Vater und Väter (6. Kapitel Erbschaften ohne Testament)

Vater und Väter

6. Kapitel Erbschaften ohne Testament

 

„Du bist der Vater uns. Und ich – ich soll

dich Vater nennen?

Das hiesse tausendmal mich von dir trennen.

Du bist mein Sohn. Ich werde dich erkennen,

wie man sein einzigliebes Kind erkennt auch dann,

wenn es ein Mann geworden ist, ein alter Mann.

……………………………………………………

Du bist der Erbe.

Söhne sind die Erben,

denn Väter sterben.

Söhne stehn und blühn.

……………………………………………………

So fliesst der Dinge Überfluss dir zu.

Und wie die obern Becken von Fontänen

beständig überströmen, wie von Strähnen

gelösten Haares, in die tiefste Schale,-

so fällt die Fülle dir in deine Tale,

wenn Dinge und Gedanken übergehn.“[1]

 

Im Erinnerungsgeflecht vermischen sich die Bilder. Da ist der Garten der Mutter, der Glanz ihrer Augen, ihre Frömmigkeit und ihre Trauer, die verborgene Kraft, die unausgesprochen in ihr wirkte, doch gleichzeitig ihre Abwesenheit, ihr Wegschauen vor der Unruhe des ältesten Kindes, unausgesprochen ihr Verbot des Zweifels und der  nach Antwort drängenden Fragen, ihre Fremdheit in meiner Heimatsuche, Nähe und Fremdheit zwischen ihr und dem Vater, ihre Ehrfurcht vor dem Vater und ihre Ablehnung seiner Herkunft, ihre Einsamkeit und meine Trauer.

Wie viele Mythologien wirkten mit in der Gleichzeitigkeit ihrer Geschichte und jener des Vaters, jener der vielen Geschwister und Fremden und meiner eigenen, andere Mythologien als die griechischen und die ägyptischen aus der Bibliothek im Herrenzimmer, die verschiedenen religiösen, die bürgerlichen und die verbotenen aus den Truhen und Kästen, diejenigen, die zum Feiern und zum Trösten, zum Strafen und Schweigen geöffnet wurden, Erbschaften sonder Zahl.

 

„O wie ist alles fern

Und lange vergangen.

Ich glaube, der Stern,

von welchem ich Glanz empfange,

ist seit Jahrhunderten tot.

Ich glaube, im Boot,

das vorüberfuhr,

hörte ich etwas Banges sagen.

Im Haus hat eine Uhr

geschlagen…

In welchem Haus?..

(…)“[2]

Der Vater? In der Kindheit erschien er gross und fern, unantastbar und fremd, beinah gottähnlich. Angetastet wurde das Gottähnliche, wenngleich mit Herzklopfen, schon in den Kinderjahren durch Fragen, die offen blieben. Was Vater“ in seiner Unerreichbarkeit bedeutete, das deckte sich mit „Vater“ in den Gebeten, Gottvater, Vater, die von Erwachsenen ausgesprochen und dem Kind gelehrt wurden.

Wer war gemeint? Wie war die gleiche Bezeichnung zu verstehen? Besondere Ehrfurcht war gefordert, doch warum? Weil der Vater unerreichbar war? Es gab in der Kindheit auf Fragen nur eine Antwort: „Weil es so ist“. Durfte somit nicht hinterfragbar sein, was nicht verständlich war?

Was als Gebot galt? Waren Gebote strikte zu glauben und zu befolgen? Kein Gebot konnte Neugier und Wissenshunger stillen. Was bedeuteten Worte? Wie viel Zweifel an Worten war im Geheimen erlaubt?

Fragen konnten nicht verstummen, unbefriedigende Antworten waren keine Antworten. Gewissensbisse bauten sich auf, sie mussten ertragen werden, ein merkwürdiges Wagnis. Die Ursachen leuchteten nicht ein, die Folgen – vage Androhungen, die mit Unbestimmtem und Unbekanntem zu tun hatten – ebenso wenig, doch sie wirkten beklemmend.

Was mit dem Kindheitsempfinden einhergegangen war, liess sich in der Jugend mit Erstaunen teilweise erklären, als die Bedeutung des griechischen „hieros“ – „heilig“ und ebenso jene von „arche“ – „Herrschaft“ zum Lernprogramm gehörten und die Bedeutung des Wortes „Hierarchie“ – der väterlichen und gottväterlichen Herrschaft – im Wortkleid durchschaubar wurde, wenngleich der Inhalt unantastbar blieb. Trotzdem bahnten sich Zweifel am Wahrheitsanspruch der „heiligen“ Erbschaften an, begleitet von Furcht und Scheu.

Furchtlos war der Blick auf den Vater des Vaters, der dem Kind irgendwie näher erschien, wortlos zurückversetzt hinter seinen Sohn, machtlos und trotzdem nicht ohnmächtig. Keine Ähnlichkeit bestand zwischen ihnen. Eine lange Reise war erfordert, um von Ort zu Ort zu gelangen. Bei den väterlichen Grosseltern verbrachte ich lange Wochen. Frühmorgens vor Sonnenaufgang mit dem Erwachen und abends nach Sonnenuntergang, wenn die Zeit zu schlafen begann im kleinen Hinterhofraum, der angehängt war ans Schlafzimmer der Grosseltern, sprach der Grossvater seufzend immer das gleiche Gebet wie ein Kindergedicht, mehr nicht. Fähig war er, wilde Bäume in fruchttragende Bäume zu verwandeln. In ruhigem Rhythmus schnitt er Gras und Korn, stand sicher auf hohen Leitern und pflückte Kirschen oder Mirabellen und Birnen, die nirgendwo besser gediehen als unter seiner Hand. Unter einzelnen Bäumen hatte er eine Bank gebaut. Auf einer solchen Bank neben ihm wortlos zu sitzen und über die Baumkronen und Wiesen hinweg in die hügelige Weite des Elsass zu blicken, löste ein nicht benennbares Gefühl aus, ein Gefühl ohne Wunsch und Zeit.

Erkundungshunger und Wissensdurst hatten einen hohen  Preis: schrittweise Erfahrungen, ständige Neugier und Sehnsucht, Denkanstösse und Enttäuschungen, unerhofft manchmal Erfahrung von Glück, häufiger die Last von Schuld  und wachsenden Pflichten, dunkle Zeiten, helle Momente. Vermutlich ging im Geheimen der sokratische „eros“ mit allem Erkunden und Stolpern einher.

Spät im Leben, nach dem plötzlichen Tod der Mutter, waren Auseinandersetzungen mit dem alt gewordenen Vater möglich. Die innere Freiheit war erstarkt.  Das Gewesene und Vergangene war noch zu benennen, teilweise zu erfragen, gleichzeitig zu akzeptieren. Und das Gegenwärtige und Zukünftige?  Es war von seiner Seite her nichts mehr zu gebieten noch zu verbieten, sondern im Sturm der Wolken zu akzeptieren. Schuldgefühle bleiben zurück im Ungelösten.

Kam trotzdem eine Gleichheit zustande im Nichtwissen? Von Vaters Seite her unmöglich, auch als Vater blieb er Sohn des Vaters der Väter, des allmächtig wissenden und strafenden, göttlichen Jenseitsvaters, dessen er in nicht hinterfragbarem Glauben bedurfte. Meinerseits höchstens als Wunsch, nein als Sehnsucht möglich, zugleich ahnend und abwqehrend. Eine Neugier in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, im Zeitlosen spielte wohl mit, die sich mit dem Ordnungskonstrukt und der Lebensmethode von Raum und Zeit zunehmend weniger beschränken oder verwirren liess.

War ich vaterlos geworden? Das war nicht möglich, war selbst nach dem Tod des Vaters nicht möglich. Ein vaterloses Wesen würde zum Konstrukt. Das Gegenteil war der Fall: eine andere Art von Nähe wuchs an und damit, ohne bewusste Absicht, ein anderes Verstehen auch der Mutter, allmählich ein Verzeihen und Vertrauen gegenüber Vater und Mutter. Rilkes Verszeilen wirkten wie eine Übersetzung wortloser Erfahrung.

„Und wieder rauscht mein tiefes Leben lauter,

als ob es jetzt in breitern Ufern ginge.

Immer verwandter werden mir die Dinge

Und alle Bilder immer angeschauter. (…) “[3]

So durfte sich die Erkundungssuche nach den Vatergeschichten und Muttergeschichten fortsetzen, der Blick zurück in die transgenerationelle Geschichte, in welche ich versetzt wurde wie alle Menschenkinder,mit welcher wir vernetzt bleiben, um vorwärtsschauend furchtloser zu werden. Es sind nahe, zutiefst aufwühlende und immer weitere, fernere Verbindungen, in denen das eigene Leben einen Platz einnimmt. In der doppelten Bedeutung von Herkunftsgeschichte, sowohl in der körperlichen wie in der geistigen, findet sich die Wirkungskraft von Überleben und Denken, von Bedürfnissen und Zielsetzungen, von Beziehungswillen und Fehlentscheiden, von Not und Verantwortung, zutiefst von Hoffnung, die als gemeinsame Erbschaft mich mehr und mehr überzeugte.

Bohrend stellte sich dabei die Frage nach dem Testament. Ging der Erbschaft ein Testament voraus? Aus Erzählungen und Büchern wurden unterschiedliche Antworten und Deutungen geboten – als Glaube und Glaubensverpflichtung oder als Wagnis des Nichtwissens und der je eigenen Suche nach Sinn, auch als schwierige und häufig leidvolle, kaum erfüllbare Verpflichtung, wie noch das letzte Gespräch mit dem sterbenden Vater verdeutlichte.

Doch welche Verpflichtung, wenn gleichzeitig Freiheit  zur Erbschaft gehört? Erneut die Kindheitsfrage, ob Gebote übergangen werden dürfen? Oder ob es persönliche Wahlmöglichkeiten in deren Erfüllung gibt? Bohrende Fortsetzung der Frage, was in Frage gestellt werden darf.

Sicher erschien mir lediglich, dass Fragen und Hinterfragen nicht zu fürchten sind, dass Verstehen und  Vergeben der Schlüssel für Entscheiden und Handeln sindfür „Tat und Freiheit“, wie Hannah Arendt mehrmals festhielt, doch Worte genügten nicht, Worte genügen nie. Lernen geschieht durch Erfahrung, schmerzlich.

Unanzweifelbar war, dass sich die Grundpfeiler jüdischer und christlicher Erbschaften in den Mythologien aus der Urzeitgeschichte finden, wie sie in Zusammenhang der babylonischen Exilgeschichte und der damit einhergegangenen Ängste um Wert und Rang aufgezeichnet, immer wieder nacherzählt und neu verfasst wurden, bis zu den jüngsten Übersetzungen, aus welchen ich die mehrmals bearbeitete Fassung von Martin Buber und Franz Rosenzweig auswählte[4]. Dringlich erschien mir, knapp zu verdeutlichen, wie von dieser Seite her die Abfolge von Werden und Sein als Geschichte festgehalten wurde und sich den späteren Generationen zur Verfügung stellte, so wie unter zahllosen anderen jene der Gedemütigten im Schwarzen Amerika, deren Nacherzählung ich streifte.

„ER, Gott, sprach: Da, der Mensch ist geworden wie einer im Erkennen von Gut und Böse.

Und nun könnte er gar seine Hand ausschicken und auch vom Baum des Lebens nehmen und essen und in Weltzeit leben. (…)

Der Mensch erkannte Chawwa sein Weib, sie wurde schwanger, und sie gebar den Kajin. Da sprach sie: Kaniti – erworben habe ich mit IHM einen Mann. Sie fuhr fort zu gebären, seinen Bruder, den Habel. (…)

Nach Verlauf der Tage wars, Kajin brachte von der Frucht des Ackers IHM eine Spende, und auch Habel brachte von den Erstlingen seiner Schafe, von ihrem Fett.

ER achtete auf Habel und seine Spende, auf Kajin und seine Spende achtete er nicht.

Da entflammte Kajin sehr, und sein Antlitz fiel.

ER sprach zu Kajin: Warum entflammt es dich? Warum ist dein Antlitz gefallen? Ist es nicht so: meinst du Gutes, trags hoch, meinst du nichts Gutes aber: vorm Einlass Sünde, ein Lagerer, nach dir seine Begier – du aber walte ihm ob.

Kajin sprach zu Habel, seinem Bruder. Aber dann wars, als sie auf dem Felde waren: Kajin stand auf wider Habel seinen Bruder und tötete ihn. (…)

Und ER legte Kajin ein Zeichen an, dass ihn unerschlagen lasse, allwer ihn fände.

Kajin zog von SEINEM Antlitz hinweg und er wurde sesshaft im Lande Nod, Schweife, östlich von Eden.

Kajin erkannte sein Weib, sie wurde schwanger und gebar den Chanoch. (…)

Dem Chanoch wurde Irad geboren,

Irad zeugte Mechujael,

Mechujael zeugte Metuschael,

Metuschael zeugte Lamech.

Lamech nahm sich zwei Weiber, der Name der einen war Ada, der Name der zweiten Zilla.

Ada gebar den Jabal, der wurde Besitzer von Zelt und Herde.

Der Name seines Bruder war Jubal, der wurde Vater aller Spieler auf Harfe und Flöte.

Und auch Zilla gebar, den Tubal-Kajin, Schärfer allerlei Schneide aus Erz und Eisen.

Tubal-Kajins Schwester war Naama. Lamech sprach zu seinen Weibern: Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, Weiber Lamechs , lauscht meinem Spruch: Ja, einen Mann töt ich auf eine Wunde, und einen Knaben für eine Strieme!

Ja, siebenfach wird Kajin geahndet, aber siebenundsiebzigfach Lamech!

Adam erkannte nochmals sein Weib, und sie gebar einen Sohn.

Sie rief seinen Namen: Schet, Setzling! (…)

Auch Schet wurde ein Sohn geboren, er rief seinen Namen Enosch, Menschlein.

Damals begann man den NAMEN auszurufen.

Dies ist die Urkunde der Zeugungen Adams, des Menschen. (…)

Als Adam hundertunddreissig Jahre gelebt hatte, zeugte er in seinem Gleichnis nach seinem Bild und rief ihn mit dem Namen Schet. (…)

Als Schet hundert und fünf Jahre gelebt hatte, zeugte er Enosch. (…)

Als Enosch neunzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Kenan. (…)

Als Kenan siebzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Mahalalel. (…)

Als Mahalalel sechzig und fünf Jahre gelebt hatte, zeugte er Jared. (…)

Als Jared hundert und zweiundsechzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Chanoch. (…)

Als Chanoch fünfundsechzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Metuschalach. (…)

Als Metuschalach hundert und siebenundachtzig Jahre gelebt hatte, zeugte er Lamech. (…)

Als Lamech hundert und zweiundachtzig Jahre gelebt hatte, zeugte er einen Sohn.

Er rief seinen Namen: Noach! – sprechend „Se jenachmenu“ – Dieser wird uns leidtrösten

In unserem Tun und der Beschwernis unserer Hände an dem Acker, den ER verflucht hat.

Und nach Noachs Erzeugung lebte Lamech fünfhundert und fünfundneunzig Jahre,

er zeugte Söhne und Töchter. (…)

Als Noach fünfhundert Jahre alt war,

zeugte Noach den Schem, den Cham und den Jafet. (…).“

Die Erzählung setzt fort mit der Urkatastrophe, jener als Strafe für das menschliche Verhalten geschilderten Überflutung der Erde, welche allein Noach und seine Sippe sowie je ein Paar aller pflanzlichen und animalischen Geschöpfe überlebten. Und es geht weiter mit der Zeugungsgeschichte der Söhne und deren Söhne. Kaum genannt werden die Namen der Töchter.

War „das Erkennen von Gut und Böse“ von allem Anfang schon eine Tatsache?  Wer kann genügen? Die Namen füllen die Seiten, bis zu Tarach, einem der Nachkommen Schems, der Abram zeugte. Und auch mit Abram geht die Geschichte der Söhne und deren Frauen und der Mägde der Frauen weiter, die immer nur Erwähnung finden, wenn sie Söhne gebären, die als gute oder als böse Stammesväter weiter die Geschichte fortsetzten, bis zu einem der Söhne Jizchaks, zu Jaakov, der zwölf Söhne hatte, die ihm seine zwei Frauen Lea und Rahel – die Töchter Labans – sowie deren Mägde  Bilha und Silpa geboren hatten.

Und weiter geht die Geschichte mit jener dieser Söhne, die sich unter einander verfeindeten, da sie sich vom Vater ungleich geliebt fühlten, sodass einer der Söhne Rahels, Joszef, von den Brüdern in einen Brunnen versenkt wurde, jedoch von Händlern aus Midjan gefunden, herausgeholt und an Pozifar, einen Höfling des ägyptischen Pharao, verkauft wurde, worauf die Geschichte Joszefs zur viele Generationen übergreifenden Vatergeschichte in Ägypten wurde, wo der Stamm leben und stark werden konnte, bis dieses sich vermehrende, von Jaakovs Sohn Joszef und dessen Brüdern abstammende „ebräische“  Volk als Bedrohung empfunden wurde. Den Geburtshelferinnen wurde geboten, allein die Töchter am Leben zu lassen und die Söhne zu töten. Doch diese hielten sich nicht an das Gebot. Einer der Söhne, im Schilf in einem Kästlein aus Papyrusrohr versteckt, wurde von einer Magd von Pharaos Tochter gefunden, von dieser gerettet und Moshe/Moses genannt, „der hervortauchen lässt“[5].

Die Fortsetzung der Jakob-Josef-Moses-Geschichte ist die Fortsetzung väterlicher Erbschaft, es ist die Geschichte von Schem, Cham und Jafet, der Söhne, die Söhne blieben und zugleich Väter wurden, einer Erbschaft, die in der jüdischen Geschichte erhalten blieb und die zugleich in die Jesusgeschichte hineinreicht sowie in jene von Muhammad, die in allen drei monotheistischen Religionen weiter- und weiterreicht. Mit dieser Geschichte verknüpft waren die hierarchischen Konflikte der völkerübergreifenden Verwandtschaften, neue Religionen, die sich von den ursprünglichen abspalteten, die sich auf dieselben Urväter, jedoch auf je andere Söhne beriefen. Aus dem je einseitigen Beharren auf der alleinrichtigen, alleinwahren  Umsetzung oder Fortsetzung des Testaments erwuchsen Feindseligkeiten, die in hass- und rachegeprägte Kriege mündeten, in kollektive Sehnsüchte sowie in ungezählte, sich über Generationen fortsetzende Familiengeschichten.[6]

Ist es daher von Nutzen, auf jegliches Testament zu verzichten? Oder bewirkt der Verzicht die versengende Suche nach Klarheit, die immer wieder Aussenseitertum und „Enterbung“ bewirkte? Ist das Wort nicht ein Konstrukt der Macht, das unter allen hierarchischen Machtverhältnissen angewendet wird?  Findet sich hier die Ursache für die  „Enterbung“ Jesu durch die rabbinische Macht? – auch die Ursache für die Erschwernisse, eine Deutung für den früh anwachsenden Mythos seiner geheimnisvollen, göttlichen Herkunft als Ewigen Sohn zu finden, dem, von seiner Mutter „jungfräulich empfangen“, die menschliche Vaterschaft abgesprochen wurde  und der somit auch der eigenen Sohn- und Vaterschaft entmündigt wurde?

Das Aufbegehren von Jesu gegen hierarchische Macht und Gewalt, sein furchtloses Eintreten für gleichen menschlichen Lebenswert und gleiches Recht auf Respekt, ja auf Liebe und Verzeihen, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, bewegte Massen von Menschen und entsetzte die römische Besetzungsmacht ebenso wie die rabbinische Herrschaft. Gefangennahme, Folter und Tötung, deren Nachwirkungen mit nicht endender Verehrung und Trauer sowie mit nicht endender Fortsetzung von Rache bis heute andauern, stellen neue Fragen. Nichts ist sinnloser als nicht endende Gewalt. Ist daher anzunehmen, dass „göttliche“ resp. religiöse Rechtfertigung von Gewalt Rückfall bedeutet in die griechischen und römischen oder in andere „barbarische“[7] Mythologien und Machtsysteme, die sich auf „Testamente“ berufen und deren Erbschaft im Zwiespalt mit anderen Erbschaften die Oberhand nicht loslassen kann?

Wurde Jesus, wenn der testamentarische Verzicht gelingen konnte,  durch seine Absage an jegliche Gewalt zum zeitlosen, gottähnlichen Bruder oder Geliebten? – auch zu einem geheimen Vater, einem anderen Vater? – einem göttlichen Wahlvater? Setzte sich über Jahrhunderte fort, was durch die Erzählungen und Berichte der ersten Anhänger, Freunde und Freundinnen einerseits zu einer Verpflichtung oder Sehnsucht wurde? Und weil das Beharren auf der Notwendigkeit eines Testaments überhand nahm, entstand nicht daraus das neue, hierarchisch-patriarchale Ordnungs- und Machtgefüge, in Rivalisierung sowohl mit dem jüdischen wie mit dem römischen, später mit zahllosen weiteren?

Wie verbinden sich die Fragen im Rückwärtsblick mit der Gestalt von Moses? Lassen sich mit Moses die Fragen bezüglich der Herkunftsväter verknüpfen und mit Jesus jene bezüglich der Wahlväter?

Es sind  Fragen, die seit Jahrhunderten mit tiefen Sehnsüchten wie mit einem machtvollen Verbot, sie zu berühren, verbunden waren.

Als Sigmund Freud bereit war, Moses’ Herkunftsgeschichte aus dem Tabu zu befreien, mit analytischer Akribie sogar dessen hebräische Vaterschaft in Frage zu stellen und die Annahme der ägyptischen zu bekunden, stand er selber dem Tode nahe [8], in seinem Streben nach persönlicher Vaterschaft geliebt, vielfach bewundert und angefeindet – sowohl in der für seine drei Söhne und drei Töchter aus der Ehe mit Martha Bernays nicht wählbaren Vaterrolle  wie in der emotional vielschichtigen Wahlvaterschaft seiner Schüler und Nachfolgerinnen.

Die Fragen rings um die Bedeutung des „Tabu“ hatte Freud über dreissig Jahre vorher aufgegriffen, jedoch nicht gewagt, das religiöse Tabu, dieses „uralte Verbot, von Aussen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste des Menschen gerichtet“ [9],  durch kritisches Hinterfragen der verdrängten und neu überlieferten, übertuschten Zusammenhänge um die Moses-Geschichte offen zu berühren und zu publizieren, was er zu bearbeiten wünschte.

Am nächsten stand ihm damals nicht Martha, seine Frau, sondern seine „Antigone“, wie er sie nannte, die jüngste Tochter Anna, die den Vater in seinen körperlichen Leiden zu entlasten trachtete, die ihn pflegte, begleitete und nach Aussen seine Stellvertreterin war,  kurz, die die väterliche Erbschaft teilweise mit den ihr zustehenden Wahlmöglichkeiten, jedoch in erster Linie mit einer Verpflichtung verband,  analog einem „Testament“. Ferner waren es einige der wenigen Wahlbrüder oder Wahlsöhne, die sich nicht gegen den mächtigen, mosesähnlichen Vater Freud erhoben hatten wie die meisten aus der „Urhorde“ der „Wiener Vereinigung“ der Psychoanalyse. Als loyale Nachfolger in Wien resp. in Kanada konnten noch Karl Abraham und Ernest Jones gelten, ferner in Zürich Ludwig Binswanger und Oskar Pfister. Arnold Zweig, der ihn als „geliebten Vater“ ansprach und mit welchem Freud vor allem in der Endfassung seiner Moses-Bearbeitung einen nahen Austausch hatte, verdeutlicht die Entstehung einer Wahlvaterschaft in deren Dringlichkeit und Brüchigkeit. Auf diese werden wir näher eingehen.

Die mosaische Vatergeschichte sowie in der Fortsetzung und religiösen Abspaltung die auf Jesus bezogene Geschichte der göttlichen Vaterschaft, damit der Abwendung von der menschlichen Vaterschaft, die damit verbundene Ferne und Vergeistigung der väterlichen Zugehörigkeit, die Vaterlosigkeit oder die geheime Vaterschaft und Wahlvaterschaft gehören mit dem Tabu gegenüber deren Erbschaft zu den kulturellen Beständen, welche die Entwicklung  unserer Hemisphäre beherrschten und weiter beherrschen, auch jene meiner Kinder und Grosskinder.

Zwar haben die Religionen ihre kontrollierende und einengende Herrschaft verloren, so dass das Göttliche mit dem zeitlos Vollkommenen des Sternensytems verehrt werden darf, in welchem die Welt und das Unvollkommene des Menschseins im grossen Spannungsfeld der Kräfte noch eine Weile Duldung findet, bis es diese sprengt. Was Zugehörigkeit und was somit Erbschaft bedeutet, hört nicht auf, verwirrend zu sein.

„Ich habe kein Vaterhaus

Und habe auch keines verloren;

Meine Mutter hat mich in die Welt hinaus geboren.

Da steh ich nun in der Welt und geh

In die Welt immer tiefer hinein,

und habe mein Glück und habe mein Weh

und jedes allein.

Und bin doch manch eines Erbe.

Mit drei Zweigen hat mein Geschlecht geblüht

Auf sieben Schlössern im Wald,

und wurde seines Wappens müd

und war schon viel zu alt; –

und was sie mir liessen und was ich erwerbe

zum alten Besitze, ist heimatlos.

In meinen Händen, in meinem Schooss

muss ich es halten, bis ich sterbe.

Denn was ich fortstelle,

hinein in die Welt,

fällt,

ist wie auf eine Welle gestellt.“[10]

Jede persönliche Einsamkeit ist eingebaut in die grosse Geschichte menschlicher Zugehörigkeit zu einer der zahllosen „Wellen“, wie Rilke das Kommen und Vergehen sieht. Trotz aller Differenzen zwischen den jüdischen und den christlichen Zugehörigkeitsfragen bestand letztlich keine in der Nichtantastbarkeit der väterlichen Erbschaft.  Zwar war während Jahrhunderten, unabhängig von vererbter Herkunft und Religion, letztlich allein die mütterliche Herkunft eine Sicherheit, gemäss der römisch-rechtlichen Tatsache, dass  „mater semper certa est“, während für die Vaterschaft die offizielle Bestätigung bei der Geburt, häufig die Namensbestätigung erfordert war. Wenn diese fehlte, war keine väterliche Erbschaft nachweisbar. Wellenfluten überrollten Europa und die übrigen Kontinente, doch trotz aller kulturellen und technischen Veränderungen – bis zu den DNA-Überprüfungsmöglichkeiten – bleiben die Fragen der Identität und des persönlichen Wertes jedes Menschen mit den Mutter- und Vatergeschichten verbunden, ob diese bekannt seien oder nicht.

Die patriarchale Macht, welche die ganze westliche Geschichte prägte, war letztlich auf der in allen drei monotheistischen Religionen verankerten männlichen Zeugungs- resp.  Schöpfungspotenz aufgebaut, die als göttliche Allmacht und Weltherrschaft verstanden wurde. Die tragende matriarchale Kraft blieb eine verborgene und verehrte Macht, jedoch zunehmend eine hierarchisch diskriminierte. Auch die Vergeistigung des Gottesbegriffs, die sich durch das Bild- und Benennungsverbot in der jüdischen wie auch teilweise in der islamischen Religion verdeutlichte, veränderte in keiner Weise das Gewicht irdischer Patriarchalität, bei welcher die sexuelle Potenz ebenso als Herrschaftsbegründung erklärt wurde wie die – von der Wortbedeutung her allein männliche – geistige Schöpfungsmacht des Genius („genius“ abgeleitet von „gignere“ – „zeugen“).

Während in den im Alten Testament durch die Schrift verankerten Mythologien, aus denen einen kleinen Ausschnitt zu zitieren mir wichtig erschien, die Tragfähigkeit, Gebärkraft und Fürsorge der Mütter wie auch die vielseitige Begabtheit, der Mut und die Klugheit der Töchter erst hinter der Benennung der Vaterschaft sowie jener der Söhne eine Beachtung finden, hatte sich im frühesten monotheistischen Religionssystem des ägyptischen Pharao Echnaton –  Amenhotep IV (um 1350 unserer Zeitrechnung) – mit der Erklärung der Sonnenscheibe Aton als dem alleinigen Gott die Verbindung und Gleichwertigkeit des Männlichen und Weiblichen während kurzer Zeit als kulturelle Revolution durchgesetzt.[11] Dass der grossen königlichen Gemahlin Nofretete und ihren sechs Töchtern der Vollzug der religiösen Handlungen zugesprochen wurde, dass gleichzeitig die Verehrung der Vielzahl der für das Volk wichtigen Götter verboten wurde, erregte damals Aufsehen, Erschrecken und Widerstand. Als Echnaton starb, wurde alles, was während seiner siebzehn Jahre dauernden Herrschaft mit dem neuen religiösen und politischen System verbunden war, verboten, vernichtet und zunehmend verdrängt[12].

Weder vernichtet noch verdrängt werden konnte die monotheistische Gottvorstellung, die mit Moses und der aus Ägypten emigrierenden hebräischen Bevölkerung in die jüdische sowie später in die christliche und islamische übertragen wurde.  Es ist eine merkwürdige Vielseitigkeit mythologischer Erbschaft, die in den drei Religionen erhalten blieb. Da ist einerseits die mit dem Aton- resp. Sonnengott-Glauben verknüpfte Eingottherrschaft, die in der jüdischen Religion zur Schöpfer-Vaterreligion und in der christlichen zur Vater-, Sohnes- und Geistreligion wurde, während die islamische die Fortsetzung der väterlichen Gotterklärung übernahm. Andererseits verbindet sich mit allen drei Religionen die mit dem menschlichen Bedürfnis nach mystischem Geheimnis und nach Wundern verbundene Ausmass an Bedingungen und Bestimmungen, an Geboten und Verboten, an Ritualen und Gebeten, denen sich Millionen von Gläubigen unterwarfen und weiter unterwerfen.

Verborgene Teile der mit dem Monotheismus verdrängten Aspekte der animalischen, weiblichen und männlichen Fülle göttlicher Kraft blieben erhalten, die in den Ursprungsgeschichten menschlichen Lebens ihren Platz und ihre Bedeutung hatten[13]. Gewissermassen unerlaubt beeinflussen sie weiter die religiösen, die sozialen und politischen Systeme unserer Geschichte, mit allen Folgen von Verdrängung, die sich in Ängsten, in Hassgefühlen und Feindvorstellungen, in Flucht- oder Ersatzbedürfnissen äussern. Gleichzeitig bleibt die regulierende Kraft der transzendenten Allmacht, mit der kosmischen Zugehörigkeit unserer Welt zur unendlichen Raumlosigkeit, ein Geheimnis, das auch durch alle naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse nicht gelöst werden konnte. Das Gegenteil ist der Fall. Das Erkennen und Zugestehen der Relativität und der Ungewissheit allen Wissens – das sokratische Wissen des Nichtwissens – öffnet dem Bedürfnis zu glauben eine neue, andere Berechtigung, einen geistigen Halt. So mag der Glaube noch heute Ausdruck der – seit der menschlichen Vorgeschichte –  kaum erfüllbaren Sehnsucht nach bedingungsloser väterlicher und zugleich mütterlicher, göttlicher Zugehörigkeit sein.

Dass jedoch weniger das glaubensbereite und zugleich kritische Nichtwissen des kindlich suchenden Menschen sich fortsetzte als in erster Linie die gottähnliche Macht der Väter, häufig in Eifersucht vor der wachsenden Männlichkeit der Söhne und mit Schuldgefühlen der Söhne gegenüber den Vätern, denen sie nicht genügen können, deren Tod sie herbeiwünschen oder verursachen, wie es Mose nach Freuds Deutung durch sein Volk geschah, das hat sich in den Religionen wie in den staatlichen Systemen wie in den Familien fortgesetzt. Sigmund Freuds „Vermutung“, die er selber als „ansprechend“ bezeichnet, mag Auflehnung oder Beachtung bewirken, „dass die Reue um den Mord an Moses den Antrieb zur Wunschphantasie vom Messias gab, der wiederkommen und seinem Volk die Erlösung und die versprochene Weltherrschaft bringen sollte. Wenn Moses dieser erste Messias war, dann ist Christus sein Ersatzmann und Nachfolger geworden, dann konnte auch Paulus, ein römischer Jude aus Tarsus, den Völkern zurufen: ‚Sehet, der Messias ist wirklich gekommen, er ist ja vor unsern Augen hingemordet worden.’ Dann ist auch die Auferstehung Christi ein Stück historischer Wahrheit, denn er war (der auferstandene Moses und hinter ihm) der wiedergekehrte Urvater der primitiven Horde, verklärt und als Sohn an die Stelle des Vaters gerückt.“[14]

Es mag deutlich werden, dass in allen Mythologien die grosse Geschichte schöpferischer und zerstörerischer Geschehnisse als Folge göttlichen und animalischen Handelns erscheint, das sich im Menschsein sowohl verkörpert wie vergeistigt – und fortsetzt bis in die heutige Zeit, trotz Aufklärung und Emanzipation, wie in den späteren Untersuchungen deutlich wird. Der Machtkampf zwischen Vater und Sohn wie zwischen den Brüdern um den Platz der Herrschaft hat sich in unendlichen Variationen wiederholt, auch unter den Nachfolgern Freuds. Ohne Zweifel geht die Frage der Deutung des archaisch-testamentarischen Imperativs „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“ -, wie Johann Wolfgang Goethe ihn in Faust I formuliert hat, mit jener der persönlichen Wahlmöglichkeiten einher, die im Verhältnis zur nicht wählbaren Herkunftsgeschichte – Familiengeschichte, Stammbaum, Abkunft und Name – dem Menschen als Erben zustehen.

Doch was heisst letztlich in Zusammenhang väterlicher Herkunft „erben, erwerben und besitzen“? Geht es um die Fortsetzung des väterlichen Namens oder der familiären Geschichte? Oder um die Übernahme und Verstärkung dessen, was die Macht des Vaters ausmachte: Nähe zur Mutter, Herrschaft über untergeordnete Menschen, z.B. über „schwächere“ oder jüngere Brüder, über Schwestern, über Angestellte und Arbeitnehmer, Lehrlinge, Schüler und Schülerinnen, letztlich über ein Volk? Geht es um materiellen Besitz, um Boden und Vieh resp. Geld und Aktien? Geht es letztlich um Übernahme und Erneuerung väterlicher Potenz in der ganzen Bedeutung des auf die Zukunft ausgerichteten Könnens?

Die Art der Vater-Erfahrung und des daraus wachsenden Vaterbildes entspricht einer Vielzahl von Abhängigkeiten. Sie äussern sich in deren verantwortungsbewusster Sorgfalt über missbräuchliche Ausnutzung bis zur Ausweitung individueller Macht in kollektive Unterwerfungsforderung oder in individuelle Ohnmacht innerhalb kollektiver Anpassung. Wie, kann es gelingen, Wahlmöglichkeiten zu nutzen, um das Vererbte umzusetzen?

Selten kommt es vor, dass der einfache, machtlose und doch starke Vater geehrt wird wie in Salvatore Quasimodo’s Erinnerungsgedicht:

„(…) Deine traurige, zarte

Geduld nahm uns die Angst,

war Lehre von Tagen, zu denen gehörte

der betrogene Tod, die Verhöhnung der Diebe,

gefangen in den Trümmern und im Dunkel gerichtet

vom Gewehrfeuer der Gelandeten, eine Rechnung

niedriger Zahlen, die genau konzentrisch

aufging, eine Bilanz zukünftigen Lebens.

Deine Sonnenmütze ging auf und ab

in dem geringen Raum, den sie dir immer gaben.

Auch mir massen sie alles zu,

und ich habe deinen Namen ein wenig weiter

getragen, über Hass und Neid hinaus.

(…)

Und jetzt im Adler deiner neunzig Jahre

wollt ich sprechen mit dir, mit deinen bunten

Abfahrtssignalen aus der Nachtlaterne,

und hier, aus einem mangelhaften

Rad der Welt, auf einer Menge dicht gedrängter Mauern,

weit fort vom arabischen Jasmin,

bei dem du noch bist, um dir zu sagen,

was ich früher nicht sagen konnte

– schwierige Gedankenverwandtschaft –

um dir zu sagen, und es hören uns nicht nur

die Zikaden am Scheideweg, die Mastixagaven,

wie der Feldhüter sagt zu seinem Herrn:

‚Wir küssen die Hände.’ Dies, nichts anderes.

Geheimnisvoll stark ist das Leben.“[15]

Noch seltener lässt sich die Bescheidenheit eines Vaters vernehmen, wie er sie dem Kind zu verstehen gibt, es möge sich besser von seiner Erbschaft abwenden und das eigene Leben in Sicherheit leben. Nicht an einen Sohn, sondern an eine Tochter richtet sich der Rat des Dichters René Beer-Hofmann „Horch nicht auf mich“, auch die Erklärung, die er zufügt, weil „keiner keinem ein Erbe sein kann“. Es ist Ausdruck der Hoffnung auf einen anderen, stärkeren Halt.

„Schlaf, mein Kind – schlaf, es ist spät!

Schlaf mein Kind – der Abendwind weht.

Sieh wie die Sonne zur Ruhe dort geht.

Weiss man, woher er kommt, wohin er                                                                                      geht?

Hinter den Bergen stirbt sie im Rot.

Dunkel, verborgen die Wege hier sind,

Du – du weißt nichts von Sonne und Tod,

Dir, auch mir, und uns allen, mein Kind!

Wendest die Augen zum Licht und zum Schein –

Blind – so gehen wir und gehen allein,

Schlaf, es sind so viel Sonnen noch dein,

Keiner kann Keinem Gefährte hier sein. (…)

 

Schlaf mein Kind und horch nicht auf mich!

Schläfst du, Mirjam? – Mirjam, mein Kind

Sinn hat’s für mich nur, und Schall ist’s für dich.

Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt

Schall nur, wie Windeswehn, Wassergerinn,

Blut von Gewesenen – zu Kommenden rollt’s,

Worte – vielleicht eines Lebens Gewinn!

Blut unserer Väter, voll Unruh und Stolz

Was ich gewonnen, grabt mit mir ein,

In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein?

keiner kann Keinem ein Erbe hier sein –

Du bist ihr Leben – ihr Leben ist dein –

Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein!

Mirjam, mein Leben, mein Kind – schlaf ein![16]

Angstfrei sein, voll Vertrauen in die Erbschaft, welche die eigene Lebenskraft bedeutet, dies ist der väterliche Wunsch. Die Geschichte, auf welcher sich neues Leben verwurzelt und entfaltet, bietet Abwege und Wege an. Es steht der Freiheit zu, sinnvolle Beziehungsstrukturen zu finden und zu festigen, wie immer die vielfach zerklüftete und ausgetrocknete, verbrannte oder vergiftete Welt in ihrem nicht fassbaren Angebot von Erbschaften sei.

 

[1] Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke Bd. I., aus: Von der Pilgerschaft. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1955, S. 312-314

[2] Rainer Maria Rilke. Klage. Aus: Das Buch der Bilder. Des ersten Buches zweiter Teil. In: Sämtliche Werke. Bd. I. 1955, S.397

[3] R. M. Rilke 1955, S. 402

[4] Die Schrift. Verdeutscht von  Martin Buber gemeinsam mit  Franz Rosenzweig.  Bd. I: Die fünf Bücher der Weisung. 10. neu bearbeitete Auflage 1954 / Lambert Schneider Verlag, Heidelberg 1981

[5] Die Schrift. Heidelberg 1981.  S. 155

[6] s. maw. Erbschaften ohne Testament? Bd. II, S.

[7] Abgeleitet aus dem Sanskrit „barbara-„ stammeln und unverständlich redend; „ gr. „barbaros“ und  röm. „barbarus“  – Fremder, Ausländer.

[8] Sigmund Freud. Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen (1939 / 1934-38). In: Studienausgabe.  Bd. 9, S. 455 – 581.  Fischer-Verlag. Frankfurt a.M. 1974. – Yosef Hayim Yerushalmi. Le Moïse de Freud. nrf essais /Editions Gallimard, Paris 1993  (Erstausgabe in Englisch: Freud’s Moses. Yale University Press 1991).

[9] Sigmund Freud. Totem und Tabu (1912-13), in: Studienausgabe,  Bd. 9, S. 287 – 444. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

[10] R. M. Rilke, 1955, S. 395-396

[11] Die religiöse Verehrung der Sonne resp. des Lichts kann als Ahnung der erst in jüngster Zeit erfolgten wissenschaftlichen Erkenntnisse des vor 4,5 Milliarden Jahren (nach dem mehr als doppelt so weit zurückliegenden Urknall, durch den die gewaltige Ausdehnung des Universums zustande kam) sich bildenden Sonnensystems betrachtet werden, bei dem der Planet Erde abgespalten wurde mit allem, was die allmähliche, vor rund 3,5 Milliarden Jahren durch die ernährende und regulierende Kraft des Sonnenlichts und des dadurch ausgelösten Sauerstoffgases sich entwickelnde Fülle von pflanzlichem und allmählich animalischen und menschlichem Leben bedeutet, ein sich physikalisch und biochemisch zwar erklärbarer Ablauf, der jedoch alle Zeit- und Raumkonstrukte menschlichen Verstehungsvermögens, das selber von der Lichtenergie abhängig bleibt, sprengt. – cf. Erwin Rudolf Josef Alexander Schrödinger (geb. 12.08.1887 in Wien, gest. 04.01.1961 auch in Wien). What is Life? Dublin 1944 . – Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. Leo Lehner Verlag (Sammlung Dalp), München 1951 / Geist und Materie. Diogenes Verlag, Zürich 1994. – Zu empfehlen die Publikationen und u.a. in der NZZ erschienenen Artikel von Gottfried Schatz (geb. 18.08.1936 in der Nähe von Graz; Prof. emeritus für Biochemie an der Uni Basel und Leiter des Zentrums für Biochemie), der sich u.a. auf Erwin Schrödinger beruft.

[12] Jan Assmann. Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. Verlag C.H.Beck, München 1990. – Ägyptisches Totenbuch. Übersetzt und kommentiert von Grégoire Kolpaktchy.  O.W. Barth Verlag, München 1990. –

[13] Variationen und Differenzen gab es schon seit frühester Zeit in den ersten Aufzeichnungen der über Generationen erzählten Mythen. Für Homer z.B. bestand die von Zeus, dem jüngsten Sohn des Urvaters Chronos, der diesen besiegt und in den Tartaros gezwungen hatte, nicht abhängige, sondern unabhängige Kraft der Moira – des Schicksals –, doch bei Hesiod waren auch die drei Moiren Töchter des Zeus und der Themis, einer der Töchter des Uranos und der Gaia. Zeus wurde so zum unumschränkten Herr, Gebieter und Richter, der als Schutzherr Gebete erhöhte und staatliche Ordnung schützte, doch jede Auflehnung mit Gewalt bestrafte, auch jene seiner göttlichen und halbgöttlichen Söhne und Töchter, die aus den vielfachen Ehen mit göttlichen und menschlichen Gemahlinnen geboren worden waren und selber über vielfache Macht verfügten.

[14] Sigmund Freud. Studienausgabe, Bd. 9, S. 537. – s. maw. Erbschaften ohne Testament?  Bd. II, S. .

[15] Salvatore Quasimodo (geb. 1901, gest. 1968), Sohn eines Eisenbahners, lernte im Selbststudium Latein und Griechisch, war ein hervorragender Übersetzer grosser Werke aus den alten Sprachen wie aus dem Englischen und Französischen, 1959 Nobelpreisträger für Literatur. – Das Gedicht An den Vater erschien 1958 in La terra imperaggiabile  – Die unvergleichbare Erde.  Es findet sich in der Sammlung ausgewählter Gedichte von Salvatore Quasimodo (auf Italienisch und ins Deutsche übersetzt von Gianni Selvani),  in Das Leben ist kein Traum. Piper Verlag, München/Zürich 1987, S. 52-55

[16] René Beer-Hofmann (geb 11.07.1866 in Rodau/Wien, gest. 26.09.1945 in New York). Schlaflied für Mirjam. In: Jahrhundertgedächtnis. Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Harald Hartung. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998, S. 32

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