Flüchtling sein – Nachwort zum Buch von Josefine Krumm

Flüchtling sein

Nachwort zum Buch von Josefine Krumm

„Wir flüchten  /  Das Dornennetz / fängt uns ein“ . . .

„Wir halten die Welt / an der Hand / führen sie ein / in unser Vertrauen  //  Hier die Länder / Licht an Licht  //  Wir nehmen sie in die Hand / führen sie ein / in die Namen //  Drohend / Schatten an Schatten / stehen sie / gegen uns auf.“[1]

Die vergangene Realität, die in den Nachtbildern zurückkehrt, löst stets den gleichen Horror aus  – das brennende Dorf, Soldaten mit Gewehren, Granaten, die Mutter mit den kleinen Schwestern im Arm, ihr Ruf an mich „Geh, flieh, du bist gross, Gott sei mit dir“. Hinein in den Wald, durch die Wälder, über Flüsse, Gebirge, Nächte und Tage, hungrig, durstig, schmutzig, ohne Mutter, mit Anderen unterwegs, mit Unbekannten, die Freunde werden. Wir sprechen die gleiche Sprache der Flucht, suchen gemeinsame Worte. Wohin, wo gibt es einen Ort, der wieder Heimat sein könnte? Unterwegs während Monaten, es finden sich Lager mit anderen Fliehenden, doch keine Heimat. Ein grosser Junge weiss von einem Land ohne Not, dort lebt eine Tante. Schweiz heisst das Land. Er nimmt mich mit, „dorthin“ sagt er, versteckt im Bauch eines Lastwagens zwischen schweren Kisten im Dunkeln. Der Tag ist hell, -wie wir aussteigen, hell und kalt. Dürfen wir hier bleiben, darf die Angst absickern, darf hier Zukunft sein? „Wasser / mein Kleid  //  mein Schuh / gescheitertes Schiff  // Regenbogen / mein Hut  // wer / wird mich erkennen“[2].

Flüchtlinge sind „die Anderen“. Warum sind sie anders? Ist nicht das eigene Ich anders als mein Bild von mir selber? –  gewiss anders als jenes meiner Schwester und meines Bruders? Wird das Anderssein ertragbar, wenn es geliebt wird? Wenn es zum „lieben Anderen“ wird?

Rose Ausländer, die im Zweiten Weltkrieg in einem Kellerraum überlebte und anschliessend fliehen musste, da sich Bedrohung und Verfolgung fortsetzten, hält in mehreren Gedichten fest, dass selbst das eigene Ich das fremde Andere ist. „Wo fange ich an / wo höre ich auf / im drängenden / Herzlauf der Zeit?“  Lässt sich das Vergangene einbeziehen in die Gegenwart, lässt sich diese annehmen als das noch Unbekannte, das eben jetzt zur Verfügung steht? Kann das Unbekannte sich mit dem eigenen Ich vereinen, wird das Jetzt zum  Lebensraum, der Hoffnung zulässt auf das Morgen, das „liebe Andere“ der Zeit, die Zukunft heisst? „Rosen in der Regenvase / im Glasbehälter / goldene Kiemen  // Gelegentlich käme Besuch / von Fremdverwandten / ein Findling / ein Königskind  // Sterne stünden Wacht / vorm Wind / die Krüge füllt der Mond / mit Abendwein  //  Wenn man wüsste / wie mit sich selbst / vereint sein.“[3]

Die kleine Theaterbühne ist der Ort der Begegnung der „Fremdverwandten“, der Flüchtlinge untereinander. Sie erwarten den Besuch der „lieben Anderen“, jener, die diesen Ort und sein Umfeld schon kennen, die beides bewohnen und die, wer weiss, die Neuankömmlinge als „Findlinge“ annehmen und sich hier verankern lassen. Die diesen die Suche nach sich selbst zubilligen, deren schmerzlicher Weg ihnen möglicherweise nicht unbekannt ist, die Wohlwollen spüren lassen und Gastfreundschaft. So kann es gelingen, die Zukunft mit dem vielen „Wenn man wüsste“ gemeinsam zu gestalten, ohne Misstrauen „gegen uns“, die fliehen mussten und Heimat brauchen, ohne Verhinderung der ersehnten Genesung der schmerz- und angstbesetzten Seele.

[1] Rose Ausländer, Schweigen auf Deine Lippen. Gedichte aus dem Nachlass. 2001 Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag,  S. 125 / 121

[2] Ebenda, S. 147

[3] Ebenda, S. 140 / 141

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