Soziale Grundrechte – Kriterien der Politik – Ohne soziale Sicherheit keine Freiheit

Vorwort für: Margrit Appel / Markus Blümel (Hrsg.), “Soziale Grundrechte – Kriterien der Politik”, Katholische Sozialakedemie Österreichs, Druck- und Verlagshaus Thaur, Wien und München 1998, ISBN 3-85400-084-7

Soziale Grundrechte – Kriterien der Politik                                                                         

Ohne soziale Sicherheit keine Freiheit

 

Als am 10. Dezember 1948 die „Allgemeine Deklaration der Menschenrechte“ durch die noch junge UNO verkündet wurde, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der systematischen Zerstörung des Menschenbildes, mit den entsetzlichsten Menschenquälereien und -schlächtereien der Geschichte, durch welche das Geflecht des Zusammenlebens gänzlich zerrissen worden war, da erschien als die dringendste Erfordernis die Wiederherstellung des Menschenbildes und des demokratisch geordneten, gesicherten Zusammenlebens der Menschen.

Es ging mit der gleichen Dringlichkeit darum, die unverfügbaren Rechte der menschlichen Person, sowohl als Individuum wie im Zusammenleben mit anderen Menschen, zu deklarieren, um mit universaler Gültigkeit dem während der Jahre des Totalitarismus erlebten Missbrauch der Staatsmacht, umd dem – von Menschen, nicht von anonymen Apparten ausgeübten – Missbrauch der Macht von Institutionen – Gerichten, Polizei, Parteizentralen, Kirchen, Armee etc. – vorzubeugen, einerseits durch die Einklagbarkeit dieser unverfügbaren Rechte, wenn sie verletzt werden, sowie durch die Anklagbarkeit der Täter, andererseits durch die demokratische Kontrolle und Korrigierbarkeit von politischen Entscheiden. Machtwillkür und Machtmissbrauch sind immer gekoppelt mit Menschenverachtung, d.h. mit der Verknüpfung des „gleichen Menschseins“ mit bestimmten Konditionen und deren Erfüllung. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ erklärte jedoch die Inkonditionalität des gleichen Menschsein als ethisch verpflichtende Voraussetzung des gleichen „Rechts, Rechte zu haben“, wie Hannah Arendt dies formulierte, dabei auch des Rechts auf Differenz und auf Anderssein, in der ganzen Pluralität möglicher Differenz.

In der Inkonditionalität des gleichen Menschseins begründet sich die Universalität der Menschenrechtserklärung. Der von gewissen Ländern vor allem aus dem konfuzianischen Kulturbereich, u.a. von China und anderen ostasiatischen Staaten, immer wieder erhobene Einwand, es handle sich dabei um ein westliches „Kulturdiktat“, muss untersucht werden, jedoch ausgehend von der Tatsache, dass die Ächtung von Gewalt gegen Menschen für jedes  totalitäre System politisch unbequem ist, und dass selbst bei einer Unterordnung des Individuums unter die Interessen des kleineres oder grösseres Kollektivs, wie dies in konfuzianischen Systemen üblich ist, Unterdrückung und Diskrimierung von Minderheiten, Verfolgung wegen oppositioneller politischer Ansichten sowie die Zufügung von Leiden unerträglich sind, da alle Menschen, unabhängig von den weltanschaulichen oder politischen Systemen, in denen sie leben, gleiche Grundbedürfnisse haben und Leiden als Leiden empfinden.

Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte

Von der philosophischen Analyse her erscheint mir neben der Universalität die „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte als die bedeutendste Errungenschaft. „Unteilbarkeit“ bedeutet, dass alle in der „Deklaration“ aufgeführten Menschenrechte in einer gleichrangigen Interdependenz Beachtung verlangen. Werden die Menschenrechte in einem Bereich verletzt, sind auch alle anderen Bereiche davon betroffen. Zum Beispiel: Wird das Recht auf Bildung (Art. 26), auf Arbeit (Art. 23) oder auf soziale Sicherheit (Art. 22) verletzt, so sind auch die bürgerlichen und politischen Rechte verletzt, da zum Beispiel die Teilnahme und Mitsprache an politischen Entscheidungen unter Bedingungen der Bildungsschwäche oder des prekärenmateriellen Überlebens nicht möglich ist. Ein anderes Beispiel: Von politischer Verfolgung, Ausgrenzung, in gewissen Ländern sogar von Folter sind oft Menschen betroffen, die sich für die Durchsetzung der sozialen Rechte einsetzen, etwa indem sie sich organisieren.

Jährlich erreichen das Menschenrechtszentrum in Genf  etwa ½ Million Beschwerden  über gravierende Verletzungen, z.B. werden dort jährlich an die 50’000 „Verschwundenen“ registriert. Dieses Ausmass an Menschenrechtsverletzungen bestätigt auch amnesty international. In 110 Staaten dieser Erde werden Gefangene gefoltert, in vielen davon systematisch. Aus etwa der Hälfte dieser Staaten werden auch sog. „extralegale“ Hinrichtungen gemeldet.  Auch in Staaten mit sog. „legalen“ Hinrichtungen, etw in den USA oder in China, geht dem Vollzug der Todesstrafe jahrelange quälende Einzahlhaft oder Schlimmeres voraus. Über 300’000 politische Häftlinge sitzen ohne Anklage im Gefängnis. An die 30 Millionen Menschen sind wegen Krieg, Bürgerkrieg, ethnisch, rassistisch oder religiös motivierter Gewalt als Vertriebene und Flüchtlinge irgendwo unterwegs, werden aus Aufnahmestaaten wieder weitergeschoben, weiterdeportiert, in die Herkunftsländer zurückgeschafft, in denen sie nicht leben können. Dabei muss in Betracht gezogen werden, dass jede politische Verfolgung von schweren sozialen Folgen begleitet ist: Familien werden auseinandergerissen, Frauen und Kinder verlierren jegliche soziale Basis und leben in Angst und Hunger, Verelendung, Analphabetismus, psychische und körperliche Krankheiten nehmen zu etc. Weit über 700 Millionen Menschen sind weltweit erwerbslos und leben in grosser Armut, ein grosser Anteil von ihnen ohne Bildung und ohne Obdach. Hunger, Kindersterblichkeit, Kinderarbeit und Kinderprostitution nehmen weltweit weiterhin zu, die Frauenrechte werden mit Füssen getreten. Gewalt gegen Frauen, Kinder und Ausländer/Ausländerinnen, strukturelle Gewalt gegen sog. körperlich und geistig Behinderte sind scheinbar mit demokratischer Rechtsstaatlichkeit verträglich. Und dies, obwohl in den letzten 50 Jahren weit über 70 Menschenrechtspakte, -übereinkommen und -erklärungen ausformuliert  und von den meisten Staaten der Erde ratifiziert wurden, auch von jenen, in welchen offiziell begangene Menschenrechtsverbrechen zur Tagesordnung gehören. Angesichts dieser Summierung von offiziell begangenem oder geduldeten Terror und Schrecken, müssen wir uns fragen, ob die Menschenrechtsdeklaration von 1948 überhaupt etwas verändert in der Bilanz des Schreckens, den Menschen anderen Menschen antun?

Eben erwähnte ich die über 70 Menschenrechtspakte und –übereinkommen. Sie betreffen spezifische  Bereiche oder Gruppen innerhalb des menschlichen Zusammenlebens. Da ich es als meine Aufgabe ansehe, vor allem dort Kritik zu üben, wo ich als Bürgerin etwas bewirken und verändern kann, wo ich Verantwortung in besonderem Mass mittrage, will ich mich für einige Augenblicke auf die Schweiz konzentrieren. Die Schweiz ist bekannterweise noch immer nicht Mitglied der UNO, und sie ist ebenso wenig Mitglied der EU. Bei mehreren Abstimmungen hat immer wieder eine Mehrheit der Stimmbürger eine Ablehnung des Beitritts durchgesetzt. Die Schweiz hat trotzdem einige der Internationalen Pakte und Konventionen ratifiziert, etwa 1994 das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966, wenngleich mit einer hauchdünnen Mehrheit. Obwohl nun die sog. Antirassismusnorm sowohl in der Verfassung wie im Strafgesetz verankert ist, erfolgt kaum eine offizielle Ahndung rassistischer Delikte. Oder das Übereinkommen über die Rechts des Kindes von 1989 wurde erst im vergangenen Jahr ratifiziert. Andere Pakte, zum Beispiel den sog. „Sozialpakt“ von 1966, hat die Schweiz noch immer nicht ratifiziert.

Trotz der Ratifikation Internationaler Übereinkommen werden offiziellerweise gravierende Verletzungen begangen, und dies, obwohl die Schweiz ein demokratisch geordneter Rechtsstat ist. Ich will ein jüngstes Beispiel erzählen, welches die Konvention über die Rechte des Kindes betrifft: Am 10. Februar dieses Jahres meldete sich ein vierzehnjähriger Bub aus Albanien in der sog. Empfangsstelle Kreuzlingen. Am Tag zuvor war er in die Schweiz eingereist, unbegleitet, allein. Er hiess Xhevair Dura. Insgesamt sieben Tage verbrachte er an diesem stacheldrahtumzäunten, unfreundlichen Ort, der von allen Flüchtlingen, die ich kenne und die mir von ihrem Aufenhalt dort erzählt haben, als Ort der Entmutigung, als ängstigend und einschüchternd geschildert wird. Bei jenen, die in ihrer Heimat in Lagern oder Gefängnissen waren, wurden dort beklemmende Erinnerungen wach. Wie wirkt ein solcher Ort erst auf ein Kind? Während seines Aufenthalts in Kreuzlingen wurde Xhevair einmal von einem Beamten oder einer Beamtin des Bundesamtes für Flüchtlinge (BFF) kurz befragt, vermutlich eher oberflächlich: denn die Befragungen werden nach einem pauschalen Muster vorgenommen.  Am 17. Februar erfolgte die Zuweisung an den Kanton Zürich. Xhevair wurde dem Durchgangszentrum Adliswil an der Peripherie Zürichs zugeteilt, das auf die Betreuung unbegleiteter Jugendlicher spezialisiert ist. Der Knabe wurde in die Sonderklasse des Durchgangszentrums eingeteilt. Er durfte, wie es seinem Alter entspricht, zu lernen beginnen, zusammen mit Gleichaltrigen aus den verschiedensten Herkunftsländern. Vielleicht konnte dies wirklich einen Neuanfang bedeuten? Was sich jedoch als Hoffnung regte, was wie eine Chance aussah, dauerte kaum drei Wochen. Am 6. März teilte ihm das BFF per Post den negativen Asylentscheid mit, mit der Erklärung, Albanien gehöre zu den „save countries“, mit anderen Worten, dort lasse es sich „in Sicherheit und Würde“ leben. Dem Kind wurde eine Frist bis zum 20. März gesetzt, um sog. „freiwillig“ auszureisen. Aber wollte Xhevair das? War das gut für ihn? Hatte er deswegen den Abschied von Zuhause auf sich genommen, seine Eltern und Geschwister, seine Spielkameraden und Freunde, vielleicht seine Tiere, mit denen er gespielt hatte, hatte er deswegen alles zurückgelassen? Hoffte er, es würde vielleicht doch nicht wahr sein? Am 30. März musste er gemäss einer Weisung der Fremdenpolizei das Durchgangszentrum Adliswil verlassen. Er wurde einer begleiteten albanischen Jugendwohngruppe in Zürich, an der Elisabethenstrasse, zugeteilt. Wieder ein Wechsel, wieder eine Entwurzelung. Am 2. April , nachts um zehn Uhr, tauchten an der Elisabethenstrasse drei zivil gekleidete Beamte der Fremdenpolizei auf. Sie verhafteten den Vierzehnjährigen, steckten ihn in irgendeine Zelle, bis er drei Tage später, am 5. April, per Flugzeug nach Tirana ausgeschafft wurde.

Ist ein Unrecht, das im Namen des Gesetzes erfolgt, weniger Unrecht? Offensichtlich wurde hier ein grundlegendes Recht aus der Kinderrechtskonvention, zugleich ein Sozialrecht,  verletzt – das Recht eines Kindes auf einen Vormund, auf Schutz seiner Interessen als Person, das es selbst weder wahrnehmen noch verteidigen kann. Zwar hat die Schweiz, wie ich schon erwähnte, die Sozialcharta nicht ratifiziert, jedoch, u.a., nach der Genfer Flüchtlingskonvention und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Konvention über die Rechte des Kindes. Was Xhevair Dura angetan wurde, in diesem Jahr 1998, ist ein Hohn auf die Kinderrechtskonvention, ist ein Hohn auf die Glaubwürdigkeit jeder rechtsstaatlichen Unterschrift unter ein auf Humanität verpflichtendes Dokument. Auch die Ausweisung von unbegleiteten bosnischen Jugendlichen aus dem Bosnienkrieg oder die Ausweiung von Jugendlichen in Ausbildung, resp. die konditionale Gewährung  eines Abschlusses der Ausbildung nach erfolgter Rückreise der Eltern, oder der alleinerzeiehenden Mutter sowie der jpngeren Geschwister, widerspricht den in der Kinderrechtskonvention eingegangenen Verpflichtungen.

Sozialrechte sind Personenrechte-im-Zusammenleben, resp. Personenrechte, die durch das Zusammenleben in der Pluralität der Differenz bedroht sind und daher garantiert werden müssen. Es geht insbesondere um die Personenrechte der – vom Rechtsstatus her, von der materiellen Sicherheit her oder von der öffentlichen Präsenz her – Schwachen und Diskriminierten, um das Recht auf Gesundheitsschutz, auf Förderung und Bildung, auf Integrität der Person, auf Schutz vor Rechtswillkür und auf gerichtliches Gehör, auf Zusammenleben mit der Familie, auf ein menschenwürdiges Obdach und Auskommen, auf eine Altersvorsorge etc. etc., kurz, um Personenrechte der Kinder, der Frauen, der geistig oder körperlich Kranken, der alten Menschen, der abhängigen, immer von Erwerbslosigkeit bedrohten  Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, der Erwerbslosen, der Migrierenden und Fremden, seien es Asylsuchende oder Flüchtlinge oder Menschen mit einem komfortableren Ausländerstatus. Immer geht es um die Garantie der sozialen Sicherheit, d.h. der personalen Sicherheit im pluralen Zusammenleben, welche letztlich die Garantie der personalen  Freiheit bedeutet. Die personale Freiheit aber darf nie zur Disposition stehen. Unabhängig von Alter und Geschlecht, von Herkunft, sozialer Schicht, Gesundheit oder Krankheit, und unabhängig von den konkreten Bedingungen des Zusammenlebens, muss sie gewahrt, geschützt, verteidigt und bei Verletzung wiederhergestellt werden.

Warum ist dies theoretisch so einleuchtend und gleichzeitig so konfliktuös in der gesellschaftlichen und politischen Praxis? Und warum zeigen sich die Konflikte und Widerstände gerade in der heutigen Zeit so heftig? Mir scheint, dass die Unteilbarkeit der Menschenrechte unter dem Diktat eines skrupellosen  Neo-Neoliberalismus aufs schwerste in Frage gestellt ist. Meine Sorge ist, dass angesichts der zunehmenden Entmachtung der Politik, resp. der Staaten, die über die globalen Finanzmärkte gesteuerte Wirtschaft zur totalitären Bedrohungsmacht werden könnte, durch welche Menschen für wertlos, für unnütz und für überflüssig erklärt werden. Gerade deswegen, wegen der Bedingungen unserer Zeit,  sollte die Sozialcharta zu einem wichtigen politischen Instrument für die Durchsetzung der Grundrechte werden.

Welche Zeitbedingungen?

Wir befinden uns – zwei Jahre vor der Jahrtausendwende – in einer Epoche der grossen gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen und Neudefinitionen, durch welche eine Vielzahl von Spannungen und Ängsten entstehen. Unsere Zeit wird als die Epoche der  Postmoderne und der Posthistoire bezeichnet. Als „Postmoderne“ hat sie vom Begriff her also an der Moderne teil, lässt diese jedoch hinter sich zurück. Sie bedeutet Kritik und Infragestellung der Moderne, zugleich deren Überschreitung. Und als „Posthistoire“ löst sie sich gewissermassen von der Geschichte, betrachtet sich als Zeit jenseits von der Geschichte, zum Teil als deren Verlustkapitel, zum Teil als Neuanfang. Die Bezeichnungen „Postmoderne“ und „Posthistoire“ bezeichnen Standpunkte, die in Bezug auf die eigene Geschichte eine Distanz markieren.

Wenn die Postmoderne als Epoche der grundsätzlichen „Beliebigkeit“ gekennzeichnet wird,  so bedeutet dies, dass der Rekurs auf die  e i n e  Vernunft als verbindliche Instanz geschwunden ist. Dieser wurde abglöst durch eine unbeschränkte Pluralität der Rekursmöglichkeiten, sei es auf die je individuelle Vernunft resp.Freiheit, sei es auf die Natur, sei es auf die Prozesshaftigkeit alles Zeitlichen, sei es auf den materiellen oder immateriellen, eventuell den hedonistischen Eigennutzen resp. Lebenssinn, sei es auf Gemeinsinn, sei es auf die Kehrseite oder Leugnung von Sinn resp. auf die Aporien der Existenz, auf die Eitelkeit und Vergeblichkeit allen Erkennens, Strebens und Handelns, auf das Vorläufige oder gar aud die Absurdität. In der Postmoderne zeigen sich klar die Grenzen der Freiheit, damit aber auch das Diesseits und Jenseits der Grenzen, die Grenzüberschreitungen und deren Folgen: neben dem Wirklichen das Virtuelle, neben dem Sagbaren das Unsagbare, neben dem Gestalten die Dekonstruktion und Auflösung. Die grosse Errungenschaft der Postmoderne scheint mir „die Subversion des Wissens[1] zu sein, wie Michel Foucault es ausdrückt, resp. das Wissen um die Brüchigkeit und Unzulänglichkeit allen Wissens, das Misstrauen gegenüber allumfassenden Rezepten und Heilslehren, überhaupt die Absage an das „Totale“ oder „Ganze“. Daraus ergibt sich die Verteidigung der Differenz, ob es sich um kulturelle, politische oder persönliche Zusammenhänge handle, etwa in der Philosophie oder Kunst hinsichtlich der  Konstitution von festen „Schulen“ und deren Zuordnung, was zur Selbstlegitimation jedes einzelnen Werkes führt, oder in der Politik hinsichtlich der Formulierung und Durchsetzung von „Pan“-Bewegungen (Panslawismus, Pangermanismus etc.), was eine Kontrolle und Zurückbindung totalitärer Bewegungen ermöglicht, oder in der Frage der  Persönlichkeitsentwicklung um die Abwehr fest definierter Identitäten, was sowohl bezüglich der Geschlechterrollen wie bezüglich der religiösen oder politischen Überzeugungen jeden Lernprozess, jede Wandlung und Neudefinition legitimiert. Erst dank dieser Entwicklung konnte zum Beispiel eine breite kollektive Ablehnung von Rassismus, Sexismus und Antisemitismus erreicht werden, die, trotz starker Gegenkräfte, unter anderem in der Schweiz im Jahre 1994 zur Annahme der UNO-Konvention gegen Rassismus und  des damit verbundenen Strafgesetzartikels geführt hat. In sozialer Hinsicht allerdings ging/geht diese Entwicklung einher mit Fragmentierungserscheinungen in allen Bereichen, sowohl in den Arbeitsverhältnissen (Auflösung der Gesamtarbeitsverträge) wie in Paar- und Familienbeziehungen, zugleich aber auch mit neuen Arbeits- und Beziehungsmodellen.

Ich möchte daran erinnern, dass die Moderne einen kulturpolitischen und gesellschaftspolitischen Quantensprung bedeutete. Erst von diesem Moment an konnte Geschichte nicht als Fügung, sondern als „machbar“, d.h. als menschlich gelenkter und zu verantwortender Wandel erkannt werden. Die freiheitlichen Revolutionen und damit die die verfassungsrechtliche, demokratische Entwicklung der politischen Geschichte, von der amerikanischen Revolution mit der „Bill of Rights“ von Virginia von 1776 bis zur französischen mit der „Déclaration des droits de l’homme“ von 1791 bis zu den revolutionären Bewegungen und Verfassungsgebungen in praktisch allen  europäischen Ländern um 1848 herum – all dies waren Manifestationen der Freiheit, kollektive politische Manifestationen, die zugleich vom Freiheitswillen der einzelnen Individuen getragen waren. Und dank mutiger Frauen – Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft, Flora Tristan und andere mehr – wurde gleichzeitig der in der Französischen Revolution und durch die Frühsozialisten von Männern für Männer erklärte Rechtsanspruch auf Freiheitsrechte auch zum Rechtsanspruch der Frauen, damit erst zum Menschenrecht, und ebenso der gleiche Anspruch auf Bildung und Partizipation an der Gesellschaft, zudem jedoch auch auf Schutz vor patriarchaler und wirtschaftlicher Ausbeutung wie auf Teilhabe an Arbeitslosen- und Altersvorsorge.

Auch bei den in der ganzen Welt vor allem von Frauen geforderten und realisierten Verbesserungen im Bereich der Kinderbetreuung und der Berufsbildung von Frauen, bei den  – ebenfalls vor allem von Frauen  getragenen – pazifistischen Bewegungen im Vorfeld des I. Weltkriegs und in der Zwischenkriegszeit, bei der Erarbeitung und Verbreitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, bei den Aufständen in den kolonisierten Ländern Afrikas und Asiens gegen die imperialistischen Mächte, ja bis zu den Aufständen um 1968 herum, die zugleich von der studentischen Jugend, den Arbeitern, den Frauen, den Schwarzen in Amerika, den pazifistischen Bewegungen gegen den Krieg in Algerien, in Vietnam und gegen atomare Aufrüstung unterstützt wurden – bei all dem ging es um das  emanzipatorische Anliegen, dass ein Leben und Zusammenleben gemäss dem Kriterium menschlicher Würde allen Menschen als Recht zusteht, dass Menschenwürde kein Privileg sein darf. Diese Manifestationen der Freiheit und Menschenwürde wurden immer gleichzeitig durch  massive antifreiheitliche, menschenverachtende Bewegungen und totalitäre Herrschaftskonstellationen unterdrückt, dadurch aber zugleich auch weiter entfacht. Denn immer wieder wurde dem Streben nach freiheitlicher, demokratischer und gerechter Verbesserung der Gesellschaft, d.h. nach der gleichen Partizipation aller an den politischen Entscheidungsprozessen und an der Nutzung des kollektiven Mehrwerts entgegengewirkt; immer wieder wurde dieser durch den Rekurs auf Ordnung und auf Kontrolle sowie auf Festigung der Entscheidungs- und Eigentumsvorrechte weniger bedroht und unterdrückt. Diese antifreiheitlichen und damit antihumanitären Entwicklungen fanden ihre Zuspitzung im Terror der totalitären faschistischen, nationalsozialistischen und stalinistischen Regimes dieses Jahrhunderts.

So sehr die Postmoderne mit den oben geschilderten kulturellen, sozialen und politischen Entfaltungsmöglichkeiten und Öffnungen einen Fortschritt an Freiheit schafft, indem sie das Individuum für befähigt erklärt, selbst die Normen des Handelns zu setzen und zu rechtfertigen, schafft sie durch den Verzicht auf allgemein verpflichtende Normen und Werte grosse individuelle und kollektive Verunsicherungen, Überforderungen und Ängste, damit eine Beeinträchtigung der Freiheit. Die Folgen sind vielfältig. Sie zeigen sich u.a. in der Verhärtung politischer Forderungen nach mehr Ordnung, nach schärferen und restriktiveren Gesetzen etwa im Bereich des Ausländer- und Asylrechts (wie sich dies in der Schweiz im Gesetz über Zwangsmassnahmen äusserte oder in der Ablehnung der erleichterten Einbürgerung junger Ausländerinnen und Ausländer), nach nationaler Abschottung statt nach Öffnung (u.a. erkennbar in den negativen Resultaten der EWR- und UNO-Beitrittsabstimmungen, ja in der ganzen Europadiskussion), nach Leistungsbeschränkungen im Sozialbereich und in der Kultur. Diese Ängste zeigen sich aber auch in der Konjunktur fundamentalistischer Sekten und Religionen.

Zu diesen normativen Verunsicherungen gesellen sich enorme Subsistenzängste infolge der technologischen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklungen, die sich auf exponentielle Weise beschleunigen. Unsere Zeit ist auch die der postindustriellen Gesellschaft, die sich durch eine Veränderung der Produktionsbedingungen, -standorte und –arbeitsmöglichkeiten kennzeichnet, deren Konsequenzen noch unabsehbar sind.  Schon heute zeigt sich, dass an den damit verbundenen technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung partizipieren kann, nur derjenige, der in der Beschleunigung der Marktglobalisierung und der technologischen Innovationen durch spezifische Kompetenz und Effizienz Schritt halten kann. Der andere Teil fühlt sich infolge der Rationalisierungen, Fusionierungen und beschleunigten Innovationen zunehmend marginalisiert und für überflüssig erklärt, auf spürbare Weise durch Entlassung, durch Arbeits- und Erwerbslosigkeit, durch materielle Not, durch Sinnverlust oder durch andere Gründe. In den letzten fünf Jahren waren europaweit Hunderttausende von Arbeitsplätzen verloren gegangen. Selbst wenn sich nun eine allmähliche Verbesserung der Erwerbslosenstatistiken zeigt, bleiben immer noch allzu viele im Abseits – Ausgesteuerte, Frauen, Frühpensionierte, Jugendliche ohne Chancen.

Freiheit kann jedoch unter Bedingungen der psychischen und physischen Subsistenznot kaum oder nicht wahrgenommen werden. Da gibt es keine Optionen des Handelns, da gibt es nur Notwendigkeiten. Auch infolge dieser Zeitbedingungen werden politische und kulturelle Angebote, welche Sinngebung und/oder feste Strukturen und Sicherheit versprechen, und sei es durch die Konstruktion von Feindbildern, mit Hilfe derer die angeblichen Verursacher der Existenznot benannt und angegriffen werden können, gesucht und angenommen. Die breite Zustimmung der Massen Arbeitsloser in den dreissiger Jahren zum Nationalsozialismus sowie  zu den Zielen der antisemitischen und generell rassistischen Aufhetzung muss in Erinnerung bleiben. Vergleichbare Propagandaresultate sind auch unter den heutigen Bedingungen denkbar. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit den unsäglichen ethnischen Säuberungen ist ein Beweis dafür. Auf jeden Fall ist festzustellen, dass die Aufteilung unserer Gesellschaft in Effiziente und „Unbrauchbare“, in „marktkonforme“ Menschen und „nicht-konforme“ oder „überzählige“, wie der französische Kulturkritiker Paul Virilio in einem Interview bemerkte, ständig noch zunimmt. Zur zweiten Gruppe gehören neben alten, kranken und/oder ausländischen Frauen und Männern auch viele junge Menschen insbesondere der unteren Bevölkerungsschichten.

Grundbedürfnisse sind nicht beliebig

Überzählig zu sein entspricht keinem Grundbedürfnis. Dagegen ist das Bedürfnis nach Integration, nach einer Aufgabe und einem Platz in der Gesellschaft prioritär. Die Grundbedürfnisse sind allen Menschen eigen, unabhängig von Herkunft und Stand. Sie betreffen das körperliche und das psychische Leben, Körper und Geist jedes Menschen, sowohl als Individuum wie als Glied einer Sozietät.

Simone Weil, eine französische Philosophin, die 1943 im Exil in London starb, entwickelt in ihrem letzten Werk „Enracinement[2] eine eigentliche Theorie der Grundbedürfnisse, die noch heute beachtenswert ist. Noch vor den Grundrechten – nicht zeitlich oder hierarchisch, sondern im Sinn von Voraussetzung – sind die Grundbedürfnisse da sowie die Verpflichtung („obligation“), diese zu befriedigen. In der Befriedigung der Grundbedürfnisse sind alle Menschen aufeinander angewiesen, niemand kann sich hierfür selber genügen. Diese Tatsache schafft jene  wechselseitige Abhängigkeit, deren Anerkennung eigentlich die Voraussetzung für gerechte Verhältnisse des Zusammenlebens schaffen müsste.

Die Begründung der Inkonditionalität der Grundrechte stützt sich letztlich auf die Tatsache der Anerkennung und Stillung der materiellen und immateriellen  Grundbedürfnisse der anderen Menschen ab. Denn das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit und Integration, nach Schönheit und nach Zuwendung ist ebenso prioritär wie dasjenige nach körperlicher Ernährung und nach einem Dach über dem Kopf, und dieses wiederum ebenso unverzichtbar wie jenes nach Freiheit und nach einer zustimmungsfähigen Ordnung.

Bei der Nichterfüllung von Grundbedürfnissen, materiellen ebenso wie immateriellen, sind „Hungerkrankheiten“ die Folge, wie zahlreiche Forscher und Forscherinnen nachgewiesen haben, so u.a. der Basler Psychiater Raymond Battegay[3], Krankheiten der Seele, deren angestrebte Selbstheilung häufig in psychische oder physische „Unersättlichkeiten“ ausartet, die zum Teil auch als Süchte bezeichnet werden können. Drogensucht ist eine davon. Battegay untersucht verschiedene andere Erscheinungen, so etwa Anorexia nervosa, Adipositas, den „Hunger“ nach Fusion bei narzistisch Gestörten,  die unersättliche, destruktive Tendenz zu einer totalen Fusion mit einem Objekt und dessen Zerstörung, Herz-Kreislauferkrankungen bei behindertem Tatenhunger, den emotionalen Hunger bei lebensbedrohenden Krankheiten und weitere mehr.  Auch die „Unersättlichkeit“ der Workaholics ist dazu zu rechnen, oder jene der Konsum-, Kauf- und Sammelsüchtigen, vor allem auch der ungezügelte, masslose Machthunger. Schon Sigmund Freud hatte in seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur[4] auf die nicht-zeitbedingten, existentiellen „Ersatzbefriedigungen“ aufmerksam gemacht (oder der „Hilfskonstruktionen“, wie er Theodor Fontane aus dessen Roman „Effi Briest“ zitiert): „Das Leben, wie es uns auferlegt ist,  ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviele Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (…) Solcher Mittel gibt es dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen. Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgend etwas dieser Art ist unerlässlich“. Und etwas weiter, nachdem er die „ungezählte Male gestellte Frage nach dem Lebenszweck“ aufgenommen hat,  bemerkt er, dass die Menschen gemeinhin einfach nach dem Glück streben, jedoch „man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ‘glücklich’ sei, ist im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten“.  Freuds abschliessende Feststellung im Essay über das „Unbehagen in der Kultur“, die „Schicksalsfrage der Menschenart scheine es zu sein, ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelingen werde, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“, möchte ich im Rekurs auf unsere Zeitbedingungen so modifizieren, dass es mir als entscheidend erscheint, ob und in welchem Mass es dem auf sich selbst zurückgeworfenen Individuum gelingt, seine Autonomie, seine selbstbestimmten Kräfte, letztlich seine Freiheit in den Dienst des besseren Zusammenlebens der vielen zu setzen, oder, in der Sprache der Aufklärung, zum Zweck des Gemeinwohls einzusetzen.

Wichtig erscheint mir zu betonen, dass der Macht- und Markttendenz, welche ungezählte Menschen zu „Überzähligen“ stempelt, nur die Menschen selbst entgegenwirken können, indem sie unbedingt „dazu zählen“, „dazu gehören“, d.h. an der Gesellschaft und ihrer Veränderung partizipieren wollen. Doch dafür bedarf es wiederum institutioneller Sicherungen. Zum Beispiel muss tatsächlich jede Anstrengung unternommen, jeder Druck ausgeübt werden, damit das Schulsystem auf allen Stufen für alle Kinder und Jugendlichen ohne Einschränkungen offensteht. Die Tendenz, welche die Diskriminierung der Kinder aus ärmerer Herkunft anzeigt, muss unbedingt gebremst werden. Auch muss die Rationalität neuer Zeit- und Arbeitsverteilungsmodelle in allen Kreisen, vor allem in jenen der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen, verständlich gemacht und durchgesetzt werden. Es handelt sich um eine kulturpolitische und finanzpolitische Rationalität, da die Ausgrenzung und Unnützerklärung eines Drittels der Bevölkerung hier, der Hälfte der Menschheit weltweit unverantwortbar, unerträglich und letztlich unzahlbar ist. Das verhängnisvolle Phaenomen der Marginalisierung, welches aus der sozialen Überheblichkeit einer selbstbestimmten Mitte resultiert, kann nur durch die Befähigung und Stärkung der politischen Handlungsfähigkeit und gesellschaftlichen Partizipation jedes Individuums, d.h. durch die Stärkung dessen Subjekthaftigkeit und dessen Würde, korrigiert werden.

Der besondere Kampf gegen die Armut

Die UNO hatte das Jahr 1996 zum Internationalen Jahr der Armut  erklärt. Hat sich seither die Armut weltweit verringert? Im Gegenteil. Meine These, dass Armut eine – buchstäblich unerträgliche – Menschenrechtsverletzung ist, da sie die Freiheit und Würde der in Armut lebenden Menschen, resp. die Optionen des Handelns, insbesondere die Möglichkeiten der politischen und kulturellen Partizipation auf diskriminierende Weise einschränkt, gilt nach wie vor.

Armut wurde und wird von der Welt geschaffen, von jedem Land und von jeder Gesellschaft. Ökonomisch gesprochen ist sie das Resultat eines bestimmten Verteilungs- und Investitionsschlüssels des gesellschaftlichen Mehrwerts. Moralisch gesprochen ist sie die Schuld jenes Teils der Welt, der im Überfluss lebt, der diesen Überfluss vergeudet und verschwendet, ob für private oder für militärische und andere nicht-gemeinwohlfördernde öffentliche Zwecke, die Schuld jenes Teils der Welt, der eifersüchtig und schlau sein Eigentum verteidigt und die Augen verschliesst vor jenem anderen Teil der Welt, vor jenen Menschen, “die im Dunkeln leben”, wie Bertold Brecht schrieb, welche die Chancen der Freiheit nur in der Theorie haben, tatsächlich aber weder die Möglichkeit zu lernen und sich Wissen anzueigenen noch so zu arbeiten, dass sie sich und die Ihren ohne Not ernähren können, die keinen Ort haben, wo sie sich wirklich erholen können, keinen Ort, wo es schön ist, die auch keine Aussicht auf echte Erleichterung und nachhaltige Veränderung ihrer Situation oder jener ihrer Kinder haben.

Ich hoffte 1996, dass eine Veränderung – eine nachhaltige Veränderung – erfolge, dass in jenem Jahr eine breite Bewegung entstehe, die das unzumutbare Unglück, die Unerträglichkeit der Armut aufdeckt und zu deren Bekämpfung aufruft – eine Bewegung, wie in den siebziger Jahren Black Power in den USA zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung, oder wie Greenpeace zur Bekämpfung der Zerstörung der Weltressourcen. Armut bedeutet die Zerstörung der Hoffnungsressourcen einer ganzen Menschheit. Noch immer erhoffe ich

(1) ein verstärktes Bewusstsein bei immer mehr Menschen, ja eine wachsende Beunruhigung, dass Armut weltweit der am meisten verdrängte und zugleich der grösste und ständig sich noch vergrössernde  Menschenrechtsskandal ist, eine Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität von insgesamt Milliarden von Menschen. Und ich erhoffe

(2) eine Aktivierung des gemeinsamen Kampfs der Armen sowie der Nicht-Armen und Weniger-Armen für eine Beseitigung der Ursachen und der Folgen der Armut.

Hoffnungen, im Gegensatz zu Träumen, sind Zielsetzungen. Denn analog zur Folter ist Armut eine Verletzung fundamentaler Menschenrechte und ist daher unerträglich. Unerträglich auch, dass in besonderem Mass Frauen und Kinder die Opfer sind.

Wenn ich sage, Armut sei der grosse Menschenrechtsskandal, so begründe ich dies mit der Nichterfüllung wichtiger Grundbedürfnisse. Da diese für alle Menschen gelten, da bei allen die gegenseitige und wechselseitige Anerkennung der je gleichen Bedürftigkeit vorausgesetzt ist, wird der Anspruch auf Erfüllung der Gundbedürfnisse zum Menschenrecht. Und von “universellen” Menschenrechten kann nur die Rede sein, wenn tatsächlich niemand davon ausgeschlossen ist: wenn der Gesellschaftsvertrag, den jede staatliche Verfassung darstellt, die Erfüllung der Grundbedürfnisse garantiert. Nun ist es jedoch so, dass dieser Anspruch noch in keiner Verfassung garantiert ist, sodass die universelle Menschenrechtserklärung Rethorik bleibt. Und der praktische Anspruch scheint nur für Menschen zu gelten, die “im Licht” stehen, die über Mittel, über Geld und Publizität verfügen, damit sie ihre Rechte geltend machen können. Der gleiche Anspruch geht bei den Armen in die Leere. Sie verfügen weder über Publizität noch über andere Druckmittel. Es ist, als seien ihre Stimmen tonlos, obwohl sie einen riesigen Chor darstellen. Sie erfahren Verachtung statt Achtung, abgewendete Blicke statt Aufmerksamkeit, höchstens Fürsorge statt Partizipation. Selbst die Fürsorgeleistungen werden unter neoliberalen Bedingungen zunehmend reduziert und an Effizienzbedingungen geknüpft.

Gewiss, es werden seit einigen Jahren für Frauen und Männer, die in Armut leben, zunehmend Befähigungsprogramme geschaffen, Umlern- und Weiterlernangebote, die aus den Engpässen von Arbeitslosigkeit, Fürsorgeabhängigkeit und Selbstwertverlust herausführen sollen, die Kenntnisse und Selbstvertrauen vermitteln sollen. Arme sollen nicht weiter Almosenempfängerinnen und Almosenempfänger sein, sondern, indem ihnen Hilfe und Anleitung zur Selbsthilfe geboten wird, sollen sie sich selbst die  Möglichkeit schaffen, die einseitige Abhängigkeit zu verändern. Doch es braucht dazu nicht nur diese Programme, es braucht bei den Armen Mut, vor allem aber braucht es Ermutigung durch die Gesellschaft. Diese aber fehlt zumeist. So ist es häufig der Mut der Verzweiflung, der hinter dem Entschluss steht, sich für Kurse und Weiterbildungsprogramme zu melden, da die heutige Arbeitsmarktsituation Menschen, die keine Erfolgszeugnisse vorzeigen können, deren Curriculum nicht Effizienz aufzeigt, sondern von Misserfolgen gezeichnet ist, schon kaum mehr eine Einstiegschance gewährt. Ist es da verwunderlich, dass viele, die sich ein Herz genommen haben, ihre Situation zu verändern, nach kurzer Zeit resignieren?

Wer arm ist, lebt allein unter dem Gesetz zwingender Notwendigkeiten, zwingender “Notdurft”, wie die Philosophin Hannah Arendt die blosse Subsistenzerhaltung nennt. Ein Leben ohne Freiheit ist ein Leben der Unterdrückung. Was aber sind die Folgen eines Lebens in Unterdrückung, in Unfreiheit und in ständigem Leiden? Es sind Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit, es sind tiefe Depressionen, das heisst ein allmähliches Absterben der Lebenskräfte – oder es ist Auflehnung, eventuell sogar aggressive Auflehnung, Auflehnung, die in Gewalt übergeht, wie sie immer wieder in grossen Städten, in New York, in Paris, Marseille, London und anderswo aufflammt, wie sie jedoch immer durch die viel mächtigere Gegengewalt des Staates, durch Polizeigewalt, durch Waffengewalt erstickt wird, ohne dass deren Ursachen verändert würden. Darum aber muss es gehen: um die Veränderung der Ursachen der Armut. Die Folgen der Armut werden sich dann von selbst verändern. Wenn, wenn… Solange mit “wenn” argumentiert wird, geschieht nichts. Daher haben überall in der Welt die Armen begonnen, sich zu wehren, statt länger stumm zu dulden. Sie haben begonnen, für die Erfüllung ihrer Grundbedürfisse und ihrer Rechte zu kämpfen.statt auf eine Veränderung zu warten, die doch nie erfolgt. Im Rahmen von NGOs, z.B. ATD Vierte Welt, üben sie auf die Regierungen Druck aus.

Der Impuls ist nicht neu. Schon vor rund 160 Jahren schrieb der französische Frühsozialist Auguste Blanqui: “Sehen Sie, das ist der Krieg der Armen gegen die Reichen. Allen Besitzenden muss daran liegen, den Ansturm abzuwehren. Dies ist der Krieg zwischen den Reichen und den Armen. Die Reichen haben es so gewollt, denn sie sind die Angreifer. Schlecht finden sie nur, dass sich die Armen zur Wehr setzen.” Der Aufstand, von dem ich Ihnen spreche, ist allerdings kein Krieg, es ist eine Bewegung mit demokratischem Charakter, eine starke Bewegung des Widerstandes gegen Unrecht: eine Menschenrechtsbewegung.

Diese Bewegunge mag zum Teil religiöse Gründungsimpulse gehabt haben, ist jedoch in ihrer Ausrichtung eine säkulare Bewegung. Es ist den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften gewiss nicht abzusprechen, dass sie sich für eine Veränderung der Gründe und Folgen der Armut einsetzen, im Gegenteil. Es gibt an vielen Orten diesbezüglich ein erfreuliches, längst nötiges Umdenken, hatten doch gerade die Kirchen während allzu langer Zeit den Armen die falschen Tugenden gepredigt (etwa Demut in der Annahme von “Gottes Willen”). Ungerechtgkeit, Demütigung, wirtschaftliche und kulturelle Not können nicht “Gottes Wille” sein. Auch dienten die “mitleidvollen Gaben”, wie sie zum Habitus der Kirchen und der Gläubigen gehörten, ja kaum dazu, die Armut zu verändern, sondern eher, die Armen in ihrer Armut, in ihrem “Stand” zu fixieren, resp. die ständische Hierarchie, zu der eben auch die Armut gehörte, aufrechtzuerhalten. Und gleichzeitig dienten sie der Gewissensberuhigung der mitleidvoll Gebenden. Aber die Armen wollen kein Mitleid, sondern ein Ende der Ausgrenzung. Ich sage es nochmals: Sie wollen Gerechtigkeit und volle gesellschaftlliche und politische Partizipation.

Es genügt jedoch nicht, dass die Bekämpfung der Armut Sache der Religionen ist. Es genügt schon lange nicht, es genügt heute, wo Erfindergeist und Technologie es ermöglichen, die meisten Probleme zu lösen, erst recht nicht mehr. Die Verringerung und Überwindung der Armut muss ein vorrängiges politisches Ziel sein. Eine Gesellschaft ist nur so stark wie ihre schwächsten Glieder es sind. Die Erfahrung und politischen Folgen der grossen allgemeinen Armut und Verelendung in den drreissiger Jahren infolge der enormen Inflation und Arbeitslosigkeit müsste genügen, damit nicht länger gezögert wird. Es braucht

(a) dringend neue Arbeitszeitmodelle, damit Arbeit nicht zum seltenen  Privileg von wenigen wird, damit nicht länger eine zunehmende Zahl von Menschen ihre Existenz als wertlos erleben,

(b) neue Partizipationsmodelle dank einer Verstärkung der Bildungs- und Weiterbildungsangebote,

(c) neue Verteilungsmodelle des kollektiven Mehrwerts und

(d) eine Verfassungsgarantie für die Erfüllung der Grundbedürfnisse.

Wir haben genug Fachleute, die in der Lage sind, praktische Umsetzungsmöglichkeiten dieser Modelle zu erarbeiten. Was wir jedoch vorgängig schaffen resp. stärken müssen, ist die Einsicht in die politische Dringlichkeit dieser Aufgabe, sodann den politischen Willen, aus der Einsicht die politischen und sozialen Konsequenzen zu ziehen. Das bedeutet im Klartext, dass diejenigen, die nicht in Armut leben, bereit sein müssen, den Gürtel enger zu schnallen, damit diejenigen, die in Armut leben, weniger eingeengt leben können. Alle diese politischen Forderungen haben jedoch nur eine Chance, verwirklicht zu werden, wenn das Menschenbild enthierarchisiert wird, d.h. wenn die Verschiedenheit der Menschen nicht länger als Wertverschiedenheit gilt, sondern als Varietät des gleichen Menschseins, der gleichen “Menschheit” in jedem einzelnen Menschen, wie Immanuel Kant in der “Kritik der praktischen Vernunft” schreibt.

Die besondere Armut der Frauen

Ich musste – wollte – zuerst die Unerträglichkeit der Armut überhaupt schildern, bevor ich abschliessend auf die besondere Armut von Frauen eingehen. Sie ist auf anschauliche Weise eine Folge des hierarchisierten Menschenbilds, das noch immer dem konventionellen Geschlechterverhältnis in allen Schichten der Gesellschaft zugrundeliegt, dem entsprechend den Frauen ein noch geringerer Wert, ein noch geringeres Recht auf Freiheit zugesprochen wurde – und zum Teil noch immer wird – als selbst den sozial am wenigsten geachteten Männern. “Jeder Proletarier hat noch eine Frau, die ärmer ist als er und die er unterdrücken kann”, schrieb Flora Tristan, die 1844 in Bordeaux gestorbene Frühsozialistin und Frühfeministin.

Eine besondere Armut? Es sind gemäss allen Statistiken und Armutsstudien tatsächlich mehr Frauen als Männer, die unter dem Existenzminimum leben, zugleich aber verwendet der Grossteil der in Armut lebenden Frauen ihre Energie vor allem darauf, die Armut zu verbergen. Im Strassenbild in den grösseren Städten der Schweiz treten sie kaum in Erscheinung, in den Obdachlosenunterkünften sind sie seltener als die Männer, und falls sie dort unterkommen, wirken sie häufig eher wie Pensionärinnen. Auch mit den spärlichsten Mitteln gelingt es vielen,  die sichtbare Verelendung, ja Verwahrlosung aufzuhalten, nicht nur die äussere, die mit der Erscheinung zu tun hat, sondern auch die innere, die mit der sozialen Kompetenz korreliert ist. Da bei Dreivierteln der Scheidungen die Kinder bei der Mutter bleiben, jedoch bei einem ebenso grossen Prozentsatz Frauen und Kinder nach der Scheidung ärmer sind als vor der Scheidung und ärmer als die Männer nach der Scheidung, bedeutet für viele Frauen Scheidung zugleich Armut. Bis zur jüngsten Revision der AHV hatte eine Scheidung vor allem katastrophale Folgen im Alter, vor allem für Frauen ohne eigenes Einkommen. Seit kurzem werden nun Haus- und Erziehungsarbeit als rentenberechtigt gewertet – ein grosser Fortschritt, der nicht gefährdet werden darf. Doch nicht erst im Alter, zumeist schon im aktiven Leben bedeutet Scheidung für viele Frauen, dass sie von diesem Augenblick an auf Sozialhilfe angewiesen sind, auf staatliche Alimentenbevorschussung, auf stundenweise, schlecht bezahlte Arbeit, falls sie überhaupt Arbeit finden. Noch immer ist es in der Schweiz so, dass die Arbeit von Frauen bis zu einem Drittel schlechter bezahlt wird als die Arbeit von Männern – gleichwertige Arbeit -, um welche Arbeit es sich auch handle, um sogenannt “unqualfizierte” oder um “qualifizierte” Arbeit, um Fabrikarbeit oder um intellektuelle Arbeit. Aber Arbeitszeit ist Lebenszeit, d.h. die Geringerwertung der Arbeitszeit von Frauen bedeutet zugleich die Geringerwertung der Lebenszeit von Frauen. Es ist ein offener Skandal, der jedoch von einem Teil der Arbeitgeberseite kaltblütig fortgesetzt wird. Und da die Löhne der Frauen tiefer sind, da sie infolge von Familienrücksichten und aus anderen Gründen häufiger die Stelle wechseln müssen, sind sie auch bei den Arbeitslosenentschädigungen  benachteiligt, da diese ja nach Lohnprozenten und Dauer der Anstellung ausgerechnet werden. Auch die Tatsache der häufigen Konsumkredite führt zu einer weiteren Zunahme der Armut von Frauen, nicht weil diese sich häufiger verschulden würden als Männer, im Gegenteil, sondern weil sie nach Trennungen und Scheidungen auf den Kredit- und Abzahlungsverträgen sitzenbleiben, die sie mitunterschrieben haben, manchmal noch jahrelang, nachdem die Männer sich aus dem Staub gemacht haben.

Gestützt auf die Erfahrungen der Armutsbekämpfung in der Dritten Welt, bei der spürbare Erfolge an der Basis über Frauenbildungs- und Unterstützungsprojekte erzielt werden, sollten auch bei uns die Mittel zur Veränderung der Lebensbedingungen analog eingesetzt werden. Frauenprojekte in Nicaragua, in San Salvador oder in Burkina Faso, von denen ich Kenntnis habe, konnten erreichen, dass Frauen ihre Vereinzelung durchbrechen und sich, zum Beispiel, in Produktions-, Verkaufs- oder Weiterbildungskollektiven zusammenschliessen. Es ist nötig, dass Frauen sich in stärkerem Mass miteinander und untereinander solidarisieren, aus welcher sozialen Schicht, aus welchem Land sie auch kommen, Einheimische und Ausländerinnen.

Ich komme zum Schluss: Die Veränderung der Armuts- und Unrechtsbedingungen auf demokratischem Weg ist keine Utopie. Durch die Ratifikation der Sozialcharta und die verfassungsmässige Verpflichtung, Gesetze zu deren Umsetzung zu schaffen, könnte daraus ein reales Hoffnungsprojekt werden.  Die Frauen sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung, und da in der anderen Hälfte auch ein Teil der Männer die grossen sozialen und kulturellen Diskriminierungen als unerträglich empfindet, könnten neue Arbeitszeitmodelle, fortschrittliche Sozialversicherungen, Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, könnten in sozialer und kultureller Hinsicht ganze Strukturveränderungen auf politischem Weg erreicht werden. Nicht nur die Armut, auch die Bekämpfung der Armut ist eine Frage der Verteilung  – der Umverteilung – des kollektiven Mehrwerts. Dass zusätzliche Quellen für die Erfüllung der wachsenden Aufgaben gefunden werden müssen – sei dies zum Beispiel über die Besteuerung der Spekulationsgewinne oder des Verbrauchs der nicht-erneuerbaren Energien – muss ernsthaft mitberücksichtigt werden. Meine Vorstellung und Forderung ist, dass in allen Ländern zu diesem Zweck aus allen Schichten der Bevölkerung, mithin unter Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der aktiven Anti-Armutsbewegungen, innovative “brain pools” geschaffen werden, welche die verschiedenen kurz- und längerfristigen Massnahmen zur Armutsbekämpfung untersuchen und ausformulieren, nicht zuletzt die Errichtung einer konjunkturunabhängigen Existenzsicherung, d.h. eines gesicherten Grundeinkommens für alle Menschen, die in einem Land zusammenleben. Zusätzlich müssen, parallel zur Globalisierung des Marktes, Massnahmen zur Globalisierung von Kriterien der Lebensqualität durchgesetzt werden, auf nationaler wie auf transnationaler Ebene, damit auch die Phänomene der Migration – zumeist Folgen von unerträglicher Armut – berücksichtigt werden.

Vergessen wir nicht: ohne soziale Sicherheit geht die Freiheit zugrunde. Das Grundbedürfnis nach personalem Respekt ist bei allen Menschen, schon bei allen Kindern, unteilbar verbunden mit dem Bedürfnis nach einem Leben ohne Not, ohne Ausgrenzung und ohne Verlassenheit, nach einem Leben des aktiven Dazugehörens, der Mitsprache und der freien Mitgestaltung des Zusammenlebens. Wenn der Begriff der Menschenwürde, des Grundrechts auf Würde, Sinn macht, dann setzt dies voraus, dass die wichtigsten Grundbedürfnisse als die allen Menschen gleichen anerkannt – und durch diese Anerkennung als Menschenrechte nicht nur eingefordert, sondern auch erfüllt werden.

Zürich, im Spätherbst 1998

 

[1] Michel Foucault. Von der Subversion des Wissens. Hrg und aus dem Französischen und Italienischen übersetzt von Walter Seitter, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1987.

[2] Simone Weil. Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Hrg. von Albert Camus. Editions Gallimard, Paris 1948.

[3] Raymond Battegay. Hungerkrankheiten. Unersättlichkeit als krankhaftes Phaenomen. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1992 (Erstausgabe Verlag Hans Huber, Bern 1982).

[4] Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur (1929/30). Studienausgabe Bd.9, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

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