Zur Verlobung ein rosa Kleid aus Organdi – Lisette Aubert-Gallay aus Le Sentier: Hinter dem Leben “wie es sich gehört” eine trotzige Vision von Glück
Zur Verlobung ein rosa Kleid aus Organdi – Lisette Aubert-Gallay aus Le Sentier: Hinter dem Leben “wie es sich gehört” eine trotzige Vision von Glück
Der Herbst ist ausgeglüht. Auf dem Moleson werden die Kuhweiden hinter den Trockenmäuerchen schon zur fuchsfarbenen Bergsteppe, wie alljährlich nach den ersten Nachtfrösten. Vereinzelt leuchten aus den Gruppen dunkler Tannen Blätter kleinstämmiger Buchen und Birken wie goldene Tropfen.
Wie ich den Jurapass zum Vallee de Joux hinunterfahre, erblicke ich unvermittelt den See, metallfarben, wie der Himmel sich in ihm spiegelt, und die Dörfer den beiden Ufern entlang: Le Pont zuhinterst, Le Lieu, L’ Abbaye, L’Orient, Le Brassus, den Hauptort Le Sentier und einige mehr, Uhrmacherdörfer mit kleinen Fabriken, dazwischen grosse vereinzelte Höfe. Dieses hochgelegene Tal im äussersten Nordwesten der Schweiz wurde nie zum touristischen Idyll. Und seit Jahrhunderten haben sich hier Menschen angesiedelt, die sich durch Genügsamkeit auszeichneten und die vor allem Widerstand zur übrigen Welt untereinander verband: früher Huguenotten und Täufer, später Kommunisten, kämpferische Sozialisten sowie Anhängerinnen und Anhänger eines gefühlsvollen protestantischen Glaubens.
In Le Sentier ist Lisette Aubert-Gallay 1917 geboren: Enkelin, Tochter, Frau und Mutter von Uhrenfabrikanten. Seit der grossen Uhrenkrise von 1930-35 ist die Fabrik Teil eines Trusts, dessen Hauptsitz sich in Le Locle befindet, und auch vorher fühlten sich die Gallays nicht als Fabrikanten, sondern als Uhrmacher. Am späten Vormittag hole ich die alte Frau in ihrer Kirche ab, in der sie bei Gottesdiensten auf dem Klavier die Gesänge begleitet und “ab und zu einen kleinen Bach” spielt, wie sie erklärt.
Lustig stehen die kurzgeschnittenen grauen Haare im Wind und der rote Faltenrock bauscht sich beim Gehen um die zugleich zierliche und kräftige Madame Aubert. “Schon manches Jahr fiel kein Schnee mehr, wie er hier früher zum Winter gehörte, mit den stiebenden Fahnen über dem gefrorenen See”, bemerkt sie gutgelaunt. “Als Kind fror ich nie. Wir trugen dicke Wollgamaschen über den Schuhen und handgestrickte Wollstrümpfe”.
Wir gehen dem Uferweg entlang. Spitze Wellen klatschen glasig gegeneinander. In der Nähe steht das wetterschwarze Chalet mit den kobaltblauen Fensterläden. “Als die vier Kinder noch klein waren, verbrachten wir hier die Ferien und feierten wir die Feste. Platz zum Schlafen hat es für acht oder neun Leute”. An warmen Sommerabenden zog sich die Familie hierher zurück, man schwamm im See, spielte im Garten und ass “des croütes aux morilles” oder “une fondue”, die einfachen Gerichte des Tales. “Ich mag nicht lange bei den Kochtöpfen stehen, das mochte schon meine Grossmutter nicht”, sagt Lisette Aubert lachend. Als die drei Söhne und die Tochter heranwuchsen und ihre Ausbildung – fern des Juradorfes machten als Musiker, als Theologe, als Ingenieur und als Logopädin – , kam es vor, dass sie sich mit grösserer Feierlichkeit fürs Wochenende anmeldeten und dann hier im Chalet die Freundin oder den Liebsten in die Familie einführten.
Nun sind alle vier verheiratet und leben in Deutschland, in der Nähe von Lausanne und in der Gegend von Basel, und eine Schar von Grosskindern wächst heran, die zum Teil kaum mehr Französisch sprechen. Allein der zweitjüngste Sohn kam nach Le Sentier zurück, führt die von seinem Urgrossvater gegründete Uhrenfabrik weiter und lebt im Haus, das dieser 1907 mitten im Ort gebaut hatte.
Auf der Strassenseite ragt ein Erker vor und im Garten steht ein schindelverkleideter Schuppen. “Das Haus gefiel mir nie”, erklärt Lisette entschieden, “im Gegensatz zum Chalet. Und zur Wohnung in L’Orient, in der ich seit ein paar Jahren zur Miete bin”. In diesem Haus aber wuchs sie auf, zusammen mit zwei jüngeren Schwestern, im unteren Geschoss lebten die Grosseltern – der Grossvater war ein einfacher Mann, ein Uhrmacher, die Grossmutter aber war, wie Lisette Aubert auf deutsch sagt, eine “Gnädige Dame”, die viel auf Formen hielt und die in Stuttgart das Konservatorium besucht hatte. Vom fünften Geburtstag an nahm Lisette bei ihr Klavierstunden.
Der Vater schlug dem Grossvater nach. Er sei “kräftig, offen und autoritär” gewesen, sagt Lisette Aubert mit Sympathie. Noch mit neunzig Jahren habe er Tennis gespielt und sei in die Berge gestiegen. Die Mutter dagegen habe sie nur als kränkliche Frau gekannt, die dann trotzdem uralt geworden sei. Lisette sagt von sich selbst, sie gleiche dem Vater, sie sei als älteste Tochter von diesem auch wie ein Sohn “nachgezogen” worden.
“Als Kind dachte ich, dass wir nicht mehr Geld hatten als die Arbeiter. Wir lebten sparsam. Ich erhielt zum Beispiel nie ein eigenes Velo, um zur Schule zu fahren. Auch das Essen spielte bei uns keine grosse Rolle. Am Sonntag gab es Bouillon mit kleinen Buchstaben aus Nudelteig drin. Gegenüber von uns wohnte ein Sattler, er kochte wunderbare Gerichte. Bei ihm wohnte ich zur Untermiete, als ich mit meinem Mann und dem ersten Kind endgültig nach Le Sentier zurückkam, 1940, während der ‘mob'”.
“Ob jemand Fabrikant war oder Arbeiter, das zählte für meinen Vater gleichviel. Er arbeitete ja selbst als Uhrmacher in Grossvaters Fabrik, er stellte “das Herz” der Uhren her. Später, nach der grossen Krise von 1935, als die Fabrik schon zum Trust gehörte, leitete er sie als Direktor. Er sagte oft, alle Menschen hätten den gleichen Wert”. Eltern und Grosseltern gingen nicht in die Kirche. Religion zählte für sie nicht.
Sie erinnert sich, den Vater eines Tages gefragt zu haben, wieviel er von allem, was man wissen könne, wisse. Als Antwort habe er ihr gesagt, sie sei doch mit ihm in Genf gewesen, vom Vallee de Joux aus ein weiter Weg. Nun aber sei dieser Weg, gemessen an der ganzen Welt, so winzig wie das, was er wisse, gemessen am ganzen möglichen Wissen. “Damals”, ergänzt sie, “war das Tal eine in sich geschlossene Welt. Nur Gallays, Meylans, Auberts, Golays – kurz, lauter einheimische Familien lebten hier”. Die Bevölkerung habe sich zahlenmässig seither kaum verändert, wohl aber in der Zusammensetzung. “Nun sind es mehr Zuzüger als Einheimische”, lacht sie, “die Unseren gehen weg. Von meinen vier Kinder ist ja auch nur einer im Tal geblieben”.
Sie selbst war nach der Schulzeit auch fortgezogen. Sie hätte zuerst nichts mehr lernen mögen, sagt sie, und da hätten die Eltern sie nach Bern geschickt, in eine Familie, damit sie deutsch spreche. Eine Kunstgewerbeschule besuchen durfte sie nicht, – das allerdings hätte sie gewünscht. Als sie ihren Wunsch dem Vater schrieb, antwortete er, ihr Platz sei in der Fabrik. So lernte Lisette maschinenschreiben und stenographieren und langweilte sich. Später besuchte sie eine Haushaltschule für “höhere Töchter” in der Gegend des Genfersees.
“Das alles geschah in der Art der Zeit”, sagt sie. Auch dass sie sich während eines Besuches im Tal in einen jungen Mann verliebte, der den Eltern nicht passte. Lisette sollte daher noch weiter weggeschickt werden, nach London, zu “Mr and Mrs. Golay”, die ebenfalls aus Le Sentier stammten und in der britischen Hauptstadt ein Uhrengeschäft betrieben. Diese hätten mit ihr jedoch nicht Englisch, sondern Französisch sprechen wollen, endlich wieder einmal: auch sei die arme Frau Golay aus irgend einem Grund geistesgestört gewesen.
Für die siebzehnjährige Lisette Gallay war das alles nicht tragisch. Sie liebte die grosse Stadt und durchquerte sie zu Fuss in allen Richtungen. Eines Tages trennte sie sich von Herrn und Frau Golay und zog zu einem alten englischen Ehepaar, “herzensgute Leute”, sagt sie, “er einpensionierter Garagist und die Frau fast völlig taub. Ich lernte schallend laut Englisch sprechen”. Den Freund aus Le Sentier, dessentwegen sie nach England geschickt worden war, vergass sie allmählich.
Lisette war achtzehn Jahre alt, als sie bei ihrem Vater als Bürogehilfin zu arbeiten begann, zu einem Stundenlohn von vierzig Rappen, dem niedersten in der ganzen Fabrik. Damals lernte sie Claude kennen, auf einer Bergtour im Wallis. “Ich weiss eigentlich nicht, ob ich in ihn verliebt war. Und ob er Gefühle wie Verliebtheit und Sehnsucht überhaupt kannte. Wir beschlossen, eine Beziehung zu haben und uns zu verloben”. Claude arbeitete als Ingenieur für eine Telephonfirma in Buchs, das war damals fast eine Tagesreise weg. Seine Familie war ebenfalls aus Le Sentier.
In der hellen Wohnung in L’Orient, in der Lisette Aubert seit einigen Jahren lebt – vom Küchenfenster aus sieht sie Le Sentier und die grossväterlich-väterliche Farbik -, schauen wir Photos von damals an: Ein grosser, blonder Mann mit ernstem Gesicht und eine quirlige, braunlockige junge Frau. “Zur Verlobung trug ich ein Kleid aus rosa Organdi”. Wenig später die Hochzeitsphotos mit Metern aus weissem Tüll und freundlich blickenden Familienmitgliedern, all dies auch “in der Art der Zeit”, das heisst des ländlichen, zufriedenen Bürgertums vor dem Zweiten Weltkrieg.
Auch die Hochzeitsreise nach Rom und Capri war “in der Art”, mit Ausnahme des kleinen Malheurs, das Lisette am Strand von Capri zustiess. Da habe sie wissen wollen, ob die fünf Geistlichen, die in langer Soutane nahe dem Wasser spazierten, unter dem Rock noch Beinkleider trügen, habe sich ihnen im Wasser genähert und sei unversehens auf einen Seeigel gestanden. Die abgebrochenen Stacheln im Fuss hätten sie noch jahrelang geplagt.
Claude und Lisette Aubert wechselten innert weniger als zwei Jahren fünfmal den Wohnsitz, immer in der deutschen Schweiz, bevor sie sich 1940 in Le Sentier niederliessen. Das erste Kind war in Weesen zur Welt gekommen, drei weitere gebar sie hier oben. Unversehens kommt sie auf den geheimen Schmerz ihrer Ehe zu sprechen. Claude sei wohl verlässlich und zuverlässig gewesen. Aber ein Eisberg von einem Mann. “Es war als lebte ich einer Eiswüste neben ihm”.
Einmal als Lisette noch keine dreissig Jahre alt war muss sie gewusst haben, was “Verliebtheit und Sehnsucht” bedeuten. Die Heftigkeit dieser Entdeckung muss sie aufgewühlt haben. Kilometerweise muss sie durch die Juraweiden gelaufen sein in einem Taumel. Pflichten und Konventionen – oder die anerzogenen Vorstellungen davon – muss sie weggescheucht haben wie lästige Mücken. Die Erfahrung von damals streift sie bloss. Wichtig war, sagt sie, dass ihr eines Abends zu Beginn einer monatelangen berufsbedingten Abwesenheit Claudes, die Augen aufgingen. Sie habe um ein Gespräch mit einem Geistlichen ihrer Gemeinde gebeten, sie habe mit plötzlicher Sicherheit gewusst, dass sie “auf dem falschen Weg” war, aber auch, dass der Entschluss, fortan “den richtigen Weg” zu gehen, nichts mit Resignation zu tun hatte. Das war viel eher, wie ich im Gespräch verstand, der Ausdruck einer sehr eigenständigen und trotzigen Vision von Glück: der Beginn einer sich vertiefenden Religiosität, einer intensiveren Befassung mit Musik, einer aktiven Teilnahme am politischen Geschick ihrer Gemeinde.
Lange vor der Einführung des Frauenstimmrechts war sie Mitglied des Gemeinderats von Le Sentier geworden. Unter politischer Diskriminierung, sagt sie, hätte sie nicht gelitten. Höchstens, dass die Männer nach den Ratssitzungen ins Bistrot gingen und die Frauen ausschlossen. Aber das habe ihnen kein Kopfzerbrechen gemacht, sie hätten ihren Durst einfach ein Wirtshaus weiter gelöscht.
Eigentlich sei sie nicht wenig stolz, Schweizerin zu sein, erklärt Lisette Aubert nach einigem Nachdenken, sei doch die Schweiz “eines der am wenigsten schlecht regierten Länder”. Ueber die Formulierung muss sie selbst lachen. Die Fichenaffaire und die übrigen Turbulenzen bei uns betrachtet sie mit grosser Distanz. Das seien eben die normalen Begleiterscheinungen der Macht, sagt sie achselzuckend. Macht beschmutze und erniedrige jeden Menschen, ausser jemand sei ausnehmend hervorragend – und das sei ausnehmend selten!
Allerdings stimmt Lisette Aubert mit dem gegenwärtigen Kurs der Schweiz nicht voll überein. Vor allem sei es dringend, in der Asylpolitik die Weichen anders zu stellen: “Unsere Geschäfte und Warenlager überquellen. Die Schweiz ist reich. Es ist unsere Pflicht, die armen Flüchtlinge aufzunehmen. Ob sie aus Hunger oder aus politischen Gründen ihr Land verlassen, haben wir nicht zu untersuchen”. Während Jahren gab Lisette Aubert türkischen und kurdischen Asylbewerbern, die in Le Sentier vorübergehend Zuflucht fanden, Französischunterricht, organisierte für sie Feste und half ihnen bei der Lösung täglicher Probleme. “Der Rassismus ist ein weltweites Gefängnis”, sagt sie, “dumm und tödlich wie alle Gefängnisse. Eigentlich sind wir alle hier nur Transitgäste”.
Trauben hängen an kleinen Haken vom Küchenbord, wie an Weinstöcken. Sie sucht eine goldene aus und schneidet sie, “zur Erfrischung während der Heimfahrt. Ich werde allmählich taub”, entschuldigt sie sich und umarmt mich.
lies auch: “Fünf Minuten für ein Bild – Luzern 1989. Ein Paar”: Bildbetrachtung publiziert im TA-Magazin von 17. November 1989: