Selbstbestimmung als Widerstand: Philosophische Positionen zur drohenden Genokratie

Selbstbestimmung als Widerstand: Philosophische Positionen zur drohenden Genokratie

Tagung der NOGERETE vom 24.September 1988 in Basel

 

Gen- und Reproduktionstechnologie haben heute die politische Brisanz  der Kernspaltungstechnologien erreicht. Beide naturwissenschaftlichen Entwicklungen sprengen die Grenzen, die dem  Tun des homo faber und den Folgen seines Tuns während Jahrtausenden gesetzt waren, die zeitlichen und die räumlichen Grenzen: Die zerstörerischen Folgen der mit der Kernspaltung freigesetzten Energien und deren Verwendung zur Herstellung und zum Einsatz von Atomwaffen sind ubiquitär; nicht nur weite Teile der Welt, sondern auch lange Generationenreihen sind von Verwüstung, von unvorstellbarem Leiden und von Vernichtung  bedroht oder schon betroffen.

Analog verhält es sich mit der Gen- und Reproduktionstechnologie. Das Stadium der wissenschaftlichen Spekulation ist längst überschritten. Die Möglichkeit der Isolierung und der programmatischen Veränderung der genetischen Informationsträger von Lebewesen ist Tatsache, ebenso die Kontrolle weiblicher Fruchtbarkeit, respektive Unfruchtbarkeit, und  damit die Gewalt über Mass und Art der Fortpflanzung. In-vitro-Fertilisation, extrakorporale Aufzucht und Manipulation von Embryonen, deren Implantation in die Mutter oder in natürliche und vielleicht bald schon in künstliche Leihmütter ist weltweite Praxis.

Die Perspektive der kontrollierten Produktion und Züchtung von Leben, die Menschenfabrikation nach eugenischen Gesichtspunkten rückt in nächste Nähe. Heute schon gibt es Gen-Farmen  in Texas, die, an der Börse hoch kotiert, in der Lage sind, grosse Säuger zu klonen, zum Beispiel 30 identische Rinder oder mehr herzustellen. (Die Erinnerung an die totalitären Massnahmen zur Verwirklichung rassentheoretischer Zielsetzungen in Nazideutschland drängen sich auf, Zwangssterilisationen, Massenvernichtung nicht-arischer und geisteskranker Menschen, gleichzeitig Zwangsproduktion arischer “Kinder für den Führer”. Der Vergleich hinkt nur insofern, als heute nicht in totalitären, sondern in demokratischen Staaten, nicht unter Zwangsvollstreckung, sondern auf dem Boden der Freiwilligkeit Frauen  zu entsprechenden Experimenten Beihilfe leisten).

Die Frage, wie die Philosophie, insbesondere wie Philosophinnen sich zur drohenden Genokratie verhalten,  muss eigentlich nicht gestellt werden.  Es  g i b t   keine andere Möglichkeit als die der kritischen Aufklärung über die fortgesetzte Logik der Zerstörung menschlicher Würde und personaler Integrität  im sogenannten Fortschritt und über die unaufschiebbare Aufgabe, dagegen Widerstand zu leisten. Vorweg als Aufgabe der Ethik gilt, das menschliche Urteilen und Handeln,  das sich in freier Abwägung und Wahl nach Massgabe bestimmter Regeln und Normen zu einem bestimmten Zweck vollzieht, zu überprüfen und in Frage zu stellen, das heisst die Handlungsmoralen  auf ihre  Zulässigkeit und auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordneten  Werten hin zu prüfen.

Gemeinhin gilt als Zweck allen moralischen Handelns das “gute Leben”. Aus dem Streben nach dem “guten Leben” legitimiert sich der Fortschritt. “Fortschritt” jedoch ist, je nach dem normativen Zusammenhang, etwas sehr Verschiedenes: etwa die Maximierung des eigenen materiellen Vorteils oder des Vorteils einer bestimmten Klasse oder Rasse; oder das individuelle “Glück”, das vor allem in der Erfüllung wesentlicher Wünsche und Bedürfnisse oder in der Realisierung zentraler Vorstellungen beruht, oder die Befreiung aus Unterwerfungs- und Herrschaftsstrukturen zu grösserer Freiheit und Selbstbestimmung, oder, im Gegenteil, die Zustimmung zu Herrschaftsstrukturen, welche Befreiung verunmöglichen, dafür aber Sicherheit und Ordnung gewährleisten. Je nachdem, ob die ethische Reflexion Zustimmung zu  gesellschaftlichen Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen miteinschliesst, oder ob sie diese kritisch analysiert und sich gegen sie ausspricht, lässt sich, nach einer Einteilung, die Ina Praetorius geprägt hat, von “Hofethik”  oder von “Widerstandsethik” sprechen.

Nach dieser Einteilung betreiben Frauen seit Jahrhunderten Widerstandsethik, immer dann, wenn es um die kritische Reflexion, um Ablehnung und Veränderung von Normen und Strukturen geht, die sich gegen ihr Wohlbefinden, gegen ihr Rechtsempfinden und gegen ihr Selbstwertgefühl als Menschen richten, ob in der Frauenfrage selbst, in der Arbeiterfrage, in der Frage der Rassendiskriminierung, des kriegerischen Militarismus oder in der Frage des Missbrauchs von Kindern zu irgendeinem Zweck.

Widerstand macht in der Erkenntnistheorie  und  in der Entwicklungspsychologie eine der ersten und zuverlässigsten Realitätserfahrungen aus: die Erfahrung von Abgrenzung zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Ich und Ding. Diese kognitive Erfahrung ist mit Schmerz verbunden: Das kleine Kind weiss um die Materialität der Gegenstände, die es eingrenzen, weil es und indem es daran stösst. Im Schmerz weiss es um sich selbst und um dasjenige, das ihm entgegensteht und woran es stösst.

Der Schmerz, der durch die Erfahrung des Widerstandes zur Selbsterfahrung führt, ist allerdings nicht die einzige frühe Selbsterfahrung. Ebenso wichtig ist die Erfahrung des Wohlbefindens, die von der Erfüllung der Bedürfnisse abhängt, von der Stillung des vielfältigen Hungers nach Nahrung, Wärme und Zärtlichkeit, letztlich von der liebevollen Anerkennung  des autonomen Personseins. Diese beiden primären Formen der Selbsterfahrung machen zwei wesentliche Existenzbedingungen deutlich,  Abgrenzung und Abhängigkeit, noch nicht aber die dritte, welche als Potentialität wichtigstes Privileg der Existenz ist: die Kraft der Selbstbestimmung, das heisst die Freiheit.

Sie äussert sich zuerst als Zustimmung oder als Ablehnung gegenüber fremden Vorstellungen von uns und fremden Bestimmungen über uns. Die ersten Erfahrungen des aktiven Widerstandes im Nein zur Heteronomie, im Trotz, spielen für den Subjektbildungsprozess die grösste Rolle. Doch wir wissen aus der traditionellen Kindererziehung, speziell aus der Mädchenerziehung, dass Erziehungsmethoden vor allem darin bestehen, noch immer, den Trotz zu brechen, das heisst Gehorsamsverweigerung so lange und so stark zu ahnden, bis sie Willfährigkeit und Unterordnung weicht.

Wenn wir heute Widerstandsethik thematisieren,  so können wir nicht umhin, unser Verhalten Kindern gegenüber, unsere Erziehungspraxis nach den Normen und Grundsätzen zu befragen, die wir dabei anwenden. Die Verteidigung unserer eigenen Autonomie muss einhergehen mit dem Respek vor fremder Autonomie, auch vor der der Kinder, vorausgesetzt es handle sich um die begründete selbständige Wahl von Handlungsentwürfen und nicht um Willkür. Ob es das eine oder das andere sei, ergibt sich zumeist durch Ueberprüfung der Werte, um die es geht. Selbstbestimmung ist ein ständiger Prozess, unabschliefar, solange das Leben währt. Das Nachdenken über den Realitätsgewinn durch Widerstand ist heute aus zwei Gründen besonders angezeigt: Erstens weil im Zug postmoderner Aesthetisierung der Welt die normative Bedeutung des Subjektseins, das heisst die Verantwortlichkeit im Urteilen und Handeln und die Verteidigung der eigenen Würde immer stärker entwertet werden. Der Trend zur Aesthetisierung belegt auch die Wissenschaft mit dem Schein der Zweckfreiheit und entzieht sie damit der ethischen Analyse. Zweitens weil die ethische Indifferenz, die dadurch geschaffen wird, gleichzeitig ein Sinndefizit entstehen lässt, welches ideologisch missbraucht werden kann und missbraucht wird, auf verhängnisvolle Weise,  gerade auch durch die Gen- und Reproduktionstechnologie. Frauen wird suggeriert, diese Technologien stellten sich in ihren Dienst, das heisst in den Dienst eines “besseren”, eines “guten” Lebens, sie dienten somit der Realisierung moralischer Vorstellungen,  die einerseits die Zeugung und Geburt gesunder Kinder, andererseits die Erfüllung des legitimen Kinderwunsches auch bei Unfruchtbarkeit zum Inhalt hätten, nur dies und sonst nichts.  Abertausende von Frauen  fliegen auf diese als Sinnangebot und Therapie verbrämte ideologische Manipulation ihrer selbst  zu Forschungszwecken herein, wie etwa Gena Corea in ihrem Buch “Mutter-Maschine” nachweist  oder wie stichprobenmässig die Befragung durch “d Fraueziitig” in der Zürcher Innenstadt ergibt, wie  letztlich die etwa 4000 allein in der Schweiz lebenden, retortengezeugten Kinder beweisen.

Auch auf meinen Artikel  über “Männerspiele mit Gebärmutter ”  im Tages-Anzeiger “Magazin” erhielt ich erzürnte und verletzte Briefe von Frauen, welche sich über die Retortenbefruchtung die Erfüllung ihres Kinderwunsches und damit ihr Glück erhoffen. Was habe ich ihnen geantwortet? Dass ich keineswegs den Kinderwunsch verurteile, sondern dessen Instrumentalisierung zu machtbestimmten Forschungsinteressen.

Um zwischen ideologischem Missbrauch von Moralen und – auch feministisch – vertretbarer Moral unterscheiden zu können, braucht es ein zuverlässiges Kriterium, einen Prüfstein der Wahrheit. Der Prüfstein der Wahrheit sind immer die Opfer. Die Opfer aber sind erkennbar am Verlust ihrer menschlichen Würde, am Verlust des Subjektseins. Was seit Kants kategorischer Formulierung, dass der Wert des Subjekts in ihm selbst bestehe, dass es daher ganz und gar unzulässig sei, einen Menschen als Mittel zu benützen, zu welchem Zweck auch immer, was seither mit diesem kategorischen Imperativ menschlicher Würde Inhalt der revolutionären Forderungen der Arbeiterschaft (gegen Ausbeutung) und der Frauen (gegen Rechtlosigkeit und Patriarchat) war (obwohl Kant dabei gerade nicht an die Frauen und nicht an die Arbeiter, sondern an den bürgerlichen, männlichen Menschen “an sich” dachte) dieser Inhalt muss heute von neuem aktiviert werden, als  politisches Postulat.

Dieses Postulat richtet sich an zwei Adressaten:

Es richtet sich an den Gesetzgeber, die Würde des einzelnen Menschen als oberstes Rechtsgut zu deklarieren, und zu dessen Wahrung und Schutz die Weiterentwicklung der Gen- und Reproduktionstechnologie nach Kriterien der Widerstandethik zu kontrollieren, respektive zu stoppen. Und es richtet sich an die Frauen, die politische, das heisst die gesamtgesellschaftliche Bedeutung ihrer privaten Entscheide im ganzen Zusammenhang der Gen- und Reproduktionstechnologie ernstzunehmen. Es gibt in diesem Gebiet keine  n u r   privaten Entscheide, keinen Rückzug aus der politischen Verantwortung auf die rein individuelle Bedürfnisbefriedigung. Die Entfaltung weiblicher Existenz muss wieder unabhängig von der Fähigkeit, Kinder zu gebären, verstanden und angestrebt werden, als Chance und Aufgabe des Menschseins . Genau dies aber war bis in die jüngste Zeit den Frauen aus patriarchalen Herrschaftsinteressen verwehrt, und aus denselben Gründen war ihnen  der Zutritt zur Oeffentlichkeit, die politische Mitbestimmung, verwehrt.  Nun ist beides, wofür die Existenzphilosphie  sich engagiert und wofür die Frauenbewegung gekämpft hat, unter dem Einfluss einer massiven reaktionären Propaganda wieder gefährdet.

Mir scheint, dass ein radikaler Boykott nottut, ein Boykott jeglicher Zusammenarbeit der Frauen in gen- und reproduktionstechnologischen Projekten. Die heute schon vorliegenden Resultate  im Gebiet der Pflanzen- und Tierzüchtung  sollten genügen, um über die Bedeutung schwangerschaftsdiagnostischer und unfruchtbarkeitstherapeutischer Angebote die Augen  zu öffnen. Der Boykott muss weit vor der Zustimmung zu Eingriffen stattfinden: nämlich bei der Suggestion von Vorstellungen des um jeden Preis Machbaren.  Da wir uns daran gewöhnt haben, dass letztlich alles, was vorstellbar auch machbar ist, schon müssen wir die Vorstellungskraft und ihre Produkte, die Wünsche und Sehnsüchte, der ethischen Fragestellung unterziehen. Eine Kritik der Vorstellungskraft, eine “aufgeklärte”  Vorstellungskraft ist als Voraussetzung tatsächlicher Selbstbestimmung unabdingbar. Nur so kann der Widerstand  da wirksam werden, wo er zuerst nottut, bei der Propaganda. Denn über den Widerstand hinaus soll Selbstbestimmung für jede Frau  unabschliessbare Aufgabe und Chance sein, weitest mögliche Entfaltung im individuellen und beziehungsmässigen, im sozialen und politischen Menschsein, unabhängig von Herrschafts- und Unterwerfungsstrukturen.  Echter Fortschritt bestände darin, wenn Frauen  und  Männer die Verantowrtung für die fragil gewordene Zukunft in diesem Sinn teilen könnten.

 

 

Kurzbiographie:

Geboren 1940, Schulen und Studium  im In- und Ausland, Dr.phil. (Politische Philosophie), Redaktorin am “Tages-Anzeiger” ( ab November 1988 am “Magazin”), Lehraufträge an der Uni Zürich (Philosophie) und Bern (Medienwissenschaften)

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