Zuwandernde und etablierte Kultur sowie deren Gesellschaften

Zuwandernde und etablierte Kultur

sowie deren Gesellschaften

Notizen zum Thema, das von Hartmut Haas anlässlich der Gründung des Vereins „Haus der Kulturen“ vorgelegt wurde.

Womit befassen wir uns, wenn wir von „Kultur“ sprechen?

Das deutsche Wort „Kultur“, entsprechend dem Wortsinn des lateinischen „cultura“, abgeleitet vom Verb „colere“ (colo, colui, cultus), bedeutet in erster Linie Bearbeitung und Bebauung des Bodens, in zweiter Linie Wohnen und Ansässigsein, und erst in weiterer Hinsicht Sorge tragen, Pflegen und Veredeln, schliesslich Verehren und Anbeten, Ehren und Huldigen.

„Kultur“ ist somit immer mit einem örtlich-räumlichen und einem zeitlichen Element verbunden, das zugleich die Pflege des Getanen, Bearbeiteten und Aufgebauten einschliesst, das Sorge tragen und Veredeln in der Aktualität wie für die Zukunft. „Kultur“ bezieht sich auf existentielle Werte, die mit der Zugehörigkeit der Menschen zum Erdendasein im zeitlichen und räumlichen Miteinander und Nacheinander verbunden ist, mit dem Verhältnis zu einander in der vielseitigen, wechselseitigen Abhängigkeit von einander. Damit der Kulturbegriff Sinn macht, ist es dringlich, dass Menschen im Zusammenleben über die gleichen Rechte verfügen, dass jeder Art von menschlicher Besonderheit der gleiche Wert zukommt und die gleiche Sicherheit. Die Grundregel der Reziprozität (lat. recus – procus) verbindet sich mit dem Begriff von Kultur, in welchem es um die Ehrung anderen Lebens geht, so wie jeder Mensch der Ehrung des eigenen Lebens bedürftig ist. „Zuwandernd“ oder „etabliert“ ist somit nicht Kultur, sondern zuwandernd oder etabliert bezieht sich auf die Menschen: „zuwandernd“ indem sie geboren werden und heranwachsen, oder indem sie auf der Erde einen Ort suchen, wo sie „stehen“ bleiben resp. einen „Status“ finden können, wo sie „sich niederlassen“ und „sich selbständig machen“ können (franz, établir, s’établir – lat. stabilire; stabilis; stare, status).

Probleme werden durch ein irreleitendes Verständnis von Kultur geschaffen, insbesondere durch die Gesellschaft, die auf Grund ihrer Machtstruktur Bedingungen sowohl für die „kulturelle“ Zugehörigkeit wie für den „Status“ stellt. Diese Bedingungen sind willkürlich und widersprechen der Bedeutung von „Kultur“. Sie werden sowohl durch politische und religiöse Ideologien, durch persönlichen Narzissmus von Machthabenden wie durch existentielle – zum Teil auch wirtschaftlich bedingte – kollektive Ängste geschaffen. Sie entsprechen selten oder kaum dem Prinzip der Gerechtigkeit resp. den gleichen menschlichen Grundrechten auf Grund der gleichen menschlichen Grundbedürfnisse, wie sie im Begriff „Kultur“ enthalten sind und wie sie sich in einem der ältesten europäischen Entwürfe eines politischen und gesellschaftlichen Regelsystems finden: in Platons „Politeia“. Von Bedeutung erscheint mir, dass die sokratische Philosophie, die in der „Politeia“ festgehalten wird und die zur gleichen Zeit entstand wie ein Teil der alten Bibel, nicht zur Religion erklärt wurde. Sie wurde nie zu missionarischem Zweck oder zur Begründung von Ideologien, schon gar nicht von Kriegen benutzt. Deren Ethik stimmt mit jener der wichtigsten Normen der Menschenrechtserklärung überein, Sie ermöglicht daher die vergleichende Untersuchung von Grundwerten, die sich mit dem Begriff „Kultur“ verbinden.

Wer sind „Fremde“?

Der Mensch ist sich selber fremd. Wer und wie er/sie in den Anfängen des Werdens ist, liess sich nicht wählen. Die Herkunft und die frühen Bedingungen des Daseins wurden auferlegt. Unbekannt und verborgen ist ihm/ihr, was seine/ihre Besonderheit bedeutet. Was fremd und unbekannt ist, löst einerseits Neugier, andererseits Angst und Abwehr aus. Es ist daher eine grosse Chance, sich selber kennen und verstehen zu lernen, als Individuum wie als Teil einer Familien- und Zeitgeschichte die eigene Identität nicht in Frage stellen zu müssen, weil sie von Aussen bestimmt wird, sondern sie akzeptieren und zunehmend selber formen, vertiefen und öffnen zu können. Wer den Wert der persönlichen Identität nicht finden kann, neigt dazu, sich mit dem Emblem oder dem Stempel einer kollektiven Identität zu kennzeichnen, unter anderem durch fundamentalistische Partei- oder Religionszugehörigkeit, und die eigene Besonderheit zu leugnen oder zu verlieren.

Wenn somit das eigene Fremde – das Sich-selber-fremd-sein – nicht aufgearbeitet und verstanden werden kann, sondern abgewehrt, verdrängt und übergangen wird, konzentriert sich die Angst auf anderes Fremdes. Dieses wird zum Objekt der Angst wie zur Erklärung von Bedrohung und Gefährdung. Fremdenfeindlichkeit mit allen Aspekten, die damit einhergehen, beruht auf dem Mangel an innerer Sicherheit, der mit der Abwehr der eigenen unbekannten Impulse anwächst. Menschen, die mit einem selbstkritischem und zugleich selbstzustimmenden Einverständnis gegenüber dem eigenen Lebenswert und der eigenen Lebensaufgabe grösser werden, bedürfen kaum der Feindbilder und Feindobjekte. Dies ist eine erstaunliche Tatsache. „Fremde“ resp. unbekannte Menschen werden als „Boten“ wichtiger Mitteilungen, zum Beispiel anderer Lebensmöglichkeiten, verstanden, wie die sokratische Weisheit bei Platon lautet und wie sie auch heute umgesetzt werden kann.

Es ist von grosser Dringlichkeit, dass die Schweiz zu einer sich kritisch hinterfragenden Gesellschaft wird, der es gelingt, fremde Menschen in Ehre – im Sinn von „Kultur“ – aufzunehmen, ihnen im gleichen Mass Lebenssicherheit und Lebenswert zu bieten wie dieser für die eigenen Bürgerinnen und Bürger angestrebt wird.

Welches sind die gesellschaftlichen Bedingungen der Schweiz heute?

Die föderalistische Schweiz, dieser Zusammenschluss unterschiedlicher Kleinstaaten, die „Kantone“ heissen und die eigene Fahnen, zum Teil eigene Rechtssysteme und Sprachen haben, diese föderalistische Schweiz ist in dem, was das Gemeinsame betrifft – Pass und Schweizerkreuz – auf Abschottung ausgerichtet, angstbesetzt und eitel. Einbürgerungsbedingungen sind je schwerer zu erfüllen als in den meisten anderen europäischen Ländern. Kantone hatten bis vor knapp 140 Jahren gegeneinander Kriege geführt, hatten im Namen von Religionen Feindseligkeiten, politische und existentielle Diskriminierungen sowie gegenseitiges Misstrauen noch lange nachher beibehalten. Arbeitslosigkeit und Armut hatten Hundertausende einzelner Menschen und ganzer Familien zur Emigration in andere Länder Europas, besonders in andere Kontinente gezwungen. Schon Emigration von einem Kanton in einen anderen Kanton war schwierig und mit strengsten Anpassungsbedingungen verbunden. Schweizer hatten Schweizerinnen die gleichen Rechte noch bis 1971 verweigert.

Feindbilder und Ablehnung „Fremder“ bezieht sich heute auf jene Menschen, welche auf Grund von sozialen Diskriminierungen, von politischen Verfolgungen, von Kriegen oder von nicht mehr tragbarer Armut ihr eigenes Land verlassen, in die Schweiz gelangen und hier um Schutz und Aufnahme – um Asyl – bitten. „Zuwandernde“ sind die aus der eigenen Heimat „Wegwandernden“. Verluste, Leiden und Hoffnungen, die damit verbunden sind, lasten schwer und werden kaum beachtet. Im Gesprächsentwurf, der vom Haus der Religionen an mich gelangte, finden sich vor allem Hinweise auf die „Nützlichkeit“ der „FremdarbeiterInnen“, etwa auf „die Putzfrauen vom Balkan, ohne welche es kaum mehr ein zu finanzierendes Spital gäbe“. Die Begründung menschlichen Bleiberechts durch „Nützlichkeit“ weckt in mir Empörung. Beruht darauf nicht die Legalisierung jeglicher Ausnutzung Bedürftiger und Rechtloser? Auf jeden Fall findet weder das menschenrechtswidrige „Drei-Kreise-Modell“ eine Erwähnung noch die traumatisierende Entrechtung von Menschen im Asylverfahren, das von Jahr zu Jahr auf nicht mehr tragbare Weise enger, härter und unwürdiger wird. Unerträglich ist, dass Unrecht durch parlamentarische Gesetzeserlasse zu Recht erklärt und ohne Bedenken umgesetzt wird.

Es hat sich in der Schweiz ein neoliberal und nationalistisch regressives, zutiefst ungerechtes, rassistisches Klassensystem entwickelt, das sich zunehmend zu einem Apartheit-System verhärtet: Wer nicht nützlich ist, wird für wertlos, ja – mehr und mehr – für rechtlos erklärt. Die politische Entwicklung nach Rechtsaussen, die auf dem Schüren kollektiver Ängste und auf deren Instrumentalisierung gegen Fremde beruht, verschiebt sich jedoch im Gegenstrom nach Innen und zersetzt durch wachsendes Misstrauen die Bedingungsraster jeglichen Zusammenlebens. Der erschreckende Vergleich mit der Entwicklung in den Dreissigerjahren drängt sich auf. Es ist dringlich, dass durch das Erschrecken eine Korrektur nach den Grundrechten der Menschenrechtserklärung bewirkt wird, dass ein offener, wacher Geist die politischen Entscheide in Hinblick auf soziale Gerechtigkeit ausrichtet, als wichtigen Teil dessen, was „Kultur“ in der ursprünglichen Bedeutung voraussetzt.

Wie kann sich die Schweiz mit neuen politischen und sozialen Handlungsfeldern öffnen?

Die Schweiz hat, wie schon erwähnt wurde, Mühe mit der Diversität, mit der Fülle von Anderssein und Besonderssein, die das Menschsein kennzeichnen. Religionskriege und Antisemitismus prägten ihre Geschichte, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit prägen leider auch die Gegenwart. Dieses Mangelverhalten geht einher mit Ängsten, die zu Machtzwecken genutzt werden und durch welche „Zuwandernden“ Feindbilder als bedrohliche, das Eigene gefährdende „Eindringlinge“ übergestülpt oder angeheftet werden.

Die Erkenntnis, dass jedes Unrecht, das „Fremden“ oder „Nicht-Nützlichen“ angetan wird, das eigene Recht in Frage stellt und und in seiner Glaubwürdigkeit vermindert, könnte bewirken, dass sowohl auf Gesetzesebene wie im sozialrechtlichen, ausländerrechtlichen und asylrechtlichen Alltag umgesetzt wird, wozu sich die Schweiz durch die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Beachtung der Menschenrechte eine ethische Norm gesetzt hat:

  • dass der gleiche Respekt, wie er gegenüber der eigenen Person erwartet oder verlanngt wird, anderen Menschen gegenüber umzusetzen ist;
  • dass der Respekt vor der Besonderheit und Verschiedenheit der Menschen, sowohl fremder wie jener der eigenen Nation, von hohem Wert ist, auch dass nur durch die Anerkennung dieses Wertes die Erwartung des Respekts vor der eigenen Besonderheit erfüllt werden kann, sowohl der individuellen wie der kollektiven;
  • dass im Sinn einer kreativen Aufgabe des Zusammenlebens eine sorgfältige, kritische Befassung mit der Entwicklung der Religionstheorien und den Folgen deren Umsetzung nach den Grundsätzen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorgenommen wird, damit auf kollektiver Ebene der je individuellen entsprochen und eine Verringerung von Misstrauen, Feindseligkeit und Gewalt aus religiösen Gründen erreicht werden kann;
  • dass die Religionsgemeinschaften aktiv dazu beitragen, dass im Asyl- und Ausländerrecht die Verengungen und Verhärtungen korrigiert werden, durch welche asylbedürftige Menschen unter der Begründung des „Volkswillens“ auf apartheitmässige Weise zu einer Sonder-Unterklasse degradiert werden, dass an Stelle des menschlich diskriminierenden und retraumatisierenden Status F („vorläufige Aufnahme“ mit ständiger Angst vor Ausschaffung, mit grosser Einschränkung von Bildungs- und Arbeitsmöglichkeit, von eigener Wahl des Wohnortes wie von medizinischer Behandlung) endlich wieder der ursprüngliche, Sicherheit gewährende Flüchtlingsstatus zugestanden wird, dass die entwürdigenden Gesetze der „Nothilfe“ ebenso wie der Nichteintretensentscheide wegen mangelnder Herkunftsdokumente und der Zwangsausschaffungen aufgehoben werden;
  • dass auch im wirtschaftlichen Bereich mit Aufmerksamkeit auf die Folgen von Macht und legitimiertem Machtmissbrauch geachtet wird, gerade was die Vernetzung von Geld, Macht und Religionen betrifft, sei es durch Ausbeutung armer Länder sowie armer und entrechteter Menschen, sei es durch deren Benutzung auch hier in der Schweiz zu Arbeitsleistungen unter Bedingungen, die persönlich unannehmbar wären, dass das je individuell zu verantwortende Entscheiden und Handeln in Hinblick auf die Grundwerte der Reziprozität spürbar werden kann,;
  • dass insbesondere die „missionarischen“ Machtziele der offiziellen Religionen kritisch hinterfragt werden, dass die Religionen ihre kulturelle Besonderheit fortsetzen, dabei jedoch auf die Weisheit – „sophia“ – der ursprünglichen Bedeutung von „re-ligio“ zurückfinden, damit die Zukunft menschlichen Zusammenlebens nicht mehr ängstigt, sondern mit der Fülle an Verschiedenheit und Besonderheit, jedoch mit der Beachtung der gleichen Grundbedürfnisse und dem gleichen Recht auf deren Erfüllung möglich wird, getragen von der Erkenntnis der Unwürdigkeit jeder Art von persönlicher Überheblichkeit und Forderung fremder Unterwerfung, von hierarchischer Erniedrigung wie von Verboten kritischen Denkens, jedoch auch vom Wissen des Wohlbehagens, das durch wechselseitigen Respekt wachsen und sich im Sinn von „Kultur“ erfüllen kann, so dass nicht mehr Rache oder Angst vor Rache das Handeln anleiten, sondern Vertrauen der einen Menschen zu den anderen.

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