Einschüchterung, Angst und Hiebe statt Liebe

Einschüchterung, Angst und Hiebe statt  Liebe

 

In  der Hügelsiedlung  am Rand  der Stadt wohnen mehrheitlich  jüngere Familien,  vom Land  oder aus anderen  Städten  zugezogen, manche  aus dem  Ausland. In einem  Schub, fast gleichzeitig richteten sie sich in den noch feuchten Häusern ein, kaum dass die letzten  Türen eingehängt waren, in Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnungen, drei pro Stockwerk, zwölf pro Haus,  Mittelstandfamilien, kaufmännische Angestellte,  Bankangestellte,  Techniker  und ähnliche  Berufsleute,  mit je einem  Kind oder  höchstens dreien.  Die Umgebungsarbeiten stehen noch aus, noch keine Wege verbinden die Häuser untereinander,  Holzplanken  sind gelegt, unter denen  an Regentagen bei jedem Schritt der  Schlamm aufklatscht und bei trockenem Wetter  Eidechsen hervoräugen. Die Häuser  sind  leicht  gebaut, Nummer 17  wie die anderen,  und nach wenigen Wochen  ist  es kein  Geheimnis  mehr,  dass Markus und Gerda L., die im  2.Stock  die 4-Zimmerwohnung und einen acht-  und einen  sechsjährigen Sohn und ein Kätzchen haben, sich häufiger in den Haaren liegen  als nicht.  Anfänglich  achtet  niemand  auf die abendlichen Schrei- und Heulszenen, auf  die zugeknallten  Türen,  auf  das Gepolter umgestossener Stühle,  nicht  einmal  auf das blutunterlaufene,  geschwollene  Auge,  das Gerda  L. unter  ihren rotblonden  Locken  zu  verstecken sucht.  Sie  spricht  zu niemandem  mehr als freundliche Grussworte.  Die zwei  Buben  sind  verschlossen  und schüchtern,  sie  spielen  nicht  mit den  übrigen Kindern  auf  den Dreckbergen,  die  vom Aushub  übrigblieben,  noch in  den dazwischen liegenden Tümpeln.  Eines  Abends,  anfangs Oktober,  wie Markus L. nach  Feierabend von neuem  zu  toben anfängt,  klirren die Scheiben  im  Wohnzimmer,  Gerdas  schwere Schultertasche  fliegt  mit  den Glassplittern hinaus  und hinterher  das  Kätzchen. Die zwei  Buben  stürzen  schreiend  die Treppe hinunter,  Frau  K. von  der gleichen  Etage, die  eben  von  der  Arbeit  nach Mause  kommt, tritt  in  die offene  Wohnung  der L’s,  sieht Gerda mit  einer  blutenden  Schramme  an der Stirne  am Boden liegen,  Markus  L.  fassungslos  vor ihr  stehen  – und alarmiert  die Polizei.  Die nach  kurzer  Zeit anrückenden Polizeibeamten  aber  finden  eine  –  scheinbar  – versöhnte  Familie  vor. Gerda gibt vor, sie  habe  sich  die  Wunde  bei einem zufälligen  Sturz  zugezogen  und widerspricht  ihrem  Mann nicht, der  erklärt, er  sei  überreizt von der Arbeit nach  Hause gekommen,  wie dies  bei Männern halt üblich sei,  und ein  geringfügiger  Zwist  wegen der Katze,  auf deren  Bedürfnisse  mehr Rücksicht genommen  werde als auf seine, hätte  dann  den  Zwischenfall  verursacht, es  tue  ihm  leid,  dass  die Beamten  sich deswegen  hätten  bemühen  müssen.  Die zwei Buben  sitzen  eingeschüchtert  in  ihrem Zimmer und geben keinen  Laut von  sich,  das Kätzchen  haben  sie  nach  oben  getragen, es liegt  matt im  Korb,  der  Atem  geht schnell, welche Verletzungen  es  davongetragen  hat, ist noch  ungewiss.  Die zwei  Polizeibeamten  ziehen  sich  wieder  zurück,  halb mit ungutem  Gefühl,  halb  männerbündlerisch beschwichtigt.

Zwei  Monate  später  liegt  Gerda  auf der Intensivstation  des Kantonsspitals  mit einer  schweren Medikamentenvergiftung.  In einem  Abschiedsbrief  schreibt  sie,  sie habe  sich nicht mehr anders  zu helfen  gewusst,  als  sich  selbst  das  Leben  zu nehmen,  das von der  Angst  vor Markus’ Tobsuchtsanfällen völlig überschattet  sei, so  sehr,  dass  sie  auch nicht  gewagt  hätte, ihn  zu verlassen;  denn seine  immer wiederholte  Drohung,  er würde  in  diesem Fall  nicht  nur sie,  sondern auch die Kinder und sich  selbst  umbringen,  sei  für sie  mehr  als glaubwürdig gewesen,  nach all den gemachten Erfahrungen.

Das  Ausmass an “verhäuslichter” Gewalt  ist gespenstisch, und gespenstisch  ist  die Dunkelzone,  in der  sich  die  Gewalt  gegen Frauen und Kinder  abspielt.  Kindsmisshandlungen  bilden  zwar  im Strafrecht  einen eigenen  Tatbestand,  Misshandlungen von Ehefrauen  aber  keinen.  Sie  fallen  unter die gleichen  Bestimmungen wie allgemeine Körperverletzung,  werden  aber  in der  Rechtspraxis häufig  nachlässiger  bestraft als Vergehen  gegen  Leib  und Leben Fremder,  falls  sie  überhaupt  vor den  Richter  gebracht  werden.  Selten  ist  dies  der  Fall: das Ausmass  an verschämtem, verängstigtem Schweigen  ist  beinahe  dem Ausmass  an Gewalt gleich.  Erst  seit  kurzer  Zeit,  seit etwa  zehn Jahren, sind  die  Zusammenhänge zwischen  Familienintimität  und Familiengewalttätigkeit  überhaupt  dem Heile-Welt-Tabu entzogen,  mit dem  die  Familie  als Institution  seit  Jahrhunderten  belegt  war; erst seit  der Eröffnung  der ersten Frauenhäuser hat die  Notwendigkeit  einer  Initiative  gegen die Gewalt in  der Familie einen  unübersehbaren  Oeffentlichkeitsaspekt  bekommen.

Das  Grauen über  die Zustände  verändert sie  jedoch  nicht,  mit  der Schuldigerklärung  der Männer ist  es  auch  nicht  getan; als  immer  dringlicher  zeigt  sich  die  Abklärung  der Entstehungszusammenhänge  der Gewalttätigkeit.  Solange  “Familienmitglied” die  grösste Opferkategorie  in  der Kriminalstatistik  ist,  solange  20%  bis  40% aller  Morde  an Familiemitgliedern  verübt werden (wobei  die überwiegende  Mehrzahl der Opfer Frauen  sind), solange  es  zum durchschnittlichen  Familienalltag gehört, dass Frauen herumkommandiert, angebrüllt, mit  schmutzigen Worten gedemütigt,  geschlagen, mit Fäusten und Füssen  traktiert, gestossen,  gezerrt,  missbraucht,  mit brennenden  Zigaretten verletzt,  mit Messern und Sturmgewehren und Offizierspistolen bedroht  werden,  solange  kein Tag vergeht, ohne  dass  ganze Familien  durch  Gewalt  in ihren  eigenen  vier  Wänden  ausgelöscht  werden  (“Familiendramen” nach dem  abgebrühten Meldejargon  der Lokalnachrichten),  solange ist  die Familie  als gesellschaftliche Institution  suspekt  und die  Fragen nach  den gesellschaftsimmanenten Gründen  sind unaufschiebbar (ohne  dass  die  Verantwortlichkeit  des  gewalttätigen Einzelnen gemindert würde).

Im  Lauf meiner  Befassung mit  dem  Thema  erhärtet  sich  die paradoxe  Vermutung,  dass gerade  die Familie,  die eigentlich  Ort der gegenseitigen Liebe und Fürsorge  sein sollte,  dass  gerade  die  Familie auf  Grund der ihr  eigenen Regeln  der Intimität  und der  internen  Solidarisierung  gegen  aussen den ursprünglichen  Auftrag  ins  Gegenteil umkehren kann,  ohne  dadurch  als Familie in Frage  gestellt  zu sein,  und dass sie auf diese  Weise  für die  schwächeren  Familienmitglieder,  für Frau und Kinder,  zu einem  Ort der  grössten  Gefährdung werden kann,  nicht  als Ausnahme,  sondern  mit  einer Häufigkeit  oder  gar “Normalität”,  die als solche  am meisten  entsetzt.  Wie kommt es,  dass  überhaupt  zwischen  “normaler”  und “missbräuchlicher”  Gewalt  unterschieden wird; Zwischen “legitimer”  und “illegitimer”  Gewalt?  Hängt  die  Unterscheidung  mit dem Ausmass  angetaner Gewalt  zusammen? Wenn dem  so  wäre, würde Gewalt  als ein Mittel unter  anderen  zur Konfliktbewältigung  in Familien  eingesetzt  werden  dürfen, solange  sie  ein  gewisses  Mass – aber welches?  – nicht  überschreiten  würde?

Dies  ist  absurd.  Gewalt  ist  immer  Missbrauch von Macht,  auch wenn sie  häufig  Ohnmacht beweist. Gewalt  selbst  ist  der  Konflikt, Gewalt  als Weg der  Konfliktbewältigung anstelle  anderer  Wege,  ob es  sich um  Gewalt gegen Frauen  oder  um Gewalt  gegen Kinder handle.  Von dieser  soll  zuerst  die Rede sein.

Nach  Michael-Sebastian  Honig*)  sind  es an die  95%  aller  Eltern,  welche ihre  Kinder körperlich züchtigen.  Ungezählte  Kinder  werden  schwer  misshandelt,  vernachlässigt,  sexuell  missbraucht. Wo liegt  der Unterschied  zwischen  körperlicher  Züchtigung  und Misshandlung?  Wie kommen  Eltern dazu,  ihre  Kinder  zu  demütigen,  zu  verletzen,  sogar  schwer  oder  tödlich  zu verletzen?  Gibt es  bei misshandelnden Müttern und Vätern  eine  bestimmte  Persönlichkeitsstruktur?

Einzelne  Forscher,  zum Beispiel  die  Amerikaner Brandt  Steele  und  Carl  Pollock, weisen  nach,  dass dem nicht  so  ist,  dass es  sich um durchschnittliche  und nicht abnorme  Männer  und Frauen handelt, dass sie  sich v0n  den nicht-misshandelnden Eltern weniger  durch  die  Wahl  der Erziehungsprinzipien  unterscheiden  als durch die  Art und Weise  und  durch  den  Zeitpunkt der Durchsetzung  dieser  Prinzipien.  Mit rigider  Härte  und Unnachgibigkeit,  ohne  die geringste Einfühlung  in die Persönlichkeit des Kindes,  werden  verfrüht  Gehorsam,  Anpassung  und Unterordnung  verlangt,  verfrüht und andererseits  bis  ins  beginnende  Erwachsenenalter  hinein. Jeder  persönliche  Wunsch des  Kindes,  jeder  Versuch  von Eigenwilligkeit  oder  Eigenentscheid      wird  als Autoritätsbedrohung  empfunden  und schwer  bestraft. In  weit zurückreichende  Mythologien verweisen  die dabei  offenkundig werdenden Aengste  der Väter  vor den nachrückenden  Söhnen, oder es  zeigt  sich Angst  vor der Weltfreude  und dem  Erfahrungshunger  des Kindes, Regungen, welche  die  Eltern  in  sich  selbst längst  erstickt  haben,  oder  religiöse  und gesellschaftliche Handlungsmuster  schränken den  zugestandenen Freiheitsradius  auf ein beängstigendes  Minimum ein,  auf nichts  anderes  denn  auf  Zustimmung  und Unterwerfung. Der türkische Gastarbeiter  zum Beispiel,  der  während Jahren seine  Tochter  drangsaliert  und sie  schliesslich  umbringt,  weil sie den  Lebensgewohnheiten  und -normen  ihrer  mitteleuropäischen  Umgebung gemäss  leben möchte, in  der  sie  aufgewachsen  ist,  und  weil sie  den damit  unvereinbaren  Ehrenkodex des traditionell denkenden  Vaters  verwirft, obwohl  sie  ihn  als Vater  liebt,  ist  dafür ebenso  ein Beispiel  wie der Durchschnittsamerikaner,  der  seiner  16-jährigen  Tochter regelmässig  schallende  Ohrfeigen  austeilt, wenn  sie  verspätet nach Hause  kommt, bis der  Schularzt  eine  dauernde  Gehörschädigung  feststellt und interveniert.  (Straus und Steinmetz  weisen  nach,  dass  rund  die Hälfte  der  High-School-Absolventen,  die bei  ihren  Eltern  leben,  von  diesen noch geschlagen werden).

Misshandlungen  im Kleinkindesalter  finden häufig  aus  nichtigem  Anlass  statt,  weil die  Kinder “keine  Ruhe  geben”,  weil  sie Bedürfnisse  zeigen,  die mit  den Bedürfnissen  der  Eltern  kollidieren und daher  als Störung  oder  gar als Anmassung  empfunden werden.  Viele  Frauen,  die  ständig  den unkontrollierten  Launen  und Grobheiten  ihrer Männer  ausgesetzt  sind,  geben  der psychischen  und physischen  Ueberbelastung nach, indem  sie  den  Druck  auf die  Kinder  abwälzen  – und diese terrorisieren.  So  zum  Beispiel  Margot  K., die  mit  drei  Kindern  in einer  Zwei-Zimmerwohnung lebt,  deren  Mann Gelegenheitsarbeiter  ist,  häufig  arbeitslos  und auf Sozialhilfe  angewiesen.  Ihr kleiner  Bernhard,  gesteht  sie,  achtzehn Monate  alt,  fange  regelmässig  zu  schreien an, kurz  bevor ihr Mann  nach  Hause  komme, sodass  sie  das  Essen  nicht  herrichten  und mit den  Zornausbrüchen des  Mannes  gegen sie  zu rechnen  habe,  vor denen  sie  sich fürchte.  Zuerst  suche  sie  das  Kind immer zu beruhigen,  dann verliere  sie  die  Nerven und schlage  auf es  ein,  hilflos  in dieser Alltagsvernetzung von Gewalt,  Angst und Stress,  in  der sie  Opfer  und Täter ist.

Die  Forscher  sind  sich  einig,  dass soziale Isolation der Familie,  bedrängende Lebensbedingungen, Armut und Zukunftsängste, auch die  eigene  Erfahrung  einer  lieblosen, überstrengen  Erziehung,  in der  nichts  die Eltern  zufriedenstellen konnte,  dass all dies  die  Gefahr  der  Kindsmisshandlung vergrössert.  Edit  Schlaffer  und Cheryl  Benard, zwei  Mitarbeiterinnen  an der  Ludwig Boltzmann Forschungsstelle  für Politik,  zeigen in  einer nächstens  erscheinenden Untersuchung  an  einer Vielzahl  von Fällen  auf, dass  bei  der  Misshandlung  von Kindern und Frauen,  die  immer wieder  in Tötungsdelikte einmünden,  diese  Verflechtung  aus sozialen, lebensgeschichtlichen  und psychologischen Faktoren  typisch  ist.  Bei   Felix M.  zum Beispiel,  einem  tüchtigen Mechaniker  und Firmeninhaber  aus  armen Verhältnissen,  der ins  Geschäft  seiner  Schwiegerfamilie  eingeheiratet hatte  und dessen  Ehe  nach  kurzer  Zeit  “nichts  wie ein  Trauerspiel”  war, wie er  sich  ausdrückt, gab eine  Bagatelle Anlass  zu  gegenseitigen  Beschimpfungen, die  sich  steigerten  und zu  einem Handgemenge  führten,  in welchem Felix  seine Frau  schliesslich  am Hals packte  und so lange würgte,  bis  sie  nicht  mehr  atmete. In  diesem  Augenblick  hörte  er  hinter  sich seinen siebenjährigen  Sohn  vor Entsetzen schreien,  wandte  sich  um und drückte  ihm den Mund  zu,  bis auch  er  nicht  mehr atmete.

Und wieder  stellt  sich  die  Frage:  Wie  sind solche  Gewaltakte  möglich?  Warum  finden Menschen, die  einander  zu  lieben vorgeben, nicht  friedliche  Wege  der Konfliktbewältigung?

Gewalttätiges  Handeln,  wie ungezählte  Männer es  ihren  Familien  gegenüber praktizieren,  ist nicht denkbar  ohne  eine  Art sozialen  Selbstverständnisses  oder  kulturelller Absicherung,  welche  dem Mann,  allein weil  er  der Mann  ist,  das  Recht  zubilligt, Regeln  zu  setzen und mit allen  Mitteln durchzusetzen.  Da  spielen hergebrachte Patriarchatsvorstellungen mit:  “Wenn  jemand  auf den  Tisch haut,  bin  ich  es”  und “Wo  kämen  wir hin,  wenn man nicht mehr wüsste,  wer die  Hosen  anhat”, sind  Sätze, die  immer  wieder  fallen.  Wenn man sie  hinterfragt,  kommt  gleich  der hilflose  Rekurs auf eine  nicht  weiter  begründbare  Tradition.  “Weil  es  so  ist”  und “Weil  es  sich so  gehört” …  ist die  Antwort  auch gebildeter Männer.  Die Irrationalität  der Begründung muss  genügen und wird als solche  nicht  erkannt.  Diese  Irrationalität lässt  es  zu,  dass  im Privatleben  für die meisten Männer  – glückliche  Ausnahmen bestätigen  die  Regel  – andere  Gesetze  gelten  als in  den Berufszusammenhängen oder in  den Aussenbeziehungen,  ob  es  sich um Intellektuelle  handle  oder um Hilfsarbeiter,  eine  auf  breitester Ebene  praktizierte und gesellschaftlich  abgesicherte Irrationalität,  welche  den Frauen,  die sich  dagegen auflehnen,  folgerichtigerweise  kaum Unterstützung  zukommen  lässt.  Sie  sind “selbst  schuld”,  dass  sie  sich  mit  diesem Mann eingelassen  haben,  dass  sie  ihn geheiratet  haben,  mit ihm Kinder  haben;  den Kindern  zuliebe  trotz der unhaltbaren  Bedingungen  in  der Ehe  verbleiben.  Sie  hätte  “es  sich  vorher  überlegen sollen”, sie “wissen  den  Mann  nicht  zu nehmen”,  sie “werden  selbst  schuld  sein,  dass er  immer wieder  in Rage  kommt”…

Diesem  hergebrachten  irrationalen Muster zufolge  ist  die  Familie  der angezeigte Auffangort  für alle Launen,  für alle   Frustrationen, für alle Entwicklungsmängel des Mannes; sie  ist  der  Ort der ungeschminkten, rücksichtslosen  Selbstdarstellung,  der  kompensatorischen Demaskierung der Gentleman-  und Biedermann-Allüren, die infolge  äusserer  Zwänge  “draussen”  zur Schau  gestellt werden  müssen.  Der   Grund für dieses  Kompensationsbedürfnis  ist  zumeist  eine  sehr  unsichere, ungefestigte Ich-Struktur  vieler  Männer.  Gewalt  ist Kompensation  der  Ohnmacht.

Dem ersten  Grund  steht  ein  zweiter  zur Seite,  welcher  mit  dem  traditionellen Männerbild  und  mit der  von diesem  Leitbild  beeinflussten  Erziehung  der Knaben und jungen Männer  zu  tun  hat, dasselbe Leitbild,  welches  in  den  politischen, wirtschaftlichen  und militärischen Realitäten  zementiert  ist.  Denn  die  Herrschaftsmuster,  denen  zufolge  Männer  sich  in  ihren Familien  ohne  Skrupel  gewalttätig  verhalten,  strukturieren  die  Männerwelt selbst,  nach  unten  und nach  oben.  Darin besteht  das Verhängnis:  Der”zunehmende Gesellschaftsdruck”,  der  immer  wieder als Entschuldigung  für männliches  Gewalthandeln  angeführt  wird,  wird von  den Männern selbst geschaffen;  der unmenschliche  Stress, die  aggressiven  Bedingungen  in  allen Geschäftszusammenhängen,  die Regel  des “Tretens  oder Getreten- und  Zertretenwerdens” sind Wesensmerkmale  moderner,  von Männern geschaffener  und praktizierter  Männer-Macht-Kämpfe.

Betty  Friedan,  die  grosse  amerikanische Soziologin,  gibt  mit  Recht  zu  bedenken, dass  Frauen  von Natur  aus kaum wirklich friedfertiger  sind  als Männer,  aber “sie werden  einfach  nicht  dazu erzogen, Aggression  in gleicher  Weise  wie die  Männer  auszudrücken”.  Es  geht  um tradierte Verhaltensmuster.  “Das  wahre  Uebel”  sagt  Fernando Pessoa,  der Dichter,  “das  Uebel  schlechthin, sind  die gesellschaftlichen Konventionen  und Fiktionen,  die  sich über die natürlichen  Gegebenheiten legen …  Man wird als Mann  oder  als Frau  geboren,  ich will  damit  sagen,  man wird  geboren,  um als Erwachsener  einmal  Mann  oder Frau  zu sein”,  und Mann  und Frau  haben  einen  gleichen  Auftrag zum  Leben,  in  welchem  sie sich  gegenseitig  ergänzen.  Es gibt keinen Auftrag  zur  Domination. Vielleicht kann das neue  Leitbild  der  “Mütterlichkeit”  weiterhelfen,  das  Steele  und Pollock  für Frauen   u n d  Männer  entwickeln,  und das darin besteht, “Zärtlichkeit, Freundlichkeit und Einfühlung zu zeigen und ein geliebtes  Objekt  höher  zu  bewerten  als  sich  selbst”,  eine  Alternative zur  lebensbedrohlichen  Gewalt,  die  sich  nicht  nur gegen  Kinder  und Frauen richtet,  sondern in der Konsequenz gegen  die Männer  selbst.

 

*)  Michael-Sebastian  Honig,  Verhäuslichte Gewalt.  Sozialer  Konflikt,  wissenschaftliche  Konstrukte,  Alltagswissen,  Handlungssituationen.  Suhrkamp  Verlag,  Frankfurt a/m.,  Herbst  1986

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