Puppen: Abbilder, Wunschbilder, Spiel und Ersatz
Puppen: Abbilder, Wunschbilder, Spiel und Ersatz
Es war in den Fünfzigerjahren, in Barcelona. Eine alte Dame, die Lola Anglada hiess und in einem Haus lebte, durch das hindurch ein Baum wuchs, sodass sie das Haus mit einer Menge zwitschernder Vögel teilte, schenkte mir ein Bild. Sie war eine Malerin, sie illustrierte mit ihren Bildern Bilderbücher für den Verlag meiner Freunde, sie war menschenscheu und menschenfreundlich, sie kam mir vor wie eine Fee.
Das Bild stellte ein lichtdurchflutetes, gold- und rosadamastenes Puppenheim-Wohnzimmer dar, in dem eine Puppen-Kinderfrau in einem vergoldeten Lehnsessel sass und einen Puppen-Säugling wiegte, während die schöne Puppenmama mit einem Schleierchen auf dem Kopf und einem Schirm in der Hand am Arm des Puppenvaters eben wegzugehen schien; mitten im Raum tanzten drei grössere Puppenkinder einen Ringelreihen, auch diese in Spitzen und Seide gekleidet. Alle sechs Puppen-Personen hatten dasselbe Gesicht, und das war gewiss nicht so aus Zufall oder aus Unvermögen der Malerin.
Später, als ich mich mit Ibsens “Puppenheim” beschäftigte, entdeckte ich im Bild der alten Malerin die Kritik erstickender Bürgerlichkeit. Sie, die im verwildernden Baumhaus lebte wie auf einer Insel und so ihre Distanz zur Welt um sie herum deutlich mitteilte, wählte die Sprache der Bilder und darin die Dimension der Niedlichkeit und der erstarrten Puppengesichter, um die Nichtgesichter des sich damals zunehmend verhärtenden Franco-Bürgertums darzustellen.
So war Lola Anglada.
Denn Puppen sind alles andere als eindeutige Kinderwelt-Gestalten, sie sind merkwürdig vielsagend.
Gewiss, zuerst sind sie trauteste Kindheitserfahrung. Monika Mann, indem sie die “Wunder der Kindheit” evoziert, erinnert sich an erster Stelle ihrer Puppen. “Anna hob eine Puppe auf”, schreibt sie, “als ob sie ein Gewicht aus der Tiefe ziehe. Indem sie das Ding bei den Haaren an sich zog, rauschte es mit Seide, klapperte mit Lidern und machte: An-na! An-na! Sie entblösste es bis auf die netzartige dunkel-rosa Haut und besah seine Nacktheit mit einer Art träger Schadenfreude. Höslein, Hemdlein und Kleid warf sie den anderen Puppen hin. Die anderen Puppen waren das Negerlein, der Herr Hauptmann, die Frau Hauptmann, die Tänzerin, der Tiroler und der Feuerwehrvorstand. Der Feuerwehrvorstand besass eine runde Nase, die vorne einen Einschnitt hatte. Dies Detail übte von jeher einen Reiz auf Anna aus. Nun tat es mehr als das” …
Und Sie, erinnern Sie sich an Ihre Puppe? War die Puppe nicht jemand, mit dem man so sein konnte, wie man wünschte, dass jemand mit einem war? Sie liess einen nie im Stich, höchstens liess man sie selbst im Stich, sie wies einen nie ab, sie war immer da, Tag und Nacht, sie liess sich alles erklären, sie begriff und teilte alles, die Angst vor der Nacht und die Wut, wenn man ungerecht bestraft wurde, sie ertrug alles, auch dass man die Wut auf sie übertrug, auf sie ablud, stellvertretend nahm sie unsere Wut an, als wäre sie die ungerechte Mutter oder der harsche Vater, sie liess sich misshandeln und war unverändert immer die gleiche, sie verlor zwar ein Bein oder ein Auge und sie kam aus der Puppenklinik zurück und das neue Bein war etwas dicker und steifer als das alte, sie trug einem nie etwas nach, sie liess sich kleiden, wie man selbst hätte gekleidet sein mögen, sie war solidarisch in der Weigerung, das verhasste Bananenmus zu essen, sie war wach, wenn man wach war und schlief, wenn man schlief, sie war der kleine Doppelgänger und doch jemand anderer, sie war lebendig auf eine fremde, ewige Weise, sie liess sich in jedes Traumtuch einschlagen und liess sich darunter spazierenführen wie in einem geheimen Garten, sie liess alles mit sich geschehen, die Nähe und die Ferne, sie gehörte einem ganz und gar. Bei Rilke heisst es: “Da war ein Pferd aus Holz, da war ein Hahn, da war die Puppe mit nur einem Bein, ich habe viel für sie getan, den Himmel klein gemacht, wenn sie ihn sahn” … Darin bestand wohl die Magie: Dass die Ohnmacht des Kindes kompensiert wurde durch totale Macht angesichts der uneingeschränkten Verfügbarkeit und Passivität der Puppe. Alles liess sie für sich tun und alles liess sie sich antun und alles dies nicht wie ein totes Objekt. Sie war zwar lebensleer, solange sie in der Auslage des Spielwarengeschäfts lag, aber sie war empfänglich, “aufnahmewillig” für jeden Funken Leben, den das Kind auf sie übertrug, kraft der Ansteckbarkeit von Leben, kraft der eigengesetzlichen Uebertragungsgewalt von Leben durch die Namennennung, durch die immer wiederholte Anrufung und durch die Zuwendung von Gefühlen. Es ist dies ein altes Gesetz, das in der Kind-Puppen-Beziehung nur die symbolische Bestätigung findet, das jedoch auf tragische Weise sich auch umgekehrt bewahrheitet: Leben welkt und löscht allmählich aus, wenn es nicht von anderem Leben gespiesen wird, wenn es keine Liebe erfährt. Die Beobachtungen von Rene A. Spitz an Kindern, insbesondere an 91 Säuglingen in einem amerikanischen Findelhaus, die zwar ernährt und “versorgt”, aber in keiner liebenden Beziehung geborgen waren und die innerhalb von drei Monaten in völlige Lethargie, in Gliederschlaffheit, Ausdruckslosigkeit, Nahrungsverweigerung, Schlaflosigkeit, in unaufhörliches tonloses Wimmern verfielen und von denen schliesslich innerhalb von zwei Jahren mehr als ein Drittel starben, diese Beobachtungen waren 1965, als sie veröffentlicht wurden, aufwühlendste Bestätigung der längst bekannten Tatsache von der lebenübertragenden und lebenerhaltenden Kraft der Liebe.
Aber wir wollen im Bereich der Puppen verweilen. Da sind also jene, die wir geschenkt bekamen, damit sie uns halfen, die langen Kindertage und Kindernächte durchzustehen, die pausbäckigen Puppen mit dem echten Haar und den zitternden Schlaflidern, oder die schmalgesichtigen mit den gemalten Locken und den gemalten Veilchenaugen, aus denen nie ein Ausdruck von Staunen oder Schrecken verschwand, da waren die Lieblingsplüschäffchen, die gleichzeitig mit uns Masern und Keuchhusten hatten und die so manche Sandburg bewohnten und verteidigten, bis sie als ausgefranste Fetzen in einer Ecke des Kinderzimmers liegenblieben und irgendeinmal auch von dort verschwanden, und da waren die Teddybären, die noch keines klopfenden Herzens bedurften (wie solche, die jetzt verkauft werden, denen, sage und schreibe, ein klopfendes Herz eingebaut ist, ein batteriebetriebenes mechanisches), weil sie auch ohne Batterie unter ihrem kurzen Fell die ganze Kinderwärme bewahrten, und da waren die Kasperls und Marionetten, deren Spiel man verzaubert zuschauen konnte, so wie Theodor Storm es Pole Poppenspäler beschreieen lässt, in der Rückschau auf den Anfang seiner Liebesgeschichte mit der fremdartigen Lisei, des fahrenden Puppenspielers, dass da ein ”unheimliches Leben in diesen kleinen Figuren” war, mit deren “seltsamen Bewegungen” und den “feinen oder schnarrenden Puppenstimmchen”, und als der Vater den Sohn darauf fragte, ob die Figuren denn auch “lebendig” waren, wusste dieser nichts anderes zu antworten als “Ich weiss nicht, Vater”, noch immer “ganz verwirrt zu Sinne”, wie Storm schreibt.
Adorno reflektiert in den “Minima Moralia” über diese “hintergründige Kindergeschichte”, wie er “Pole Poppenspäler” bezeichnet; das Schäbige, meint er, hätte nur Zauber für den Betrachter, die Liebe verliere sich “ans Seelenlose als an die Chiffre des Beseelten, am Ende sei “Seele selber die Sehnsucht des Unbeseelten nach Rettung”.
Da war Kleist zu einem ganz anderen Schluss gekommen. In seiner kleinen Schrift “Ueber das Marionettentheater” lässt er den Tänzer sagen, dass dieser viel vom Tanz der Puppen lernen könne; denn deren Glieder würden ja während des Tanzes nicht in jedem einzelnen Moment vom “Maschinisten” verändert, sondern sie gehorchten einem Impuls, der im Innern der Figur, in deren Schwerpunkt der Puppe selbst gegeben werde. Jede Bewegung hätte einen Schwerpunkt, und wenn der Schwerpunkt in einer geraden Linie bewegt würde, so würden die Glieder schon Kurven beschreiben. Das sei einerseits sehr einfach, andererseits aber auch sehr geheimnisvoll, denn diese “Linie” sei “nichts anderes als der Weg der Seele des Tänzers”, und sie könne nicht anders gefunden werden, “als dass sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetze, das heisst mit anderen Worten, tanze”.
Während ich mich noch mit Kleists “Linie” befasse, fällt mir eine andere “Linie” ein, bei Horvath in “Ein Kind unserer Zeit”. Da steht der hilflose, kindliche Soldat eisleckend vor dem Verwunschenen Schloss, dieser schäbigen, lotterigen Geisterbahn-Bretterbude, schickt sich an, eine Eintrittskarte zu kaufen und sieht die sphinxisch lächelnde, wunderschöne Frau, die fortan zu seiner “Linie” wird, wie Horvath schreibt, um die der Soldat kreisen wird, der entlang sich seine Erfahrungen im Feld und später bewegen, die, selbst unerreichbar, im Schwerpunkt seiner Seele liegt, bis hin zur “lautlosen Finsternis” auf dem verschneiten Friedhof, in der er, bevor er erfriert, plötzlich um den Engel weiss, der “am Anfang jeder neuen Zeit steht” .
So weit dringt Horvaths “Linie” vor, in letzte Sinnsuche des Kindes “unserer Zeit”, aus der Verlorenheit in eine “neue Zeit”, aber die Parallele zwischen dieser “Linie” und Kleists Schwerpunkt-Linie im Tanz der Marionette soll die Puppensymbolik nicht überstrapazieren. Puppen werden ja nicht “einfach”erwachsen, und die von Rilke angesichts der “unveränderlichen Kinderpuppen” in seinem Puppen-Essay gestellte Frage, “was später aus ihnen würde”, findet so erst eine Teilantwort. (Dagegen ist die durch Feenzauber erfolgte Verwandlung des lebendigen Holzpuppen-Lausbubs in einen wirklich lebenden Jungen in Collodis Pinocchio-Geschichte “nur” eine Märchen-Antwort mit pädagogischer Absicht!). Denn es geht nicht um das Puppenschicksal selbst, sondern um die Beziehung zur Puppe, um die Uebertragung von Absichten und Gefühlen auf ein an sich lebloses Objekt, das dadurch in die Sphäre des Lebendigen eingerückt wird.
Eine andere Teilantwort findet sich daher eher in den tiefgründig widerlichen und beklemmenden Szenen in Fellinis “Casanova”-Film, in der Tanzszene im verwüsteten Speisesaal zwischen dem lächerlich gewordenen Abenteurer und Rosalba, der mechanischen Puppe, vor der er ausruft “Bezaubernd!” und “Man könnte meinen, sie sei aus Fleisch und Blut!”, der er nach dem Busen greift, die er in sein Bett schleppt und vergewaltigt, ohne Selbsttäuschung über ihre Puppennatur, in monomaner Gier, ein Bild erschreckendster Selbstzerstörung und Einsamkeit, das eine erschütternde Bestätigung findet in der letzten Begegnung auf dem vereisten Canale Grande, wo die Puppe dem todnahen Greis den Weg vorangeht ins eisige Dunkel. In die Erlösung? In die Rettung?
Hat etwa hier Adorno Pate gestanden?
Nicht rettende Begleitung, sondern Unheil und Endverderbnis bringen andere Erwachsenen-Puppen. Es sind echt schauerliche Zusammenhänge, die in diesen Geschichten aufgetan werden, Geschichten, die mit der uralten Hybris des Menschen zu tun haben, wie Gott zu sein und dem Unbelebten Leben einzuhauchen. Im Innerschweizer Sagenschatz gibt es mehrere dieser Geschichten, jene, zum Beispiel, die vom Senn auf der Alp Golzern erzählt, der vor lauter Uebermut und Langeweile nichts anderes mehr wusste, als ein Stück Holz zu nehmen und eine menschenähnliche Figur herzustellen, eine Art grosser Puppe, die Tunsch oder Toggel genannt wird, um damit sein Gespött und, wie es heisst, seine “Kurzweil” zu haben. Der Toggel aber liess ihn am Ende des Sommers nicht mit den anderen Sennen zu Tal ziehen, sondern behielt ihn als Gefangenen zurück. Und als die abziehenden Kameraden sich ein letztesmal zur Hütte umwandten, sahen sie, wie der Toggel eben die blutige Haut des Senns übers Dach zum Trocknen spannte.
Auch in der jüdischen Mythologie gibt es – scheinbar – verwandte Incubus-Geschichten. Doch die Aehnlichkeit ist nur oberflächlich. Im Gegensatz zur Toggel-Sage, die aus christlich-heidnischem Dämonenglauben entstanden ist, gewinnt der jüdische Golem nie Uebermacht über seinen Hersteller und “Meister”. Der Golem von Prag, zum Beispiel, bleibt der Diener des grossen Rabbi Löw, der ihn wie eine tönerne Puppe aus Lehm und Wasser hergestellt und mit Leben versehen hat, nicht mit einer “Seele”, heisst es in der Legende, nur mit einer Art “Lebenstrieb”, und nicht aus Uebermut, sondern aus Frömmigkeit und Not, mit dem Auftrag, die mörderischen Verleumdungen und Verfolgungen der Prager Juden zu verhindern. Und nachdem der Golem den Auftrag erfüllt hatte, entzog ihm der Rabbi wieder das Leben, wickelte ihn in zwei alte Gebetsmäntel ein und verwahrte die Lehmfigur unter einem Haufen alter Bücher auf dem Dachboden.
Der Golem hat eben nicht wie der Toggel, scheint mir, mit dem ältesten Puppen-Vorbild zu tun, mit der Pandora, die, auf Befehl des Zeus von Hephaistos ebenfalls aus Lehm und Wasser geschaffen, den Menschen Uebel brachte, Krankheit und Tod! (Die hübsche Idee, Pandora zur ersten Puppe zu erklären, stammt von Walter Bemjamin!).
Uebrigens hat vor zehn Jahren der englische Krimi-Schriftsteller Tom Sharpe eine brillante, böse Umkehrung des Toggel-Motivs geschrieben, die als “Puppenmord” auch deutsch zu lesen ist. Vor dem Hintergrund kleinstädtischer Intrigen und Turbulenz schildert er das Ungeschick eines biederen Berufsschullehrers, der im Lauf einer absurden Party betrunken gemacht und mit einer Sexpuppe verkuppelt wird, von der er sich die längste Zeit nicht mehr freimachen kann und die er in der Folge in einer Art Ritualmord “umbringt” und verscharrt.
Ueberhaupt, Sexpuppen: In einem Porno-Shop bat ich den Verkäufer, mir einige zu zeigen, und sie boten einen recht jämmerlichen Anblick, in eine Art rosa Schuhschachtel verpackt, aus deren durchsichtigem Folienfenster ein infantiler Plastikkopf schaut, daneben in geschweiften Lettern die Verheissung aufgedruckt, die Puppe selbst sei “lebensgross, mit zarter, natürlicher Haut, vollen jungen Brüsten, vollen Hüften und prallen Beinen, langem seidenem Haar und liebendem Mund, einladendem Anus und gieriger Vagina”, und all dies für hundertdreissig Franken. Was nicht angepriesen wird, was sich aber mit dem Zweck des Kaufs von selbst versteht, ist die absolute Passivität und Verfügbarkeit dieses – nicht zuletzt deswegen – ganz und gar menschenunähnlichen Plastikprodukts. Der Verkäufer sagte, pro Jahr würden in seinem Geschäft höchstens fünf dieser Puppen verkaukft, aber selbst diese geringe Anzahl käme ihm traurig vor, traurig und alarmierend, sagte er, ich müsste bedenken, was dies bedeute! Was dies bedeute? Ich dachte wieder an Fellinis “Casanova”, obwohl die “Luftmatratzen”, wie der Verkäufer die Puppen nannte, in nichts an die zart-obszöne, kalte Rosalba mit ihren abgehackten mechanischen Bewegungen erinnern. Aber hier wie dort findet sich ein Paradigma äusserster Einsamkeit und – Unerwachsenheit. Das hat Fellini selbst betont, in einem Interview mit Lietta Tornabuoni in “La Stampa”, im Juni 1975, dass sein Film auf ein einziges Thema gestimmt sei, auf die Unfähigkeit, erwachsen zu werden, die Unfähigkeit des Mannes.
Das sagt er von seinem Film.
Und was lässt sich von der Welt sagen, wie sie sich zeigt? Mit Kindern und Erwachsenen mit Frauen und Männern und Kindern, und mit Puppen als Beziehungsgegenstand und als Beziehungssymbol zwischen allen? Wer wem das Erwachsenwerden schwermacht, bleibe hier dahingestellt. Sicher ist, dass das Auskosten der ganzen Puppenweltspiele in der Kindheit, mit ihrer Wärme und ihrer Als-ob-Realität als Realität, das Erwachsenwerden erleichtert. Denn wer braucht sich noch auf Puppen-Attribute zu fixieren, später, wenn die Realität das spannendste Spiel ist, der weiss, dass es damals nicht ums Als-ob ging, dass es nur um die Wärme ging!