Zeugnisse der Einfühlung – zu Reinhild Traitlers “Briefe an die Unglücklichen”

Zeugnisse der Einfühlung – zu Reinhild Traitlers “Briefe an die Unglücklichen”

 

“Wir reden Kurzschrift miteinander, tauschen säuberlich abgepackte Informationspakete und vorgefasste Meinungen und hören nicht den ‘stummen Schrei’, schreibt Reinhild Traitler einleitend zu den Briefen, die sie sieben grossen Toten schreibt, vier Frauen und drei Männern aus fünf Jahrhunderten, mit denen sie über die Zeit hinweg und über den Tod hinweg das Gespräch aufnimmt. Das Hölderlin’sche “Seit ein Gespräch wir sind” deutet sich als Vorlage an und das, was damit gemeint ist:  existentielle Nähe, die nur in der eigentlichen Bedeutung von Sympathie (sym-pathein, mitleiden} entsteht. “Kurzschrift” und “vorgefasste Meinungen” sind dem Gespräch fremd,  der Beobachterposten mit seiner Distanz und mit der Leichtigkeit zu urteilen und zu verurteilen muss aufgegeben werden.  Die Intimität des Gesprächs stellt Forderungen der Abgrenzung auf nach aussen,  zur Welt und zur tradierten Geschichte des Weltgeschehens hin,  die immer nur die Geschichte der Mächtigen und der Sieger und nicht die Geschichte der Unglücklichen  ist;  gleichzeitig hebt sie die Abschrankung nach innen auf.

Reinhild Traitler schreibt “Briefe an die Unglücklichen”. Anlass dazu gab die aufgebrachte Kritik an ihrem “Brief an Ulrike Meinhof”, den sie im Frühjahr 1986 publiziert hatte. Die vielen Diskussionen, die dadurch ausglöst wurden, machten sie nachdenklich.  Sie wurde gewahr, dass “hinter dem bösen Ende dieser Frau alles andere verblasste, ihr Leiden an der Zeit, dieses Unglück, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit”, wie sie im Vorwort schreibt.  Schon der Titel soll also Front gegen die “vorgefassten Meinungen” machen, dem Satz Simone Weils gernäss, den sie dem Buch als Motto voranstellt,  dass “jedes Wesen ein stummer Schrei sei, anders gelesen zu werden”. Mit diesem Motto übernimmt Reinhild Taitler die Weil’sche Deutung der Existenz als “Unglück”, mit der ganzen Tragweite dieser Deutung.  In Simone Weils Sprache heisst “Unglück” die  Nacht der äussersten Verlassenheit,  heisst Entwurzelung aus allen Tröstungen und Sicherheiten und damit Verlorenheit bezüglich der Vergangenheit wie Hoffnungslosigkei bezüglich der Zukunft. Wer so Existenz als Unglück erfährt, spürt, nach Simone Weil, bis ins Innerste seiner Seele das Zeichen des Sklaven eingebrannt, das sein Leben gleichzeitig untragbar schwer und nichtig macht,  sodass Auflehnung oder frommer fast bedingungsloser Gehorsam als notwendige Folge aus dem “Unglück” herauswachsen  als Weg konsequenten Handelns.

Von diesem Unglück ist keine Existenz ausgenommen,  und das Bewusstsein davon, das plötzlich erwacht und erstarkt,  ist   auch keine Ausnahme,  das macht Reinhild Traitlers Nachforschen und einfühlendes Fragen deutlich;  denn “die Zustände der Zeit” sind so, dass Menschen,  welche die verzweifelte “Sehnsucht nach Gerechtigkeit” in sich tragen,  sich mit diesen Zuständen nicht abfinden können, ob dies junge Frauen aus behüteten Kindheitsverhältnissen seien wie Elisabeth Käsemann und Ulrike Meinhof,  die in der Auflehnung gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung den Weg in den Untergrund wählen,  oder ein angesehener Staatsmann wie Aldo Moro, oder ein haitianischer Sklave wie Toussaint l’Ouverture oder ein philippinischer  Arzt und Revolutionär wie Jose Rizal, die beide sich für die  Menschenrechte und Freiheitsrechte ihres unterdrückten Volkes einsetzen, oder ob es eine polnische Intellektuelle sei wie Rosa Luxemburg, der keine Not und keine Diskriminierung fremd ist, oder ein lothringisches Bauernmädchen, das sich aufgerufen fühlt, nicht nur äusseren Feinden, sondern auch der Kirche mit ihrer ganzen Macht die Stirn zu bieten.

Reinhild Traitler möchte der “inneren Wahrheit”  ihrer Dialogpartner näherkommen, möchte erfahren, woher die Kraft zur Auflehnung und zum Durchhalten kommt, obwohl, wie sie selbst weiss, diese innere Wahrheit ein Geheimnis bleiben wird.  Doch “das Leben der Anderen (auch der Toten)” schreibt sie,  “ist nicht etwas Fernes, sondern etwas, das uns betrifft.  Im Anderen ist vielleicht ein Stück Menschsein verwirklicht, das auch mich angeht … Im Anderen tritt der Widerspruch zutage, den ich vielleicht in meinem eigenen Leben verdrängt habe”.

Welchen Widerspruch meint Reinhild Traitler? Meint sie den, den alle als schmerzlich empfinden,  die sich einer grossen Idee verschreiben, und die feststellen, dass sie mit ihren begrenzten Kräften, mit ihrer Angst und ihren Zweifeln dem Ideal hinterherhinken? Im Brief an Elisabeth Käsemann, die während der  Militärdiktatur von den argentinischen Sicherheitskräften im Mai 1977 gefangengenommen, gefoltert und umgebracht wurde, heisst es, auf der  Spur der Aufschlüsselung des Widerspruchs: “Immer hast du danach gesucht, wie die Gedanken und Ueberzeugungen mit dem tatsächlichen Leben zusammenzubringen sind.  Wie wird unser Leben selbst das Zeichen dessen, woran wir glauben, was uns im Innersten treibt? Wie werden wir durchlässig für die Wahrheit?” Offen bleibt, ob für alle die sieben Fragenden, auf deren “inneres Geheimnis” Reinhild Traitler sich einlässt, der gewaltsame Tod als “Zeichen” unausweichlich war.

Aldo Moro, der vierundfünfzig Tage lang von seinen Entführern gefangengehalten wurde, “vierundfünfzig Tage lang gestorben ist, ein langer Tod”, und der in diesen langen Tagen nur noch um die Rettung seines Lebens kämpfte, bekundete dadurch nicht Schwäche, wie etwa seine Parteigenossen ihm aus ihrer Unversehrtheit heuchlerisch vorhielten, sondern machte gerade so seinen Peinigern klar, stellt Reinhild Traitler fest, dass nichts ihn mit ihrer Welt verbinde. Denn die Spielregeln und Ueberzeugungen, nach denen er  sein Leben gelebt hatte, seine Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit,  seine Autorität und sein Glaube hatten nur Wer – das gab er durch seinen Kampf zu verstehen- wenn das einzelne Leben unendlich wertvoll ist und wenn es nicht zur Erreichung irgendwelcher politischer und anderer Zwecke missbraucht wird.

“Das Ziel ist immer das Leben” folgert Reinhild Traitler. Die Methode, mit der die Autorin die grosse Intimität erreicht, die das ”Du” der Briefe rechtfertigt, die präzise Kenntnis der grossen Ereignisse und der alltäglichen Seelenzustände, entspricht halb der kriminalistisch-historischen  Recherche, halb der verstehenden Einfühlung.  In beidem ist Reinhild Traitler Meisterin.

Im Formalen allerdings wäre grössere Kargheit häufig Gewinn; da wird die Nähe manchmal mit Rhetorik strapaziert, etwa in der Anrede Rosa Luxemburgs als “Liebe Genossin, Rosa, Du starke, Du unbedingte”, oder in der Adresse Aldo Moros als “Signor Presidente, egregio Professore, caro Aldo Moro”,  die das nachfolgende “Du” und “Dein Bild habe ich noch vor mir, den leisen Zug von Melancholie um Deinen Mund” gekünstelt wirken lässt. Aber das sind kleine Mängel, gemessen an der dichterischen Leistung des “anderen Lesens” der sieben Frauen und Männer und an deren Wiederbelebung allein durch die Sprache.

 

 

Reinhild Traitler, Briefe an die Unglücklichen, pendo Verlag,  Zürich 1988, 207 Seiten, gebunden,  26.- Franken

Loader Wird geladen …
EAD-Logo Es dauert zu lange?

Neu laden Dokument neu laden
| Öffnen In neuem Tab öffnen

Download [162.00 B]

Write a Reply or Comment