Arnold Gehlen – Ueber kulturelle Kristallisation (1961)

Arnold Gehlen – Ueber kulturelle Kristallisation, 1961

Aus: Studien zur Anthropologie und Soziologie, Luchterhand Verlag ,  1963

Referentin: Maja Wicki

 

Aufbau des Referats:

I    Bemerkungen zum Anlass, zur Form und zum Aufbau des Essais

II   Darstellung der Gehlen’schen Thesen

1. Ablösung der herkömmlichen Kultur durch Industrialisierung und Weltkriege

  1. Geisteswissenschaften stellen keine “Schlüssel­attitüden” mehr her
  1. Einzelwissenschaften erfahren Institutionali­sierung dank Praktikabilität
  1. “Kulturelle Kristallisation”
  2. Fixierung der Welthälften in Ost und West
  3. “Posthistoire”
  4. Als konkrete Aufgaben verblefben Hochschul­reform und Entwicklungshilfe

III Exkurs zum Begriff der Ideologie

 

I Bemerkungen zum Anlass, zur Form und zum Aufbau des Essais

Im Februar 1961 leistete der damals 57­jährige Gehlen einer Einladung Folge,  im Rahmen der “Geistigen Begegnungen in der Böttcherstrasse” einen Vortrag zu halten,  eine Einladung, die er als “ehrend”*) empfand und für die er sich bedankte, pflege er doch”Ueberlegungen erst in freier Rede zu überprüfen”, ehe er sie drucken liess. Mit dem Druck seiner Gedanken über “kulturelle Kristalli­sation” wartete er jedoch nicht lange:  sie er­ schienen noch im gleichen Jahr im Angelsachsen­ Verlag Bremen.

Der Autor fasst in diesem Essai Gedanken zusammen, die er in zahlreichen früheren Schriften entwickelt hat und zu denen er sich, mit geringfügigen Aenderun­ gen infolge eines zunehmenden Kulturpessimismus, auch später bekennen sollte.

Auffallend ist der für Gehlens essayistische Werke ungewöhnliche Ernst, mit dem er ­ in literarisch ausgefeiltem,  elegantem Stil, jedoch mit apodikti­schem Unterton ­ seine Gedanken formuliert; ferner der lockere,  zum Teil unübersichtliche Aufbau,  in dem thematische Wiederholungen häufig sind und der wohl dem ursprünglich rethorischen Entwurf zuzu­schreiben ist.

Inhaltlich bietet der Essai eine Auseinandersetzung mit der abendländischen Kultur und ihrer geistigen Tradition in der Herausforderung von Aktualität (damaliger Aktualität) und kommenden Zeit (die zum Teil heutige Aktualität ist). Nach dem Muster seiner Definition von”Schlüsselattitüde” versucht Gehlen Antwort zu geben auf die Fragen: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?

Im Zentrum seiner Auseinandersetzung steht der Begriff der Ideologie im Spannungsfeld von Wahrheit und Weltanschauung.  (Wir werden in einem kurzen Exkurs am Schluss des Referats darauf ein­ gehen.)

Gehlens Philosophie lehnt sich vor allem an Max und Alfred Weber,  sowie an Vilfredo Pareto an, zeitweise und eingeschränktermassen auch an Oswald Spengler. Die Kritik am deutschen Idealis­mus stellt auf implizite und zum Teil explizite Weise den “essor” dar, aus dem auch dieses Werk entstand.

Aus dem Zusammenhang des Textes lassen sich 7   Thesen herausschälen,  die ich im folgenden darstellen werde.

 

II Darstellung der Gehlen’schen Thesen

  1. Die Menschheit hat in ihrer Entwicklung eine Schwelle überschritten: seit etwa hundert bis zweihundert Jahren befindet sie sich in einem Prozess der Abl6sung von der traditionellen Kultur. Dieser Prozess wurde eingeleitet durch die Industrialisierung und beschleunigt durch die beiden Weltkriege.

Gehlen stellt fest,  dass sich die Amerikaner und Europäer seit mehr als hundert Jahren eine noch nie dagewesene Wirklichkeit aufgebaut haben.  “Sie haben die technischen und industriellen Erfindungen in einen grossen Zusammenhang gebracht,  ihn wie eine zweite Erde als Bedingung ihres Weiterlebens betreten und sich in einer neuen Umwelt eingerichtet,  die an Gewaltsamkeit und Künstlichkeit alle Vergleich­barkeiten hinter sich lässt.”

Eine neue Umwelt ist entstanden,  eine neue Epoche hat begonnen durch die Erschliessung der ungeheuren Kraftreserven unter dem Boden und durch die Synthese von Wissenschaft,  Technik und Produktion,  eine neue Kultur bildet sich aus und verbreitet sich unauf­ haltsam rund um den Erdball (cf.auch “Technik in der Sichtweise der Anthropologie”, 1953,  in: Anthropolo­gische Forschung, S.99).

Dieser Prozess der Industrialisierung ist in Ansehung seiner objektiven und subjektiven Folgen ein geschichtli­cher Einschnitt ersten Ranges (cf.auch “Die gesell­schaftliche Situation in unserer Zeit”,1961, in: Anthropologische Forschung iS.128/29), den Gehlen bedeutungsmässig der Entstehung der menschlichen Kultur im Neolithicum gleichsetzt,  eine Erkenntnis, für die er schon 1949 die Formel von den zwei “absoluten Kulturschwellen” gefunden hatte (cf. auch die Theorien von Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie,  1935 und A.Varagnac, De la préhistoire au monde moderne, 1954,  beides Werke, auf die sich der Autor bezieht).

Die Industrialisierung selbst und die durch sie bewirkten strukturellen Veränderungen besitzen eine physische und geistige Ueberzeugungskraft, die sich als unwiderstehlich erweist C( – man könnte mit einem Gehlen’schen Begriff vom “Zustimmungs­zwang” der Technik sprechen).  Sie prägt sich am entschiedensten und “konfliktärmsten” dort aus, wo nie eine Hochkultur alten Stils vorhanden war, nämlich in Nordamerika und Russland (cf. auch “Die gesellschaftli­che Situation in unserer Zeit”, 1961, a.e.o. S.129). In Deutschland als “einer der geistig regsten Nationen dieser Erde” war dieser generationenlange Vorgang in den Einzelheiten überaus schmerzlich.  “Wir haben gleichzeitig die neuen Maschinen und Sitten erfunden, unter ihnen gelitten und ihre Früchte geerntet, haben sie beobachtet und ihre Folgen registriert.”

Um einen Eindruck von den weitgreifenden Zusammenhängen und Auswirkungen zu geben,  erwähnt Gehlen beispiel­halber das Jahr 1867, als gleichzeitig der Verbrennungs­motor von Otto erfunden wurde, das “Kapital” von Marx erschien und Bismarck im Norddeutschen Bund das allgemeine Wahlrecht einführte.

Max Weber hatte schon 1908 vorausgesagt (cf. Denkschrift betr. Erhebungen über Anpassung und Auslese der Arbeiterschaft der geschlossenen Grossindustrie) und Gehlen zitiert dessen Prognose nicht nur hier, sondern auch an anderer Stelle­,  dass dieser gewaltige Prozess das äussere und innere Gesicht der Menschheit bis zur Unkenntlichkeit verändern werde und schon verändert habe.

Dieser Prozess war begleitet,  oder, wie der Autor an anderer Stelle formuliert, beschleunigt durch Katastrophen in entsprechenden Dimensionen,  durch globale Erlebnisse der Destruktion.  “Es ist Tatsache”,  stellt Gehlen fest, “dass der erste vier­-jährige technisierte Krieg sogleich das erste Gesamterlebnis der Menschheit mit sich gebracht hat, ein Erlebnis, das tatsächlich um die Erde herumgriff”. An anderer Stelle  (cf.”Die gesellschaftliche Situa­tion in unserer Zeit”, a. e. O. S. 128) führt er aus, dass durch dieses Erlebnis die Menschheit über ihr Zerstörungspotential belehrt wurde, dass im Ersten Weltkrieg die Kultur der frühern Zeiten doch im Grunde liquidiert wurde, im Zweiten Weltkrieg die Zukunft aber noch nicht deutlich gemacht wurde. In einem Essai zehn Jahre später (cf.”Ende der Geschichte”, 1972/73,  in: Einblicke S.113 ff) erinnert er daran,  dass in den zwei Weltkriegen “die Selbstsicherheit und historische Garantie, Europäer zu sein”,   zerrissen wurde.

Aus dieser Bestandesaufnahme heraus entwickelt Gehlen die zweite These:

  1. Die Geisteswissenschaften befinden sich in einer Krise der Selbstbegründung. Sie vermögen keine “Schlüsselattitüden” mehr zu erstellen. Nur Ideen,  die eine institutionelle Verfestigung erfahren, überleben,  z.B. das religiöse Gedan­kengut in Form der Kirche, der Marxismus in Form institutionalisierter Staatsphilosophie.

Die schnelle Umsetzung von Erkenntnissen in Wissen­schaft und Praxis, in schlagkräftige Formulierung von Programmen und politischen Richtungen hat, führt Gehlen aus, über “erbitterte Gegnerschaften” hinweg zu einem “ungeheuren Durcheinander” geführt,  in dem man oft glaubt,  “zu keiner Orientierung mehr kommen zu können”. Die “Kulturkritik” stellt nur einen Teil solcher Auseinandersetzungen dar. Gehlen nennt Scheler, Musil, Benn,  Thomas Mann, die als “Nicht­Ueberzeugte” das Unbehagen,  die Ratlosigkeit und das Leiden,  die durch die Summe der Erfahrungen bewirkte “affektive Entformung” in Argumenten und vernünftig auszusprechen versuchten. Unter dem Eindruck des “vollständigen und nihilisti­schen Chaos” liessen sich aber doch schon “gewisse Stabilisierungen” andeuten,  “etwas von dem, was ich “Kristallisation” nenne”, sagt Gehlen,  indem vielleicht schon versucht werde, die Zustände beschreibend zu umschreiten.

Diese Versuche äussern sich in zwei Haltungen (Attitüden),  die sich oft überdecken:

  1. a) in der Absage an den Fortschritt, in Blindheit gegenüber Technik und Industrie, wie sie z.B. aus den Schriften Nietzsches spricht, und
  2. b) in einem festen Glauben an die Popularisierbarkeit von Wissenschaften, der damit, in missionarischem Anspruch, eine Neuroganisation der Gesellschaft anstrebt.

In diesem Bestreben entstand jenes Phaenornen,  das Gehlen als geschichtlich vergangen und nicht wieder herstellbar beschreiben will: die “grosse Schlüssel­attitüde”.

Was meint Gehlen mit dem Begriff?

Er umschreibt ihn selbst als ein “Unternehmen, das aus einer Gesamtschau heraus eine Weltinterpretation und darin eine einleuchtende Handlungsanweisung geben möchte!”,  das Antwort geben konnte auf  die drei – eigentlich kantischenFragen: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?.

“Schlüsselattitüde” bedeutet also Erklärung und Programm mit dem Anspruch der Universalität. Gehlen selbst meint,  es handle sich bei diesen Systemen um eine “Verweltlichung der ursprünglich christlichen Kombination von Weltentwurf und Hand­lungsanweisung”·  In der christlichen Religion sieht er weltgeschichtlich auch die erste Verwirklichung einer “Schlüsselattitüde”, um dann einen seltsam weiten Bogen zu spannen bis zur Philosophie Nietzsches, in dessen Entwurf er ein gegenchristliches Bekehrungs­ pathos erblickt,  zu Darwin, dessen Zoologie als Entwicklungsgeschichte des Menschen konzipiert war, zu Freud, dessen Psychoanalyse er ebenfalls als atheistische Ersatzreligion deutet und dessen Andeu­ tungen von sozialistischen Gedanken ihn dem einfluss­ reichsten aller Systeme nahebrachten,  demjenigen von Marx, das umso wirkungsvoller war, als dieser eine “Organisation der Solidarität der Benachteiligten” betrieb.

Jedes der drei genannten Beispiele stellt für Gehlen eine “Schlüsselattitüde” dar, eine geistige Haltung, die er historisch als vergangen betrachtet, die nicht mehr wiederkehren kann. Was bleibt sind

a) eine Art leeres Modell davon in den Menschen,

b) die Religion und ihre Stabilisierung in der kirch­ lichen Organisation, wobei ihre Autorität in foro interno erhalten werden konnte dank der Tatsache, dass sie ihr Wirken auf das Menschliche beschränkt und von der Aussenwelt absieht,  d.h. nach Gehlen, dass sie sich sozialisiert;  ferner

c) der Marxismus, der sich als Theorie deswegen halten konnte, “weil die erfolgreiche politische Durchsetzung in einem Weltreich ihn institutionalisiert hat”, eine Tatsache, die Gehlen als Beweis erachtet für einen seiner kulturphilosophischen Kerngedanken, dass Ideen überhaupt nur überleben, wenn sie als Institutionen verkörpert werden.  (In diesem Zusammen­ hang bietet der Aufsatz “Mensch und Institutionen”, 1960,  in: Anthropologische Forschung,  S.69ff eine interessante Parallele. Gehlen vergleicht darin die sozialistischen Systeme von Fourier und Proudhon, die heute nur noch historisch interessant sind, mit dem Marxismus und führt aus, dass “Ideen allein aus sich heraus wenig Chancen haben” ­ im Gegensatz zur Hegelschen These von der Selbstbewegung der Idee­, sondern dass “Ideensysteme jeder Art ihre Stabilität, ihren zeitüberdauernden Geltungsrang, ja ihre Ueberlebenschance den Institutionen verdanken, in denen sie inkorporiert sind”).

Das, was bestehen bleibt (im Sinn der Benn’schen Bestände), nämlich die Religion in foro interno und die Institution des Staates in foro externo ist schon Teil dessen, was Gehlen mit “Kristallisation” meint.

Aber der Autor braucht den Ausdruck noch nicht. In einem weiten Exkurs zeigt er auf, warum keine “welt­anschaulichen Angebote” mehr entstehen. Er nennt dafür von einander abhängig praktische und theoretische Gründe: Das Vorhaben,  Idealismus in Realität umzusetzen, hat versagt. Gehlens Kritik am deutschen Idealismus ist bekannt. Er formuliert sie hier erneut sehr deutlich: “Die Wirklichkeit fügt sich nicht dem Ideal,  das sich deswegen an ihr rächt”. Er folgert,  dass nach zwei Weltkriegen,die mit ungeheuerlichen Opfern unter der Fahne von Ideen geführt worden sind, nur noch jene Ideen und Weltanschauungen die Zukunft für sich haben, die bereits in die Funktionsordnung,  in die Betriebsgesetze grosser Industriegesellschaften eingegangen sind und zu deren wirklichen Verfassung geworden sind.

  1. Es entstehen auch keine neuen globalen Weltbilder aus den Einzelwissenschaften. Ihr Fortbestand und ihre Entwicklung sind jedoch gesichert durch Insti­ tutionalisierung. Sie erreichen einen neuen, unan­ gefochtenen Zusammenhang dadurch, dass sie Teil­funktionen im Ueberbau von Industriegesellschaften werden. Das massgebliche Kriterium für die Möglich­ keit der Institutionalisierung von Wissenschaften ist die Praktikabilität.

Die Einzelwissenschaften,  führt Gehlen aus, sind heute nicht mehr in der Lage, aus einem übersteigerten Anspruch heraus Ersatzreligionen zu bilden. Ein Grund ist (abgesehen davon, dass einige, wie .z.B der Biologismus, in Deutschland auch politisch kompromittiert wurden) die zunehmende Spezialisierung und Auffächerung der Wissenschaften,  die eine Allkompetenz oder, wie Gehlen später sagt,  eine Gesamtübersicht unmöglich macht. “Die verschiedenen Kapitel des Wissbaren”, sagt er an anderer Stelle,  “gehen nicht mehr in einen Einband hinein”.

Ein anderer Grund, der aus dem ersten resultiert, ist das Entstehen von Fachsprachen,  die, jede für ihr Gebiet, einen eindeutigen Zustimmungszwang ausüben (cf. den inhaerenten Zustimmungszwang der Technik). Es gibt für die Wissenschaften keine einheitliche Sprache mehr oder, wie Gehlen formuliert, “über den Kosmos der Wissenschaften kann man nur noch dilettantisch reden”. Die.Folge ist eine zunehmende Trennung in Fachleute und Laien,  sowohl in den Wissenschaften wie in der Politik, in der Wirtschaft, in der Ver­waltung, wie auch in den Künsten: wer nicht speziali­siert ist, wer nicht kompetent ist, hat sein Urteil· zu delegieren.  (Die Unmöglichkeit,  teilzunehmen und mitzusprechen, der Kompetenzverlust hängt eng mit jener andern Erscheinung zusammen, die Gehlen als wesentliches Merkmal der modernen intellektuellen Gesellschaft in verschiedenen andern Werken darstellt, dem Erfahrungsverlust, der zu einer neuen Inkompetenz führt).

Weil die Einzelwissenschaften keine globalen Weltbilder mehr erstellen können, vermögen sie ebensowenig, Grundlagenreformen innerhalb der Praxis durchzusetzen. Ihr Fortbestehen liegt in der institutionellen Ver­festigung begründet: die Naturwissenschaften in Technik und Industrie, die Medizin in Kliniken und Krankenver­sicherungen, das Recht in Gerichten, Parlamenten, internationalen Organisationen,  in Verwaltung und Zentralbüros von Gewerkschaften.

Durch die Institutionalisierung entsteht ein neuer Zusammenhang unter den Wissenschaften in der Wirklich­ keit der Gesamtgesellschaft, der Industriegesellschaft, in deren ungeheurem Ueberbau sie alle als Teilfunktion wirken. In dieser Funktion der Wissenschaften sieht Gehlen eine Kompensation für ihren vergangenen Geltungs­ anspruch im Bereich des Idealen. Die mangelnde Möglich­keit, ein Weltbild zu erstellen, sei dank der neuen Funktionszuordnung nicht so bedenklich.

Von der Institutionalisierung ausgenommen sind die Philosophie und die klassischen Altertumswissenschaften,  die, weil sie nicht mit der praktischen Realität verflochten sind, nicht mehr als selbst­verständlich gelten und sich in einer Krise der Selbstbegründung befinden.  (cf. im Zusammenhang auch “Vom Wesen der Erfahrung”,1936.  In dieser frühen Schrift lassen sich die ersten Spuren dieser These finden,  jedoch noch nicht in der vorliegenden apodiktischen Form. Gehlen spricht im Kontext der “Architektonik der Erfahrungen” vom Gesichtspunkt der “innern Zulässigkeit”, die für die Wissenschaften, also auch für die Geisteswissenschaften gilt. Doch damals schon erkennt er den Naturwissenschaften infolge ihrer Erfahrungsnähe und ihrer Systematik eine grössere”Krisenfestigkeit”  zu.)

Während sich also die Geisteswissenschaften infolge mangelnder Umsetzung in die Praxis der Gefahr der Erstarrung kaum entziehen können, kennen die praktikablen Wissenschaften,  die in die “culture encadrée”, die Superstruktur des gesellschaftlichen Zusammen­hangs, integriert sind und diese mitbilden, keine Selbstzweifel, denn dort gelte, sagt Gehlen,  die schrittweise Weiterentwicklung, also auch der Fort­schritt. Im gleichen Sinn formuliert er an anderer Stelle,  dass Fortschritt überall da bestehe,  “wo das Zusammenspiel einer technisch und industriell hochentwickelten Gesellschaft Wissenschaft notwendig braucht, oder wo sich Forschung übersetzen lässt in Praktikabilität”.

  1. Es ist somit ein Zustand der “kulturellen Kristallisation” entstanden, d.h. der Erstar­ rung an der Basis, im Bereich des Idealen, und der Weiterentwicklung im praktikablen Ueberbau grosser Gesellschaftssysteme.

Den Ausdruck “Kristallisation” definiert der Autor selbst an verschiedenen Stellen. 1917 hatte ihn Vilfredo Pareto eingeführt (cf. auch “Ende der Geschichte, a.e.O. S.128), um damit den Zustand der künftigen Welt zu umschreiben. Gehlen, wenngleich er fürchtet,  der Begriff könne missverständlich sein,  insofern er an Anorganisches erinnere,  findet ihn brauchbar, um damit “denjenigen Zustand auf irgendeinem kulturellen Gebiet zu bezeichnen,  der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind”,  sodass “Veränderungen in den Prämissen,  in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden”. Und er führt weiter aus: “Es sind Neuig­ keiten,  es sind Ueberraschungen,  es sind echte Produktivität möglich, aber doch nur in dem schon abgesteckten Feld und auf der Basis der schon eingeleb­ten Grundansätze, diese werden nicht mehr verlassen”. Als konkretes Beispiel erwähnt Gehlen hier die Malerei, bei der die letzten grossen Ereignisse um 1910 herum stattgefunden haben, als begonnen wurde, das Subjekt und das Subjektive auszuloten. Seither hätten keine Grundlagenveränderungen im System mehr stattgefunden, man könne nicht mehr von Avantgardismus sprechen,  son­­ dern nur noch von Bewegungsfreiheit als Programm.

In einer andern Schrift ( cf. “Die Chancen der Intellek­tuellen in der Industriegesellschaft”. 1970,  in Einblicke: S.26) bezeichnet er in gleichem Sinn “Kristallisation” als einen “Zustand,  in dem entscheidende Verände­rungen in den Grundlagen immer unwahrscheinlicher werden, was rege Abwechslung an der Oberfläche nicht ausschliesst”.

Gehlen unterscheidet also zwischen Grundlage oder Basis und Oberfläche oder Ueberbau in Umkehrung der marxistischen Terminologie, wobei der Ausdruck der “Kristallisation” beide Seiten einbezieht, sowohl die erstarrten weltanschaulichen Systeme auf der einen Seite, als auch das Zusammenspiel von Natur­ wissenschaften,  Technik und industrieller Produktion auf der andern Seite. Er will, in Bezug auf den Gesamtzustand, mit diesem Ausdruck die Bezeichnung “restaurativ” ersetzen,  die er als falsch erachtet.

Gegen Ende der Schrift betont er erneut,  dass man mit der Endgültigkeit dieser heute ausformulierten Zustände zu rechnen habe, sodass sich die geistige Energie,der lvlenschen in der Weiterentwicklung der Einzelheiten des grossen wissenschaftlich durohorganisierten Ueberbaus manifestieren werde.

5. Die “kulturelle Kristallisation” zeigt sich in der Realität der Fixierung der Welthälften in Ost­ und Westsysteme. Als so gewordene, “teuer bezahlte Wirklichkeit, die jeder Diskussion entrückt ist”,  stellt Gehlen die Ost­ und Westhälften der Erde dar.

Als so gewordene, “teuer bezahlte Wirklichkeit, die jeder Diskussion entrückt ist”, stellt Gehlen die Ost- und Westhälften der erde dar. Jede der beiden Welthälften besitzt grosse Ballungs- oder Verdichtungszentren der “industriell-technisch-szientifischen Kultur” und in jedes system ist eine bedeutende politische Ideologie eingearbeitet.

Diese Ideologien “durchdringen jeweils die innere Form des Menschseins und setzen sich fort bis in die Aeusserlichkeiten des Alltags”. Die demokratische Idee als die ältere charakterisiert Gehlen als welt­offen und tolerant, als mit verschiedenen Regierungs­formen kompatibel; die marxistische hingegen bezeichnet er als szientifisch und doktrinär, mit fixierten, eindeutigen Gegnerschaften, mit einer gültigkeits­heischenden, materialistischen Aussage über die objek­tive Welt. Beide Ideologien beanspruchen zu wissen, was für den Menschen gut ist.

Aus dieser Zweiteilung der Welt folgert Gehlen, dass ideengeschichtlich nichts mehr zu erwarten sei, dass die Menschheit sich im Umkreis der vorhandenen Leit­vorstellungen einzurichten habe, so wie sie analogerweise auf religiösem Gebiet auf die seit langem aus­ formulierten Typen von Heilslehren angewiesen sei, wobei, fährt Gehlen fort, er die “plausible Voraus­setzung mache, dass die sogenannten Entwicklungs­völker keine positive dritte Ideologie finden werden”, seien doch die grossen Heilslehren ausnahmslos europäi­sche Resultate. Etwas weiter wiederholt er,  es sei völlig unwahrscheinlich,  dass irgendwo eine neue Ideologie auftrete,  seien doch die durchspezialisierten Wissenschaften dazu nicht in der Lage. Noch an anderer Stelle betont er,  dass die bis heute durchgeretteten Ideologien,  d.h.  die durch Institutionalisierung kon­servierten,  “keinen neu auftretenden Rivalen” zu befürch­ten hätten,  sie bezeichneten “ebenso definitive Möglich­keiten wie die Religionen”.

  1. Die Ideengeschichte ist abgeschlossen. Die “Posthistoire”-Epoche hat begonnen.

Diesen Zustand,  in dem, nach Gottfried Benn, mit den Beständen zu rechnen sei,  in dem die Alternativen bekannt seien, nennt Gehlen seit 1954 “Post­histoire”  (in Anlehnung an Cournot,  einen 1877 ver­ storbenen französischen Mathematiker und Volkswirt­schafter, wobei er den Ausdruck in einem Buch des belgischen Politikers und Philosophen Hendrik de Man von 1951 fand, cf.  “Ende der Geschichte” a.e.O. und “Säkularisierung des Fortschritts”,1967,  in: Einblicke, sowie auch “Die gesellschaftliche Situation in unserer Zeit” a.e.o.).

Die Erde, meint er,  sei eingerichtet,  sie sei optisch und informatorisch übersehbar,  es könne kein unbeach­tetes Ereignis von grösserer Wichtigkeit mehr vor­kommen, sie sei in der genannten Hinsicht überraschungs­los. In einer solchen Welt, folgert Gehlen und beruft sich dabei auf David Riesman und dessen Buch “The lonely crowd “, sei es unmöglich geworden,  ein Programm aufzustellen, das die Beziehungen zwischen dem wirt­schaftlichen und dem politischen Leben entscheidend verändern könnte. Ein solches Programm, meint er,  fände in der gewaltigen,  eingespielten Maschine, in der auch die Betriebsverluste eingespielt seien, gar keine Fugen zum Eingreifen.

Gehlen behauptet somit,  die Epoche der Revolutionen und der revolutionären Ideensysteme,  deren Anfang er auf 1789 ansetzt, sei beendet. Der damalige Appell an den Einzelnen,  physisch bei der Errichtung eines Wunschreiches mitzuhelfen, habe in Korrelation zu einem primitiveren Bewusstsein von den Problemen der Gesellschaft gestan­den,  die auch noch die nötigen “Gläubigen, Fanatiker und Avantgardisten für das grosse Handgemeinwerden und für das Unternehmen, die Sozialordnung mittels Handfeuerwaffen umzustülpen”gestellt habe. Das alles, meint Gehlen,  sei heute nicht mehr möglich. Die geistige Energie des Menschen manifestiere sich in der Weiterentwicklung des grossen, wissen­ schaftlich durchorganisierten Ueberbaus,  “wobei die Künste und schönen Wissenschaften mit reizvoller Unverantwortlichkeit einen Kernbestand von Ernst­ aufgaben sozusagen umspielen, von Ernstaufgaben, wie sie ganz elementar aus der Drastik des Leben­wollens von allen entstehen.

  1. Als grosse nationale Aufgaben, die aus der “Drastik des Lebenwollens” entstehen,  stellen sich die Probleme der Hochschulreform und der Ent­wicklungshilfe.

Das Lebenwollen auf einem klein gewordenen Erdball wird zu einem Problem ersten Ranges und zum vor­dringlichsten Politicum.

Daraus leitet Gehlen zwei Aufgabenbereiche von grösster Wichtigkeit ab:  a) Die Frage der Reorganisation der Hochschulen und b) Die Entwickungshilfe.

a) Die Frage der Reorganisation der Hochschulen steht im Zusammenhang mit der Intellektuellen-­Frage, die Gehlen in verschiedenen andern Schriften ausführlicher beschäftigt (cf.”Das Bild des Menschen im Licht der ­ modernen Anthropologie”,1952, in: Anthropologische For­schung,S.55 ff,  die beiden Intellektuellenaufsätze in; Einblicke, u.a.m.). Hier erwähnt er vor allem zwei Gesichtspunkte: das Emporschnellen der Studentenzahlen, eine weltweit auftretende Erscheinung,  deren (innere) Gründe in der Attraktivität der sogenannten Intelli­genzberufe liegen,  die Aufstieg, Wohlstand und erfolgreiche Wirksamkeit versprechen, wobei sich gerade durch die Vielzahl der Anwärter die Chancen sehr verringern. Ferner beschäftigt Gehlen die Sorge, dass durch den Massenzulauf die (geistigen)Leistungen Qualitätseinbussen erleiden könnten. Er formuliert imperatorisch,  dass auf jeden Fall die Qualität der Leistung behauptet werden müsse, die seit vielen Jahrzehnten in das industriell­-technisch­-wissenschaftli­che System hineingegeben worden sei. Er meint, es liege etwas Beschauliches, Genügsames und Zerstreutes in der Jugend,  das zu Besorgnissen Anlass gäbe.

b) Auch die Frage der Entwicklungshilfe beschäftigt Gehlen in einem weiten Zusammenhang (cf. beispiel­halber “Die gesellschaftliche Situation in unserer Zeit” a.e.O.) Zur Erklärung der Vordringlichkeit und der Popularität dieses Unternehmens nennt er im wesentlichen einen politischen und einen ethi­schen Grund:

Zur Erläuterung des politischen und wirtschaftspoliti­ schen Grunds erwähnt Gehlen Ergebnisse von Meinungs­umfragen, denen zufolge die Entwicklungshilfe eine neue Chance im Wettlauf zwischen Ost und West darstelle, wie auch die Tatsache, dass dadurch neue Absatzmärkte für die Ueberproduktion erschlossen würden (an anderer Stelle). Er hängt die ironische Bemerkung an, dass hier für die Deutschen eine neue Möglichkeit offen stände, mit ihrer alten ideologischen Verve die Welt zu versorgen.

Der ethische Grund lässt sich in dem, was Gehlen “Ferneethik” nennt, erkennen;  in der Verpflichtung gegen Nichtanwesende,  in einem tatbereiten Gefühl der Verantwortlichkeit für abstrakte Partner;  im Willen, gegen Elend, Erniedrigung und Leiden eine Abwehr­front aufzurichten.  Gehlen sieht hier die Umsetzung der ungeheuerlichen Erfahrungen der beiden Welt­kriege in Ethos. Er spricht in diesem Zusammenhang von den beiden Kriegen als einem Vorgang, von dem man annehmen muss, dass er nie Vergangenheit, nie wirklich überlebt und überstanden wird, weil er sich unauslöschlich in das Bewusstsein der Menschen eingebrannt hat.

Gehlen steht jedoch auch diesem idealistischen Ansatz kritisch gegenüber. Er erwähnt eine Reihe von Schwie­rigkeiten, welche die Realisierung problematisch machen:  es sei kaum die richtige Einstellung,  geschweige denn der Apparat vorhanden, um Erhebungen darüber zu machen,  in welchem Raum überhaupt gewirkt werden solle. Ferner müsste, um den Bevölkerungsdruck grosser Entwicklungsvölker produktionsmässig einzuholen, eine Zahl von Experten an Ort und Stelle bleiben,  eine Zumutung,  sagt Gehlen,  auf welche die Geister noch keineswegs vorbereitet seien.  Schliesslich sei es überhaupt nicht klar, mit welchen Leitgedanken diese Experten,  die konkrete Verantwortung zu tragen hätten, ausgerüstet werden sollten,  sei doch einerseits die von kolonialistischer Selbstsicherheit in Anspruch genommene Vorbildlichkeit der Weissen liquidiert, andererseits würde ein spezifisch christliches Ethos von Partnern,  die in eigenen Traditionen leben, kaum mehr überall aufgenommen,  ferner sei ein allgemeines humanitäres G’efühl nicht deutlich genug, um im Einzel­fall Masstäbe des Verhaltens herzugeben.

Gehlen meint, dass das  spezifische Ethos, das dieser weltweiten Aufgabe entsprechen täte, noch nicht aus­ gesprochen sei,  doch gibt er der Hoffnung Ausdruck,  dass sich im Bestreben darum eine neue, nüchterne und prak­ tische Wendung der Moral ankündige, denn auf die Dauer sei das immer wieder erlebte Zurückbleiben des Handelns hinter den Ideologien unerträglich und die Gewissensbelastung sei unwürdig,  die sich aus der Uneinholbarkeit der ethischen Forderungen ergebe. Gehlen schliesst seinen Vortrag mit der Feststellung, dass das Fortschritt wäre, wenn inmitten der voll entwickelten,  abstrakten und naturfernen Industrie­kultur die biologischen Probleme als unwiderlegbare Aufforderung überzeugen könnten,  dass es gelte, die Wirklichkeit der offensichtlich empörenden Not anzu­greifen.

Auch wenn er später (cf. beispielhalber ”Ende der Geschichte” a.e.O.) meint,  dass infolge gemeinsamer Daseins­Abhängigkeit vom industriellen Mechanismus der “alte überspannte, grossherzige Utopismus mit seiner Opferbereitschaft für nicht­profitable Ziele verschwinden” werde, so bleibt doch der an die Industrienationen gerichtete Appell zu einer Neu­ besinnung auf ein gemeinsames Verantwortungsgefühl.

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III Exkurs: Der Ideologiebegriff bei Gehlen

Gehlen braucht die Begriffe Idee,  Ideologie, Schlüsselattitüde, Heilslehre,  Geisteswissen­schaften und Philosophie wechselweise und undiffe­renziert.

Zum Verständnis dessen, was er unter diese Begriffe subsumiert,  gibt der Text   folgendes her:

  1. Aus der Analyse von Gehlens Definition:

Es geht um ein “Unternehmen, das aus einer Gesamtschau heraus Weltinterpretation und darin eine einleuchtende Handlungsanweisung geben möchte”.

Die Definition enthält vier wesentliche Elemente:

a) die Gesamtschau: Gehlen postuliert, dass das Unternehmen nicht das konkrete Einzelne, nicht das Singuläre und Subjektive als Masstab seines Handelns setzt,  sondern das Allgemeine,  das Es soll vom Ganzen ausgehen und auf das Ganze ausgehen.

b) die Weltinterpretation: “Kosmotheorie” also, was Kant mit “Weltanschauung” übersetzt hat: Deutung, Erklärung, Wertung und Einordnung der sichtbaren Realität in ihren kausalen Zusammenhängen und in ihrer Abhängigkeit von der unsichtbaren,  immatertiellen Realität des Geistes, besteht doch zwischen beiden “un lien substantiel”.

Unklar bleibt in Gehlens Definition das hermeneutische Kriterium:  die Frage nach der Wahrheit.

c) die Handlungsanweisung: Das Unternehmen ist sowohl Apell, Aufruf zum Handeln als auch Theorie des Handelns. Es ist gleichzeitig aktiv und programmatisch, ja sogar doktrinär,  beinhaltet doch der Ausdruck “weisen”, “anweisen” ein apodiktisches Element, einen definitiven Anspruch auf Richtigkeit (cf. “die Richtung weisen”, “den Weg weisen”).

Die Handlungsanweisung wiederum ist bezogen auf “Gesamtschau” und “Weltinterpretation” (cf. Definition: “darin”): also Programm im Interesse des Ganzen und aus der Sicht und Erklärung des Ganzen.

d) “einleuchtend”: Das Gerundium  hat schon postulativen Charakter: die Handlungsanweisung soll einleuchten, sie soll klar sein und überzeugen, sie soll evident sein, d.h. aus sich selbst heraus ersichtlich.

Die Frage, wie Evidenz entstehen soll,  ist bei Gehlen nicht geklärt: Evidenz folgt aus der Stringenz der Wahrheit, und was “Wahrheit” ist, bleibt bei Gehlen offen.

2. Gehlens Ideologie­-Bestimmung ist von täuschender Objektivität.  In dialektischem Vorgehen definiert er scheinbar objektiv ein Unternehmen nach subjektiven Kriterien, und indem er dies tut, schafft er selbst in objektiv dargestellter Subjektivität,  Ideologie. Gehlens Definition von Ideologie ist auch Definition seiner eigenen Lehre.

Durch den Anspruch der Objektivität enthält sie ein Element der Täuschung nicht nur für andere, sondern auch der Selbsttäuschung1): dadurch, dass Gehlen per definitionem Ideologie als Weltanschauung bestimmt, dass er die Frage nach der Wahrheit ausklammert, spricht er diesem Unternehmen Wissenschaftlichkeit und Objektivität gerade ab. Durch dieses Vorgehen peioriert er seine eigene Lehre,  d.h. er ordnet sie, nach Mass­gabe seiner eigenen Begriffsklärung,  als Ideologie im Sinn von Weltanschauung  ein.

Durch den kosmo-­hermeneutischen Anspruch,  das Element der “Weltinterpretation aus der Gesamtschau” wird Ideologie als wertgebunden,  als wertend und wertsetzend  bestimmt.

Erklärungen  erfolgen aus Gründen der subjektiven Ueberzeugung.  Ueberzeugungen  aber entstehen auf Grund subjektiver Wertung nach subjektiven Wert­masstäben. Ueberzeugungen  werden dann zu Erklärungen mit ideologischer Bestimmung (nach Gehlens Ideologie­definition),  wenn der Anspruch besteht,  sie als Erklärungen  für das Ganze, im Interesse des konkreten Allgemeinen,  der menschlichen Gesamtheit gelten zu lassen.  Scheinbar objektive ideologische Erklärungen haben ein deutlich wertendes Element auf Grund ihrer subjektiven Genese.

(Mir scheint die Unterscheidung  ungenügend,  dass “Ideologie” und “Wahrheit” sich so zueienander verhalten wie Ueberzeugungen,  die sich Interessen verdanken  zu solchen,  die  sich Gründen verdanken 2). Ich bin der Ansicht,  dass  Ideologie sowohl durch die ihr eigene Kausalität  als auch durch ihre Finalität bestimmt ist,  beides gemäss der ihr inhaerenten Subjektivität; Wahrheit aber bestimmt sich allein durch ihre Gründe, durch ihre immanenten,  objektiven Gründe.3)

3. In Gehlens Ideologie­-Aufzählung finden sich historisch und bedeutungsmässig  höchst unterschiedliche Systeme auf den gleichen Nenner gebracht:  das Chri­stentum,  der Darwinismus,  der Marxismus,  Freuds Psychologie,  “nicht zur Entwicklung gekommene Ansätze wie die Heilslehren  von Rousseau und Nietzsche, sowie der “historisch bereits überlebte Faschismus”.

Neben der Frage nach der begrifflichen Klarheit stellen sich zu dieser Aufzählung auch sachliche Fragen:

Kann der Faschismus wirklich als “historisch überlebt” bezeichnet werden? Ist er nicht als mögliche Reaktion auf sich breitmachende  Anarchie eine latente Gefahr,  die weiter existiert  (cf.  z.B. die aktuelle Situation in Italien)? Ist nicht, solange die Konstituierung  irgendeines totalitären Systems möglich ist, auch der Faschismus möglich?

(Kann das Entstehen der modernen faschistischen Systeme,  abgesehen von den komplexen und unter­ schiedlichen zeitlichen Kausalitäten,  nicht auch durch die jahrhundertelange unkritische Rezeption und Adaptition  der römischen Geschichte erklärt werden?)

Zeigen die  “nicht zur Entwicklung gekommenen “Heils­ lehren von Rousseau und Nietzsche nicht späte Früchte im Entstehen der anti­autoritären  Bewegungen und deren gesellschaftszersetzendem Machtanspruch?

4. Ideologien erheben den Anspruch zu wissen, was gut ist; sie geben Anweisungen.

Auch Gehlen weiss, was (für die Menschheit}  gut ist.  Er setzt Wertmasstäbe, nicht nur im Hermeneutischen,  sondern auch im Postulativen,  im Normativen: alles Tun wird gemessen an seiner Praktikabilität, an seiner Umsetzbarkeit in die praktische Realität von Technik, Wirtschaft und industrialisierter Gesellschaft. Das ist gut und fortschrittsfähig, was der Entwicklung von Wirtschaft und Technik dient.

Der Gehlen’sche Pragmatismus bekennt sich zu einem finis ultimus, der demjenigen des Marxismus sehr nahe steht, auch wenn deren jeweiliges primum movens, der “essor” ihres Entstehens, ein jeweils anderes ist (cf. die unterschiedliche Basis-­Bestimmung der zwei Systeme).

(Wäre nicht,  in Analogie zum “historischen Determinismus”, die Bezeichnung “soziologischer Determinismus” für Gehlens Philosophie gerechtfertigt?)

Mir scheint,  der in Praxis umgesetzte Wertmasstab der Praktikabilität als Bedingung für Fortschritt habe sich in der jüngsten Vergangenheit höchst folgen­schwer ausgewirkt und werde dies in zunehmendem Mass auch noch tun. Er schafft und legitimiert jenen Sach-­ und Zustimmungszwang der Technik, der die Geisteswissenschaften,  insbesondere die Philo­sophie,  in Unfreiheit, Abhängigkeit und schliessliche lnkompetenz führt. Er schafft jenen Leistungszwang, an dem gemessen schöpferische Arbeit suspekt wird, durch den alles nicht profiterzeugende Tun als gesellschaftsparasitär denunziert wird.

Er führt zur Bildung neuer soziologischer Klassen von Menschen:  jener,  die in pragmatischem Sinn gesell­schafts-­ und fortschrittskonform sind und jener, die es nicht sind;  der Nützlichen und der Unnützen; der Erfolgreichen und der Erfolglosen.

Kultur wird in Leistung  umgemünzt,  d.h. Leistung wird als Kultur gewertet. 4)  Wohin führt diese Entwicklung?

5 . Ein wesentliches Element dessen, was Gehlen unter Ideologie versteht, ist nicht in der zitierten Definition enthalten, wird aber immer wieder im Werk erwähnt:  die Institutionalisierung.

Die institutionelle Verfestigung einer Ideologie sichert deren Ueberleben, lässt das der Idee eigene Ephemere zum Dauernden werden,  schützt es vor Vergäng­lichkeit:  sie ist ein der Zeit und der Zeitlichkeit entgegengestelltes “défi”.

Institutionalisierung bedeutet bei Gehlen nicht Petrifizierung im Sinn von Kolakowskis These der Degeneration einer Philosophie durch Institutionali­sierung 5)   sondern Funktionszuordnung im gesellschaft­lichen Ueberbau.

Kriterium für eine mögliche Institutionalisierung ist wiederum die Praktikabilität.

Nun enthält Gehlens eigene Ethik den Anspruch der Umsetzung in Anwendung,  den Anspruch der Praktika­bilität und somit,  inhaerenterweise,  den der Institu­tionalisierbarkeit. Geht dieser Anspruch nicht ein bisschen weit für eine Lehre, welche die Nicht-­Institutionalisierbarkeit und somit das Ende der philosophischen Lehren behauptet?

Gehlen führt als Beweis für die Richtigkeit seiner These die Kirche und den Marxismus an. Die Geschichte bietet jedoch auch zahlreiche Gegenbeweise: so war die dem Nationalsozialismus immanente Ideologie zwar institutionell verfestigt, übergeführt in die Betriebs­ gesetze und die Funktionsordnung einer grossen Industrie­ nation, und überlebte doch nicht; oder die Ideen von 1789, die zwar in selektiver Zuordnung zu verschiedenen Systemen überleben,  in ihrer gebündelten, programmatischen Masslosigkeit jedoch untergingen. Tut hier eine weitere Unterscheidung not a) zwischen Ideologie und Utopie, b) zwischen Ideologie als Weltanschauung und Ideologie als Lehre allgemeingültiger, nicht zeitbedingter, normativer Ideen (wie z.B. jener der Freiheit oder der Gerechtigkeit).

6. Gehlen führt aus, dass Ideologien ausschliesslich auf europäischem Boden gewachsen seien, und widerlegt sich dabei selbst, indem er an erster Stelle das Qhristentum erwähnt, das, abgesehen von dem in ihm enthaltenen Bestand platonischer Philosophie, überhaupt nicht europäischen Ursprungs ist, wie so viele andere bedeutende Systeme  (Islam,  jüdische Erlösungslehre, etc.).

Auch in prospektiver Hinsicht täuscht sich Gehlen über das euopäische Ideologie­-Primat,  indem er fälschlicher­weise die “plausible Voraussetzung” macht,  dass “die sogenannten Entwicklungsländer keine positive dritte Ideologie finden werden”.

Es bedurfte einer ziemlichen Voreingenommenheit, um 1961 einer solchen Meinung zu sein, nachdem Mao Tse-­tung 1958  in seiner Rede in Tschengtu den  Start des “Grossen Sprungs nach vorn” eingeleitet hatte und nachdem er 1960, nach erfolgtem Bruch mit den Sowjets, wegen der starken Opposition in der Partei die Armee mit Hilfe von Lin Piao in eine “grosse Schule der Gedanken Mao Tse-­tungs” umgewandelt hatte und diese dann als Waffe im Kampf gegen die Partei brauchte, die als Kulturrevolution bekannt geworden ist.

Schon 1960-­61 zeichnete sich di.e  Entwicklung in China als eigenständige Bewegung,  als eine Synthese von chinesischer Tradition und Marxismus ab,  die deutliche nationale ideologische Züge trug:  eine philosophisch fundierte Politik der nationalen Askese und der konse­quenten gesellschaftlichen Umwälzung mit totalitärem Gültigkeits- und Machtanspruch.

7. Gehlen gibt Handlungsanweisungen.

Er formuliert seine ethischen Ziele im Interesse des Fortschritts grosser Gesellschaftsverbände. Er postuliert die “Ferneethik” als tatkräftige Umsetzung der erniedrigenden Erfahrungen der letzten Kriege in Solidarität mit Nichtanwesenden,  in Verantwortlichkeit für abstrakte Partner. Seine Forderungen entbehren der Glaubwürdigkeit, scheint mir,  in zweifacher Hinsicht:

a) die Umsetzung menschlicher Impulse in Ethos, z.B. in Solidarität (dem ursprünglich christlichen Postulat der tätigen Nächstenliebe) bedarf der idealistischen Begründung. Auf rein pragmatischer Basis sind,  z.B. Hilfeleistungen an hungerleidende Völker in übervölkerten Weltgegenden nicht plausibel. Auch die Hilfe der Allierten an das eben noch gegne­rische kriegsversehrte Deutschland war zwar zum Teil politisch motiviert, als Frontverstärkung im sich schon abzeichnenden Ost­-West-­Gegensatz, wäre aber wirkungslos geblieben, wenn nicht der einzelne Mensch, der Hunger hatte und obdachlos war, als hilfsbedürftig und rettenswert gegolten hätte.

Glaubwürdige Ethik,  scheint mir, muss als Unternehmen formuliert werden,  das den Einzelnen dem konkreten Einzelnen gegenüber verpflichtet.  Sie kann gesamt­gesellschaftlich nur durch die Realisierung ihrer Postulate in den je einzelnen Mitgliedern der Gesell­schaft umgesetzt werden.

b) Gehlens Kristallisationstheorie und Posthistoire­ These deklarieren den durch Industrialisierung und Weltkriege herbeigeführten Abbruch mit der Geschichte und den Beginn einer neuen Epoche.

Gehlens Ethik aber greift in ihrer Begründung auf die Erfahrungen der Weltkriege zurück. Sie will negative Erfahrungen in positives Tun umsetzen. Sie hat restaurativen Charakter,  auch wenn Gehlen den Ausdruck als Bezeichnung für die Zeit ablehnt. Er scheint mir jedoch teilweise gerechtfertigt zu sein für die Ethik.

Um glaubwürdig zu sein in der Gegenwart,  scheint mir, muss Ethos auch umsetzbar sein in die Vergangenheit, d.h. dass in retrospektiver Schau die gleichen ethischen Masstäbe gültig sein müssen wie in aktueller und prospektiver Schau. Die Forderungen an den einzelnen Menschen bleiben die gleichen, auch wenn sich die gesellschaftlichen Probleme verändern und zusehens ins Masslose anwachsen.

Ich nehme an,  dass in absehbarer Zeit oekologische Katastrophen für die Menschheit zur Katharsis werden, so wie kriegerische Katastrophen es in jüngster Zeit waren ­ Katharsis und Metanoia. So gesehen werden auch die ungeheuerlichsten Erfahrungen sinnvoll; sie werden zurückgeführt in die Historizität und in die Kausalität,  in den verantwortlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung im Ablauf der Zeit.

Mir scheint,  dass der deklarierte Bruch der Zeit,  in der wir leben, mit der Zeit, aus der diese wurde, der Abbruch der geschichtlichen Kontinuität (So wie ihn auch G.ehlen  feststellt) mitursächlich ist für die Entfremdung und Verlorenheit der heute lebenden Gene­rationen;  dass ein Zurückführen in die Historizität, in den zeitlichen Zusammenhang,  ein Herausführen aus der Entfremdung mitermöglichen könnte.

8. Die Hochschulreform, wie Gehlen sie als vorder­gründige nationale Aufgabe formuliert, muss im Zusammenhang

a) mit der Platzknappheit an den Universitäten infolge eines studentischen Massenansturms gesehen werden, der, sowohl durch die kinderreichen Jahrgänge der Nachkriegs­zeit verursacht wurde, als auch durch die weit ver­breiteten eudämonistischen Erwartungen,  deren Erfüllung in den akademischen Berufen und deren Negation oder negative Umkehrung in der körperlichen Arbeit gesehen wurde. (Dieser Eudämonismus ist mitverantwortlich für die aktuelle wirtschaftliche Krise, die, als Teil im Teufelskreis,  auch wieder die Krise der akademischen Berufe mitverursacht. Hochschulreform im Sinn gesamt­gesellschaftlicher Reform müsste eine Aufwertung der körperlichen Arbeit einschliessen).

Das Postulat der Hochschulreform muss im Zusammen­hang

b) mit der Krise gesehen werden,  in der sich die Wissen­schaften und die Intellektuellen um 1960 befanden (und heute wieder befinden).

Die Krise, scheint mir, wurde mitverursacht durch ein pragmatisches Wissenschaftsverständnis, wie Gehlen es formulierte, und durch den damals prokla­mierten Pluralismus.

Gehlen versteht Wissenschaft immer als Mittel im Dienst des technischen Fortschritts. Sie kommt ihrer Bestim­mung nach, wenn ihre einzelnen oder gesamten Erkenntnisse praktisch umsetzbar sind. Sie rechtfertigt sich durch Leistung.  Sie hat keinen autonomen Wert; die “innere Zulässigkeit”, von der Gehlen noch in seinen Frühwerken gesprochen hat, gilt nicht mehr.

Diese privative , rein utilitaristische Wertbestimmung der Wissenschaften als Mittel zum Zweck musste zu der von Gehlen ausgesprochenen Aberkennung von direkter Verantwortlichkeit und Zuständigkeit führen. Auch der Erfahrungsverlust der Intellektuellen (den Gehlen anprangert) steht mit dem Autonomieverlust der Wissenschaften (den Gehlen mitbegründen hilft) in engem Zusammenhang.

Braucht Wissenschaft,  damit sie ein movens activum der Gesellschaft sein kann, nicht eine breitere Bestimmung?

–  sowohl zwar als Summe der praktischen Erkenntnisse, einschliesslich der Interpretation und Reproduktion des je Gewussten und Erkannten und einschliesslich der Erforschung der noch unbekannten Zusammenhänge,  in gesellschaftsbezogener Zweckhaftigkeit; als auch als Prozess der Wahrheitssuche, mit keiner andern Finalität als der der Wahrheitsfindung, als Summe dieser Erkenntnisse und als Lehre dieses Prozesses, nicht gesellschaftsbezogen,  sondern in sich selbst begründet.

Gehört nicht zur ersten wie zur zweiten Form der Wissenschaftsbestimmung  die Erfahrung als massgebliches konstitutives Element? Und kann der durch ­ innere und äussere Erfahrung wieder kompetent gewordene Intellek­tuelle seine Stellung in der Zeit von heute und morgen wieder legitimieren?

Gehlens ironischer Satz:  “Es wäre absurd, an all diesen Dingen die Sinnfrage anzubringen, wir leben in einer prinzipienpluralistischen  Gesellschaft von höchster Dynamik und in einer unabschliessbaren,  exzentrischen Welterfahrung” (S.324) scheint  mir, teilweise wenigstens, jenen weltanschaulichen Pluralismus zu demaskieren, der,  in der praktischen Realität,  dem Einzelnen zwar Leistungszwang im Interesse der Gesellschaft und des Fortschritts auferlegte, der Leistung selbst aber jeden Sinn absprach. Theoreme wie dieses, das mit dem Anspruch der Wertfreiheit und Wertungebundenheit zun Sinn­Entwertung intellektueller Tätigkeit f’ührte, das Funktionalität statt Sinnhaftigkeit der Leistung postulierte, mussten zu einer Krise führen,  die sich vor allem auf jene Intellektuellen paralysierend auswirkte, die sich mit der “reizvollen Unverantwortlich­ keit” ihrer Tätigkeit zufriedenzugeben hatten. (Gehlen soll nicht des Pluralismus verdächtigt werden, doch schütteten seine Thesen Wasser auf pluralistische Mühlen).6)

Unklar ist, wie weit Gehlen den ursächlichen Zusammen­hang zwischen Pluralismus und Intellektuellenkrise erkannte. Das, was er als “Beschauliches, Genügsames und Zerstreutes” in der studentischen Jugend bezeichnete und wohl als mangelndes Interesse an der Leistung verstand und deshalb mit Besorgnis betrachtete, war äusserer Ausdruck jener Paralyse. Darunter verbarg sich viel Unruhiges, Ungeduldiges und Unzufriedenes, eine deutliche anti­pluralistische Stellungnahme,  die sich bald, ganz gegen Gehlens Prognose, in einer Bereitschaft “für das grosse Handgemeinwerden und für das Unternehmen,  die Sozialordnung mittels Handfeuer­waffen umzustülpen” zeigen sollte. Die erste Welle der Studentenrevolten,  die 1968 sowohl die deutschen wie die übrigen europäischen und die amerikanischen Universitäten ergreifen sollte, wurde in der Intellek­tuellenkrise der späten Fünfziger­ und frühen Sechzigerjahre vorbereitet.

(Ich erinnere mich, wie unschlüssig wir 1959 hin­sichtlich der Wahl unseres Studiums waren. Viele von uns fühlten sich nach der Matura gedrängt, Berufe zu erlernen, die sicheren Geldverdienst versprachen, ohne Rücksicht auf Anlagen und Talente. Der Entscheid für ein geisteswissenschaftliches Studium wurde als mehr oder weniger rückständig und unrealistisch taxiert, als Selbstverurteilung zu einer Hungerexistenz).

9. Als Annex zum Exkurs über Gehlens Ideologie­ begriff noch ein Hinweis auf die Sprache der Gehlenschen Texte:

Gehlen ist ein meisterhafter Jongleur der Sprache. Unklar ist,  ob er aus purer Lust, aus dialektischer Berechnung oder aus begrifflicher Unklarheit jongliert. Auffallend ist,  dass die früheren Texte sprachdiszipli­nierter,  dafür schwerfälliger und “gelehrter” sind, die späteren eleganter, literarisch ausgefeilter, aber auch ungenauer.

Zu dieser zweiten Gruppe scheint mir der besprochene Aufsatz zu gehören,  der, trotz der Fülle der mitge­teilten Gedanken,  sehr leicht zu lesen ist, bei genauerem Studium aber zahlreiche sprachlich bedingte Unklarheiten aufweist.

Soll z.B. der Ausdruck “definitive Möglichkeiten” (bezüglich der “durchgeretteten Ideologien”,  s.324): als ironisch gemeinter lapsus linguae verstanden werden oder ist er eine bewusst formulierte contradictio in adiecto? Die gleiche Frage nach der  Klarheit stellt sich auch bezüglich des wechselseitigen und manchmal missverständlichen Gebrauchs von “Kultur”  (sowohl im Sinn der abendländischen Tradition als auch im Sinn des szientifisch­-technisch­-industriellen Ueberbaus).

*) Zitate ohne Ortsangabe sind aus dem Essai “Ueber kulturelle Kristallisation”, 1961, in: Studien zur Anthropologie und Soziologie,  S.311 ff

1) cf. die Untersuchungen zur Begriffsbestimmung der Ideologie bei Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland,  Basel 1963

2) cf; erneut Hermann Lübbe, a.e.O.

3)   cf. auch Hans Barth, Wahrheit und Ideologie,  Zürich 1961

4)   cf.  in diesem Zusammenhang Helmuth Plessner, Diesseits der Utopie,  Basel 1963

­5)   cf.Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative, München 1960, und Leszek Kolakowski,  Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft, München 1967

­6)   cf. zur Frage des  “Wissenschaftspluralismus” (Pluralismus in Unterricht und Forschung) Hermann Lübbe, Hochschulreform und Gegenaufklärung, Freiburg im Breisgau 1972

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