Wer nennt Konflikte ,,Kulturkonflikte” und warum? oder ,,Wieviel Heimat braucht der Mensch?”

Wer nennt Konflikte ,,Kulturkonflikte” und warum? oder ,,Wieviel Heimat braucht der Mensch?”

 

Im Hinterland  von Basel, in Sissach, erbaute  im Jahre  1774 der Seidenbandfabrikant und -händler Martin Bachofen einen eleganten Landsitz:  Schloss Ebenrain.  1951  erwarb der Kanton  Basel-Landschaft das schöne Gebäude samt Garten, Allee und Nebengebäuden. Es dient nun als Ort der Begegnung.  Kunstaussstellungen und Konzerte finden in seinen Räumen  statt, manchmal auch einfach Gespräche: Gespräche als unzeitgemässe, weil langsame und örtlich begrenzte Inszenierungen gemeinsamen Erkenntnisfortschritts von mehreren  oder gar vielen, der zustandekommt, weil reihum und abwechslungsweise jemand spricht und die anderen  zuhören, in einer Mischung von Privatheit und Öffentlichkeit, entgegen der versteinernden Isolation der Solosprechenden, entgegen der in den Industrieländern feststellbaren Buchstabenerstickung derjenigen, die Eingeweihte im Club der Wissenden zu sein wähnen, entgegen der Verdummmung der grossen Massen durch Kommunikationsflut oder durch Schlagzeilensimplifikation, entgegen dem Trend der sofortigen politischen, propagandistischen oder therapeutischen Nutzbarmachung – einfach Gespräche.

 

Anfang  dieses Jahres, als Schnee und Eis die Zufahrtsstrassen zu Schloss Ebenrain in barocke Hinderniswege verwandelten, trafen dort auf Einladung der Erziehungs- und Kulturkommission des Kantons Baselland fünfundfünfzig Männer und Frauen aus den verschiedensten Ländern und Kontinenten der Welt ein, um nichts anderes zu tun, als einander während drei Tagen zuzuhören – jüngere und ältere Männer und Frauen, die sich alle in irgendeiner Weise mit den Besonderheiten ihrer eigenen Kultur sowie mit fremden Kulturen befassen, mit den Schwierigkeiten des Zusammenlebens, mit den Fragen von Macht und Religion, dichterisch und schrifstellerisch tätig die einen, die anderen theater-  oder medienschaffend, an Volksschulen  unterrichtend, an Hochschulen forschend und lehrend,  anwaltschaftlich, religiös oder psychoanalytisch beratend. Die meisten waren einander fremd, als sie mit gutem Schuhwerk und kleinem Gepäck in Schloss Ehenrain eintrafen. Indem sie dort den Schnee vom Mantelsaum schüttelten, schüttelten sie zugleich ihre Rollen als Solistinnen und Solisten ab, die sie in ihren herkömmlichen Kultur- und Berufszusammenhängen zumeist spielen. Sie machten  sich auf Teil eines Gesprächs zu sein, das heisst, im selben Mass Gegenstand des Gesprächs zu sein wie es  die vereinbarten Fragen und  Themen – Konflikte des Zusammenlebens, Religion und Macht – sein sollten; denn Subjekt und Protagonist des Gesprächs sollte das Gespräch selbst sein. Die Symbolik des grossen Kreises,  den im Plenarsaal die Teilnehmenden bildeten, war diesbezüglich unmissverständlich: niemand sollte Anfang oder Ende darstellen, niemand hervor- oder herausragen, Sprechen und Hören sollten im unabschliessbaren Wechsel den grossen Leerraum in der  Mitte in dichten Spiralen füllen, Mitteilungsspiralen und Verstehensspiralen, Frage- und Erkenntnisspiralen. So war es geplant.

Dass sich das Gespräch so und warum es sich so entwickelte, soll hier rekonstruiert werden. Die  Sprechenden werden ungenannt bleiben, weil das Zuhören ebenso wichtig oder noch wichtiger war wie das Sprechen, nicht nur im grossen Kreis, sondern auch in den drei kleineren Gesprächsgruppen, die sich den Fragen rund ums Zusammenleben, um Macht und Religion bildeten.

Wisollten nicht als Bildungsphantome und kostümierte Kleiderstöcke zusammenkommen, sondern uns von innen heraus kennenlernen, und wenn dies als abgeschmackt und nichtsbedeutend erklärt wird, so lohnt es kaum zu leben, so hat Bildung ihren Bankrott  von Herz und Geist erklärt” (Bogumil Goltz,  Berlin 1869)

Der Name von Bogumil Goltz, der 1869 in Berlin ein zweibändiges Werk ,,Die Weltklugheit und die Lebensweisheit mit ihren correspondierenden Studien” veröffentlichte, darin eine „Umgangs- Philosophie”, aus der ich eben zitiert habe, steht in keinem philosophischen Lexikon. Zu seiner Zeit aber waren Gespräche Kommunikationsform par excellence, und Goltz war einer unter vielen, die moralisierende  oder formalisierende oder humorvolle Lehrbücher zur  Kunst und zur Effizienz des Gesprächs schrieben. Bogumil Goltzens Anleitungen allerdings zeugen von Erfahrung und Weisheit. So hält er etwa fest, dass jedes Gespräch, welches nur „um eines angegebenen Tons willen fortgeführt” werde, ins ,,konventionelle Nichts” führe, dass dagegen, wer sich „des Unrechts und Unsinns mit Tat und Leidenschaft” erwehre,  sich besser fühle, als wer alles ,,mit Konvenienz und Komödienspiel” maskiere.

Dass  die  Gespräche in  Ebenrain weder in der Konvenienz steckenblieben noch zum – unfreiwilligen  – Komödienspiel ausarteten, war  vielleicht der Tatsache zu verdanken, dass den Männern und Frauen, die aus Kapstadt und aus Tokyo angereist kamen, aus Karlsruhe und aus Zürich, aus Boroda in Indien und aus Berlin, aus London und aus Peking und aus Dutzenden anderer Städte mit fremden oder mit vertrauten Namen, dass ihnen weder die Ratschläge von Bogumil Goltz noch andere Regeln für die Gesprächsführung ans Herz gelegt wurden. Ihre Bereitschaft, an den Gesprächen teilzunehmen, genügte. Zwar wären die Gespräche ohne die Idee, die sorgfältige Vorbereitung und Lenkung durch zwei Dramaturgen schwerlich zustandegekommen, und gerade diese zwei hätten in Komödienspielen grösste Erfahrung gehabt. Dass die Gespräche jedoch zumeist schlicht und  authentisch waren,  hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass die über Stunden gleichbleibende Nähe der je gleichen Zuhörenden und sich Mitteilenden eitler Rhetorik wenig Chance liess. Selbst als am Schluss der drei Tage die Teilnehmenden  aufgefordert wurden, einander im grossen Kreis Träume mitzuteilen, ,,vernünftige Träume ,  bei  denen es um Möglichkeiten des friedlicheren Zusammenlebens und der Beendigung der während drei Tagen besprochenen Konfikte ging, selbst da bewährte sich die Inszenierung: Protagonisten waren die Träume selbst und nicht die Träumenden. Doch davon später.

 

Intellektuelle Eifersucht erzeugt Langeweile im Gespräch; seine besten Gedanken will man nicht einmal hergeben, und mit den anderen fürchtet man zuwenig Anerkennung zu erringen (Moritz Lazarus, Berlin 1878)

Mit scheint, dass in Ebenrain auch dieser Mangel, den Moritz Lazarus bei den Intellektuellen  seiner Zeit diagnostizierte, vermieden werden konnte. Moritz Lazarus, dessen Name um weniges weniger vergessen ging als jener von Goltz, veröffentlichte 1878 ein Buch, das den Titel trug ,,Ideale Fragen”, und in welchem sich ein Essay „Über Gespräche” befindet. Darin machte er eine interessante Feststellung, die sich in Ebenrain bewahrheiten sollte:

 

Die vorzüglichsten Gespräche werden (…) unter ganz Fremden, auf Reisen, bei neuen Bekanntschaften geführt oder bei völlig eingestimmten Seelen nach langer Trennung (. . .). Unter Fremden macht der Geist die kühnsten  Bewegungen, welche oft einen wirklichen Gewinn, eine neue Synthese  angeben; unter wirklichen Freunden bilden der Hintergrund des sympathischen Gemüts und reiche gemeinsame Voraussetzungen den fruchtbaren Boden für neue Anregungen. Die Kameraden aber und die Kollegen, die sich voreinander hüten und aneinader herumtasten, sind füreinander weder Quellen noch Bohrer.

 

Ganz Fremde auf Reisen” in den durch  Macht und Religion markierten Konfliktfeldern des Zusammenlebens

Ein japanischer Professor für Soziologie stellt gleich zu Beginn eine wichtige Differenz fest: Das, worüber es nachzudenken und zu debattieren gelte, seien nicht Kulturkonflikte, sondern Zivilisationskonflikte Diese wiederum seien bedingt durch den europäischen Prozess der Modeme, durch welchen unter anderem das geistige Substrat, das im eigentlichen Sinn “Kultur” bedeutet – Religion etwa, Weltdeutungsmuster, philosophische Prinzipien – zu einer Vielzahl von Artefakten werde, zu Produkten, die mit Hilfe von Institutionen – Familie, Schulen, Kirchen und ähnliche Organisationen – angepriesen und vermittelt würden. Als zwei der wichtigsten europäischen Artefakte bezeichnet er das Individualitätsprinzip und das Christentum. Gemäss dem japanischen Soziologen weisen Japan und andere asiatische Gesellschaften diese Modernisierung zurück. Das bedeute allerdings nicht, meint er, dass Christen nicht geschätzt würden. Es hiesse jedoch, dass die japanische  Gesellschaft die vom Westen angebotene Moderne mit ihren zivilisatorischen Artefakten nicht einfach übernehme, sondern Elemente davon transmutiere und in die eigene Kultur integriere. So geschehe es  zum Beispiel mit Weihnachten und dem ganzen Geschenkerummel. Davon werde das Element „einander Freude machen” als Element des kulturell definierten japanischen Gemeinschaftsverhaltens  angenommen, nur dieses. Allerdings seien viele der westlichen Artefakte, zum Beispiel Informationen, für einen Grossteil der Menschen nicht erreichbar, oder sie würden als agitatorische Zerrbilder eingesetzt. Hass und gewaltsame Konflikte seien in der Folge unvermeidbar. Auch wenn Artefakte aus  kolonialem oder aus einem anderen repressiven Herrschaftsverhalten entweder aufgedrängt oder vorenthalten würden, entständen notwendigerweise Zusammenstösse. Tatsächlich sei die „weisse” Zivilisation die Bedrohung für die anderen Völker, nicht umgekehrt.

Die Rede geht in der Runde hin und her, wann Religion zur aggressiven Institution werde, die Artefakte schafft, durch welche Menschen „überwältigt” oder augegrenzt werden. Wann sie zum Instrument der  Entfremdung und damit der Gewalt wird, indem sie Situationen schafft, deren Starrheit wiederum nur mit Gewalt gesprengt werden kann. Deutsche und schweizerische Theologen verschiedener Konfession, ein deutscher Islamist und eine Germanistin, die lange Jahre in Indien und in Japan gelebt hatte, sind sich einig,dass dies geschieht, wenn Religion sich mit Macht verbindet: mit politischer Macht, mit ökonomischer Macht oder mit der Macht der Rationalität, respektive einer Pseudorationalität, durch welche einerseits Spiritualität, andererseits das nach Veränderung drängende kritische Potential wegrationalisiert werden. Die so eingeleiteten Prozesse haben den Zweck, nicht nur Inhalte und Formen anderer Religiosität, sondern auch Menschen auszugrenzen.

Doch  liegt nicht eben in der Ausgrenzung die identitätsstiftende Funktion der Religionen? Nun häufen sich die Fragen: Können Feindbilder anders als über Identitätskonstrukte entstehen? Oder werden Feindbilder durch Religionen nur dann geschaffen, wenn diese selbst vorausgehend auf traumatisierende Weise Verfolgung erlebt haben, wie ein Gesprächsteilnehmer aus dem Femen Osten meint? Anders gefragt: Haben Kulturen unter friedlichen Voraussetzungen, bei ausbleibender Verfügung, tatsächlich die Tendenz, ineinander zu fliessen und sich gegenseitig zu befruchten? Doch wie lässt sich, auf Grund dieser Annahme, die christliche Feindbildkonstruktion par excellence, der Anti-Judaismus und Antisemitismus erklären? wendet ein Theologe aus Deutschland ein. Wie lässt sich damit überhaupt die Ausgrenzungsgewalt starker Gruppen schwachen gegenüber, wie lässt sich damit der landläufige Rassismus erklären? Ist es nicht so, dass nur diejenigen von ,,Kulturkonfikten” sprechen, welche meinen, die ,,Kultur” für sich gepachtet zu haben, das heisst jene, welche die Artefakte und die Institutionen mit Kultur verwechseln?

Wieder müssen die europäischen Gesprächsteilnehmer und – teilnehmerinnen von den nicht-europäischen erfahren, dass allein ihre monotheistischen Religionen Identitätskrücken sind, mit denen wir, unter dem Vorwand der Identitätsgefährdung, nach den anderen Religionen und nach den nicht-gleichen Menschen schlagen. Gerade die Integration von Elementen verschiedener Religionen könnte jedoch  die Erfahrung einer allen Religionen gemeinsamen spirituellen Religiosität vermitteln, wendet  ein Kenner der christlichen und der buddhistischen Religion ein. Und da alle Teilnehmerinnen und Teilneher viel gereist sind, folgen schöne, ja ergreifende Beispiele persönlicher Erfahrung.

 

Aber  nicht  bloss  Individuen, auch Stände und Völker unterscheiden sich nach der Weise, wie sie Gespräche führen. Eine reiche,  fruchtbare Ernte für die Erkenntnis der Verschiedenheit in der Menschheit ist von einer genauen Prüfung dieser Unterschiede zu erwarten ” (Moritz Lazarus a. a. 0.)

 

Das Gespräch geht weiter. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der Schweiz und aus den anderen westlichen Ländern wird – zwar auf freundliche,  aber zugleich auf unmissverständliche  Weise – mitgeteilt, dass sie durch ihre Institutionen, durch die Schulen und Religionen, Nabelschau und Ignoranz schaffen, dass aber gerade diese Ignoranz zu Ängsten und zur Verfestigung von Feindbildern führt. Warum gehört es nicht zur Regel, dass Lehrer und Lehrerinenn aus den verschiedensten Herkunftsländern in der Schweiz unterrichten? Oh, ein oder zwei Schulhäuser in Basel und in Zürich haben albanische und türkische Lehrkärfte angestellt, aber warum nicht mehr? Und warum sind an den Gymnasien Chinesisch oder Arabisch oder Japanisch, afrikanische Geschichte, Kolonialgeschichte oder Geschichte der asiatischen Kulturen nicht im selben Mass Pflichtfach oder wenigstens angebotenes Wahlfach wie etwa Englisch oder europäische Kriegsgeschichte?

Zuhören heisst manchmal auch, die Antwort schuldig bleiben dürfen. Die ,,Prüfung der Unterschiede” und  das Lernen können schweigend geschehen.

Wann überhaupt ist in den letzten Jahren die Bedeutung der Religionen auf so auffallende Weise gewachsen, wird in der Runde gefragt, auch beim Entstehen von schweren Konflikten, selbst von Kriegen, sowohl in verschiedenen Ländern Europas wie in den arabischen Ländern oder in Afrika? Womit hat dies zu tun? Ob etwa die Menschen religiöser geworden sind? Auch die vermehrte Thematisierung der Religionen in den Medien stellt ein Gesprächsteilnehmer fest, aber warum? Die Suche nach den Gründen öffnet einen grossen Fächer: es fällt auf dass der breite Tourismus auch zu einer zunehmenden, wenngleich oberflächlichen Weltkenntnis und damit zu einer stärkeren Wahmehmung der Differenzen geführt hat, infolge der Oberflächlichkeit allerdings auch zu einer Zunahme und Verhärtung der Vorurteile, sodann zeigt sich das 1989 erfolgte Auseinanderfallen der         ideologisch definierten Ost-West-Umklammerung  als möglicher Grund, sowie das in der Folge sich manifestierende Ersatz-Identitätsbedürfnis. Warum aber führen diese jüngsten Entwicklungen nicht zu einem grösseren Respekt der verschiedenen Kulturen für einander? Weltweit sind Kulturzerstörungen zu beklagen. Beispiele folgen, zum Teil selbst erlebte: Tibet als Opfer neuer kolonialer Herrschaft, oder bestimmte philippinische Inseln, deren Kultur durch die Artefakte der westlichen, insbesondere der amerikanischen Zivilisation ebenfalls gänzlich zerstört ist,  einzelne Länder  Afrikas und Lateinamerikas. Interessant ist, wie während des Gesprächs ,,Kultur” und ,,Religion” immer wieder als austauschbare Begriffe verwendet werden.

Jemand wirft  dann ein,  dass es für Kulturen weiss Gott nicht nur die Gefährung von Aussen gebe; Religionen würden sich von Innen her selbst zerstören, wenn sie nicht in der Lage seien, einen klaren Standpunkt hinsichtlich drängender gesellschaftlicher Fragen zu formulieren, wenn sie Hunger, Armut, Gewalt gegen Frauen und Kinder, Folter und Krieg oder die Zerstörung der Natur einfach duldeten. Wenn sie sich nicht dagegen auflehnten, dass Dreiviertel der Menschheit in Not und Erniedrigung leben müssten, weil ein Viertel ein Leben des Überflusses und  der Vergeudung für sich in Anspruch nehme. Mahatma Gandhi’ s Satz wird zitiert, dass es genügend für die Bedürfnisse gebe, aber nicht genug für die Gier.

Haben die Religionen mithin doch einen politischen Auftrag? Wie aber schiffen sie mit diesem Auftrag um die Machtklippe herum? Und wie können sie verhindern, fragt jemand weiter, dass sie sich mit ihrem Anspruch, den allein richtigen Weg zu kennen, nicht in ein zerstörerisches Konkurrenzverhältnis hineinmanövrieren? Jemand anderer sagt darauf  es gelte, den Absolutheitsanspruch als Besitz zu relativieren, nicht aber als – vielleicht nie erfüllbaren – Anspruch.

 

Allerdings ist die Stufenleiter des Zusammenhangs eine sehr beträchtliche: Von den Reden, die wie Sandkörner im Stundenglas hintereinander folgen, nur von der rinnenden Zeit zusammengehalten, durch das Anschiessen kristallinischer Bildungen von gleicher Art und Form bis zu jenem organischen Wachstum, in welchem (…) jede Anregung doch in die plastische Form lebendigen Zusammenhangs   eingeht” (Moritz   Lazarus, a.a.O.).

Wie weiter im Gespräch? Immer wieder verwischen sich die Grenzen zwischen Institutionen, Artefakten und dem geistig-kulturellen Substrat. Ein Islamist wirft ein, dass es bei den Religionen im tiefsten Sinn doch um ein Gottesbild gehe, wobei das Gottesbild wiederum dem Menschenbild entspreche. Damit stehen unvermittelt wichtigste Fragen der Ethik in der Runde, insbesondere die Frage, was den Menschen zum Menschen macht und welches die Konsequenzen der Antwort sind. Die Diskussion um die Thesen von Peter  Singer erhitzt die Teilnehmerinnen und  Teilnehmer. Was geschieht, wenn nur noch Menschen, die geistig und körperlich voll funktionsfähig sind, das Menschsein zugesprochen wird? – wenn die Tötung von Föten ethisch und  rechtlich erlaubt sein soll, weil sich bei ihnen eine geistige oder körperliche Funktionsbeeinträchtigung abzeichnet? Was geschieht dann mit Menschen, die mit uns leben und die eine geistige oder körperliche Unregelmässigkeit, eine Schwäche, irgend eine Funktionsdefizienz aufweisen? Kann das Töten von Menschen, die, warum auch immer, als  kulturell untragbar deklariert werden, ob von sogenannt ,,Behinderten” oder von politischen Oppositionellen, kann das Töten einfach auf Grund eines kulturellen Selbstverständnisses erlaubt sein? Nein, nein, da sind sich alle in der Gesprächsrunde einig, nein, das erinnert an Auschwitz, da könnte ja jemand Auschwitz einfach als kulturelles Missverständnis abtun wollen, nein. Plötzlich aber unterbricht eine Teilnehmerin aus Afrika die Einhelligkeit. Was mit den alten Menschen in Europa  gemacht werde, dass sie in Heime gesperrt würden, gettoisiert und abgeschoben, das sei ja Realität, eine unmenschliche Realität, eigentlich ganz nahe an jener Realität, von der sich alle nun so vehement distanzierten.

Einmal mehr folgt dem Zuhören Schweigen. Doch die Durchleuchtung der eigenen kulturellen (oder eher zivilistorischen) Realität – nach Massgabe des Menschenbildes, das sich in ihr spiegelt – geht weiter, diesmal mit alternierenden  Einwürfen von Schweizern und Schweizerinnen, Einwürfen, die wie Ausrufezeichen wirken: ja, nicht nur die Abschiebung der Alten, auch die Rückweisung von Asylsuchenden, die Rückschaffung politisch Verfolgter, die Zwangsmassnahmen, das Saisonnierstatut, die ausbeuterische ,,Behandlung” von Frauen aus Armutsländern im Sexbusiness, die generelle Verachtung der Armen durch die Besitzenden, Misshandlungen – vor allem ausländischer – Verhafteter in Polizeihaft – mehr noch. Das Gespräch lässt deutlich werden: das Menschenbild, das unsere – immer als christlich definierte – Kultur widerspiegelt, ist gekenzeichnet durch rassistische Überheblichkeit und durch Kälte. Wie weiter?  Hinter allen Fragen steht letztlich die Frage nach dem Missbrauch von Macht.

 

Wie viel Heimat braucht der Mensch? (..) Es lässt sich, was der Mensch an Heimat nötig  hat, nicht  quantifizieren. Und doch ist man gerade in diesen Tagen, da die Heimat an Reputation verliert, stark versucht, die bloss rhetorische Frage zu beantworten  und zu sagen: Er braucht viel Heimat, mehr jedenfalls, als eine Welt von Beheimateten, deren ganzer Stolz ein kosmopolitischer Ferienspass ist, sich träumen lässt(Jean Amery,  Bruxelles 1966).

 

,,Jean  Amery” ist das Anagramm von ,,Hans  Mayer”. So lautete der ursprüngliche Name des deutsch-jüdischen Schriftstellers, eines – unheilbar – traumatisierten Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung. Mit dem 1966 erschienenen Essayband ,,Jenseits von Schuld und Sühne” versuchte er, ,,Bewältigungsversuche eines Überwältigten” zu schaffen. Die – eben nicht rhetorische – Frage, die Jean Amery sich selbst stellte, steht in Ebenrain unausgesprochen während der ganzen Dauer des Gesprächs in der Runde. Ist nicht Machtmissbrauch der Grund für die „Unbeheimatetheit” von Menschen? – für deren zutiefste Entfremdung? – damit letztlich für alle Kulturkonflikte? Was Macht  fürs Zusammenleben bedeutet, muss gründlich durchleuchtet werden. Lässt sich überhaupt sagen, Macht sei gut, oder Macht sei schlecht? fragt ein Teilnehmer, selbst Jurist und engagiert, zwischen den Kulturen seiner Heimatstadt zu vermitteln. Er erinnert an die seit dem 18.  Jahrhundert formulierte liberale Forderung nach Machtkontrolle und Machtaufteilung, nach zeitlicher Begrenzung der Macht und nach demokratischer Machtlegitimation. Ein Psychoanalytiker wendet ein, dass alle Machtfragen wiederum auf diejenige nach dem Menschenbild zu reduzieren seien. So wie sich in den sogenannt westlichen Kulturen in allen Beziehungen ein Streben nach Aneignung, nach Steigerung und nach Ausübung von Macht zeige – schon dem kleinen Kind gegenüber, das in seiner Hilflosigkeit, in seiner Verzeiflung immer nur Macht zu spüren bekomme -, so sei es längst nicht überall in der Welt. Er kenne Völker, etwa in Papua-Neuguinea oder im Kongo, bei denen die Persönlichkeit eines Menschen sich nicht dadurch konstituiere, dass er sich andere Menschen, gerade Kinder, unterwerfe und diese demütige, im Gegenteil. Was Macht sei und wie Macht und Machtmissbrauch entstehe, zeige sich tatsächlich in der frühen Kindheit. Ein Erziehungswissenschafter aus England gibt dem Psychiater recht und ergänzt, dass Macht immer mit Intentionen zu tun habe, ob diese auf die Erhaltung  von Strukturen hinzielen, oder auf Veränderungen, ob auf die Unterwerfung von Menschen oder auf die Herstellung von Gerechtigkeit.  Dies gelte sowohl für öffentliche wie für private Macht, das heisst für öffentliche wie für private Verhältnisse.

Allmählich stellt sich im Gespräch heraus, dass unter ,,Macht” sehr Verschiedenes verstanden wird, so etwa die Berechtigung, anderen Menschen den eigenen Willen aufzuzwingen, auch deren Bedürfnisse und Rechte zu definieren. Halt, wirft jemand ein, eben dies bedeutet Herrschaft, das heisst ausschliesslich Machtmissbrauch. Macht und Herrschaft sind nicht zu verwechseln, da Missbrauchskritik sich sonst erübrigt. Das  Gespräch nimmt eine neue Wendung. Ist Herrschaftskritik, selbst wenn sie aus der völligen Machtlosigkeit formuliert wird, auch Macht? Es zeigt sich, dass dies unbestritten  ist, da Macht auch als Kompetenz und als Autorität zu verstehen  ist und damit als  moralische Kontrolle missbräuchlicher Machtausübung wirken kann. Unbestritten ist ebenso die Notwendigkeit der demokratisch-institutionalisierten Kontrollfunktion, obwohl missbräuchlich eingesetzte Propaganda zu – zwar demokratisch zustandegekommenen -,  aber verhängnisvollen und schwer korrigierbaren Entscheiden führen kann. Jemand in der Runde stellt fest, wie oft – gerade in der Schweiz und gerade in jüngster  Zeit – die Macht der Mehrheit menschenrechtlich unverantwortliche Entscheide durchsetzte, etwa in der Frage des Ausländerstimmrechts, in der Frage der erleichterten Einbürgerung von jungen Ausländerinnen- und Ausländern, in der Frage der Zwangsmassnahmen gegen Ausländer: für die – demokratisch überstimmte – Minderheit, die sich für eine offenere und gerechtere Gesellschaft einsetzt, ein durchgehendes Muster der Ohnmachtserfahrung. Sie fühlt sich heimatlos im eigenen Land.

 

‘Natürlich kann man sagen:wennschon. Es ist kein Unglück für den Menchen, wenn er Heimat und Vaterland verliert. Im  Gegenteil! Er wächst mit dem Raum, den er mit Selbstverständlichkeit als sein eigen betrachtet. (. . .) Der moderne Mensch tauscht Heimat gegen Welt ein.Was für ein glänzendes Geschäft! La belle affaire! Aber man muss nicht gerade ein stumpfsinnig an Ort tretender Finsterling sein, um auch daran zu zweifeln. (. . .) Welt- und Sprachenkenntnis ist keine Kompensation für Heimat. Das Tauschgeschäft erweist sich als ein dubioses” (Jean Amery, a.a. 0.).

 

Was braucht  es denn? Mitreden können, mitbestimmen können, auch als Minderheit eine Stimme haben, die nicht im Geschrei der Mehrheit verstummen muss? Genügt das? Einmal mehr werden die europäischen Gesprächsteilnehmer und -teilnehmerinnen daran erinnert, dass es nicht genügt,  die Frage der Macht und der Machtkontrolle aus der eigenen Nabelperspektive zu durchleuchten. Das Demokratiemuster, wie es in der Schweiz gestrickt werde, sei weiss Gott nicht das einzige. So etwa biete in der islamischen Gesellschaft die Uma (d.h. die Gesamtheit der Gläubigen) mehr Machtkontrolle und Machtteilung als irgendwo in der „westlichen” Welt zu finden sei, da sie berechtigt sei, selbst den Staat zur Korrektur missbräuchlicher Entscheide zu zwingen. Da wird Protest laut: die Uma schreite ja nicht gegen die Verfolgung und Tötung politischer Oppositioneller ein oder gegen den Unterwerfungsterror, dem Frauen ausgesetzt seien. Machtkontrolle und Machtteilung, gewiss, das seien wichtige Voraussetzungen zur Verhinderung von Kulturkonflikten. Allerdings, ach, was nützten die besten politischen Kontrollen, wenn die psychologischen Voraussetzungen fehlten, um Macht nicht zu missbrauchen, wirft ein weitgereister Teilnehmer aus Portugal ein. Ob es um die Eliten gehe oder um Menschen in alltäglichen Verhältnissen, wer Macht ausübe, werde blind für das Leiden der übrigen Menschen. Warum ist es so? wird der Psychanalytiker gefragt. Weil es niemanden gibt, der als Kind nicht unter Machtmissbrauch litt, weil die Opfer dazu neigen, sich mit dem Täter zu identifizieren, weil sie andere Opfer hassen, da sie sich selbst als Opfer verachten und hassen. Ein nicht korrigierbarer Zirkel von Missbrauch und Leiden?- von Unbeheimatetsein und Gewalt?

 

Doch damit soll nicht gesagt sein, dass nicht kommende Geschlechter sehr wohl ohne Heimat werden auskommen können, auskommen müssen. Das, was der französische Soziologe Pierre Bertaux die Mutation des Menschen nennt, die psychische Assimilation der technisch-wissenschaftlichen Revolution, ist unvermeidlich. Die neue Welt wird viel durchgreifender e i n e  sein, als kühner Grosseuropatraum sich dies heute vorstellt” (Jean Amery, a.a.O.).

Was braucht es, damit eine kommende Welt lebenswert ist? Wird es eine ,,neue” Welt sein? Bevor die fünfundfünfzig Frauen und Männer Schloss Ebenrain verlassen und wieder in ihre Herkunftsländer und -städte zurückreisen, finden sie sich ein letztes Mal im grossen Kreis ein und erzählen einander Träume. Träume sind wie Samenkörner, aus denen Realität wachsen kann. Auch Träume verpflichten. Wozu? – dass Sprache nicht mehr als Instrument der Täuschung dient, dass zum Beispiel nicht mehr ,,Kulturkonflikt” genannt wird, was „Verteidigung von Privilegien”, was „Gewalt” und was ,,Krieg” heisst; dass der Respekt, den jeder und jede für sich beansprucht, ohne Einschränkung allen Menschen gegenüber gilt, unabhängig von Sympathie oder Antipathie, von Rang oder Stellung; dass der gleiche Mut, mit dem die Torheit der Regierenden und der Machtmissbrauch der Mächtigen kritisiert wird, bei der Infragestellung der eigenen Intentionen und des eigenen Handelns eingesetzt wird; dass aus der  erlebten Bereitschaft, sich in die Langsamkeit eines gemeinsamen Erkenntnisprozesses einzulassen,  gelernt wird,  eine neues Verhältnis  zur Zeit zu finden; dass die besserwisserische und  selbstsüchtige Rationalität der westlichen Weltordnung aufgebrochen wird,  dass dadurch  der Assimilationsdruck auf andere  Kulturen  wegfällt,  dass die Generosität einer gegenseitigen Anerkennung der Differenz und  die :friedliche Durchmischung der Kulturen  kein Traum mehr, sondern Wirklichkeit  sein wird.

Auch Träume verpflichten, gewiss, der gelebte Alltag verpflichtet jedoch noch mehr. So ist der letzte Traum der verpflichtendste: dass jeder Lebens- und Arbeitsort der fünfundfünfzig Männer und Frauen zum Ort gegen die Resignation wird, gegen die scheinbare Unabänderlichkeit von Machtmissbrauch, Menschenverachtung und Gewalt, damit ein Ort, wo die Unterschiede von Hautfarbe, Stand und Religion das Zusammenleben nicht bedrohen,  sondern spürbar reicher und menschenfreundlicher werden  lassen. “Ebenrain” als Modell für Begegnung und für Verständigung über Differenz und Gemeinsamkeit überall in der Welt, auf den Plätzen der Städte und Dörfer, in den Schulen und Fabrikhallen? Dies bleibt als Hoffnung. In Schloss Ebenrain im Kanton Baselland finden die Gespräche auf jeden Fall eine vertiefende Fortsetzung

 

 

Anmerkungen:

Die Texte von Bohumil Goltz und Moritz Lazarus finden sich in: Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie. Hg. Claudia Schmölders. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979.

Der zitierte Essayband von Jean Améry erschien erstmals 1966 im Szczesny Verlag; die 2. Auflage, die heute noch erhältlich ist, wurde vom Verlag Klett-Cotta herausgegeben, Stuttgart 1980.

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