – hatte er Hannah Arendt anvertraut, die diese nach New York rettete und sich dort für deren Veröffentlichung einsetzte, in ständigem Kampf gegen die unfreundlichen Erschwernisse von Seiten Adornos.

Auch Heinrich Blücher[256] hatte Hannah Arendt 1936 in Paris kennengelernt.  Sie arbeitete damals als Sekretärin für verschiedene Organisationen, darunter für die Jugend-Aliyah, dank welcher jüdische Jugendliche aus Deutschland ins damalige Palästina auswandern konnten, nachdem sie vorher in Frankreich versorgt, ausstaffiert und mit Hebräischkenntnissen versehen worden waren. Als Begleiterin einer dieser Jugendgruppen war es Hannah Arendt möglich, über Sizilien mit dem Schiff das erstemal ins damalige Palästina zu reisen und dadurch sowohl architektonische Zeugnisse der von ihr so sehr bewunderten griechischen Kultur kennen zu lernen wie die frühesten Kibbuzim. Blücher gehörte zu den ehemaligen Kommunisten, die einerseits durch die Gestapo verfolgt wurden, andererseits den totalitären Charakter des Stalinismus erkannten und daher warnend und aufklärend gegenüber beiden Systemen wirkten. Er war im Frühling 1934 aus Berlin über Prag nach Paris geflohen. Hannah Arendt begegnete ihm im Emigrantenkreis, den auch Walter Benjamin, Erich Cohn-Bendit (ein Rechtsanwalt, Daniel Cohn-Bendits Vater), Fritz Fränkel (ein Psychoanalytiker), Karl Heidenreich (ein “entarteter” Maler), Chanan Klenbort (ein aus Polen stammender Journalist) u.a.m. frequentierten. Blücher war kein Akademiker, sondern ein „Proletarier“, 1899 in Berlin geboren, Sohn eines Fabrikarbeiters, welcher an den Folgen eines Arbeitsunfalls vor seiner Geburt gestorben war, und einer Wäscherin, die ihn allein aufgezogen hatte. Heinrich Blücher hatte an den Arbeiteraufständen von 1918 in Berlin auf Seiten der Spartakisten teilgenommen, deren führende Köpfe, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, am 15. Januar 1919 ermordet wurden.

Heinrich Blücher war, wie Hannah Arendt ihn im Vergleich mit Leo Jogiches, Rosa Luxemburgs Geliebten, bezeichnete und liebte, ein „Mann der Tat”[257], Gründungsmitglied der 1918 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands. Seine Leidenschaft galt dem Lesen und Lernen, dem Sprechen und Verstehen, insbesondere dem Diskurs. An der 1920 in Berlin gegründeten Hochschule für Politik hatte er Politische Theorie studiert (diese Hochschule liess auch Studierende ohne Abitur zu). Seine Erfahrung mit dem Aufbau, dem Niedergang und dem Fall der Kommunistischen Partei Deutschland war für Hannah Arendt das Lehrbeispiel für eine revolutionäre Bewegung, die nur Erfolg haben kann, wenn sie über ein gutes Netz von Arbeiterräten verfügt, wie sie immer wieder schrieb. Er war ein politischer Kopf, von dem Hannah Arendt sagte, dass sie dank ihm „politisch denken und historisch sehen gelernt habe, ohne deswegen davon abzulassen, sich historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren”. Alle grossen Werke Hannah Arendts – “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”, “Vita activa”, “Über die Revolution” u.a.m. – waren in enger Zusammenarbeit mit Blücher entstanden.

Dass Blücher noch in zweiter Ehe verheiratet war, als Hannah Arendt sich mit ihm 1936 befreundete, erfuhr sie erst 1937, als seine Frau, Natascha Jefroikyn, ebenfalls nach Paris flüchtete. Sowohl Blücher wie Hannah Arendt, die auch noch mit Günther Stern verheiratet war (der noch vor Kriegsausbruch in die USA emigrierte), liessen sich von ihren Ehepartnern scheiden und gaben sich auf einem Pariser Zivilstandamt das Ja-Wort. Dies war die Voraussetzung, damit sie 1941 überhaupt gemeinsame Visa nach den USA beantragen konnten, deren Realisierung von Günther Stern ermöglicht wurde.

Heinrich Blücher war, wie die Bibliographin Elisabeth Young-Bruehl schrieb, “flatterhaft und starrsinnig”, zugleich so kritisch und erbarmungslos, auch so bestimmt in seinem Urteil über die Unzulänglichkeit von Dingen, dass er für die einen unerträglich war, für die anderen erfrischend und von hohem Wert. Mit Martha Beerwald-Arendt, Hannahs Mutter, vertrug er sich nicht; sie fand ihn rüppelhaft und unerzogen. In den USA, wo sie zu dritt in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung lebten (das Ehepaar Blücher schlief in der Küche) war das Leben anfänglich in jeder Hinsicht schwierig. Während Hannah Arendt 1941 eine Stelle beim deutschsprachigen, jüdischen Magazin „Der Aufbau” fand, auch eine Stelle als Lektorin im Schocken-Verlag, wo sie u.a. die Bücher von Franz Kafka, Bernard Lazard, von Walter Benjamin und Gershom Sholem betreute, sodann eine Stelle als Forschungsleiterin der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction und ein Jahr später einen Lehrauftag beim Brooklyn-College zugesprochen bekam, war es für Blücher sehr viel mühsamer, irgendwie Fuss zu fassen. Hannah Arendt und Heinrich Blücher lebten in einer ungleichen Realität, trugen aber gemeinsam die beklemmende Last der Nachrichten aus Europa über Hitlers „Endlösung”, das Entsetzen über das Schicksal der Menschen in den Lagern, die lähmende Ohnmacht.  Beide waren von Gefühlen der Verzweiflung besetzt. Ihnen wurde erst in New York verständlich, was Walter Benjamin in den Tod getrieben hatte. Hannah Arendt schrieb damals ein Gedicht, das sie dem toten Freund widmete.

“Einmal dämmert Abend wieder. Nacht fällt nieder von den Sternen, liegen wir, gestreckte Glieder, in den Nähen, in den Fernen

Aus den Dunkelheiten tönen sanfte kleine Melodien. Lauschen wir, uns zu entwöhnen, lockern endlich wir die Reihen.

Ferne Stimmen, naher Kummer: Jene Stimmen jener Toten, die wir vorgeschickt als Boten, Uns zu leiten in den Schlummer.”[258]

Hannah Arendt kämpfte im „Aufbau” in New York für die Idee einer jüdischen Armee, damit den Juden nach dem Krieg ein Platz in Europa gesichert wäre. Zunehmend geriet sie in einen Gegensatz zu den zionistischen Kräften um David Ben Gurion, der einen jüdischen Nationalstaat anstrebte. Auf der anderen Seite war Judah Magnes von der Hebräischen Universität in Jerusalem, der sich für einen Zwei-Völker-Staat im Rahmen einer arabischen Föderation einsetzte. Der Gegensatz spitzte sich auf der Biltmore-Konferenz von 1942 in New York zu und führte schliesslich zu einem Schreibverbot Hannah Arendts im „Aufbau”. Was Hannah Arendt vorschwebte, war ein staatliches Gebilde, in dem es keine Unterschiede zwischen Majoritäts- und Minoritätsstatus geben sollte und welches Teil des britischen Commonwealth wäre. Sie war mit ihrer Auffassung jedoch isoliert. Es war für sie ein Glück, eine Forschungsstelle bei der „Conference on Jewish Relations” angeboten zu bekommen, auf Grund derer sie nachher in den „Jewish Social Studies” eine Liste – vorläufige Liste – der jüdischen Kulturgüter in den von den Nazis und den italienischen Faschisten besetzen Ländern erstellen konnte. Im Auftrag der daraus entstehenden “Commission on European Jewish Cultural Reconstruction” machte sie 1949 ihre erste Europareise, kam so auch das erste Mal wieder nach Deutschland, wie ich schon erwähnt habe. (Heinrich Blücher wartete bis 1961, um erstmals Deutschland wieder zu besuchen).

Unter den vielen Bekannten und Freunden, die Hannah Arendt in den USA um sich scharte, möchte ich insbesondere kurz auf die Schriftstellerin Mary McCarthy eingehen. Die zwei Frauen waren einander 1944 an einer Party begegnet, und sie blieben, nach anfänglichen Missverständnissen, miteinander das Leben lang befreundet. Was sie verband, war die Liebesbereitschaft der Welt gegenüber, obwohl sie diese oft auch als feindlich empfanden; es war eine Mischung zwischen bewahrter Naivität und aufgeklärt-abgeklärtem “Pariatum”. “Was sie von anderen Schriftstellern auf  ihrem Gebiet unterscheidet“ – hielt Hannah Arendt im Zusammenhang ihrer Freundin fest – „ist, dass sie ihre Beobachtungen aus dem Blickwinkel und mit dem Staunen eines Kindes darstellt, das merkt, dass der Kaiser keine Kleider anhat”[259]. Der Briefwechsel  zwischen den beiden Frauen, ein lebhafter, zärtlich-liebevoller Austausch, der 1995 erschien[260], macht vor allem deutlich, dass bei aller Differenz der Lebensgestaltung die gegenseitige Verlässlichkeit von höchstem Wert war. Jeder Ratschlag, den die eine von der anderen brauchte, wurde eingehend brieflich diskutiert und ernstgenommen, und jede Möglichkeit, einander zu treffen, und sei es in Europa, und einige Zeit miteinander zu verbringen, wurde sorgfältig besprochen und realisiert – ob in den USA oder in Paris, in Venedig, Rom, in Griechenland oder in der Schweiz.

Mary McCarthy stand Hannah Arendt auch nahe, als Heinrich Blücher am 30. Oktober 1970 an einem Herzinfarkt starb, plötzlich und gleichzeitig in grosser Ruhe. Blüchers Tod war so eingetreten, wie sie es über zehn Jahre befürchtet hatte. Eine Art Weltverlorenheit begann damit für Hannah Arendt. Sie fühlte sich hilflos, als stände sie nicht mehr mit den Füssen auf der Erde, wie sie Mary McCarthy gestand. Die zwei so verschiedenen Menschen waren in den dreissig Jahren Ehe einander beinah symbiotisch nahe geworden. Beide teilten “die Fähigkeit, sich leidenschaftlich für einen Standpunkt einzusetzen und sich nicht darum zu scheren, ob man aufs falsche Pferd gesetzt hat – oder was es kosten könnte”[261], wie es ein amerikanischer Freund Blüchers, Dwight McDonald, formulierte. Blücher, der nicht nur für seine Frau, sondern auch für zahllose Studierende im Bard College zum grossen Lehrer geworden war, hatte in seiner letzten Vorlesung im Jahre 1968 über die Skala der menschlichen Beziehungen gesprochen, dabei auch über die Liebe im Alter, über das, was ihn und Hannah Arendt nach einem langen gemeinsamen Leben der Treue trotz einiger Eskapaden, nach Jahrzehnten des gemeinsamen Kämpfens und Für-einander-Einstehens verband: … “Der Eros ist überwunden. Er war am Anfang da, aber er ist überwunden worden und spielt keine Rolle mehr. Was jetzt zählt, ist die wechselseitige Einsicht zweier Persönlichkeiten, die einander als solche anerkennen, die letzten Endes zueinander sagen können: ‘Ich garantiere dir die Entwicklung deiner Persönlichkeit, und du garantierst mir die Entwicklung der meinen'”[262]. Es war dies, was bei diesem Paar in dessen „Doppel-Monarchie“ vom Freundeskreis mit Staunen begleitet worden war. Ob der Eros allerdings überwunden war, lässt sich in Frage stellen. Ich denke, dass im Sinn Hannah Arendts diese besondere lebendige Kraft das Geheimnis der sich erhaltenden Liebe war, auch in der Freundschaft, und dass sie auch in den späten Jahren in der Beziehung zu Heinrich Blücher im Sinn eines nicht erblassenden, inneren Lichts erhalten blieb.

Hannah Arendt versuchte in den fünf Jahren, in denen sie Blücher überlebte, die „Vita contemplativa“ mit Büchern über das Denken, über das Urteilen und über das Wollen abzuschliessen,, aber sie kam im Festhalten ihrer Überlegungen immer langsamer voran. Was sie als Bedingungen und Prozesse des Denkens erachtete, was für sie in der Bedeutung der Sprache und in den Aspekten der Zeit bedeutungsvoll war, hielt sie fest, auch der stete Rekurs auf die griechische Denkgeschichte sowie auf die Erkenntnisse Kants und Kafkas. Zwar erhielt sie noch verschiedene Anerkennungen und Preise für ihr Werk, sie machte Reisen nach Europa, traf auch Martin Heidegger wieder, verbrachte in Begleitung von Freundinnen und Freunden wie früher mit Heinrich Blücher lange Ferienwochen im Tessin, in Tegna, aber die Welt „zog sich immer mehr von ihr zurück“, wie sie sich Mary Mc Carthy gegenüber äusserte. Eine der grössten Genugtuungen, die sie noch kurz vor ihrem Tod erlebte, war die Versöhnung mit alten Freunden – so mit Hans Jonas -, die sich von ihr nach dem Erscheinen des Eichmann-Buches abgewendet hatten. Der Historiker Walter Laqueur hatte 1979 in einer Besprechung des Buches festgehalten, dass die Angriffe auf Hannah Arendt eigentlich nicht auf dem beruhten, was sie gesagt hatte, sondern wie sie es gesagt hatte: dass sie eine Intellektuelle war, die vom Temperament her immer zu Übertreibungen neigte.

Hannah Arendt starb an einem Herzinfarkt am 4. Dezember 1975, nach einem Abendessen in ihrer Wohnung in New York mit einem befreundeten Paar. Am 8. Dezember fand eine ergreifende Trauerfeier für sie statt. Hans Jonas, der schon mit ihr in Heidelberg studiert hatte, schilderte sie, wie er sie damals erlebt hatte: „Scheu und in sich gekehrt, mit überwältigend schönen Zügen und einsamen Augen, ragte sie sofort als aussergewöhnlich, als einmalig heraus. Grosse Intelligenz war dort keine Mangelware. Aber hier war eine Intensität, eine innere Zielrichtung, ein Gespür für Qualität, ein Suchen nach dem Wesentlichen, ein Bohren nach Tiefe, die ihr etwas Magisches gaben. Man spürte eine absolute Entschlossenheit, sie selbst zu sein, gepaart mit zähem Willen, auch angesichts grosser Verletzlichkeit daran festzuhalten“[263]. Und ihr amerikanischer Verleger, William Jovanovich, verabschiedete sich von ihr mit den Worten: „Sie war so leidenschaftlich, wie es jemand, der an die Gerechtigkeit glaubt, nur sein kann, und wer an die Barmherzigkeit glaubt, bleiben muss“.

Die schöpferische Potenz Hannah Arendts als eines „anderen Genies, ging einher mit ihrem intellektuellen und gesamtexistentiellen Verständnis von Liebe. Dieses äusserte sich auf analoge Weise in ihrem Leben und in ihrem Werk.  Ein grosser Reichtum an gelebter Zustimmung zu Menschen ging damit einher, zu Idealen und zu Ideen, zum Mut zur Kritik, in der Akzeptanz der Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens,  immer im Wissen um die „unendlichen Möglichkeiten der Liebe, auch der unerwiderten Liebe“, wie sie einmal nachdenklich zu Mary McCarthy bemerkt hatte. Wenn sie bis zuletzt am „amor mundi“ festhielt, so blieb sie im Emotionalen auch bis zuletzt die mit Rahel Varnhagen verwandte Frau, die sich dankbar zeigte für jede ihr entgegengebrachte Freundschaft und Liebe – beides zugleich: eine selbstsichere Intellektuelle und eine „Paria“ in Zusammenhang der europäischen Geschichte.

Ergänzung zu Hannah Arendt:

Freiheit – Politisches Handeln zwischen Gesetz und Urteilsvermögen

Unter den nachgelassenen Fragmenten Hannah Arendts findet sich eine Schlussbemerkung zur Vorlesung, die sie an der Universität von Berkely im Frühjahr 1955 hielt[264]. Darin zitiert sie die Klage Hamlets “The time is out of joint, the cursed, /  spite that I was born to set it right”.

“Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, / Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam“. Hannah Arendt knüpfte daran ihre eigene Klage über das “Anwachsen von Weltlosigkeit” an, über die sich ausbreitende “Wüste in der Welt”, wodurch zwei wichtige, unverzichtbare Vermögen der Menschen bedroht seien: “das Vermögen der Leidenschaft und des politischen Handelns”. Es seien diese Vermögen, die dazu befähigen, das “Anwachsen der Wüste” zu verhindern und, wie Hannah Arendt schreibt,  “Oasen zu schaffen“, d.h. Räume, in denen Menschen zusammenleben können unter Bedingungen der Kultur, unter Bedingungen der Pluralität.

Die Bedingungen von Kultur und Pluralität beruhen – im Sinne Hannah Arendts – einerseits auf der Freiheit jedes einzelnen Menschen, andererseits auf der wechselseitigen, arbeitsteiligen Angewiesenheit der Menschen von einander. Auf diesen Bedingungen beruht das politische Handeln in der Aktualität wie in der Geschichtlichkeit. Sie gestatten daher den Menschen, dass sie sich zum Konsens wie zur Kritik, damit zum Neubeginn in die Gestaltung des Zusammenlebens einmischen.

Kultur und Pluralität bedürfen der Korrigierbarkeit des Getanen. Das Getane kann zwar nie ungetan werden, doch dank der Fähigkeit des Menschen, das Getane zu beurteilen und über Freiheit zu verfügen, kann die Geschichte – d.h. der Ablauf der Zeit und der vielen Leben in dieser Zeitgenössigkeit – eine andere Wendung nehmen. Die Korrigierbarkeit bedarf der Freiheit als “des Vermögens zum politischen Handeln” insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Gesetz, das die allgemeine, rechtliche Rahmenbedingung für gelebte Freiheit schafft. Und die” Leidenschaft”? Ist der aus den Mangelerfahrungen gewachsene,  leidvolle[265] Teil der kreativen Vernunft darunter zu verstehen? Für Hannah Arendt gilt, dass die Freiheit da auf den Plan tritt, wo sie aufleuchtet, deutlicher oder verhaltener, je nach den handelnden Menschen. Mit Leidenschaft verbindet sich bei ihr der  – nicht-theoretische, sondern sich im Handeln äussernde – “amor mundi”[266], die Kraft der rückhaltlosen Zustimmung zu dem, was die Menschen untereinander verbindet, zum “Bezugsgeflecht” zwischen den Menschen, eine Kraft, die sich ebenso in der Kritik, im Widerstand und in der Ablehnung der “weltzerstörerischen” und menschenverachtenden Gewalt äussert, die jedoch Indifferenz und Eskapismus ausschliesst. Leidenschaft zeigt sich letztlich als Gebrauch des Vermögens, ein persönliches Urteil zu treffen und für dieses einzustehen, ob im Sinn des Gesetzes oder gegen das Gesetz, aber immer zu Gunsten von etwas Grösserem als einem selbst.

Warum aber muss sich das politische Handeln am Gesetz messen? Was ist das Gesetz?

Ich will ein wenig ausholen. “The time is out of joint”… gilt auch heute. Angesichts der wachsenden Anzahl Menschen, die in der um sich greifenden “Wüste” den Eskapismus wählen und in Vereinzelung und Verlorenheit zu überleben suchen, gebrauchen diejenigen, welche die aktuelle Gesellschaft analysieren, für die heutigen Verhältnisse den griechischen Begriff der Krise – wohl zu Recht. Denn “Krise” bedeutet sowohl “zugespitzte Gefährdung” wie “Entscheidung”. Entscheidung würde allerdings das Vermögen zu urteilen und zu handeln – den Gebrauch der inneren Freiheit – voraussetzen. Weil dieses Vermögen jedoch schlecht trainiert und daher geschwächt ist, leider auch unter Intellektuellen, die in erster Linie gesellschaftlichen Erfolg anstreben, und weil es durch die enorme Komplexität der wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen  und sozialen Fragestellungen zunehmend überfordert ist, zeigt sich die Krise als Aporie des Handelns. Die lähmende Unerträglichkeit der Handlungsaporie lässt einerseits die rechtsradikalen Parteien anwachsen, in allen europäischen Ländern, da deren Führer simplifizierende Rezepte zur Beendigung der Krise verkünden; andererseits ergeht, auch von Seiten der Intellektuellen, der Ruf an den Staat, Gesetze resp. Handlungsinstrumente zu schaffen.

Ich gehe kurz auf ein Beispiel ein, das mehr als zehn Jahre zurückliegt, das jedoch immer noch von Bedeutung ist: Es war am 8. März 1997, dass im Lauf der Nachrichten von Radio DRS (dem offiziellen schweizerischen Radiosender) öffentlich mitgeteilt wurde, dass, angesichts des von der öffentlichen Hand immer heftiger auferlegten Spardrucks, die Mehrzahl der Ärzte und Ärztinnen auf Intensivstationen dringlich verbindliche Richtlinien, d.h. ein Gesetz, wünschen, das ihre Befugnis zum Abbrechen lebenserhaltender Therapien definiere. Sie verlangten vom Gesetzgeber, dass dieser allgemeine Kriterien formuliere, gemäss denen sie vom – persönlich verpflichtenden – hippokratischen Eid entbunden würden. Der Zweck des geforderten Gesetzes bestände darin, sie in formal  Hinsicht von der Pflicht zum persönlichen Urteil zu entlasten

Der Hippokratische Eid, Leben zu erhalten, ist die – für die medizinischen Berufe partikulär ausformulierte – positive Fassung des Verbots zu töten. Das Verbot zu töten ist, als universales Verbot, allen staatlichen Rechtsordnungen  übergeordnet und verpflichtet die Menschen nicht als Bürgerinnen und Bürger, sondern als Vertreterinnen und Vertreter der Menschheit. Auf dieses – den staatlichen Verfassungen und Gesetzen übergeordnete – universale Gebot berufen sich, zum Beispiel, alle Kriegsdienstverweigerer und nehmen dafür in Friedenszeiten Gefängnisstrafe, in Kriegszeiten sogar den eigenen Tod in Kauf. Insoweit dieses universale Gebot Teil religiöser Gesetzgebung ist, verpflichtet es die Angehörigen bestimmter Religionen in erster Linie vor Gott, und sie ziehen daher die von Seiten des Staates verhängten Sanktionen in diesem Leben der göttlichen Strafe im Jenseits vor.  Diejenigen, die nicht aus religiösen Gründen das Töten verweigern, sondern auf Grund der Unvereinbarkeit des Tötens mit dem, was ihr eigenes Urteil für Unrecht hält, resp. auf Grund ihres Bedürfnisses, mit sich selbst im Frieden zu sein, haben es schwerer, sich – zum Beispiel in einem Prozess vor Militärgericht – zu rechtfertigen, da sie sich nicht auf ein  übergeordnetes göttliches Gesetz berufen können, auf das sich viele berufen, sondern da sie allein ihr persönliches Urteilsvermögen – ihre innere Freiheit im Sinn des Gewissens oder der kreativen Vernunft – als Rekursinstanz anführen.

Nun handelt es  sich beim Beispiel der Ärztinnen und Ärzte, das ich angeführt habe, um den Wunsch nach einem Gesetz, das diese vom berufsspezifischen Schutz, in bestimmten Situationen töten zu müssen, entbindet (denn der hippokratische Eid bedeutet auch dies, nicht nur die Pflicht, nicht zu töten). Oder, anders formuliert, die Ärzte und Ärztinnen verlangen nach einem Gesetz, das ihnen das Töten erlaubt, obwohl der Hippokratische Eid dies ihnen verbietet.

Der Zusammenhang, aus dem heraus dieser Wunsch öffentlich und dringlich formuliert wird, ist eine Paradoxie nach Aristotelischem Muster: Einerseits stehen auf den Intensivstationen unserer Spitäler technologische Einrichtungen zur Lebensverlängerung und Lebenserhaltung zur Verfügung, die es erlauben, das Eintreten des Todes auf unbestimmte Zeit zu verhindern,  andererseits verlangt eine auf Effizienz und Kostenreduktion erpichte “öffentliche Hand” (die Regierungen auf kantonaler oder auf Bundesebene, aber auch die wirtschaftsorientierten Fraktionen in den Parlamenten und deren Presseorgane) einen Abbau der Leistungen. In dieser Paradoxie ungeschützt zu entscheiden, nämlich allein im Rekurs auf das eigene Urteilsvermögen, und für den Entscheid auch die moralische und die öffentliche, eventuell die strafrechtliche Verantwortung zu übernehmen, ist offenbar für die Mehrheit der Ärzte und Ärztinnen eine Überforderung. Der Ruf nach verpflichtenden Richtlinien entspricht dem Bedürfnis nach moralischer und nach strafrechtlicher Entlastung. Dass gerade das Gesetz, indem es allgemeine Richtlinien des Handelns festlegt, neue Paradoxien schafft, weil allgemeine Richtlinien nie allen partikulären Situationen gerecht werden können, ist unausweichlich.

Hannah Arendt ist sich des Widerspruchs, der mit der Notwendigkeit von Gesetzen und dem Handeln des einzelnen Menschen verknüpft ist, bewusst und thematisiert diesen Widerspruch in mehreren ihrer Werke, zumal sie, dank ihrer gründlichen Kenntnis der Schriften Platons, auf älteste Quellen der Auseinandersetzung um das richtige Handeln zurückgreifen kann. Denn darum geht es, um das richtige  Handeln. Dieses aber stellt sich nicht einfach durch die kritiklose Befolgung der Rechtsordnung ein, sondern durch das “leidenschaftliche” Wagnis, das Vermögen des persönlichen Urteils zu nutzen, wenn nötig auch gegen das Gesetz. Beispiel hierfür ist seit der Antike Sokrates. Die sorgfältige Abwägung, worum es beim richtigen Handeln geht, resp. woran sich dieses misst, findet sich im Gespräch mit Kriton[267]. Es geht dabei um die Auseinandersetzung, ob Sokrates in der Situation des Todesurteils die von den Freunden angebotene Möglichkeit der Flucht benutzen wollte oder nicht. Platon hält fest, dass bei der Frage, was das richtige Handeln kennzeichne, allein das Verhältnis zwischen Ich und Selbst massgebend ist, allein die Zustimmung zu sich selbst, allein der Friede mit sich selbst, der sich als Indiz des richten Handelns einstellt. Hannah Arendt geht im Essay “Ziviler Ungehorsam”[268] von 1970 darauf ein[269]. Das persönliche Urteilsvermögen, das sie hier mir dem religiösen Begriff des Gewissens gleichsetzt, “markiert Grenzen, die nicht überschritten werden sollten. Diese mahnen: Tue kein Übel, sonst musst du mit einem Übeltäter zusammenleben”. 

Allerdings ist für Hannah Arendt das Gesetz – und damit meint sie die Rechtsordnung im allgemeinen, d.h. sowohl die staatliche Verfassung wie die davon abgeleiteten Gesetze – in erster Linie die unverzichtbare Garantie  für den dadurch konstituierten “Raum der Freiheit”, in welchem die “Welthaftigkeit” im Sinn des politischen Handelns der vielen, die zusammenleben, möglich wird.

Interessanterweise entwickelt Hannah Arendt im Lauf der Jahre zwei sehr verschiedene Auffassungen über den Status der Gesetze resp. der Rechtsordnung. In “Vita activa” übernimmt sie Platons Auffassung, gemäss welcher die Gesetzgebung selbst nicht zum politischen Handeln gehört, sondern zum Bereich des Herstellens. Die Gesetze (resp. die staatliche Verfassung) sind, gemäss dieser Auffassung, Produkte, die dem Gebrauch dienen und die der Zweck-Mittel-Rationalität unterstehen. Sie sollen das – möglichst geordnete und gerechte – Zusammenleben ermöglichen, sind aber nicht oberster oder sich selbst genügender Zweck. Denn selbst wenn die Gesetzgebung, wie Platon dies vorsieht, von den Weisesten und Besten im Staat geschaffen wird, mag sie doch unvollkommen und mangelhaft sein. Im “Politicos”[270] stellte der Fremde Sokrates gegenüber fest, dass “das Gesetz nicht imstande ist, das für alle Zuträgliste und Gerechteste zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen. Denn die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen, und dass niemals irgend etwas sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, dies gestattet nicht, dass irgend eine Kunst in irgend etwas für alle und zu aller Zeit Einartiges herstelle”. Diese Auffassung vom Gesetz als unvollkommenes Produkt, als Mittel zum Zweck, impliziert den aus Freiheit, d.h. auf Grund des persönlichen Urteils entstehenden Widerstand gegen das Gesetz, ja selbst dessen Nicht-Beachtung oder Übertretung als verständlich, ja als legitim, selbst wenn diejenigen, die so handeln, die Strafe des Gesetzgebers zu befürchten haben und auf sich nehmen müssen, wie das Beispiel Sokrates’ es bewies, ja wie schon das mythologische Beispiel von Prometheus es verdeutlichte. Letztlich lässt sich mit dieser Auffassung jeder Ungehorsam dem Gesetz gegenüber rechtfertigen, falls er nicht aus Willkür, sondern infolge des sorgfältigen persönlichen Urteils zum Zweck des richtigen Handelns – oder, religiös gesprochen, des guten Gewissens – erfolgt.

Gemäss der anderen Auffassung Hannah Arendts ist die Gesetzgebung nicht ein Produkt aus dem Bereich des Herstellens, sondern ist politischer Natur, nämlich das vorweg zustandekommende Resultat eines impliziten Gesellschaftsvertrags. Im erwähnten Essay “Ziviler Ungehorsam” unterscheidet sie drei Arten “ursprünglicher Übereinkünfte”: als erstes gilt für sie das “theokratische Modell“, wie es sich im Bund Israels mit Gott herausbildet[271]; als zweites das “vertikale Modell” gemäss Thomas Hobbes’ Vorstellung, in welchem jeder Bürger ein Abkommen mit dem Monarchen, resp. mit der weltlichen Macht trifft, wobei er um den Preis grösstmöglicher Sicherheit auf seine Freiheitsrechte verzichtet; schliesslich als drittes das “horizontale Modell”, wie John Locke es entwickelt hat, welches die ursprüngliche Übereinkunft aller Mitglieder der Gesellschaft im Sinn der gegenseitigen Verpflichtung im Sinn des “Konsens”  bedeutet, aus dem heraus eine Regierung ernannt wird. Hannah Arendt betont, dass zwar jede Form des Gesellschaftsvertrags auf Gegenseitigkeit beruht. Jedoch allein das “horizontale Modell” verbindet und verpflichtet die Menschen untereinander in einer Art des gegenseitigen Versprechens, sodass die Gesetzgebung, die aus der Verpflichtung, das Versprechen zu halten, entsteht, ihre bindende Kraft beibehält, auch wenn die Regierung sich als unfähig erweist, wenn sie gestürzt wird oder sich “zur Tyrannei” entwickelt. Wichtig ist, dass der Konsens der sich untereinander verbindenden Menschen auf unbedingte Weise auch den Dissens einschliesst, da nur so der ursprüngliche Vertragscharakter, der ja aus Freiheit zustande kommt, gewahrt werden kann. Während im theokratischen wie im vertikalen Modell Widerstand gegen das Gesetz, resp. Ungehorsam aus Gewissensgründen, Sanktionen nach sich zieht, ja eventuell gar zum Ausschluss führt, muss er im horizontalen Modell legitim sein.

Das “horizontale Modell” liegt der Demokratie zugrunde. Allerdings zeigen sich auch hier Einschränkungen: Im Rekurs auf Tocqueville stellt Hannah Arendt fest, dass leider nur diejenigen von der Legitimität des Dissens profitieren können, die im ursprünglichen Vertrag eingeschlossen gewesen seien. Damit lasse sich zum Beispiel die Tatsache erklären, dass der zivile Widerstand der  Schwarzen in den USA in den Sechzigerjahren dieses Selbstverständnisses entbehrt habe und auf massive Ablehnung gestossen sei, da die Schwarzen zur Zeit der Gründung des Bundesstaates als Sklaven von der Gesellschaft ausgeschlossen gewesen seien, dass daher in der ursprünglichen Vertragsbildung ihnen gegenüber und von ihnen der übrigen Gesellschaft gegenüber keinerlei Versprechen getätigt worden sei. Wichtig erscheint mir zu fragen,  wie es sich mit der offiziellen Repression der Jugendaufstände verhält, sowohl 1968 wie zu Beginn der Achtzigerjahre, nicht nur in den USA, sondern in den europäischen Ländern?[272] Hat der auf der Strasse ausgetragene Dissens der Jugend mit der machtausübenden Gesellschaft und deren massive polizeiliche Gewalt auch mit der Tatsache zu tun, dass Kinder und junge Menschen nie als Rechtssubjekte in den Gesellschaftsvertrag aufgenommen waren, weder in den ursprünglichen noch in aktuellen verfassungsmässigen, und es auch heute nicht sind?

Obwohl Verfassung und Gesetze nach der Vertragstheorie nicht einfach Produkte sind, die, vergleichbar den Stadtmauern im antiken Athen, als ausserhalb des politischen Handelns stehende Artefakte des “Bauherrn” gelten, obwohl sie, im Gegenteil, durch die Bildung von Mehrheiten innerhalb der Gesellschaft im Lauf eines politischen Prozesses verändert werden können, haben sie trotzdem eine machtkonservative orientierungsweisende Funktion, welche Minderheiten und deren Widerstand gegen das Gesetz ins Unrecht versetzt, allen demokratischen Konsens-Dissens-Theorien zum Trotz.

Deutlich zeigte sich und zeigt sich dies in Bereichen, in denen das persönliche Urteil, resp. das Gewissen auf empfindliche Weise gefordert ist, da die Existenz von Menschen auf dem Spiel steht, sei es in Fragen der medizinischen Ethik, sei es in Fragen der Flüchtlings- und Asylpolitik. Der Widerstand gegen das Gesetz, wie er sich in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs bei einzelnen Frauen und Männern herausbildete und sich im Handeln zeigte[273], trotz schwerwiegender zivilrechtlicher, zum Teil  auch strafrechtlicher oder militärrechtlicher Folgen. Es gab tatsächlich Menschen, für welche allein das “richtige Handeln” zählte, Menschen, die nicht dem Gesetz gehorchten, sondern ihrem persönlichen Urteil resp. ihrem Gewissen, es gab sie in allen Ländern, selbst wenn sie dadurch, wie Hannah Arendt es in ihrem Buch zum Eichmann-Prozess schreibt, “in schreiendem Gegensatz” zu dem standen, “was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten[274] mussten. Der aktive Widerstand gegen das Gesetz war nur denkbar aus der “Leidenschaft” des politischen Handelns, aus der Sorge um das, was Hannah Arendt das “inter esse” resp. das verpflichtende, lebendige “Bezugsgeflecht” zwischen Menschen nennt. Dies gilt auch für Menschen, die heute abgewiesene Asylsuchende bei sich verstecken und ihnen zu falschen Papieren verhelfen, damit sie nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, in denen politische Repression oder Krieg ihr Leben bedrohen, sei es in die Türkei oder nach Sri Lanka oder in weitere Länder, in denen menschenverachtende Gewalt herrscht. Auch heute gilt dieser Dissens mit dem Gesetz als illegitim, und wer ihn wagt, muss mit Strafe rechnen. Es ist erstaunlich, dass noch im 21. Jahrhundert, selbst in einer Demokratie wie die Schweiz sie ist, Menschen, die durch “zivilen Ungehorsam” das “richtige Handeln” wählen, vom Gesetzgeber als “Gesetzesbrecher und Gesetzesbrecherinnen” in die gleiche Kategorie wie Missetäter versetzt werden.

Alle diejenigen, die im Lauf der Geschichte den zivilen Ungehorsam wählten und noch immer wählen, bewiesen resp. beweisen, dass das Gesetz höchstens in formaler Hinsicht entlastet, jedoch in moralischer Hinsicht nicht entlasten kann. Gesetzesbrecher und Gesetzesbrecherinnen zu sein war resp. ist für sie besser, als moralische Schuld auf sich zu laden. Was Hannah Arendt im Lauf des Eichmann-Prozesses klar wurde, wussten resp. wissen sie auf Grund der alleinigen Befragung ihrer selbst. Die Ärzte und Ärztinnen auf Intensivstationen, die nach einem Gesetz rufen, um in der Überforderung des persönlichen Urteils über Richtlinien des Handelns zu verfügen, die der “einhelligen Meinung” entsprechen, mögen sich daher täuschen, wenn sie meinen, durch ein Gesetz als “bindende Richtlinie” entlastet zu werden. Ein Gesetz, das auf Grund der Verwechselung von Recht mit partikulären Zwecken – in diesem Zusammenhang die Kostenreduktion auf Intensivstationen –  geschaffen wird, dient letztlich dazu, eventuelles Unrecht zu  legitimieren.

Eine Analogie besteht mit den ausländerrechtlichen und asylrechtlichen Gesetzen, deren Verschärfung seit 1994 (mit dem Gesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, das am 1. Dezember 1994 in Kraft trat) von der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung angenommen und wenig später umgesetzt wurde, so wie dies in Zusammenhang der jüngsten Abstimmung geschieht[275]. Die Analogie trifft nicht zu in Hinblick auf die gesetzlichen Begleitumstände. Während 1997 der Appell der überforderten Ärzte und Ärztinnen höchstens im Bereich der Gesundheitspolitik Wellen schlagen konnte, führte 1994 der Unmut der in der Zürcher Drogenszene eingesetzten Polizei  sowie der involvierten Untersuchungsbeamten zu einer nationalen, von Rechtsaussen geschürten Welle der Empörung, die – trotz des zweieinhalb Monate vorher angenommenen Anti-Rassismusgesetzes – in massive, von den populistischen Medien verschärfte Xenophobie ausartete, die sich schliesslich im Plebiszit vom 1. Dezember 1994 kristallisierte und das Gesetzescharakter bekam, obwohl damit auf massive Weise die Personenrechte von Ausländerinnen und Ausländern verletzt werden. Denn dieses Gesetz, das die Verhaftung und Inhaftierung von Menschen, allein weil sie Ausländer und Ausländerinnen waren, auf blossen Verdacht hin legitimierte,  das deren Ausschaffung allein wegen fehlender Papiere erlaubte, verstiess ganz eindeutig gegen übergeordnete menschenrechtliche Prinzipien, gemäss denen die Integrität der menschlichen Person unbesehen von Pass, Herkunft, Hautfarbe etc. garantiert sein muss. Auf noch restriktivere Weise geht die jüngste Gesetzesänderung mit Menschen um, die auf Grund schwer tragbarer oder lebensbedrohlicher Bedingungen im Heimatland – das kann auch grosse Armut sein – den Weg in ein fremdes Land wählten, wo sie um Aufnahme bitten. Wer nicht innerhalb von 48 Stunden Reise- und Identitätspapiere abgeben kann, gilt als Betrüger, wird verhaftet oder unter Polizeibegleitung ins Herkunftsland ausgeschafft, auch Kinder und Jugendliche, auch alte und kranke Menschen.

Zu befürchten ist, dass eine Demokratie, deren Bevölkerungsmehrheit ein Unrechtsgesetz für Recht erklärt, in einem gefährlichen Ausmass überhaupt dem Unrecht gegenüber abgestumpft ist. Die Frage, was aus dieser Abstumpfung folgt, wird durch die Geschichte beantwortet. Die andere Frage, was zu tun ist, um die weitere “Ausbreitung der Wüste” zu verhindern, muss neu gestellt werden.

Im Rekurs auf Hannah Arendt ist vor allen Bestrebungen zu warnen, welche Pluralität mit Einheit verwechseln und welche das Recht auf Dissens beschneiden möchten. Die Warnung ist berechtigt, angesichts der theoretisch und parteienpolitisch breit vertretenen Forderungen nach  Vereinfachung der Komplexität, nach klarer “Identität”, ob personaler, nationaler, ethnischer, religiöser und anderer. “Identität” im Singular gerät unweigerlich zur Hypostase. Was für den einzelnen Menschen gilt, dass er seine Identität vorweg entwickelt und verändert, gilt umso mehr für ein Kollektiv von Menschen, resp. für die Gesellschaft innerhalb eines bestimmten Raumes. Seit den “ethnischen Säuberungen” im jüngsten europäischen Krieg im ehemaligen Jugoslawien, welche vorgaben, “Identität” herzustellen, und seit dem Dayton-Abkommen, welches das politische Verbrechen der  “Säuberungen” letztlich legalisierte (auch wenn die von einzelnen Tätern entschiedenen oder umgesetzten Grausamkeiten zum Teil durch das Menschenrechtstribunal von Den Haag geahndet werden), ist jedoch kaum ein politisches Lernen geschehen. Diese Verbrechen qualifizieren unsere Zeit insgesamt, ebenso wie die nationalsozialistischen Verbrechen die Dreissiger- und Vierzigerjahre kennzeichnen.

Wiederum im Rekurs auf Hannah Arendt erscheint mir wichtig, dass der Primat des Politischen und damit der Kultur vor dem Ökonomischen zurückgewonnen wird. Das Schwinden dieses Primats ist seit der dem Ersten Weltkrieg vorangegangen Epoche zu beklagen; es hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Kampf um die Weltherrschaft des Marktes noch verschärft und hat exponentiell massiv zugenommen. Seit 1989 hat sich, wie mir scheint, die Verwechslung von Staat mit Firma generell durchgesetzt. Während die Wirtschaft ihre Entscheide nach zumeist kurzfristigen Zwecken trifft, zum Beispiel in Hinblick auf Gewinnsteigerung, Marktexpansion, Kapitalerhöhung etc., und zur Erreichung dieser Zwecke möglichst effiziente Mittel einsetzt, jedoch auch Verluste und Verschleiss in Kauf nimmt, sollte dem Politischen, wie Hannah Arendt in “Vita acitva” unterscheidet,  die Zweck-Mittel-Rationalität fremd sein. Das Politische sollte Selbstzweck sein, da es sich dabei um die Organisation des Zusammenlebens der Menschen in der damit verbundenen Pluralität und Komplexität handelt. Das möglichst vielseitige, kreative Aushandeln der Regeln des Zusammenlebens, der Machtverteilung und Machtpartizipation, der Integration aller Schichten der Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse bedeutet Kultur. Gestützt auf die Bedeutung des lat. “cultura” geht es dabei um die Pflege des Bodens, auf dem die Menschen leben, im Sinne Hannah Arendts um die “Welthaftigkeit”

Obwohl Hannah Arendt die Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung der Güter – auch der Bildungsgüter – und der Mitbestimmung bei der Reinvestition des Mehrwerts nicht zum Bereich des Politischen, sondern des Gesellschaftlichen zählt, ist unbestritten, dass Armut und Verelendung ebenso wie Ausgrenzung und Ausschluss von Menschen aus der politischen Partizipation das Zusammenleben aller schwächt. Freiheit ist nicht gewährleistet, wenn Menschen um ihre knappe Subsistenz kämpfen müssen oder wenn ihnen diese auf Grund der Gewinnsteigerung anderer Menschen erschwert wird. Die Tatsache, dass dies heute bei einem zunehmenden Bevölkerungsanteil der Fall ist, bedarf der Korrektur. Kultur im Sinn der Qualität des Zusammenlebens, damit der Partizipation aller, die zusammenleben, am Aushandeln der Regeln und an deren möglichst kreativen und gerechten Umsetzung sollte wieder als erste Priorität des Politischen, als dessen Selbstzweck angestrebt werden. Diese politische Korrektur ist dringlich, damit nicht Eskapismus, Ängste und Gewalt überhandnehmen, damit Zukunft nicht nur für eine privilegierte Elite, sondern für alle denkbar ist.

Wie kann diese dringliche Korrektur stattfinden? Freiheit im Sinn des geistigen Vermögens, kreative Vernunft umzusetzen, bedarf der ständigen Einübung, des ständigen Trainings. Dies bedeutet, dass Kinder und junge Menschen in ihrem begründeten Dissens gegenüber Regeln und Vorschriften, auch gegenüber Gesetzen, das Recht haben, den gleichen Respekt zu erfahren, wie dies nach demokratischen Spielregeln unter Bürgerinnen und Bürgern üblich ist. Auch Kinder sollen als Rechtssubjekte anerkannt werden. Persönliches Urteilen und politisches Handeln können nicht im Erwachsenenalter ausgeübt werden, wenn nicht eine langes Einüben vorausgeht, analog zur Kenntnis und zum Gebrauch der Grammatik in der Sprache oder zu den Regeln der Kommunikation. Erziehung zum begründeten Widerspruch würde bedeuten, dass ein Training des Urteilsvermögens und persönlichen Urteils angestrebt würde. Dies würde ermöglichen, die Paradoxien des Alltags besser zu erkennen und zu lösen. Dass Kindheit und Jugend heute geringgeschätzt werden, dass in den Bereichen der Erziehung und Bildung die Budgets gekürzt, dass Tausende von Lehrstellen gestrichen werden und damit die mögliche Partizipation am pluralen, arbeitsteiligen Zusammenleben zum vornherein verwehrt wird, dass dem hilflosen Aufbegehren junger Menschen mit Polizeirepression begegnet wird, all dies ist in politischer Hinsicht verhängnisvoll. Soll politisches Handeln zwischen Gesetz und persönlichem Urteil nicht zu einem theoretischen Relikt werden, das höchstens noch an wissenschaftlichen Symposien als utopisches Modell diskutiert wird, müssen Kindern und Jugendlichen, unabhängig von sozialer und nationaler Herkunft, unabhängig von Begabung und Wohnort, Möglichkeiten der echten Partizipation, des Beitrags zur Veränderung und Neugestaltung des Zusammenlebens geboten werden, ein freiheitliches Einüben in Konsens und Dissens und in das Gespür für das richtige Handeln. Nur so kann lebendige Demokratie noch eine Chance haben, nur so kann verhindert werden, dass sie zur Bürokratie verkommt, der “jüngsten und vielleicht furchtbarsten Herrschaftsform”, der “Niemandsherrschaft”, wie Hannah Arendt in “Macht und Gewalt”[276] schreibt, da in ihr kein einzelner Mensch mehr für Entscheide, die viele treffen, verantwortlich gemacht werden kann – die Herrschaftsform der “Wüste”.

Zum Glück gibt es dagegen Ansätze des Widerstands, auch heute, Ansätze der Erneuerung. Ich weise auf die überall tätigen, lebendigen Basisbewegungen hin, welche die Bedürfnisse nach Freiheit und Partizipation aller – formal – Rechtlosen, Stimmlosen und Ausgegrenzten, der Kinder und Jugendlichen, der einheimischen wie der ausländischen, wahrnehmen wollen, damit diesen “Leidenschaft und politisches Handeln” offenstehen.

Nachspann

 

“frei werden von Angst”

Die Geschichte der Rechte der Frauen – eine Geschichte der “kreativen Vernunft”

 

Um die Bedeutung des kreativen Vernunft zu klären, wurden Frauen der jüngeren europäischen Geschichte gewählt – vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Komplexität des 20. Jahrhunderts hinein -, die mit der Kraft des denkenden Herzens das kritische Denken der heutigen Zeit weiter prägen. Die Lebensentwicklung, die alle diese Frauen entsprechend ihren Bedürfnissen, Erkenntnissen und Zielsetzungen mit ihrem Mut selber zu gestalten versuchten, wurde jedoch in starkem Mass durch die politischen Geschehnisse und die damit einhergehende menschliche Gewalt beeinflusst, der sie ausgesetzt waren – zum Teil bis zum Tod. Ausser der Sprache standen ihnen soziale und politische Rechte kaum zu. Es war in Protestschreiben und öffentlichen Reden, in Briefen, Notizheften und Tagebüchern, in Zeitungsartikeln und Büchern, dass sie festhielten und weiter vermittelten, was sie auf Grund ihrer Erfahrung und dank ihrem Urteilsvermögen als wichtig erachteten: “metu carere” – “frei werden von Angst”, von Hannah Arendt oft ausgesprochen, von allen in diesem Buch durch die der Nachwelt überlassenen Texte wieder wach gerufenen Denkerinnen zutiefst angestrebt und umgesetzt. Frei werden vor jeder das kritische Denken hemmenden Angst, vor jeder Angst, die dem kreativen Prozess des Fragens, Erkennens und Aussprechens entgegensteht, ob es um Ursachen und Korrekturmöglichkeiten sozialer Ungerechtigkeit, autoritärer Willkür, menschlicher Entwertung in Abhängigkeitsstrukturen oder verhängnisvoller kollektiver Entwicklungen gehe. Immer ist der einzelne Mensch zwar Teil einer transgenerationellen Geschichte von Macht und von Machtlosigkeit, von Überheblichkeit, von Ängsten und von Hunger nach Glück, in die er/sie ohne Wahlmöglichkeit  hineingeboren wird, in welcher jedoch Wahlmöglichkeiten des Denkens bestehen, um das Gegebene zu hinterfragen, um Unbehagen zu klären und Angst zu überwinden. Mut – “courage / coeur” –, die Sprache des denkenden Herzens, beruht auf der Überwindung der Angst.

Der öffentliche Raum gibt der Sprache eine andere Bedeutung. Sprache ist das eigentliche Element der Macht des Politischen und der Politik. Seit jeher verstand man in Konflikten unter politischen Lösungen solche, die sich durch Gespräche, durch Verhandlungen und Übereinkünfte herstellen liessen und eben nicht durch Gewalt. Wo Fäuste oder Waffen zum Einsatz kommen, hat die Sprache versagt. Sprache unterscheidet sich zwar grundsätzlich von Gewalt, kann aber zu Gewaltzwecken benutzt werden, wenn sie Teil eines hierarchischen Systems ist.  Auf jeden Fall ist Sprache ein Instrument politischer Macht. Wer berechtigt ist, öffentlich das Wort zu ergreifen, hat Teil an der Macht, kann die Realität des Zusammenlebens mitbestimmen und diese verändern.

In Rosa Luxemburgs Feststellung, dass “die revolutionärste Tat ist, laut zu sagen, was ist”, hat “laut” die Bedeutung von “öffentlich”. Solange “was ist” nur im geschlossenen, privaten Raum gesagt werden kann, versickert es oder die Folgen sind – zumeist – nur im geschlossenen Raum spürbar. Für die “revolutionäre Tat” bedarf es des öffentlichen Raums.

In der griechischen Gesellschaft, die lange als Modell und Vorbild politischer Kultur galt, war die “agora” der “öffentliche Raum”resp.  der offene Platz. Hier wurden die Geschäfte der Polis – Bündnisse, Krieg und Frieden – besprochen und entschieden, innerhalb eines Quorums gleichgestellter besitzender, freier Männer. Hier war der Ort der Macht, in dem es, wie Hannah Arendt in „Vita activa”[277] ausführt, kein Herrschen noch Beherrschtwerden gab, weil die Ungleichen, etwa die Frauen und Kinder, die Sklaven oder die Fremden, zu diesem Ort gar keinen Zutritt hatten. “Gleichheit” bedeutete im Verständnis der griechischen Stadtstaaten, dass unter Seinesgleichen verhandelt wurde. Die “Ungleichen” machten zwar die Mehrheit der Bevölkerung aus, doch diese Ungleichheit wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, als etwas, das mit den arbeitsteiligen Strukturen des Zusammenlebens, des Gesellschaftlichen, zu tun hatte und nicht mit den Entscheidungs- und Handlungsstrukturen des Politischen.

Während im modernen Verständnis, das mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert allmählich  einsetzte, Gleichheit mit Gerechtigkeit konnotiert wird, als Forderung aus der Erkenntnis der gleichen Menschheit resp. des Menschseins in jedem Menschen, wurde Gleichheit in der Antike als adäquat zu Freiheit verstanden. Und Freiheit bedeutete “frei sein von der allen Herrschaftsverhältnissen innewohnenden Ungleichheit”[278], wie Hannah Arendt ausführte. Freiheit war Bedingung für “eudaimonia”, d.h. für das, was als höchstes Glück zu erstreben war. Zu “eudaimonia” gehörten Gesundheit, Wohlhabenheit und Sprache – Sprache im Raum der Gleichheit und Freiheit, im Raum der Polis.

“Eudaimonia” war innerhalb dieser Wertstrukturen für die Frauen und Kinder, für die Besitzlosen und die Sklaven unerreichbar. Ihnen stand der Bereich des “oikos” – des Haushalts – zu, der Bereich der Notwendigkeiten, der Erfüllung der Überlebensbedürfnisse, der Bereich der Unfreiheit und der Sprachlosigkeit, an dessen Spitze wiederum ein Mann stand, der “pater familias”. Die Erfüllung und Erledigung der Lebensnotwendigkeiten im “oikos” war die Bedingung für die Freiheit in der “polis”. Mit anderen Worten: die Aufrechterhaltung der Ungleichheit und Sprachlosigkeit der Frauen (und des übrigen Hausstandes), damit des Ausschlusses aus dem öffentlichen Raum, garantierte den vom Lebensalltäglichen entlasteten Männern die Beherrschung eben dieses Raums.

Diese Dialektik von Freiheit und Unfreiheit lag über die Jahrhunderte allen Herrschaftssystemen zugrunde, den weltlichen und den religiösen, den öffentlichen und den privaten – bis in die jüngste Zeit. Die Verweigerung der politischen Rechte an die Frauen, die politische Diskriminierung der Arbeiterklasse, die Entrechtung der Ausländer und Ausländerinnen bis zu den totalitären nationalsozialistischen Rassegesetzen und modernen Diktaturen – alle Unrechtsverhältnisse, die wir kennen, spiegeln letztlich in verschiedenen Graden und Ausgestaltungen das Modell der athenischen Herrschaft wieder, ein Modell, das auch in der Demokratie nie völlig aufgehoben wurde, das aber mit den politischen Instrumenten der Demokratie korrigiert werden könnte.

Selbst die Frauen der Antike mochten versucht haben, das System zu korrigieren –zum Beispiel Lysistrate, welche die athenischen und spartanischen Frauen zum Liebesstreik ermutigte, damit der Peloponnesische Krieg ein Ende nehme. Doch diese Versuche konnten in der Literatur kaum durch die Frauen selber dokumentiert werden;  wenn sie dokumentiert wurde, dann häufig mit Spott und Herablassung, wie etwa durch Aristophanes in der gleichnamigen Komödie. Thukydides, der Historiker des Peloponnesischen Krieges, weist allerdings auf die Tatsache hin, dass den Frauen immer wieder ein emanzipatorischer Schritt in die Öffentlichkeit gelang, wenn infolge langer Kriegsereignisse ein Mangel an Männern in den öffentlichen Funktionen herrschte. War jedoch die Normalität wieder hergestellt, wurden die Frauen erneut an ihren alten Platz  zurückversetzt, zurück in die Sprachlosigkeit und in die Rechtlosigkeit. Etwa fünfzig Jahre nach Aristophanes’ “Lysistrate” entstand Platons “Politeia” als Entwurf einer Utopie der Geschlechtergleichheit, die, im unverbindlichen  “u-topos” – im “Nirgendwo” angesiedelt, auch bald von Platons realistischer Staats- und Gesetzestheorie, den “Nomoi”, abgelöst wurde, in welcher die Gleichheit der Rechte und Pflichten für Frauen und Männer wieder rückgängig gemacht wurde. Weder in der Antike noch in den nachfolgenden Jahrhunderten war es den Frauen möglich, die Situation der Stummheit, der Zurücksetzung und der Rechtlosigkeit zu korrigieren, in der sie lebten. Dass es trotzdem eine grosse Anzahl Frauen gab, die sich weder fürchteten und noch scheuten, den öffentlichen Raum zu betreten, das Gebot des Schweigens und Duldens zu durchbrechen und ihr Denken auch für Andere, die sprachlos blieben, einzusetzen, lange bevor sie sich auf ein politisches Recht berufen konnten, dies gehört zu den wichtigen Aspekten der Geschichte des politischen Denkens: zu jenen der kreativen Vernunft.

“Laut” wurden die Stimmen der Frauen im Umfeld der Französischen Revolution. Obwohl auch damals viele den Mut mit dem Leben zahlen mussten, konnten die Stimmen nicht mehr erstickt werden. Auf die Bedeutung von Olympe de Gouges und ihrer Vision der gleichen Rechte für Frauen wie für Männer, der Aufhebung von Sklavschaft und menschlicher Entrechtung ging im Vorspann I ein, auch auf Mary Wollstonecraft und auf Flora Tristan, ihre nächsten Nachfolgerinnen[279], von denen die eine für Bertha Pappenheim, die andere für Rosa Luxemburg zum vorbild wurde. Unter den vielen Unbequemen und Furchtlosen, die in der gleichen Zeit lebten und die ihrem Mut kaum beachtet werden, will ich einige weitere beim Namen nennen: Théroigne de Méricourt, Rose Lacombe, Charlotte Corday, Sophie de Condorcet und viele mehr, bis zu den Frauen, die um die nächste Jahrhundertschwelle ihre Stimmen erhoben, aus denen in der Folge ein ganzer Chor wurde, der nicht mehr zum Verstummen gebracht werden konnte.

So wie die Französische Revolution eine Epochenschwelle bedeutete, war es der Erste Weltkrieg, auf den nur zwanzig Jahre später der Zweite Weltkrieg folgte. Vier Jahre lang  hatte sich das “methodische, organisierte, riesenhafte Morden”[280], wie Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre schrieb, über ganz Europa ausgebreitet und infolge der kolonialen Herrschaftsvernetzung über die ganze Welt. Als Anfang November 1918 zwischen den kriegführenden Mächten ein Waffenstillstand beschlossen wurde, der im folgenden Jahr zum Vertrag von Versailles führte, war das Ausmass an Schuld und Leiden, das Ausmass an Toten, an Waisen und Heimatlosen, das Ausmass an moralischer, politischer und materieller Zerstörung so gross, dass die Voraussetzungen zum Frieden fehlten. Dem Kriegsende folgten Hunger und Verelendung, innenpolitische Krisen sonder Zahl, Aufstände und Revolutionen, die sofort wieder einsetzende Aufrüstung und weiter schwelender Hass. „Eines ist sicher”, hielt Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre fest, „der Weltkrieg ist eine Weltenwende.”

Wir wissen es heute: Mit dem Krieg von 1914-1918 war der erste weltweite Beweis erbracht, dass mit gezielter nationalistischer Hetzpropaganda  Millionen von Menschen zu gefügigen Werkzeugen gemacht werden konnten, dass Millionen von Menschen sich – entgegen aller anerzogenen religiösen Gebote und moralischen Normen – in den Dienst der Machtphantasien skrupelloser Staatschefs und Generäle sowie der nicht weniger skrupellosen Bereicherungsinteressen einzelner „Rüstungsbarone” einspannen liessen, dass sie sich zum erbärmlichen Töten und Getötetwerden verleiten, ja berauschen liessen. “Zum systematischen Morden muss bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden”, stellte Rosa Luxemburg im gleichen Text fest. „Der Bestialität der Praxis muss die Bestialität der Gedanken und Gesinnung entsprechen, diese muss jene vorbereiten und begleiten.”

Nicht die Tatsache der Bereitschaft zur moralischen Verführung – der Verführung zum Hassen und Töten – und zur politischen Überlistung waren neu. Nur weil dies immer schon so war, gelang überhaupt die “Gesinnungsvorbereitung” , von der Rosa Luxemburg spricht. Zur “Weltenwende” wurde der Erste Weltkrieg, weil er den Kodex der Angst zum weltweiten Instrument der Repression werden liess. Weil er die Grammatik der Entwertung des einzelnen Menschenlebens und, in der Konsequenz, die Entwertung millionenfachen Menschenlebens länderübergreifend, kontinenteübergreifend – sowohl durch die Mittel der elektronischen Propaganda wie jener mächtiger Waffensysteme – zum Zweck staatlicher Machtinteressen quasi programmatisch für die weitere Zukunft festlegte. Weil damit Sprachlosigkeit und Gewalt als – quasi legitime –  ultima ratio sich durchsetzten, nicht einmal mit dem Vorwand der Regelung von Konflikten, sondern in der Durchsetzung von Interessen. (Die mit dem Kriegsende einsetzende Trauergeschichte des Völkerbundes erbringt dafür den Beweis).

Der Erste Weltkrieg wurde zur „Weltenwende”, weil er die  philosophische Errungenschaft der Aufklärung – den Anspruch des einzelnen Menschen auf Subjektwürde, auch dann, wenn er Objekt ist -, weil er diese Errungenschaft, die die bürgerlichen Revolutionen in Amerika, in England und in Frankreich, die auch den Kampf gegen das Sklaventum beflügelt hatte, defintiv zur Farce werden liess. Seither ist es schwer, gegen die millionenfach erwiesene Tatsache der Bereitschaft der einzelnen Menschen zur Entmündigung den Beweis für die unverzichtbare Würde selbstverantwortlichen Handelns anzutreten.

„Bleibt Hoffnung in dieser angsterfüllten Welt?” fragte Theodor W. Adorno Jahrzehnte später, nachdem der Zweite Weltkrieg alle Erfahrungen des Grauens und der Entmenschlichung des Ersten Weltkriegs in einem nicht mehr vorstellbaren, nicht mehr beschreibbaren Ausmass hinter sich gelassen und mit der Atombombe geendet hatte. Als selbst die Tatsache von Abermillionen von Ermordeten und von Abermillionen von gequälten Überlebenden, von elternlosen Kindern, von Verstümmelten und Vertriebenen die Frage der Verantwortung und damit der Sühne höchstens auf der Stufe der Helfershelfer, der instrumentalisierten Willfährigen stellte, weil die verantwortlichen Machthabenden und deren Nachfolger sich entweder aus dem Staub gemacht oder in den alten Konfigurationen konstruierter Feindschemata schon wieder neue Kriege führten, weil auch diese geführt und nicht durch die Aufarbeitung früherer Kriege verhindert werden wollten, in Korea, in Afrika, in Vietnam, in Iran und Irak, im Libanon, in Palästina – Hunderte von Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg, Kriege zwischen Nationen, zwischen Grossmächten und kleineren Staaten, im Innern von Nationen gegen Minderheiten, gestützt auf Berechtigungserklärungen durch Ideologien und durch Fanatismus in deren Befolgung – bis zu den jüngsten Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, in Tschetschnien, in Afghanistan und wieder in Irak, wieder in Palästina und im Libanon, in vielen weiteren Ländern in Südamerika und in Afrika, deren Zeugen und Zeuginnen wir mit Entsetzen und Ohmacht oder mit wachsender Indifferenz geworden sind.

In der Friedensbewegung gelang es den Frauen, sich weltweit zu solidarisieren, auch wenn es eine Solidarisierung der Ohnmacht war: Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten sich Frauen aus allen Ländern Europas, unter Einschluss der Frauenbewegungen Englands und Amerikas, ja selbst Brasiliens, Australiens, Britisch-Indiens und Japans zusammengeschlossen, um gegen die Aufrüstung und gegen die Kriegsvorbereitungen öffentlich Widerstand zu leisten. Am 15. Mai 1899 fand in Den Haag die erste Internationale Friedensdemonstration der Frauen statt; am gleichen Tag veranstalteten überall in der Welt Frauenorganisationen Kundgebungen gegen den Krieg. Besonders stark war die feministische Friedensbewegung in Russland, obwohl nach Erlassen der zaristischen Polizei öffentliche politische Versammlungen nicht gestattet waren, schon gar nicht solche von Frauen. In Spanien und in Japan gingen die Frauen an diesem Tag überhaupt das erstemal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich 1’250’000 Frauen den Kundgebungen an.

Der Bericht, den die deutsche Pazifistin Margarete Lenore Selenka für die Erste Internationale Friedenskonferenz in Den Haag verfasste, liest sich heute mit Staunen. Er ist ein Dokument für die Effizienz jener Kraft, die Frauen in allen Ländern bewog, sich zusammenzuschliessen, nicht nur, um gegen die Kolonialkriege – zum Beispiel die Burenkriege – und gegen das Wettrüsten in Europa aufzustehen, sondern gegen jede Art der Verachtung und Minderachtung menschlichen Lebens – ihres eigenen Frauenlebens, für das sie die gleichen beruflichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten und die gleichen politischen Rechte forderten wie die Männer diese für sich beanspruchten,  des Lebens von Kindern, für welche sie Gesetze gegen Ausbeutung und für das allgemeine Recht auf Schulung und Bildung durchsetzten, des Lebens von Arbeitern und Arbeiterinnen, für die sie für gesetzlich geregelte Arbeitszeit, für Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz und für Arbeitslosengelder kämpften. Sie protestierten, gingen auf die Strasse, organisierten Versammlungen, hielten Reden und schrieben Manifeste, Briefe und Bücher, sie kämpften gegen Gewalt und Prostitution, gegen Verwahrlosung, Alkoholismus und Tuberkulose, sie gründeten und leiteten Schulen, Waisenhäuser, Kinderbetreuungsheime, Frauenbildungsstätten, Parteihochschulen und vieles mehr. Sie kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, waren religiös oder nicht religiös, katholisch, protestantisch oder jüdisch, waren Sozialistinnen oder Bürgerliche, Kommunistinnen oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete. Feministinnen waren sie alle, meist ohne sich so zu benennen; sie waren Menschenrechtlerinnen. Sie hiessen – um nur einige zusätzliche Namen jener Generation zu nennen, zum Teil berühmte, zum Teil vergessene Namen – Anita Augspurg, Josephine Butler, Verena Conzett-Knecht, Hedwig Dohm, Caroline Farner, Margarethe Faas-Hardegger, Emmy Freundlich, Marie Goegg-Pouchoulin, Claire Goll, Gertrude Guillaume-von Schack, Lida Gustava Heymann, Marie Humbert-Müller, Käthe Kollwitz, Alexandra Kollontai, Selma Lagerlöf, Berta Lask, Rosa Mayreder, Helene von Mülinen, Frida Perlen, Emma Pieczynska-Reichenbach, Adelheid Popp, Meta von Salis-Marschlins, Olive Emilie Albertina Schreiner, Toni Sender, Helen Stöcker, Bertha von Suttner, Gertrud Johanna Woker, Mathilde Wurm und viele weitere mehr.

Was Mary Wollsonecraft und Flora Tristan gefordert, was Berta Pappenheim in ihrem Bereich umsetzte, weitete sich auch in der Schweiz aus. Um menschlichen Schaden zu verringern, bedurfte es besserer Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen und der Arbeit an der Basis. So kam es beispielweise 1918 zur Gründung der „Sozialcharitativen Frauenschule Luzern” durch Maria Croenlein aus Altdorf, die selbst in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen war. In allen grösseren Städten der Schweiz, aber auch anderswo in Europa, gründeten damals Frauen Frauenbildungsschulen und Schulen für Sozialarbeit, und in allen Fabriken ergriffen Frauen die Initiative, damit durch gewerkschaftliche Organisation die misslichen Lohn- und Arbeitsbedingungen verbessert wurden. In den Hungerjahren während und nach dem Ersten Weltkrieg machten Frauen Protestzüge durch die Städte, um eine Senkung der Lebensmittelpreise zu verlangen und eine gerechtere Sozialpolitik zu erreichen.

Aus welchen Ressourcen schöpften die Frauen, um die sozialen und politischen Initiativen zu ergreifen und um diese Initiativen gegen grosse Widerstände durchzusetzen?

Die Kraft, aus der sie schöpften, die sie beflügelte und stützte, ist die kreative Vernunft. Es liesse sich auch sagen, dass es  Zorn und Rebellion gegen erlebtes und miterlebtes Unrecht war, oder ein kluges Erkenntnisvermögen und Weitsicht hinsichtlich Ursachen und Folgen sozialen Unrechts und menschlichen Elends, oder ein besonders aktives Organisationstalent und ein starkes Beziehungsnetz, oder Nächstenliebe. Alle diese intellektuellen und psychischen Kräfte gingen mit einher, je nach der persönlichen Besonderheit der einzelnen Frauen. Auf jeden Fall  bedurfte es immer der Überwindung von Angst, die dem Mut, aus dem weiblichen Generationenraster des Schweigens und Duldens auszubrechen,  Raum geben konnte. Doch alle Kräfte und Eigenschaften, die Veränderungen zum guten bewirkten, konnten nicht aktiv werden ohne die kreative Vernunft.

Was ist darunter zu verstehen? Abschliessend möchte ich nochmals klärend ergänzen, was in den einleitenden Texten sowie in den einzelnen biographischen Untersuchungen erarbeitet wurde.

Kreative Vernunft heisst das geistige Vermögen, das Intellekt und Psyche verbindet, dank dem jede Erfahrung und jede Erkenntnis zur Voraussetzung neuer Erkenntnis und neuen Handelns wird: nicht im Sinn kausaler Weil-Deshalb- oder konditionaler Wenn-Dann-Muster, nicht im Sinn eines autoritären und regelgebundenen Entweder-Oder, nicht aus der Nötigung durch unverfügbare Gegebenheiten heraus und nicht auf Grund des Wahrheitsanspruchs einer Theorie, sondern in Freiheit. Der Freiheitsbegriff wurde allerdings so oft in Hinblick auf bestimmte Zwecke definiert und damit missbraucht, dass es schwer ist, die eigene Vorstellung und den Begriff von all den irreführenden Definitionen zu lösen. Freiheit kann als die ganz und gar offene Befähigung verstanden werden, die in jedem einzelnen Menschen – nicht auf Grund seiner individuellen Anlagen, sondern auf Grund seines Menschseins – angelegt ist: als Bedingung der Möglichkeit, selbständig, sinnvoll, selbstverantwortlich zu wählen und zu handeln.

So ist die kreative Vernunft die Befähigung, gegen den Zwang der inneren und äusseren Verhältnisse, gegen den Druck der Gesellschaft, gegen Erziehung, Machtstrukturen und Profitkalkül, gegen den Trend und gegen den Strom das eigene Handeln zu bestimmen. Die kreative Vernunft macht den tätigen Widerstand möglich, nicht in fixierter Alternative, sondern im Durchbruch zu neuen, anderen Optionen des Handelns. Sie ist die Kraft, sich gegen die Gewohnheit zu entscheiden, auch nicht nach Massgabe des kleineren Übels, sondern in Hinblick auf Verhinderung von Übel. Sie ist die Gegenkraft zur Angst und dadurch die Gegenkraft zur Gewalt; Angst und Gewalt sind immer komplementär.

Kreative Vernunft ist die Befähigung zur Sorgfalt der Sprache und damit zum politischen Handeln, das heisst zum Mitreden und Mitentscheiden beim Zusammen- und Miteinanderleben in einer Pluralität, beim zwangsfreien Zusammenschluss der Verschiedenen, damit im Chaos der Differenzen eine Dynamik der Übereinkunft zur Verwirklichung der Gemeinschaftsinteressen gefunden und realisiert werden kann, ohne dass die Sprachlosen – Kinder, Gebrechliche und Kranke, Fremde – benachteiligt werden. Diese Dynamik lässt definitive, totalitäre “Lösungen” nicht zu. Sie ist unabschliessbar, bedarf aber institutioneller demokratischer Garantien, die den Prozess mit allen erforderten Korrekturen zulassen. Doch selbst da, wo diese Garantien fehlen, wenn Verfassungs- und Gesetzesgarantien nicht verhindern, dass Unrecht als Recht erklärt wird, kann die kreative Vernunft zum politischen Handeln befähigen, auch wenn dieses Handeln nur im Widerstand gegen Gewalt in Erscheinung treten kann – so wie die Generationen der Frauen es bewies, die noch über kein Stimm- und Wahlrecht verfügten, oder jene Frauen und Männer, die unter den unmenschlichsten Umständen, in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern, oder im stalinistischen Gulag, oder in den vielen Diktaturen der jüngsten europäischen und weiteren Geschichte ihr kritisches Denken und ihre Menschlichkeit bewahrten.

Für die heutige Situation stellt sich die Frage: Wie können Frauen heute, wo sie über das Stimm- und Wahlrecht verfügen, wie können Frauen und Männer gesellschaftliche Fehlentwicklungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, im Bereich der Erziehung und der Friedenssicherung  beeinflussen? Wie können sie weitere Kriege verhindern? Wie können sie inmitten von skrupellosen Macht-, Gewinn- und Herrschaftsabsichten, von ständig neu konstruierten Feindbildern, von rauschhafter und zunehmend  sprachloser Polarisierung virtueller Realität, inmitten einer von Gewalt bestimmten Welt und inmitten der Gewöhnung an Gewalt ihre Stimmen hörbar machen? Was lässt sich gegen die alles beherrschende Angst tun, die dem Ausmass an Gewalt entspricht – Angst vor den Fremden, Angst vor absehbaren und zugleich unabsehbaren Migrationsauswirkungen, Angst vor undurchschaubaren Technologien, Angst um die eigene prekäre Existenz?

Wenn Hoffnung bleiben soll in dieser angsterfüllten Welt, ist die Rückbesinnung auf die Kraft der kreativen Vernunft dringlich. Die kreative Vernunft ist nicht ein philosophisches oder historisches Relikt. Sie ist auch heute die nicht zu tilgende Befähigung, sich aus der über Generationen fortgesetzten Verstrickung in Angst und in Gewalt zu lösen – “metu carere” -, damit aus dem fortgesetzten Zusammenleben von Tätern und Opfern, Opfern und Tätern im steigenden Trümmerhaufen dieser Welt ein Zusammenleben zustande zu bringen, das gemäss einer Grammatik des gleichen Subjektwertes aller Menschen lebt, auch der sprachlosen Menschen. Es den Menschen, kritisch zu denken und neue Optionen des Handelns zu wählen.

Um diese Befähigung, die der kreativen Vernunft inne ist,  zu aktivieren, bedarf es des persönlichen Trainings im Erforschen der unbewussten Kräfte und der verdrängten Erfahrungen, auf denen Ängste, Mutlosigkeit oder politische Betörbarkeit beruhen; und ebenso bedarf es der wechselseitigen menschlichen Ermutigung, um Entwürfe für eine lebensfähigere Welt zu wagen, und sei es in kleinem Rahmen. Jeder kleine Rahmen wächst weiter an Tiefe, Breite und Höhe, wenn eine überzeugende, kreative Kraft sich darin äussert. Die Aufarbeitung des “anderen Genies” in der europäischen Geschichte macht dies deutlich.

Im Rahmen der Rechte der Kinder sowie im Rahmen der um Asyl suchenden Fremden stehen die europäischen Länder – auch die Schweiz – weit zurück. Die mediale Gewalt, die in den Zusammenhängen der Sprachlosen jede Art von demokratischem Wert in Frage stellt, die sie zu Objekten von Besitzgier und von Feindprojektionen macht, bedarf des kritischen Widerstandes. Der Widerstand richtet sich gegen Machtmissbrauch und Polarisierung, gegen Ausgrenzung und willkürliche Unwerterklärung, gegen Ungerechtigkeit und Gewalt.  Es darf sich nicht wiederholen, was an beschämender Geschichte verdrängt wird. Die aktuelle Preisgabe sozialer Ethik wie auch das politische und wirtschaftliche Mitmarschieren mit der amerikanischen Weltherrschaftsmanie und Terrorphobie bedarf des Widerstands –  auf Grund  jener Überzeugung, die in den Anfängen der menschenrechtlichen, frauenrechtlichen und friedensrechtlichen Entwürfen dem Widerstand Wert verlieh: dass eine Freiheit da ist, und dass der Anpassung an die Regeln der Zeit und damit an den Kodex der Angst, an einen Kodex der Repression von Kritik und von kreativer Vernunft nicht folge geleistet werden muss. Das wachsende Misstrauen im Zusammenleben der Menschen und die  wachsende zwischenmenschliche Gleichgültigkeit bedarf der Korrektur. Angst kann nicht durch Anpassung an die ängstigenden Bedingungen überwunden werden, nicht durch Unterwerfung unter die Gewalt, sondern allein durch die Frage nach den Gründen und Interessen sowie durch die Suche nach besseren Entscheiden, die keine Opfer schaffen und welche die Zukunft nicht durch neue Täter- und Opfergeschichten verbauen.

Ein Beispiel, das beweist, wie kreative Vernunft die scheinbare Ausweglosigkeit in einer heutigen komplexen Konfliktsituation  überwinden kann, ist die arabisch-jüdische (und zugleich christlich-jüdisch-muslimische) Gemeinschaftssiedlung Neve Shalom oder Wahat al-Salam, die, in der Mitte zwischen Ramallah und Tel Aviv auf dem Westufer des Jordan gelegen, 1972 vom Dominikanermönch Bruno Hussar gegründet wurde, und in der seither gleich viele Kinder aus beiden Völkern und aus allen drei Religionen gemeinsam aufwachsen, von gleich vielen Lehrern und Lehrerinnen beider Kulturen vom Kindergarten an in beiden Sprachen unterrichtet werden und gemeinsam die Feste der drei Religionen feiern – dies seit mehr wie dreissig Jahren. Eine der seit Jahren massgeblich Verantwortlichen ist die Schweizerin Evi Wyler.

Dem Unterricht für die Kinder der Siedlung folgen auch Kinder aus den umliegenden arabischen Dörfern und jüdischen Siedlungen. Mit einem gemeinsamen Schulbus werden sie abgeholt und zurückgebracht. Und zugleich werden seit Jahren in Neve Shalom/Wahat al-Salam eine Art Seminare abgehalten, drei- bis fünf Tage lang, die “Friedensschule” heissen und die Jugendlichen und Erwachsenen beider Völker offenstehen.

Seit Bestehen dieser “Friedensschule” haben hier mehrere zehntausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer die wechselseitigen Ängste, Vorstellungen und Erfahrungen ausgesprochen und diskutiert. Sie konnten Vorurteile abbauen und ein friedliches, der Differenzen bewusstes Umgehen miteinander als die bessere Option kennenlernen und üben. Die Hoffnung des greisen Gründers, der nicht mehr lebt,  sowie der jungen Bewohnerinnen und Bewohner von Neve Shalom/Wahat al-Salam ist, dass der Name der Gemeinschaftssiedlung – “Quelle des Friedens” – sich bewahrheite.

Müssten nicht an allen Schulen und höheren Bildungsstätten Angebote eingeführt werden, in denen das gewaltfreie Umgehen mit Konflikten, das Leben mit Differenzen und Konflikten gelernt und geübt werden könnte, im Sinn einer auf die politische, soziale und private Praxis übertragbaren Aktivierung der kreativen Vernunft? Denn allmählich müssten wir wissen, dass Mangelerfahrungen, die zu Konflikten anwachsen, sich lösen lassen, sowohl im politischen wie im privaten Zusammenleben, wenn wir uns nicht scheuen, sie offen zu benennen und die Angst davor zu durchschauen, wenn wir zustimmen, die Vorstellung von ausschliesslichen Entweder-Oder-Lösungen zu durchbrechen. Konflikte und Differenzen können als Anforderung an die kreative Vernunft in die Normalität des Zusammenlebens – auf welcher Ebene auch immer – eingebaut werden.

Dies scheint mir auf der Spur der unerschrockenen “anderen Genies”  in der heutigen Zeit umsetzbar zu sein – als deren dringliches Erbe.

[1] Paul Fröhlich. Rosa Luxemburg. Gedanken und Tat. Mit einem Nachwort von Iring Fetscher. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1967, S. 23. S. 8-9, und S. 71  (Die erste deutsche Auflage  erschien 1939 in Paris, 1940 auf Englisch in London).

[2] cf. 1 / Iring Fetscher. Nachwort zu Paul Fröhlichs Buchausgabe von 1967, S. 354

[3] Paul Fröhlich kam 1933 ins Konzentrationslager Lichtenburg, konnte 1943 nach Frankreich fliehen, 1951 kehrte er nach Deutschland zurück; er starb 1953 in Frankfurt a.M. Bald nach dem Krieg erschienen Übersetzungen seines Buches, zuerst 1949 ins Hebräische, dann ins Serbo-Kroatische, Slowenische, Französische, Amerikanische usw.

[4] u.a. Elzbieta Ettinger. Rosa Luxemburg. A life. Beacon Press, Boston 1986. – Frederik Hetmann (alias Hans-Christian Kirsch). Die Geschichte Rosa Luxemburgs und ihrer Zeit. Fischer Taschenbuch Verlag Bd. 2132. – Vom gleichen Autor: Rosa Luxemburg. Ein Leben für die Freiheit. Reden-Schriften-Briefe. Fischer Taschenbuch Verlag Bd. 1180. – Paul Nettl. Rosa Luxemburg. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1967. –  Helmut Hirsch. Rosa Luxemburg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek b. Hamburg 1969. – Maja Wicki-Vogt. Beiträge zu einer Phiosophie der Dialogik im Werk von Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt. In: Willi Goetschel (Hrsg.) perspektiven der Dialogik. Passagen Verlag, Wien 1994, S. 145 ff.

[5] “Sehr fröhlich und energisch”. Briefe Rosa Luxemburgs. NZZ. 7. Januar 1985, Nr. 4, S. 21

[6] lat. “communis”, worauf die Bedeutung von “Kommunismus”

[7] iibid. 5

[8] Rosa Luxemburg. Gesammelte Briefe, 5 Bde. Dietz-Verlag, Berlin 1982-1984.

[9] u.a. Rosa Luxemburg. Briefe an Freunde, nach dem von Luise Kautsky fertiggestellten Manuskript, hrsg. von Benedikt Kautsky. Europäische Verlagsanstalt, Köln/Frankfurt 1950 / 1976. – Rosa Luxemburg. “Ich umarme Sie in grosser Sehnsucht”. Briefe aus dem Gefängnis 1915 bis 1918. Dietz-Verlag Nachf., Berlin/Bonn 1984 u.a.m.

[10] Rosa Luxemburg. Politische Schriften. Hrsg. Ossip K. Flechtheim (auch Einleitung). Athenäum Verlag, Frankfurt a.M. 1987  – Rosa Luxemburg. Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Vereinigung Internationaler Verlags-Anstalten G.M.b.H.. Berlin 1923 / Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1966 / 1970

[11] Rosa Luxemburg. Ich umarme Sie in grosser Sehnsucht. Briefe aus dem Gefängnis 1915 bis 1918. Vorwort von Ito Nahiriko (Tokio). Verlag J.H.W.Dietz Nachf., Berlin / Bonn 1984, S. 89

[12] Helmut Hirsch. Rosa Luxemburg in Selbstzeugnisse und bilddokumenten. Rowohlt-Taschenbucg, Reinbek b. Hamburg 1969. S.12

[13] ibid. 11, S. 18

[14] ibid. 11, S. 35

[15] Rosa Luxemburg. Ein Leben für die Freiheit. Hrsg. Frederik Hetmann. Fischer Taschenbuch 1987.  S. 297 ff . Was will der Spartakusbund?

[16] ibid. 14, S. 304 ff

[17]  ibid. 14, S. 308 ff

[18] Paul Fröhlich, a.a.O. S. 346 ff

[19] Der Mord an K.Liebknecht und R. Luxemburg. Zusammenfassende Darstellung des gesamten Untersuchungsmaterials mit ausführlichem Prozessbericht, Belin 1922. – E.J.Gumbel. Vier Jahre politischer Mord – Berlin 1922: Vom Fememord zur Reichskanzlei. Heidelberg 1962. – Paul Levi. Der Jorns-Prozess. Rede des Verteidigers Paul Levi nebst Einleitung. Berlin 1929. – Elisabeth Hannover-Drück & Heinrich Hannover. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Frankfurt 1967.

[20] Paul Fröhlich, a.a.O. S. 352

[21] aus dem Gedicht von  J.W. Goethe, das von Regina Kägi-Fuchsmann zitiert wird:

“Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

die Sonne stand zum Grusse der Planeten

bist alsobald und fort und fort gediehen

nach dem Gesetz, nach dem du angetreten.

So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

so sagten schon Sybillen, so Propheten,

und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

geprägte Form, die lebend sich entwickelt.”

[22] Regina Kägit-Fuchsmann. Das gute Herz genügt nicht. Mein Leben und meine Arbeit. Verlag Ex Libris, Zürich 1968, S. 7-8

[23] Unter diesem Titel erschien die Biographie von Regina Kägi-Fuchsmann, Verlag Ex Libris, Zürich 1968

[24] cf. (2), S. 8

[25] mit Hilfe des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz

[26] Im Rückblick des SAH auf “70 Jahre Solidarität, die wirkt” im Mai 2006 wird der Name von Regina Kägi-Fuchsmann und die Bedeutung ihrer Persönlichkeit nicht einmal erwähnt.- Eine hervorragende Untersuchung von Regina Kägi-Fuchsmanns Zeitgeschichte liegt von der Historikerin Antonia Schmidlin vor: Die andere Schweiz. HelferInnen, Kriegskinder und humanitär Politik 1933-1942. Chronos Verlag, Zürich 1999.

[27] Tages-Anzeiger, 30. August 1988, S. 9

[28] Die ältere Schwester von Helen Berkowitz und der ältere Bruder von Salomon Fuchsmann hatten sich Jahre vorher schon verheiratet.

[29] Myriam und Samuel. Myriam ging als junge Erwachsene nach Riga zurück, wo sie bis zum Ausbruch der bolschewistischen Revolution blieb; Samuel machte eine kaufmännische Ausbildung, ging nach Paris arbeiten und wurde, bevor er zwanzig war, nach Singapur geschickt. Später arbeitete er bei IG-Farben in Bombay, wo er bis Ende seines Lebens blieb. Er ermöglichte seiner Schwester Regina das Studium, das er finanzierte. Er starb 1941, mitten in Krieg, beinah gleichzeitig wie Regina Kägi -Fuchsmanns Sohn Peter. – Der jüngere Bruder arbeitete für eine Firma in Südfrankreich und später in Japan, wo er bis zu seinem Tod blieb. Die nächstjüngere Schwester hatte eine Stelle in England als Erzieherin finden können, wo sie heiratete. Auch die übrigen Geschwister zogen ins Ausland und kehrten kaum mehr in die Schweiz zurück. “Die häuslich unglückliche Situation hatte als Zentrifugalkraft gewirkt und uns in alle Winde vertrieben” hatte R.K.-F. selber bemerkt.

[30] a.a.O. S. 13-14

[31] d.h. zur damaligen Libertas und von dieser zum sozialistisch-marxistischen Jungburschenverein, der von Fritz Brupbacher, dem Ehemann von Paulette Brupacher, einer sozial verpflichteten, bedeutenden Frauenärztin (cf. Paulette Brupacher. Meine Patientinnen. Büchergilde Gutenberg, Zürich 1953) geleitet wurde und zu dessen bedeutenden Mitgliedern u.a. Willi Münzenberg gehörte, der immer wieder in deutschen Gefängnissen festgehalten wurde, schliesslich nach Frankreich floh, wo er 1941 in einem Dorf im Pyrenäengebiet, wo er sich versteckt hielt, denunziert und  ermordet wurde.

[32] a.a.O. S. 51

[33] a.a.O. 55

[34] a.a.O. S. 65

[35] Ueli Kägi  wurde als kommunistischer Aktivist aus dem Gymnasium in Zürich ausgewiesen; er wurde als PdA-Mitglied zu einem mutigen Journalisten, publizierte seine Artikel im “Vorwärts” und wurde 1944, als er “Gegen die Polizeiwillkür” zu veröffentlichen wagte, wegen “Hochverrats” gefangengenommen. 1956, als der Ungarnaufstand von der Armee der UdSSR niedergewalzt wurde, wandte er sich vom Kommunismus ab. Er wurde Redaktor beim “Volksrecht”, 1970 bei der “Weltwoche”. Er gehörte zu den Initianten der “Europäischen Helsinki-Menschenrechtsbewegung”, die er ab 1980 mit einer Schweizerischen Helsinki-Vereinigung leitete. Ein Schlaganfall 1986 bewirkte eine völlige Aphasie, die er durch jahrelange logopädische  Arbeit zu überwinden suchte. Er veröffentlichte einen aufwühlenden Bericht über Krankheit, Sprachverlust und allmähliche Genesung:  “Am Ende – am Anfang. Gespräche mit Hiob” (Stäfa 1919). Als 1991 gleichzeitig im ehemaligen Jugoslawien, im Nahen Osten und in Tschetschenien ethnisch-religiöse Kriege neues menschliches Elend und Entsetzen bewirkten, erliess Ueli Kägi an Religionen und Staaten den Aufruf für einen “Friedensvertrag der Weltreligionen”. Am 23. Dezember 1995 erlag Ueli Kägi den Folgen eines zweiten Schlaganfalls. Als er bei eisiger Kälte und Schneetreiben in einem anonymen Massengrab im Zürcher Friedhof am Friesenberg beigesetzt wurde, wie er es gewünscht hatte, wurde er von seinen drei Kindern und einem Freundeskreis begleitet, von denen alle sich mit grosser Trauer seiner menschlichen Wärme, seines Muts und seiner Einsamkeit bewusst waren.

[36] a.a.O. S. 67 – 81

[37] a.a.O. S. 81

[38] a.a.O. S. 114-115

[39] a.a.O, S. 126

[40] a.a.O. S. 146

[41] cf. Hannah Arendt, S. ..

[42] a.a.O. 170

[43] a.a.O. S. 193

[44] a.a.O. S. 303

[45] a.a.O. S. 333

[46] ibid.

[47] a.a.O. S. 38

[48] Ulrike Meinhof, “konkret”, 5, 1962, in: Peter Brückner. Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1976 (Neuausgaben 1987, 1989)

[49] Ulrike Meinhof, “konkret”, 17, 1968, in ibid. (1)

[50] Neubearbeitung und Erweiterung des Textes, der publiziert wurde in “Olympe”. Feministische Arbeitshefte zur Politik. Heft 20 / Provokation.

[51] Erst Ende 2002 wurde der menschenrechtliche Übergriff entdeckt, der ohne Information und Genehmigung der zwei Töchter Bettina und Regine Röhl geschehen war. Zuständig bei der Obduktion war der Tübinger Neuropathologe Jürgen Pfeiffer gewesen. Ulrike Meinhos Töchter haben  Anklage erhoben und die Bestattung dieses Körperteils ihrer Mutter verlangt.

[52] Aus einem Brief an ihre Zwillinge im “Toten Trakt” der Vollzugsanstalt Köln-Ossenburg 16. Juni 1972 bis 9. Februar 1973, aus: Stefan Aust. Der Baader-Meinhof Komplex. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1985. S. 268

[53] a.a.O. S. 258

[54] Mit den “Krähen” meinte sie die Vollzugsbeamten, gegen welche den mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin vereinbarten Protest des Schweigens einzuhalten ihr manchmal unnötig erschien.

[55] a.a.O. S. 268

[56] am 7. Februar 1994 anlässlich einer Veranstaltung in der Helferei des Grossmünsters in Zürich.

[57] Ulrike Meinhof. Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken. Hrsg. von Regine und Bettina Röhl. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1980, S. 7 (Titel eines Kommentars in “konkret” Nr. 19/20 im Herbst 1959, als Nikita Chruschtschow die USA unter Dwight D. Eisenhower besuchte und in Camp David eine allgemeine Abrüstung vorschlug).

[58] Ulrike Meinhof. Die Würde des Menschen. “konkret” Nr. 10. 1962. In ibid. (9), S. 27

[59]  ibid . (10), S. 27

[60] ibid, S. 30

[61] Ein Beispiel ist der Bericht vom 4. Juli 1966: “Im Anschluss an eine von der Polizei genehmigte Vietnam-Demonstration trafen sich etwa ein Drittel der Demosntranten – vielleicht tausend personen – zu einem Sitzstreik vor dem amerikanischen  Generalkonsulat. Obwohl der Streik ohne Aggressionen gegen die Polizei verlief und man den Aufforderungen, die Fahrbahn zu räumen, folgte, setzte die Polizei Wasserwerfer und Gummiknüppel ein. Aus dem Konsulta wurden Flaschen auf die Demonstranten geworfen. Ein Polizist lief vor einer Polizeikette her und schlug auf die Flüchtenden mit dem Gummiknüppel ein. – Eine Amerikanerin, die an dem Sitzstreik teilnahm, wurde von vier Beamten niedergenüppelt, bis sie bewegungslos und sprechunfähig am Boden lag. Sodann trat ihr ein Polizeibeamter in den Magen. Die Schreie der Amerikanerin versetzten einige junge Menschen in Panik. – Einem Studenten wurde der Arm ausgekugelt. Zwei Mädchen mussten blutüberströmt abtransportiert werden. Ein Student, der ein Transparent trug, dessen Hände also nicht zur Gegenwehr frei waren, wurde niedergeknüppelt. Als ihn ein Kommilitone wegtrug, wurde auch dieser geprügelt. Weitere Studenten wurden zu Boden geschlagen und erlitten Platzwunden am Kopf, Gehirnerschütterungen etc. Die meisten Wunden wurden am Hinterkopf, in der Niedergegend und auf dem Rücken der Demosntranten festgestellt, also schlug die Polizei aus dem Hinterhalt oder auf Flüchtende. Tätlichkeiten von Seiten der Demonstranten sind keine berichtet worden.” (“konkret” 8, 1966, S. 13f, in: Peter Brückner cf. (1)

[62] Ulrike Meinhof, “konkret” 1, 1965, S, 14ff. In: Peter Brückner cf. (1)

[63] Stefan Aust. Der Baader-Meinhof-Komplex. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1985, S. 49

[64] U.M., ibid. (8), S. 93: “Napalm und Pudding” in “konkret” Nr. 5, 1967. – Eindrücklich ist der in “konkret” Nr. 11, 1967 veröfffentlichte  Kommentar zu “Vietnam und die Deutschen”: “Längst ist der krieg in Vietnam kein konventioneller Kireg mehr. Auch kein begrenzter Krieg, kein lokaler Krieg zwischen amerikanischen Treuppen und Vietkong. , zwischen ‘Freiheit’ und kommunismus, auch nicht einfach ein Ausfluss amerikanischer ‘Containment-Politik’ gegenüber China. Dieser  Konflikt hat sich ausgeweitet zu einem Weltkrieg neuen Typs, der Konflikt ist bereits internalisiert. Die ihn propagandistisch zu verkleiner versuchen, zu bagatellisieren, sind eben die, die ihn zu diesem Stand getrieben haben (…)”, in ibid. (8), S, 108

[65] ibid. (11), S. 49

[66] ibid. (6), S. 139 (aus: konkret Nr. 5, 1968)

[67] ibid. (6), S. 136 (aus: konret Nr. 4, 1968)

[68] U.M., ibid. (6), S. 138 (aus “Vom Protest zum Widerstand”, in: “konkret” Nr. 5. 1968)

[69] ibid. (6), S. 138

[70] in “konkret” 18, 1960, in ibid. (1), S. 90

[71] ibid. Fussnote 6, S. 166-169 (aus “konkre” Nr.21, 1968)

[72] ibid. Fussnote 6, S. 173-184

[73] Ulkrike Meinhof. Jürgen Bartsch und die Gesellschaft. In ibid. (9), S. 112 ff  (aus “konkret” Nr. 1. 1968)

[74] Gudrun Ensslin, geb. 1940, eine Pfarrerstochter, hatte 1958/59 als Austauschschülerin in den USA gelebt und  in Tübingen Germanistik, Anglistik und Pädagogik studiert. Nach der Begegnung mit Andreas Baader im Frühherbst 1967 hatte sie sich um ihr eigenes, Mitte Mai im gleichen Jahr geborenes Kind bald nicht mehr kümmern wollen und den kleinen Knaben dessen Vater Bernward Vesper überlassen.

[75] 1943 in München geboren, war – von Mutter, Grossmutter und Tante verhätschelt – ohne Vater aufgewachsen, der 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft gekommen war un dnicht zurückkehrte.

[76] Klaus Wagenbach. Nachwort. In: Ulrike Meinhof. Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken. a.a.O. S. 189

[77] ibid. (1), S. 156-157

[78] Briefnotizen von Ulrike Meinhof  aus dem Gefängnis Köln-Ossendorf  16.6.1972 bis 9.2.1973, in ibid. (1), S. 156f

[79] ibid. S. 261

[80]  ibid.

[81]  Ibid. S. 282

[82] ibid. S. 283

[83] ibid. (31), S. 157;  auch  Stefan Aust. Der Baader-Meinhof-Komplex. a.a.O. S. 258

[84] ibid. (31), S. 157

[85] “radikal”, H. 2, 1976, S. 8 in ibid. (1), S. 178

[86] undatierter Brief Ulrike M’s an ihre Anwälte, in: Bericht der Internationalen Untersuchungskommsission. Der Tod Ulrike Meinhofs. Iva-Verlag Bernd Polke, GmbH, Tübingen 1979, S. 73-74

[87] Ulrike Meinhof. “radikal” H.2, 1976, S. 8; in ibid. (1), S. 178

[88] erstmals auf Französisch publiziert: La mort d’Ulrike Meinhof. Rapport de la Commission Internationale d’enquête. Cahiers libres. Edition François Maspero. 75005 Paris

[89] U.M., ibid. (6), S. 150 (aus “Die Frauen im SDS oder In eigener Sache”, aus “konkret” Nr. 12, 1968)

[90] Peter Brückner. Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1976 (Zitat Titelblatt)

[91] Ulrike Meinhof. Aufsätze und Polemiken. a.a.O. S. 28

[92] Amy Colin. Metamorphosen einer Frau. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Verlag Christian Brandstätter, Wien, 1993, S. 213

[93] eine bedeutende Amerikanerin ungarisch-jüdischer Herkunft, auch für Hannah Arendt während des Aufenthalts in Paris, als sie für die Jugend-Alijah tätig war, von grosser Bedeutung.

[94] Bertha Pappenheim. Gebete. Ausgewählt und herausgegeben vom Jüdischen Frauenbund. Nachwort von Margarete Susman. Berlin 1936

[95] Helga Heubach. Nachwort zu: Bertha Pappenheim, die Anna O. Sisyphus. Gegen den Mädchenhandel – Galizien. Auswahl von Reden, Aufsätzen, Schriften zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Kore Verlag, Freiburg i. Br. 1992. S. 310 – Hrsg von der gleichen Autorin: Das Heim des jüdischen Frauenbundes in neu-Isenburg 1907 bis 1942. Neu-Isenburg 1986

[96] Käthe Mende. Blätter des Jüdischen Frauenbundes 1936

[97] Ernest Jones. Simund Freud. Life and work. Volume I: The young Freud, 1856 – 1900. Hogarth Press, London 1953.

[98]Anonym: Kleine Geschichten für Kinder, Wien 1988. – Paul Berthold. In der Trödelbude. Geschichten. Lahr 1890. – Paul Berthold. Frauenrecht. Dresden 1899

[99] Bertha Pappenheim. Tragische Momente. Drei Lebensbilder. Frankfurt a.M. 1913 – Bertha Pappenheim. Kämpfe. Sechs Erzählungen. Frankfurt a.M. 1916

[100] Bertha Pappenheim. Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse, Frankfurt a.M. 1904. – Bertha Pappenheim. Sisyphus-Arbeit. Reisebriefe aus den Jahren 1911 und 1912. Leipzig 1924. (Zweite Folge: Berlin 1929)

[101] Redekur

[102] Kaminfegen

[103] gr. katharsis – geistig-seelische Reinigung, Läuterung, Klärung

[104] Amy Colin. Metamorphosen einer Frau. Von Anna O. zu Bertha Pappenheim, cf. 1, S. 214

[105] Sigmund Freud. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905). Freud-Studienausgabe Psychologische Schriften. Hrsg. Alexender Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1970

[106] Josef Breuers Notiz zu seiner Patientin, zitiert bei Viola Roggenkamp. Vorwort zum Vorwort von Bertha Pappenheim bei der von ihr übersetzten Herausgabe (1910) der  Memoiren der Glückel von Hameln. Beltz Athenäum Verlag, Weinheim 1994, S. XV.

[107] Blätter des Jüdischen Frauenbundes, Juli/August 1936, S. 11

[108]Josef Breuer/Sigmund Freud. Studien über Hysterie. Freud-Studienausgabe, Bd. I, S. 55

[109] dazu ein Roman des russisch-amerikanischen Psychoanalytikers Irvin D. Yalom. Und Nietzsche weinte. Goldmann Verlag 1996 (Originalausgabe in Engl.: When Nietzsche wept, 1992)

[110] Sigmund Freud, nur drei Jahre älter als Bertha Pappenheim, wurde von Josef Breuer in täglichen Gesprächen über den Fortlauf der Hysterie sowie über den Abbruch der Therapie informiert. Am 18. 11. 1882, im Zusammenhang von Bertha Pappenheims “Geburtskrise” hielt Freud in seinem Tagebuch fest, wie sehr er von der Kraft des Unbewussten auf das menschliche Empfinden und Handeln beeindruckt sei undvon welch zentraler Bedeutung die Sexualität sei. Der “Fall” von Anna O. wurde durch Breuers Bericht für ihn sowohl Anlass einer Neu-Erforschung von Hysterie – 1885 bei Charcot in Paris thematisiert – wie einer neuen, von der Hypnose sich differenzierenden  Behandlungsmethode, jener der Psychoanalyse. Freud erkannte, dass das Erforschen und Erkunden der Ätiologie resp. der psychischen Genealogie beim Patienten/bei der Patientin durch das Bewusstwerden des Unbewussten von zentraler Bedeutung ist, um einen Heilungsprozss zu ermöglichen; dass dies gelingen konnte durch Sprechen, Erzählen und Deuten von Träumen sowie, zur Steigerung der Konzentration damals auch noch durch Handauflegen resp. “Drücken”, was er für sich, der nicht der Hypnose fähig war, als therapeutische Methode als wichtig erachtete. Eingehend befasste er sich mit der neuen Erkenntnis und Methode in seinen frühen Schriften (cf. Psychische Behandlung / Seelenbehandlung 1890 sowie Zur Psychotherapie der Hysterie 1895).

[111] Interessant ist die Zusammensetzung des Pseudonyms: Pa(ul) als Vorname gibt als Ausgangssilbe jene des Familiennamens Pa(penheim) wieder; Berthold ist die männliche Form von Bertha.

[112] Lahr 1890

[113] Bertha Pappenheim. Sisyphus. Kore-Verlag 1992, S. 302

[114] Erinnnerung von Hannah Karminski, in: Viola Roggenkamp, Vorwort zu: Die Memoiren  der Glückel von Hameln. Ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Bertah Pappenheim, Beltz Athenäum-Verlag, Weinheim 1994, S. XIV.

[115] Bertha Pappenheim. Sisyphus. Die sozialen Grundlagen der Sittlichkeitsfrage (1901). Kore Verlg, Freiburg i.Br. 1992, S. 28-29

[116] Es gab Vorgängerinnen, die Bertha Pappenheim vermutlich nicht kannte, z.B. die Urgrossmutter von Georges-Arthur Goldschmidt, Johanna Goldschmidt (cf. seine Autobiographie “Über die Flüsse”. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2003, S.22ff), die 1850 in Hamburg den ersten Kindergarten gründete wie auch einen interkonfessionellen Verein zur Bekämpfung von Armut durch Bildung; oder Hannah Arendts Mutter, Martha Arendt-Cohn, die zu einer Gruppe von Frauen gehörte, die in Königsberg für Kinder jeder Herkunft Kindergärten und Schulen gründeten und leiteten.

[117]  Sisyphus., a.a.O. S. 43-106

[118] ibid. 21 S. 43

[119] ibid. S. 50

[120] cf. (28)

[121] ibid. S. 55

[122] Am 7. 9. 2006 erschien in der NZZ (Nr. 207, S.2) der vom UNO-Weltbevölkerungsfonds (UNFPA) veröffentlichte Weltbevölkerungsbericht, in dessen Zentrum die Situation der über 95 Millionen Arbeitsmigrantinnen steht (fast die Hälfte der auf 191 Millionen geschätzten Migranten). “Die Schattenseite ist, dass jedes Jahr Millionen von Frauen Opfer von Ausbeutung am Arbeitsplatz, von Misshandlungen und von Menschenhandel sind. Vor allem ausländische hausangestellte leiden unter schlechter Entlöhnung, Misschtung ihrer Privatsphäre und oft auch unter Gewalt. (…) Für den UNFPA ist der Menschenhandelt einer der schlimmsten Manifestationen der internationalen Migration. Laut Schätzungen leben derzeit 2,5 Millionen Opfer von menschenhandel in sklavenähnlichen Verhältnissen. 600 000 bis 800 000 Menschen werden jährlich verkauft, 80% davon sind Mädchen und Frauen.” Nach Waffen- und Drogenschmuggel sei der Menschenhandel der lukrativste illegale Handel. Laut Schätzungen bringt er jährlich zwischen 7 und 12 Milliarden Dollar ein. In den Bestimmungsländern verdienen kriminelle Syndikate nochmals rund 32 Milliarden. Die Förderung der Gleichstelllung von Frauen und Männern sowie die Armutsbekämpfung seien der Schlüssel, um den Menschenhandel und andere Formen von Sklaverei zu stoppen.

[123] Es ist insbesondere die Bedeutung Bertha Pappenheims für die Krankenpflege, auf die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und in der jüngeren Zeit eingegangen wurde, cf. Hubert Kolling. Bertha Pappenheim und ihre Bedeuutng für die Krankenpflege. Verlag Hans Huber, Bern 1999

[124] Hannah Kaminski blieb auch nach Bertha Pappenheims Tod bei den noch in Isenburg verbleibenden jüdischen Kindern, bis sie 1942 mit diesen ins KZ Ravensbrück abtransportiert wurde; niemand überlebte. Genaue Angaben finden sich bei Clara Karo.Erinnerungen an Bertha Pappenheim 1859-1936. In: Die Frau, Nr. 12., Januar 1959, S. 2

[125] findet sich in der Sammlung von Bertha Pappenheims Papieren im Leo Baeck Institute, New York; zitiert von Amy Colin, cf. 13

[126] Margarete Susman. Ich habe viele Leben gelebt. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1964

[127] Neubearbeitung des Aufsatzes von M.W.-V. zu Margarete Susman in: Siehe, ich schaffe Neues. Aufbrüche von Frauen in Protestantismus, Katholizismus, Christkatholizismus und Judentum. Hrsg. Doris Brodbeck, Yvonne Domhardt, Judith Stefer. efef-Verlag, Bern 1998. S. 169-189

[128] erschienen unter dem Titel “Tod und Erlösung” im Drei Masken Verlag, München, in einer Auflage von 550 Stücken.

[129] Sie hatte sich unter dem Namen Marie Louise Enckendorf als Schriftstellerin einen Namen gemacht. – Dass Gertrud Kantorowicz und Georg Simmel ein geheimes Liebespaar waren, ja dass aus dieser Verbindung ein Sohn geboren wurde, dessen Geburt und Existenz verheimlicht wurde, solange Simmel lebte, dies erfuhr Margarete Susman erst nach Simmels Tod kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs; es erschütterte sie.

[130] für das Feuilleton der Frankfurter Rundschau, später für die von Martin Buber herausgegebene Zeitschrift “Der Jude”, aber auch für die Neue Zürcher Zeitung, für die Basler Nachrichten, für “Die literarische Wel”, “Der Morgen”, “Die neue Rundscha”, “Liberales Judentum” und für andere Blätter.

[131] Verlag von Strecker und Schreiber, Stuttgart 1910

[132] cf. 6, S. 7

[133] cf. 6, S. 18-19/20

[134] erschienen bei Eugen Diederichs, Jena 1912

[135] cf. 9, S. 10

[136] cf. 9, S. 124 -125

[137] Margarete Susman. Wandlungen der Frau. In: Gestalten und Kreise. Diana Verlag, Stuttgart, Konstanz, Zürich 1954, S. 160 ff

[138] cf. 12, S. 161

[139] Gestalten und Kreise. Diana Verlag, Stuttgart, Konstanz, Zürich, 1954, S. 348-366. – Walter Benjamin hatte Margarete  Susmans Aufsatz  zu Kafka gelesen, bevor er selber seine Auseinandersetzung mit Kafka festhielt;  andererseitswurde Margarete Susman, die sich gleichzeitig in Goethes Werk vertiefte, durch Benjamins Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften beeinflusst.

[140] cf. 14, S. 354-55

[141] cf. 14, S. 355

[142] cf. 14, S. 365

[143] cf. 14, S. 366

[144] bei Eugen Diederichs erschienen, Jena 1929

[145] Gestalen und Kreise, a.a.O., S. 178

[146] cf. 20

[147] cf. Regina Kägi-Fuchsmann

[148] in: Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze von 1914-1964. Verlag Agora, Darmstadt-Zürich 1965, S. 290 ff

[149] cf. 23, S. 296

[150] cf. 14, S. 350

[151] Margarete  Susman. Das Buch Hiob und das Schicksal des Jüdischen Volkes. 2. Auflage. Steinberg Verlag. Zürich 1948

[152]  cf. 26, S. 95ff

[153]  cf. 26, S. 97

[154] cf. 26, S. 66

[155] cf. 26, S. 67; von Max Weber eingeführt, cf. auch Hannah Arendt in der Auseinandersetzung mit Rahel Varnhagen, ebenso in jener mit Walter Benjamin.

[156] cf. 26, S. 67

[157] cf. 26, S. 7-10

[158] Etty Hillesum. Das denkende Herz. Tagebücher 1941-1943. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek b. Hamburg 1995, S. 13 (Erste Herausgabe in Deutsch im Verlag F. H. Kerle, Freiburg i. Br./Heidelberg 1983. Übersetzung aus dem Niederländischen von Maria Csollany. Originaltitel: Het verstoorde Leven. Dagboeck van Etty Hillesum 1941-1943. Verlag De Haan, Haarlem 1981). – Etty Hillesum hatte 1943, vermutlich kurz vor dem Abtransport nach Auschwitz,  der mit ihr nah befreundeten Maria Tuinzing die Tagebücher übergeben mit der Bitte, sie aufzubewahren und später dem Schriftsteller Klaas Smelik und dessen Tochter Johanna (Jopie) Smelik zu übergeben. Nach dem Krieg versuchten diese vergeblich, einen Verleger zu finden. Es dauert bis 1980, d.h. vierzig Jahre später, als Klaas Smelik die Hefte J.G. Gaarlandt übergab, dass diese entziffert und veröffentlicht werden konnten.

[159] “Jeder muss nun mal entsprechend dem ihm gemässen Stil leben. Aktiv aufzutreten, um mich sozusagen selbst zu retten, kommt mir so sinnlos vor und macht mich unruhig und unglücklich. Das Bewerbungsschreiben an den Jüdischen Rat, das ich auf Jaaps dringendes Anraten geschrieben habe, hat mich heute aus meinem (…) Gleichgewicht gebracht. Als ob es gewissermassen eine unwürdige Handlung wäre.” a.a.O. S. 151.

[160] von Etty Hillesum so genannt a.a.o. S. 175

[161] a.a.O. S. 219 ff

[162] gr. “hieros” – heilig, gottgeweiht, zu den Göttern gehörig; “arche” – Herrschaft

[163] a.a.O. S. 114 (vermutlich 21. Juni 1942)

[164] a.a.O. S. 48-49

[165] a.a.O. S. 40

[166] a.a.O. S. 48

[167] a.a. O. S. 85

[168] a.a.O. S. 66

[169] a.aO. S. 67

[170] ibid.

[171] a.a.O. S. 71

[172] a.a.O. S. 75

[173] Auf den “unnachahmlichen Humor” ihres Vaters ging Etty Hillesum öfters ein, z.B. als sie zitierte, wie er ihr schrieb, nun habe “das fahrradlose Zeitalter” begonnen; er habe Mischas Rad persönlich abgeliefert. “Was für ein Vorrecht! Wir brauchen jetzt keine Angst mehr zu haben, dass unsere Fahrräder gestohlen werden.Seinerzeit in der Wüste haben wir vierzig Jahre lang auch ohne Fahrräder auskommen können.”a.a.O. S. 119

[174] a.a.O. S. 76-77

[175] a.a. O. S. 85

[176] ibid.

[177] zu Fuss den langen Weg von der Amstelstation zu ihrem Zimmer am 23. August 1941

[178] a.a.O.  S. 119

[179] Drenthe ist das Gebiet, wo sich Westerbork befindet.

[180] a.a.O. S. 120

[181] a.a.O. S. 211-212. Der Abstransport von Mischa und von den Eltern nach Auschwitz wurde auf den 7. September 1943 verschoben; es war gleichzeitig der Abtransport von Etty Hillesum selber.

[182] gr. “cheiros” – Hand

[183] a.a.O. von S. 169 bis S. 175

[184] a.a.O. S. 53-54 (4. September 1941)

[185] a.a.O. S. 55-56

[186] a.a.O. S. 57

[187] a.a.O. S. 60

[188] a.a.O. S. 167

[189] a.a.O. 168

[190] ibid.

[191] a.a.O. S. 216-217

[192] a.a.O. S. 91-92

[193] a.a.O. S. 93-94

[194] ibid.

[195] a.a.O. S. 94

[196] ibid.

[197] a.a.O. S. 156

[198] a.a.O. S. 154

[199] a.a.O. S. 166

[200] a.a.O. S. 152 (am 14. Juli 1942)

[201] a.a.O. S. 106

[202] a.a.O. S. 107-108

[203] a.a.O. S. 181

[204] a.a.O. S. 181-182 (am 22. September 1942)

[205] a.a.O. S. 220 (aus dem Brief von Joopie Vleeschouver)

[206] ibid. S. 221

[207] Simone Weil. Cahiers I/3 aus Cahiers. Bd. I bis IV. Hrsg. und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München–Wien (o.J.-1998), S. 211 

[208] Neu überarbeitete und stark gekürzte Version einer psychoanalytischen Untersuchung, die publiziert wurde unter Maja Wicki-Vogt. Simone Weil. Kontingenz im Widerspruch der Identität. In: Philosophinnen des 20. Jahrhunderts (Hrsg. Regine Munz). Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 2004

[209] Simone Weil. La pesanteur et la grâce. Librairie Plon, Paris 1948

[210] Simone Weil. Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem. Hrsg. und übersetzt von Heinz Abosch. Edition Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1978

Simone Weil. Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften. Hrsg. und übersetzt von Heinz Abosch. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 1975/1987

Simone Weil. Leçons de philosophie. Transcrites et présentées par Anne Reynaud-Guérithault. Librairie Plon, Paris 1959

Simone Weil. L’enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Edition Gallimard, Paris 1949

Simone Weil. Attente de Dieu. Edition Fayard, Paris 1966

Simone Weil. La source grecque. Edition Gallimard, Paris 1953.

Simone Weil. Sur la science. Edition Gallimard, Paris 1966

[211] Maja Wicki. Simone Weil. Eine Logik des Absurden. Verlag Paul Haupt, Bern-Stuttgart, 1983.

Maja Wicki. Jüdisches Denken in geleugneter Tradition. In: Simone Weil. Philosophie-Religion-Politik. Hrsg, Heinz Robert Schlette & André Devaux. Knecht Verlag, Frankfurt a. M. 1985.

Maja Wicki. Beiträge zu einer Philosophie der Dialogik im Werk von Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt. In: Perspektiven der Dialogik. Hrsg, Willi Goetschel. Passagen Verlag, Wien 1994.

Maja Wicki. ‘Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?’ oder: Warum hungerte Simone Weil zu Tode? In: Simone Weil. Ein Leben gibt zu denken. Hrsg. Imelda Abt & Wolfgang W. Müller. Eos Verlag, St. Ottilien 1999.

Maja Wicki. Empfinden und Denken als kreative Vernunft: Das Öffnen des Fächers. In: Wissen Macht Geschlecht. Philosophie und die Zukunft der “condition féminine”. Hrsg. Birgit Christensen. Chronos Verlag, Zürich 2002.

[212] Simone Pétrement. La vie de Simone Weil. 2 volumes. Edition Fayard, Paris 1973

[213] a.a.O. S. 99

[214] Mémoires d’une jeune fille rangée. Paris 1958, S. 236-37

[215] Organ der Lehrergewerkschaft, der Simone Weil seit ihrer Arbeit in Le Puy angehörte.

[216] cf. Unterdrückung und Freiheit, a.a.O. S. 37 ff

[217] cf. Alain Goldschläger. Simone Weil et Spinoza. Edition Naaman, Sherbrook, Québec (Canada) 1982

[218] cf. Paul Giniewski. Simone Weil ou la Haine de soi. Edition Berg International, Paris 1978

[219] L’enracinement, a.a.O.  S. 61

[220] Attente de Dieu, a.a.O.  S. 46

[221] cf. Wicki. Jüdisches Denken

[222] Franz Kafka. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1935, S. 199-200.( “Ein Hungerkünstler” erschien erstmals in “Die Neue Rundschau” XXXIII. Jahrgang der Freien Bühne. Hrsg. Oskar Bie, S. Fischer / S. Saenger, Oktober 1922)

[223] Cahiers I, a.a.O. S. 212

[224] Cahiers I, a.a.O. S. 215

[225] Cahiers I, a.a.O. S. 215

[226] Cahiers I, a.a.O. S. 212

[227] Cahiers I, a.a.O. S. 217

[228] Cahiers I, a.a.O. S. 216

[229] Cahiers I, a.a.O. S. 182

[230] Cahiers I, a.a.O. S. 265

[231] Cahiers I, a.a.O. S. 367

[232] „Réflexions sur le bon usage des études scolaires en vue de l’amour de Dieu“. Erstmals veröffentlicht durch J.M.Perrin in „Attente de Dieu“, Editions de la Colombe, Paris 1950. (Betrachtungen über den rechten Gebrauch des Schulunterrichts und des Studiums in Hinblick auf die Gottesliebe, in: „Das Unglück und die Gottesliebe“. Übersetzung ins Deutsche durch Friedhelm Kemp. Kösel Verlag, München 1953).

[233] Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Gallimard, 1949.

[234] Maja Wicki. „Simone Weil. Eine Logik des Absurden“. Paul Haupt Verlag, Bern/Münschen 1983. – Von den notwendigen und nicht-notwendigen Widersprüchen einer freiheitlichen Gesellschaft. In: Wege des Widerspruchs. Willi Goetschel/John G. Cartwright/Maja Wicki (Hg.), Paul Haupt-Verlag, Bern/München 1984. – Ethik der Kommunikation und des politischen Handelns. In: Geschichte der euen Ethik. Annemarie Pieper (Hg.). Francke Verlag, Tübingen/Basel 1992. – Beiträge zu einer Philosophie der Dialogik im Werk von Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt. In: Perspektiven der Dialogik. Zürcher Kolloquium zum 80. Geburtstag von H.L.Goldschmidt. Willi Goetschel (Hg.), Passagen Verlag, Wien 1994. – Dialektik der Natalität. Emanzipation und Assimilation. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit der „condition juive“. In: MOMA, 9.1996. – Irdischer Heimat verirrter Schein. Margarete Susman. Exil als Chance. In: Siehe, ich schaffe Neues. eFeF-Verlag, Bern 1998. – Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das? – In: Simone Weil. Ein Leben gibt zu denken. Wolfgang W. Müller/Imelda Abbt. Eos-Verlag, St.Ottilien, 1999.

[235] Anna Freud. Das Ich und die Abwehrmechanismen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1994

[236] von Hannah Arendt 1926 / 27 verfasst, publiziert in: Hannah Arendt / Martin Heidegger. Briefe 1925 bis 1975. Aus den Nachlässen herausgegeben von Ursula Ludz. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M.  1998, S. 378

[237] findet sich in den biographischen Aufzeichnungen von  Elisabeth Young-Bruehl. Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1986

[238] von Mary McCarthy 1977 bei Harcourt Brace Jovanovich veröffentlicht, in dt. Sprache: Vom Leben des Geistes. Bd.I. Das Denken. R. Piper & Co. Verlag, München 1979

[239] (cf. 3) S. 42-43

[240] (cf. 3) S. 45

[241] deutsch erstmals  beim Piper Verlag, München 1959 erschienen.

[242] deutsch 1971 unter dem Titel “Vita activa”, amerikanisch 1958 unter “The human condition” erschienen.

[243] aus: Günter Gaus. Zur Person. Gespräch mit Hannah Arendt, München 1964, S. 19

[244] für alle biographischen Präzisionen, auch für die Zitate aus Martha Arendts Tagebuch “Unser Kind” s. die hervorragende Biographie von Elisabeth Young-Bruehl. Hannah Arendt. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1986.

[245] erschien 1955 in New York, in dt. Sprache: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1962

[246] Rabbi Vogelstein konnte mit seiner Familie rechtzeitig aus Deutschland fliehen; auch er emigirierte nach New York, wo Hannah Arendt ihn wieder traf.

[247] Hannah Arendt / Kurt Blumenfeld. Die Korrespondenz… in keinem Besitz verwurzelt. Hrg. Ingeborg Nordmann und Iris Pilling. Hamburg 1995

[248] dt. erschienen unter: Der  Zionismus aus heutiger Sicht, in: Die krise des Zionismus. Essays und Kommentare. Hrsg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Edition Tiamat, Berlin 1989. S. 7-60

[249] s. oben, S.373

[250] Friedrich Georg Friedmann. Hannah Arendt. Eine deutsche Jüdin im Zeitalter des Totalitarismus. München 1985. S.115

[251] s. den umfangreichen Briefwechsel, hrsg. von Hans Saner, München 1985

[252] unter dem Titel “Men in Dark Times” 1968 bei Harcourt Brace Jovanovich; dt. unter dem Titel “Benjamin. Brecht” beim Verlag R. Piper, München 1971. – Der gleiche Essay sowie andere Texte – Briefe, Postkarten, Walter Benjamins letztes Manuskript “Über den Begriff der Geschichte” in der Schreibmaschinenfassung von Hannah Arendt findet sich in: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente. Hrsg. Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2006

[253] cf. Regina Kägi-Fuchsmann, S. …

[254] Ein sorgfältiger Bericht über die schwierige Flucht durch die Pyrenäen liegt vor: Lisa Fittko. Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1985. (Das 7. Kapitel  S. 129-144 ist Walter Benjamin gewidmet).

[255] cf. Walter Benjamin. Illuminationen. Ausgewählte Schriften, S. 251 ff. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1977, aus: Gesammelte Schriften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1972/1974/1977

[256] cf. Bernd Neumann. Hannah Arendt und Heinrich Blücher. Ein deutsch-jüdisches Gespräch. Rowohlt Verlag, Berlin 1998

[257] auch der Text zu Rosa Luxemburg findet sich  in: “Men in Dark Times” cf.  (17), dt.  S. 34 ff

[258] cf. Elisabeth Young-Bruehl, a. a. O., S. 237

[259] s. Elisabeth Young-Bruehl, a. a. O., S.282

[260] cf.den grossen Briefwechsel: Between Friends. The Corrspondence of Hannah Arendt and Mary McCarthy 1949-1975. Edited by Carol Brightman. Harcourt Brace & Company, new York/San Diego/London 1995.

[261] ibdi., S.589

[262] ibid., S. 591

[263] ibid., S. 636

[264] Von Ursula Ludz herausgegeben in “Was ist Politik?”, Verlag R. Piper, München 1993

[265] Leidenschaft – franz. / engl. “passion”;  leiden – lat “pati”

[266] auf dem “amor mundi” baut Hannah Arendt eines ihrer wichtigsten Bücher auf: Vita activa oder Vom tätigen Leben. R. Piper & Co. Verlag, München 1967. Die Originalausgabe erschien 1958 in engl. Sprache unter dem Titel “The human condition” bei University of Chicago Press.

[267] Platon. Sämtliche Werke, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher; in Bd. I Kriton

[268] publiziert in H.A. Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. Marie Luise Knott. Aus dem Amerikanichen übersetzt von Eike Geisel. Rotbuch Verlag, Berlin 1986. S. 119-159

[269] in H.A. Zur Zeit. Politische Essays. Hrg. Von Marie Luise Knott. Aus dem amerikanischen von Eike Geisel. Rotbuch Verlag, Berlin 1986

[270] ibid. (4), Bd. 5 (294b)

[271] Auf Kafkas Ausdeutung des “Gesetzes” als für den einzelnen Menschen geschaffene, jedoch unzugängliche und unverständliche Institution, nach der ein jeder Mensch strebt, die sich jedoch niemandem eröffnet, geht sie leider nicht ein

[272] cf. die Untersuchungen zu Ulrike M. Meinhof, S. …

[273] cf. die Untersuchungen zu Regina Kägi-Fuchsmann, S. … Andere Beispiele finden sich bei den “passeurs” und “passeuses”, die, insbesondere im Gebiet der Romandie, Flüchtlinge beim geheimen Grenzübertritt begleiteten, oder bei der heimlichen Legalisierung von sog. “illegitimen” Grenzübertritten durch das Fälschen von Dokumenten oder beim Verstecken von Flüchtlingen, wie ein ganzes Netz von Menschen es wagte, aus politischen oder aus religiösen Motiven oder einfach aus Gründen des persönlichen Urteils, dass sich etwas anderes “nicht gehört”. Dies äusserte sich in der Kriegszeit auch beim Publikmachen der von der Schweizer Regierung geleugneten systematischen Tötung des jüdischen Volkes durch die Nazis, auch der Tötung von Rroma, von Kommunisten und weiteren für lebensunwert und für rechtlos erklärten Menschen, wie Peter Hirsch alias Surava es in der “Nation” zu tun wagte, deren Chefredakteur er war.

[274] cf. Eichmann in Jerusalem. Verlag R. Piper, München 1964. Neuausgabe von 1986, S. 22-23

[275] Abstimmung vom 24. September 2006 betr. Nichteintreten auf Asylgesuche und Zwangsmassnahmen gegen weggewiesene Asylsuchene wurden mit Zweidrittelmehr von der Bevölkerung angenommen und traten ab 1. Januar 2007 in Kraft.

[276] S. 39, 4. Auflage im Verlag R. Piper & Co, München 1981

[277] Erschienen beim Verlag R. Piper & Co., München 1967. (In englischer Fassung unter dem Titel “The Human Condition” 1958 bei University of Chicago Press)

[278] ibid. (1), S. 34

[279] cf. S. …

[280] Rosa Luxemburg. Politische Schriften; ab S. 243: Die Krise der Sozialdemokratie (Junius-Broschüre). Hrsg. Ossip K. Flechtheim, Athenäum Verlag, Franfurt a.M. 1987. S. 257

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