Wie auch ohne Sehvermögen ein Weltbild entsteht – Ueber Raum- und Zeiterfahrungen von Blindgeborenen und Sehbehinderten
Wie auch ohne Sehvermögen ein Weltbild entsteht – Ueber Raum- und Zeiterfahrungen von Blindgeborenen und Sehbehinderten
Bei jedem Menschen tragen – von den ersten Kindheitstagen an – die Sinne und die geistigen Fähigkeiten, das heisst alle Wahrnehmungen und Erfahrungen dazu bei, dass allmählich ein Bild der Welt entsteht. Aus diesem Erfahrungs- und Lernprozess erwachsen gleichzeitig Vertrauen, Selbstvertrauen oder Angst, je nach dem Mass der dadurch vermittelten Sicherheit oder Verunsicherung.
Fällt das Sehen als Mittel der Welterfahrung weg, ganz oder teilweise, ob von Geburt an oder später, müssen die anderen Sinne und die Vorstellungskraft, “das Vermögen der Verinnerlichung”, wie ein älterer Blinder sich äusserte, stellvertretend mehr leisten. Aber wie? Die Forschungsarbeit von Christiane Ilg*), einer jungen Klinischen Psychologin, sowie Gespräche mit Lehrerinnen für sehbehinderte Kinder und mit erwachsenen Blinden geben Auskunft.
Zwischen völliger Blindheit und abgestufter Sehschwäche finden sich grosse Unterschiede der Behinderung, jedoch werden alle Kinder, Frauen und Männer, für die nicht die Augen, sondern andere Sinne die hauptsächlichen Wahrnehmungs- und Orientierungshilfen sind, als Sehbehinderte bezeichnet.
Da bei sehenden Menschen von frühester Kindheit an schätzungsweise achtzig Prozent aller Sinneseindrücke über die Augen aufgenommen werden, gab für Christiane Ilg die Frage nach der eventuellen Besonderheit blinder Kinder den Anlass zu einer langjährigen Forschungsarbeit. Es war für sie naheliegend anzunehmen, dass die Entwicklung blindgeborener Kinder – die psychomotorische, die psychosoziale und die kognitive Entwicklung – unterschiedlich verläuft, dass deren Weltbilder in Bezug auf Raum- und Zeiterfahrung im Vergleich zu denjenigen sehender Gleichaltriger entsprechend variieren, dass die Sprachentwicklung durch das Wegfallen visueller Erfahrungen, durch den Mangel von Licht und Farben, ebenfalls nach anderen Gesetzen erfolgt. Sie nahm an, dass infolge all dessen auch der Realitätsbezug blinder Kinder sich von dem sehender unterscheidet.
Christiane Ilg reduzierte eine Abklärung dieser Annahmen nicht auf das Studium der umfangreichen Fachliteratur, sondern beobachtete vier Kinder zwischen neun und sechszehn Jahren am Centre pédagogique pour handicapés de la vue (C.P.H.V.) in Lausanne, eine Sonder- und Förderschule für sehbehinderte Kinder der Volksschulstufe, die sowohl als Tagesschule wie als Internat geführt wird. In der Schweiz gibt es zwei weitere Internate für sehbehinderte Kinder – in Zollikofen und in Baar – , sowie weitere Tagesschulen in Zürich (Sonderschule der Stadt Zürich) und in Münchenstein in der Nähe von Basel.
Koordination von Tastsinn und Ohr
Christiane Ilg hält fest, dass vom Kleinkindesalter an jeder psychomotorische, psychosoziale und kognitive Entwicklungsschritt normalbegabter blindgeborener Kinder mit einer gewissen Verzögerung erfolgt, da das Kind ja von Dunkel umgeben ist und lediglich durch Berührung und durch Töne zu Reaktionen angeregt werden kann, zum Lächeln, zum Greifen, zum Sichaufrichten, Kriechen und Gehen, zum Erkennen von vertrauten Menschen und Gegenständen. Während zum Beispiel beim sehenden Kind gewöhnlich zwischen dem sechsten und achten Monat die Unterscheidung zwischen bekannten und unbekannten Gesichtern einsetzt und die sogenannte “Fremdenangst” auslöst, entwickelt sich diese Fähigkeit beim blinden Kind später, da Erkunden und Erkennen lediglich über die tastenden Händchen und übers Hören erfolgen. Diese Verzögerungen sind auch bei allen weiteren Entwicklungsfortschritten unvermeidlich.
Christiane Ilg betont, dass beim sehbehinderten Kind eine konstante Förderung unerlässlich sei, damit nicht nur in psychosozialer und psychomotorischer Hinsicht, sondern ebenso im kognitiven Bereich die Entwicklung mit dem Alter Schritt halte, damit trotz des Ausfalls der visuellen Wahrnehmungen Zusammenhänge erkannt werden können, damit das Ich-Gefühl entstehe und, auf der Basis der vom erfahrenden, erkennenden Ich sich unterscheidenen Objekte, ein realitätsangepasstes Denken sich festigen könne. Bei dieser Entwicklung, die selbst für ein sehendes Kind anspruchsvoll und ängstigend sein kann, bedarf das nicht-sehende Kind umso mehr der einfühlenden und liebevollen Begleitung und Nähe, damit nicht ein Grundgefühl der Verlorenheit und der Verunsicherung entsteht, sondern – trotz der Behinderung – ein tragendes Gefühl des Selbst- und Weltvertrauens.
Raum- und Zeiterfahrung – aber wie?
Wenn der Wechsel von Tag und Nacht, von Hell und Dunkel wegfällt oder kaum wahrnehmbar ist, kann die Zeit nur noch durch geregelte Abläufe, das heisst durch einen von aussen geschaffenen und ordentlich eingehaltenen Rhythmus erfasst werden. Es ist erstaunlich, wie die von Christiane Ilg untersuchten blinden Neun- bis Sechszehnjährigen den Tagesablauf als etwas klar Strukturiertes und in den einzelnen Phasen Unterscheidbares empfinden, wie sie, obwohl immer vom gleichen Dunkel umgeben, die “Nacht” als Zeit der Ruhe und den “Tag” als Zeit des Lernens, Spielens, kurz des Tätigseins erleben, wie sie auch von “heute”, von “gestern” und von “morgen” sprechen.
Für das Erkennen der Tageszeit wurden spezielle Uhren für Blinde entwickelt, auf denen der Stand der Zeiger sowie der Stunden- und Minuteneinteilungen abgetastet werden können.
Jeder Schritt kann Verletzungen nach sich ziehen
Auch bei der Erkundung und Benützung der Innen- und Aussenräume ist eine erkennbare und gewohnte Ordnung von grosser Hilfe. Sich in den eigenen vier Wänden zurechtzufinden, mag für Sehbehinderte schnell erlernt sein. Sich aber draussen zu bewegen, wo Hindernisse und Gefahren nicht ein für allemal erkannt und umgangen werden können, wo jeder Schritt Verletzungen nach sich ziehen kann – zumal der Autoverkehr selbst für Nicht-Behinderte lebensbedrohlich ist – das löst grosse Angst aus, und es braucht ein sorgfältiges, während langer Zeit von Sehenden begleitetes Training, bis Blinde selbständig Wege zurücklegen können, Trottoirs entlang, Randsteine hinauf und hinunter, über Strassen, selbst über Kreuzungen und Plätze, bis sie etwa den Bahnhof finden oder eine bestimmte Tramstation, das Schulhaus, den Arbeitsort oder wieder die eigene Haustüre.
Mobilität und Sicherheit zu gewinnen, ist für Blinde ein überaus anspruchsvolles Unterfan- gen. Die Resultate allerdings sind nicht nur fleiss- und trainigsabhängig, sondern auch durch Temperament und Bedürfnis bestimmt. Es gibt unter den Sehbehinderten – nicht anders als unter den Sehenden – introvertierte und extravertierte Menschen, besinnliche und bewegungshungrige und in dieser letzten Gruppe eigentliche Genies, etwa Kampfsportler und -sporlerinnen, oder Hochalpinisten und -alpinistinnen. Jacques Lusserand, der blinde französische Resistance-Chef im Zweiten Weltkrieg, der verraten und in ein deutsches Konzentrationslager verschleppt wurde, gehört zweifellos zu diesen “Orientierungsgenies”.
Dank dem Langstock mehr Sicherheit
Seit vor gut zehn Jahren der Langstock aus Amerika auch bei uns eingeführt wurde und dessen Gebrauch sehbehinderten Kindern ebenso wie Erwachsenen durch speziell ausgebildete Trainer und Trainerinnen vermittelt wird, ist selbständige Mobilität für alle eher erreichbar. Trotzdem ist die Verwendung des Langstocks und die damit verbundene relative Autonomie noch immer das Privileg weniger, nicht aus finanziellen Gründen (die IV übernimmt die Kosten für Ausbildung und Training), sondern aus Gründen geistiger Voraussetzungen, der Konzentrations- und Erinnerungsfähigkeit und des Willens zur Selbständigkeit.
Brigitte Ernest, die das Mobilitätstraining an der Zürcher Schule für Sehbehinderte leitet, betont, dass es etwas vom Schwierigsten sei, immer wieder eine genügende Motivation fürs mühsame Lernen zu wecken und aufrechtzuerhalten. Dabei sei die Mithilfe der Eltern und der übrigen nächsten Umgebung unerlässlich. Gerade beim Langstock-Training wollten Kinder, die ständig begleitet und geführt würden, den Sinn dieser – Geduld und Mut erfordernden – Uebungen nicht einsehen; da brauche es manchmal viel Zeit, bis Fortschritte erreicht würden.
“Grau? Eine Farbe, die uns gleicht.”
Erstaunlich ist, wie viel Gewicht Christiane Ilg bei ihren Befragungen auf Tests legt, mit denen sie die Farbvorstellungen der blindgeborenen Kinder prüft, obwohl sie mit grosser Empfindlichkeit auf sogenannte “Verbalismen” reagiert, das heisst auf Begriffe, die die Kinder sich nicht auf Grund eigener Erfahrungen angeeignet haben, sondern die sie von der Sprache der Sehenden übernehmen und einfach nachsprechen, ohne dass sie sie mit Inhalten zu füllen vermöchten. So lässt sie zum Beispiel die zehnjährige C., die sie als “liebenswürdig, intelligent, höflich und fleissig” schildert, alle Farben ensprechend ihrer Vorstellungen schildern: “Weiss? – das ist wie mein Klavier, ich meine, so wie es tönt. Schwarz? – nun, das sind meine schlechten Gedanken, das ist das, was der Teufel veranlasst. Violett? – die Früchte. Rot? – das Feuer, die Sonne, wenn es warm ist. Blau? – ein wenig wie meine Träume. Und Rosa? – etwas Weiches, Angenehmens, etwas, was man nicht verlieren, sondern behalten möchte. Braun? – das ist ein Stück von irgend etwas, so eine Masse. Gelb? – ja, gelb ist dagegen lustig, wie ein Lachen. Wie gewisse Stimmen, vielleicht. Und Grau? – das haben wir fast vergessen. Nun, grau, das gleicht uns, denn “wir” sind so zwischen weiss und schwarz, “wir” tun etwas gut und etwas schlecht, das eben ist grau.”
Während von einzelnen Sehbehinderten, denen trotz grosser Seheinbussen Reste visueller Wahrnehmung erhalten geblieben sind, Farben zum Teil unterschieden werden können, sind für Blinde “Blau”, “Rot”, “Gelb” und die übrigen Farben nur über andere Sinneserfahrungen, zum Beispiel über Material- oder Wärme und Kälteerfahrungen, oder aber im übertragenen Sinn erlebbar. Ich frage mich, ob der Mangel an Farbperzeptionen nicht von den Sehenden den Blinden suggeriert wird, mit anderen Worten, ob die Erfahrungswelt der Blinden nicht auch ohne Farben total ist. Ein älterer Physiotherapeut, der als Achtzehnjähriger infolge eines Hirntumors erblindete, bestätigt mir meine Annahme. Blau könne er sich noch vorstellen, die anderen Farben nicht mehr. Ob dieser Verlust für ihn schwer wiege? Eigentlich nicht, antwortet er, er sei weniger farbenhungrig als lese- und wissensbedürftig, und diesem Bedürfnis komme er nach, indem er möglichst viele Bücher in Braille-Schrift lese oder Kassetten höre.
“Vor allem sind es Individuen mit persönlichen Eigenschaften”
Der Mangel von Christiane Ilgs Untersuchung liegt einerseits in der kleinen Anzahl untersuchter Kinder, von denen alle vier normal- bis überdurchschnittlich begabt sind und alle ein waches Lern-, Kontakt- und Bewegungsbedürfnis haben, andererseits in der Tatsache, dass alle die gleiche geschützte Sonderschule besuchen. Sie weisen daher vergleichbare Eigenschaften auf und machen, trotz des unterschiedlichen Alters, auf ähnliche Weise Fortschritte, nicht zuletzt wegen der gleichen schulischen Rahmenbedingungen.
Da auf Grund dieser Forschungsarbeit der Eindruck entstehen könnte, dass sehbehinderte Kinder eine – mehr oder weniger – homogene Gruppe darstellen, und dass sie allein in geschützten Internaten gefördert werden können, habe ich die Tagesschule in Zürch-Altstetten besucht, die als Sonderschule der Stadt Zürich seit 1960 besteht und an der etwa zwanzig sehschwache bis blinde Kinder aller Altersstufen unterrichtet werden, sowohl in Klassen von vier bis höchstens sechs Kindern wie im Einzelunterricht. Neben dem normalen Primarschulstoff gehören Punktschrift, Maschinenschreiben, Rhythmik, Psychomotorik, Mobilitätstrining, Musik und Werken zum Wochenpensum. Seit Beginn ihres Bestehens ist die Schule mit einem Mittagshort verbunden, wo die Kinder gemeinsam mit dem Lehrpersonal essen. Viele der behinderten Mädchen und Buben kommen von weit her, zum Teil sogar aus angrenzenden ausserkantonalen Gemeinden. Dank einem Schulbus, der die Kinder zur Schule und wieder nach Hause bringt, können die Transportprobleme der meisten gelöst werden.
Susanne Dütsch, die seit 1979 die Schule leitet und seit 1975 an ihr unterrichtet, betont, dass es nicht möglich sei, die sehbehinderten Kinder allein nach dem Raster ihrer Behinderung einzuteilen. Die Kinder seien so vielfältig begabt und so unterschiedlich veranlagt wie die sehenden. Leider komme es immer noch vor, dass selbst starke Beeinträchtigungen des Sehvermögens erst relativ spät entdeckt würden, manchmal erst auf der Mittelstufe, wenn zum Beispiel die Schulleistungen plötzlich rapide abnähmen, weil die Kinder die kleiner gedruckten Schulbücher nicht mehr zu lesen vermöchten. Die Schüler und Schülerinnen würden dann durch den Schularzt, den Schulpsychologen oder die Lehrkräfte entweder an die Sonderschule für Sehbehinderte überwiesen, oder eine der drei ambulanten Lehrerinnen für Beratung und Unterstützung Sehbehinderter würde sich um die spezifische Förderung des sehschwachen Kindes kümmern. Das sei die zweite Möglichkeit der Förderung. Nach Absprache mit Eltern, Lehrerinnen und Lehrern könne das Kind trotz der Sehschwäche in seiner angestammten Klasse bleiben, müsse jedoch mit zusätzlichenHilfsmitteln dem Unterricht folgen, zum Beispiel mit einer Lupenbrille, mit einem Fernrohr, mit Hilfe einer besseren Beleuchtung, mit einer Schreibmaschine oder sogar, bei fortgeschrittener Behinderung, mit einer Punktschrift-Schreibmaschine, die die Texte in Normalschrift auszudrucken vermag.
Die soziale Integration klappt unterschiedlich
Eine der drei Lehrerinnen für die Beratung und den Stützunterricht der etwa zwanzig sehbehinderten Kinder im Kanton Zürich, die nicht die Sonderschule besuchen, ist Elsi Wanzenried. Sie betreut sieben unterschiedlich behinderte Primar- und Sekundarschülerinnen und -schüler in der ganzen Region. Ständig ist sie mit dem Auto unterwegs, besucht Schulstunden, gibt den sehschwachen oder blinden Kindern Einzelunterricht, bespricht sich mit den Lehrkäften und den Eltern. “Das eigentlich Ziel ist die optimale soziale Integration der sehbehinderten Kinder. Sie sollen nach Möglichkeit ihren Talenten entsprechend in einer gemischten, vielseitig anregenden Gruppe Gleichaltriger lernen können, sie sollen den Rückhalt ihrer Familie, Freundinnen und Freunde nicht vermissen müssen. Allerdings gelingt diese Integegration nicht immer im gleichen Mass.” Elsi Wanzenried berichtet jedoch von Sehbehinderten, die selbst das Gymnasium und die Hochschule erfolgreich abzuschliessen vermögen.
“Auch für Sehende gibt es Zusammenhänge, die sie nicht verstehen und die Angst machen”
Urs Kaiser hat in Psychologie promoviert. Er ist selbst blind – allerdings nicht von Geburt an – und arbeitet als Sekretär des Schweizerischen Blindenbundes in Bern, einer Selbsthilfeorganisation der Sehbehinderten. Er betont, dass es eine grosse Anzahl sehbehinderter, selbst blinder Hochschulabsolventen gäbe, vor allem in Fächern, in denen eine hohe Vervollkommnung des Abstraktions- und des Vorstellungsvermögens erfordert sei, etwa in Mathematik, Musiktheorie, Psychologie, Theologie und in anderen Geisteswissenschaften. Viele Sehbehinderte seien auch erfolgreich in sozialen Berufen. Für ihn als Blinden gebe es wohl Erlebniseinbussen und Verluste, die schwer wiegten, etwa dass er das Strahlen in den Augen eines geliebten Menschen nicht mehr sehe, nicht mehr die Wolken und Gestirne am Himmel, oder dass schon kleine Wege und unbedeutende Verrichtungen oft grosse Probleme darstellten. “Aber auch Sehende haben Mängel in der Realitätserfassung und in der Verwirklichung ihrer Bedürfnisse, auch ihnen bleiben viele Zusammenhängen dunkel und lösen Aengste aus”, sagt er. Wie der blinde Physiotherapeut, der täglich acht bis zehn Stunden arbeitet, betont er den Reichtum, der durch die Verinnerlichung aller – noch möglichen – Erfahrungen ständig wachse.
*) Christiane Ilg. Das Weltbild des blindgeborenen Kindes und seine gestalterische Darstellung. E. Blaettler AG, Basel, 1989.