Wie steht es mit dem Herzen der »herzlosen« Medea? – Über das Verhängnis von Rache und über Möglichkeiten der Korrektur von Leiden

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publiziert in: Ueli Mäder und Hans Saner (Hrsg.), “Realismus der Utopie – Zur politischen Philosophie von Arnold Künzli”, Rotpunktverlag Zürich 2003, ISBN 3-85869-255-7

 

Wie steht es mit dem Herzen der »herzlosen« Medea?

Über das Verhängnis von Rache und über Möglichkeiten der Korrektur von Leiden

 

 

»Du hast das Signal gemalt

rot mit deinem Blut

Warnung vor Untergang

An den Grenzen feucht

Aber noch ohne Geburt

 

Wenn das Leiden sich heimatlos niederlässt

Stößt es den Überfluss aus

Tränen sind Waisen – Ausgestoßene

Im Sprung folgen wir nach

Das ist die Flucht ins Jenseits

Der wurzellosen Zeitpalme«-

(Nelly Sachs)

Wie viel Leiden erträgt eine Frau? Zusätzlich zum Übermaß an Leiden, dem die Menschheit »schicksalshaft« ausgesetzt ist, kommt die geschlechterbedingte Fülle leidvoller Erniedrigung, die Frauen angetan wird. Hiob war in seinem Leiden »eingewickelt in den Geburtenleib der Sterne«, wie Nelly Sachs (1981, S. 227) festhielt, selber eine vom Tod bedrohte »Fremde«, die aus Deutschland fliehen musste und in Schweden um Asyl bat. Ihr war es möglich, die Klage über das Verhängnis des nicht ertragbaren Leidens in Sprache ausatmen zu können. Aber wie werden Frauen bewertet, die den »Ton« der Klage nicht finden können, sondern gegen das Leiden in der Maßlosigkeit aufbegehren, der sie in ihrer Ohnmacht ausgesetzt sind? Gelten für Frauen, die wegen ihres Aufbegehrens schuldhaft werden, andere Regeln als für Männer, welche Leiden verursachen? In welchem »Ton« und zu welchem Zweck wird über Schuld und Leiden berichtet? Hätte Medea ihre Geschichte anders dargestellt, wenn ihr die Möglichkeit der Selbstschau zugestanden worden wäre? Gibt es Wege, die aus der Verstrickung der Leidensfolgen herausführen und die verhindern, dass das Unheimliche des nicht mehr kontrollierbaren Hungers nach Rache überhand nimmt und sich als einziger Ausweg aufdrängt?

Wer sich mit Medea befasst, kann nicht anders, als die vergangene Zeit und die eigene Zeit auf eine Ebene zu setzen, um mit kritischem Blick die gesellschaftlichen Verhältnisse zu befragen und so die Ursachen und Zusammenhänge der Darstellung dieser Frauengeschichte zu untersuchen. Immer wieder im Lauf von mehr als zweitausend Jahre wurde Medea aktualisiert, ihre Gestalt wurde noch mehr verdunkelt oder aber erhellt, eventuell gar freigesprochen (vgl. Lütkehaus 2001 für einen Überblick über die wichtigsten Medea Darstellungen). Welches Frauenbild wurde dadurch vermittelt? Warum und wozu? Was hätte Medea gebraucht, um nicht der Ausweglosigkeit der Verzweiflung zu verfallen?

Ich werde versuchen, im Dickicht der Fragen zu einer Klärung beizutragen – ein mäanderhaftes Vorgehen, in welchem immer wieder Medea sich mit vielen Warum dem Denkfluss entgegenstellt und die Geduld der Umkreisung ihrer Geschichte durch eine neue Betrachtung fordert, bis ich im Nachwort auf einen Weg gewaltfreier Korrektur des Leidens eingehe.

 

Über den »Ton« des Erzählens

Ist die Geschichte Medeas Erzählung oder Sage ? Dichtung? Um einen Mythos geht es. Die indogermanische Silbe »my«- in »Mythos« entspricht der Bedeutung von tönen, ist auch verwandt der Silbe »mou«- , zum Beispiel im griechischen »mousa« – »Muse«, auch in »Musik«, »Mut«, Ge«müt« u.a.m. Entsprechend dieser Bedeutung wird die Geschichte mit unterschiedlichem »Ton« immer wieder neu vermittelt, in der ältesten und maßgeblichsten Weise nicht von Medea selber und nicht von einer Frau, sondern von Euripides, dem jüngsten der drei großen griechischen Tragiker, ca. 480 v. Chr. geboren und aufgewachsen in einer Epoche des politischen Umbruchs sowie schwerer Machtkonflikte und Machtverluste. Der Peloponnesische Krieg belastete Athens Herrschaft; auch entwickelten sich neue philosophische Richtungen, welche zum Teil das skeptische Denken verstärkten. Es kann angenommen werden, dass Euripides daher die Gelegenheit benutzte, um die Geschichte um das Goldene Vlies, um Jason und Medea als warnende »Tragödie« zu verfassen. Gemäß dem Wortsinn – »tragos« bedeutet »Bock« und »ode, oide« entspricht »Gesang« – also ein »Bocksgesang«, zu gesellschaftlichem Zweck, wofür er sich – eventuell auf käufliche Weise –benutzen ließ? – wie Helga Novak  in ihrem »Brief an Medea« (Gedicht von 1977, in: Lütkehaus 2001, S.1) festhält:

»Medea du Schöne dreh dich nicht um

vierzig Talente hat er dafür erhalten

von der Stadt Korinth

der Lohnschreiber der

dir den Kindermord unterjubelt:

ich rede von Euripides verstehst du«…

Wird die griechische Bedeutung von »Tragödie« ernst genommen, geht es in Euripides‘ »Medea« somit um das »Meckern« von »Böcken«, deren »Ton« der besorgte Dichter warnend vermittelt: es geht dabei um die Geschichte Jasons, des begehrlichen Draufgängers, und um die Geschichte Medeas, der von Jason in Kolchis benutzten, in Korinth als »Fremde« diskriminierten, von ihrem Mann hintergangenen und entwerteten Frau, die keinen anderen Weg mehr für sich sehen konnte als jenen der Rache.

Die Frage stellt sich, zu welchem Zweck sich der »Lohnschreiber« benutzen ließ. Ging es in erster Linie um etwas, was ihn in seiner Männlichkeit selber beschäftigte, letztlich um die Rechtfertigung männlicher Willkür? Zur Klärung die Struktur der »Tragödie«:

 

  • Euripides berichtet, dass der thessalonische Jason in Begleitung vieler Helden mit dem Schiff Argo nach dem fernen Kolchis gefahren war, um das goldene Fell des göttlichen Widders zu erobern, dieses unerreichbare Symbol des rätselhaften Tieres, das in Kolchis verehrt wurde; dass er damit die Rückgewinnung seines großväterlichen Erbes – der Herrschaft über Iolkos – anstrebte, die sein Onkel Pelias seinem Vater Äson geraubt hatte ; dass er diese Aufgabe nicht hätte erfüllen können ohne die Hilfe der göttlich-zauberischen Medea, der Tochter von Äetes, des Fürsten von Kolchis; dass Iason in der Schlächterei um das Goldene Vlies Medeas Bruder tötete, der das verehrte Heiligtum zu verteidigen suchte; dass sie trotz der maßlosen Gewalt, die der machtgierige Draufgänger ausübte, trotz des schweren Verlustes und trotz ihrer Trauer Jason in flammender Liebe bedenkenlos unterstützte; dass sie ihm zwei Söhne gebar und mit ihm und den zwei Kindern floh, als er wegen seiner Verbrechen in Kolchis verfolgt wurde; dass sie dadurch ihre Heimat, den Ort der Sicherheit und Zugehörigkeit verlor und nach Korinth gelangte, wo Jason einen Teil seiner Jugend verbracht hatte und wo er König Kreon um Asyl bat.

 

  • Euripides berichtet in der Folge, wie hier die Umkehr der Geschichte geschah: dass Kreon Jason willkommen hieß und ihm alles anbot, was dieser begehrte, während Medea als seine Frau nicht angenommen, sondern als »Fremde« abgelehnt wurde; dass Jason als ihr Ehemann nicht für sie eintrat, wie Medea von ihm erwartete, im Gegenteil; dass er die Gelegenheit benutzte, um Medea, deren er sich als überdrüssig erklärte, von sich zu weisen und zu verraten. Kreons Tochter zog ihn an, die noch mädchenhafte Kreusa (auch Glauke genannt). Sie war es, die er begehrte. Kalt berechnend unterstützte ihn dabei deren Vater. Jason forderte von Medea, seinen Entscheid zu akzeptieren und wegzuziehen, ihm aber die zwei Söhne zu überlassen.

 

  • Damit spitzte sich das Drama zu, gemäß der griechischen Bedeutung von »Drama« (abgeleitet vom Verb »dran«, d.h. »tun«, »handeln«), wobei entsprechend Euripides‘ »Ton« Jason keine Schuld zufällt. Es war jedoch Jasons »Handlung«sentscheid, durch welchen die Zuspitzung bewirkt wurde. Medea fühlte sich seelisch zutiefst verwundet (griechisch steht »trauma« für »Wunde«, auch für »Leck«, siehe später). Das Ausmaß an Demütigung konnte sie nicht ertragen. Unter dem von Wut und Zorn begleiteten, überwältigenden Schmerz verlor sie die Fähigkeit, ihr Handeln und die Folgen ihres Handelns mit Klarheit zu erwägen. Sie hätte in ihrer Klugheit wissen müssen, dass Rache Leiden nicht heilt, sondern neues Leiden bewirkt, aber sie beschloss, der weiblichen Ohnmacht entgegenzuwirken und sich zu rächen: dem Schein nach stimmte sie den Forderungen Jasons zu, in Wirklichkeit aber plante und realisierte sie die Tötung Jasons und Kreusas, gemäß Euripides auch ihrer zwei Kinder.

 

Über die vielen »Warum« im Zusammenhang der Medea-«Tragödie«

Drei Fragen stellen sich, die mir wichtig erscheinen:

  • Bei der ersten Frage geht es um das Warum von Euripides‘ unterschiedlicher Darstellung des schuldhaften Verhaltens von Jason und von Medea: Warum kommt es einerseits zur Beschönigung, ja zur Rechtfertigung von Jasons Ermordung von Medeas Bruder wie auch von seinem verletzenden Verhalten seiner Ehefrau gegenüber, und warum andererseits zur Darstellung Medeas als gnadenlos eifersüchtiger Rächerin und Mörderin? Gibt es seit der Antike ein unterschiedliches Regelsystem für Frauen und Männer in der Beurteilung von Gut und Böse? Was wird dabei unter dem »Bösen« verstanden?
  • Mit der zweiten Frage möchte ich die Differenz zwischen der persönlichen Vermittlung oder der Selbstdarstellung existenzieller Geschehnisse und zwischen deren Erzählung durch Andere aufgreifen, eine Differenz, die darin besteht, dass die Handelnden entweder als Subjekte sprechen, welche auch die hintergründigen Ursachen für ihr Verhalten und ihr Handeln kennen, oder dass sie zu Objekten gemacht werden, deren Handeln in der Erzählung nach irgendwelchen Kriterien bewertet wird, die dem Zweck der Darstellung dienen, insbesondere wenn sie als »Fremde« gelten und dadurch rechtlos werden.
  • Bei der dritten Frage geht es um die Klärung dessen, was den kaum haltbaren Hunger nach Rache weckt und was Rache letztlich bewirkt, diese destruktive und letztlich selbstdestruktive Antwort auf nicht-ertragbare Herabsetzung, Verletzung oder gar Zerstörung hoher eigener Werte. Dabei werde ich zusätzlich auf die Geschichte von M., einer aktuellen Medea, eingehen. Es geht um die Frage, wie sich beklemmende und belastende, schwere Traumatisierungen auswirken, vor allem wenn diese wiederholt werden, auch wovon die Korrektur des Leidens abhängig ist, respektive ob es überhaupt Möglichkeiten der Heilung – oder der Wiederherstellung – des verletzten persönlichen Wertes gibt.

Die drei Fragen, die ich klären möchte, gehen von einer mehrfachen analytischen Annahme aus, welche die ethischen und die geschlechterspezifischen-gesellschaftlichen Hintergründe der Medea-«Tragödie« betrifft:

  • Ich nehme an, dass Euripides‘ Absicht und Zielsetzung war, männliches Machtgehabe und dabei ausgeübte Gewalt – im öffentlichen wie im privaten Verhalten, im Erfüllen des fürstlichen wie des sexuellen Begehrens – zu legitimieren und als Voraussetzung erfolgreicher Herrschaft zu propagieren, dass daher weibliches Aufbegehren gegen Erniedrigung und Entwertung als aussichtsloser, verhängnisvoller Weg in die »unweibliche« Schuld der Gewalt dargestellt werden sollte.

Damit verbunden ist die Annahme, dass Euripides bestrebt war, entsprechend der vor-aristotelischen Ethik – eventuell im Auftrag Korinths –, weibliche Unterwerfung unter männliche Macht als regelgemäßes Verhalten zu erreichen, letztlich um deutlich zu machen, dass Frauen, die sich nicht nach den gesellschaftlichen Forderungen benehmen, als fremd und als schädlich betrachtet und ausgeschlossen werden. Es galt, nehme ich an, den Frauen mit der Gestalt von Medea jeglichen Widerstand gegen männliche Macht, selbst wenn diese verletzend ist, als verhängnisvollen Irrtum deutlich zu machen, sogar als irreleitenden Weg in die irre Verirrung, respektive in die wahnhafte Vorstellung, Leiden, das auf Grund nicht-reparierbarer Entwürdigung und kränkenden Verlustes entstand, durch eigenes verletzendes Handeln aufzuheben.

 

Galten für Jason und für Medea ungleiche Regeln?

 Wichtig erscheint mir die Frage, wie und warum Euripides in moralischer Hinsicht dazu kam, Jason nicht als rücksichtslos berechnenden Draufgänger, nicht als Mörder im Kampf ums Goldene Vlies und nicht als Verräter seiner Frau zu qualifizieren, jedoch Medea als unverzeihlich schuldhafte, »böse« Versagerin. Es mag nützlich sein, kurz auf die Aristotelische »Ethik« (Aristoteles 1985) als Theorie des richtigen oder des falschen Handelns und damit des gelingenden, eventuell des guten Lebens einzugehen, obwohl diese ca. ein Jahrhundert nach Euripides‘ Tragödie in der Peripatetischen Schule in Athen gelehrt und aufgezeichnet wurde. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Auseinandersetzung um die Komplexität der Verbindung menschlichen Denkens und Handelns mit den Empfindungen – die Verbindung von Intellekt, körperbedingter Triebhaftigkeit und Seele – zu den beunruhigenden philosophischen Neuerungen gehörte, welche zur Zeit Euripides‘ große Denker – u.a. Protagoras, Prodikos, Anaxagoras – und einen Teil des Volkes beschäftigte, gleichzeitig einen Teil der Machthabenden skeptisch stimmte.

Gemäß Aristoteles gibt es bezüglich des ethischen Regelsystems widersprüchliche Entscheidungs- und Handlungssituationen, d.h.. »Paradoxien«. Die Paradoxien werden mit drei Bereichen von Entscheidungskonflikten verbunden, von denen jeder Bereich wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet. Die Geschlechterdifferenz spielt dabei insofern eine Rolle, als ausschließlich von männlichen Handlungssubjekten die Rede ist; Frauen gelten in allem, was Empfinden und Denken, Urteilen und Handeln anbelangt, im Schatten der Männer als deren Objekte.

Von den drei Bereichen, in welchen die Wahl des richtigen Handelns konfliktuös ist, erachte ich im Zusammenhang von Euripides‘ Darstellung von Jason und von Medea den ersten und den dritten von Bedeutung. Der zweite Bereich erscheint mir diesbezüglich weniger maßgeblich, da er eher von theoretischer und wissenschaftlicher Relevanz ist. Er geht auf die Nicht-Übereinstimmung unterschiedlicher philosophischer Schulen ein, die widersprüchliche Theorien von Ethik vertreten, z.B. eine konfessionelle Ethik und eine Berufsethik, die eventuell unter dem Einfluss verschiedener Wirtschaftstheorien oder Religionen stehen usw.

Der erste Bereich betrifft die Paradoxien, die sich durch das Aufeinanderprallen von Urteilen, Meinungen und Lehren von »Weisen« ergeben – respektive von Intellektuellen, Philosophen, Lehrern usw. – und von Menschen, die nach herkunftsbedingter Alltagsorientierung handeln. Aristoteles erklärt, dass diese Widersprüche unausweichlich seien, und dass es keine Position gebe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei. Als Beispiel führt er unter anderem die Fragen an: »Muss man seinem Vater oder dem Weisen gehorchen?«, oder »Muss man tun, was gerecht oder was nützlich ist?« oder auch »Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?«.

Der »herkunftsbedingte Alltag« ist bei Medea, der zauberisch-weisen Fürstentochter aus Kolchis, tatsächlich anders als der Alltag von Jason, des jungen Griechen, der elternlos-verwahrlost aufwuchs und von seinem fürstlichen Onkel um das Erbe betrogen wurde. Betrug und Mord gelten für beide als Unrecht. Während Jason allein das, was für ihn nützlich ist, als richtig erachtet und zu tun entscheidet, ohne zu überlegen, wie sich die Folgen des Entscheids auf Andere auswirken – auf Medeas Bruder, auf seine Frau und auf die Kinder –, beschließt Medea, nicht länger Unrecht zu leiden, sondern eher Unrecht zu tun. Sie weiß um das Unrecht, das sie zu tun sich entscheidet, letztlich um die Paradoxie des Entscheids: sie entscheidet auf männliche Weise – und nicht auf weibliche. Dies ist der Skandal, der Euripides als Inhalt der Tragödie bewegt. Hätte ein Mann so entschieden und nicht eine Frau, der nach der Aristotelischen Ethik gar keine Wahl zusteht, sondern der die Pflicht auferlegt ist, Unrecht zu leiden, so wäre die tödliche Rache unter den Millionen vergleichbarer Handlungen versickert. Die »Tragödie« wäre nicht bis in die heutige Zeit als festgemauertes Bild der »bösen Frau« in der Literatur geblieben.

»Fürstinnen der Trauer

wer fischt eure Traurigkeit auf?

Wo finden die Beisetzungen statt?

Welche Meerenge beweint euch

mit der Umarmung eines inneren Vaterlandes?

Die Nacht eure Schwester

Nimmt Abschied von euch

Als letzte Liebende« (Sachs 1981, S. 166)

Interessanterweise thematisiert Aristoteles mit dem dritten Bereich Widersprüche im einzelnen Menschen selbst, d.h. Widersprüche zwischen Psyche und Intellekt, zwischen Empfinden und Denken. Aristoteles spricht von Widersprüchen zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen des Handelns. »Die Wünsche stimmen ja oft nicht zu den Worten«, sagt er deutlich, »sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint«. Jason, dem als Mann in der damaligen Zeit das Recht zusteht, seine Wünsche schamlos kund zu tun und zu realisieren, täuschte Medea, die ihm zum goldenen Vlies verhalf und ihm zwei Kinder gebar, in allem, was sie unter »Liebe« verstand und was er vorgab, für sie zu empfinden. Nicht Liebe war es im Sinn der dauerhaft verlässlichen Beziehung, sondern narzisstischer Wunsch nach Herrschaft und nach Söhnen, letztlich schrankenlose Begehrlichkeit nach Besitz. Medeas Antwort auf diesen Betrug in Korinth war ihr betrügerisches Spiel mit der scheinbaren Akzeptanz des Verlustes, hinter welchem sie die grauenerregende Rache plante, die sie vollzog. Es ist eine erschütternde letzte Paradoxie, darüber besteht kein Zweifel. Erschütternd ist auch die Tatsache, dass Jasons Täuschung in dem, was er als »Liebe« vorgab, offenbar als »normal«, d.h. als den »Normen« entsprechend, beurteilt wurde. Dass er durch diese Täuschung Medeas destruktiv-täuschendes Rollenspiel als Teil ihrer Rache verursachte, ja dass er durch seinen Liebesbetrug überhaupt Anlass zur Rache als Ausdruck der ausweglosen Verzweiflung seiner Frau gab, das wurde ihm nicht angelastet.

»Diese Jahrtausende

geblasen vom Atem

immer um ein zorniges Hauptwort kreisend

aus dem Bienenkorb der Sonne

stechende Sekunden

kriegrische Angreifer

geheime Folterer« (Sachs 1981, S. 225)

Ist Liebe das »zornige Hauptwort«? Erneut zeigt sich in dieser Paradoxie das Verhängnis der nicht-übereinstimmenden Normativität bezüglich des Verhaltens von Männern und von Frauen, insbesondere bezüglich der Beurteilung des Verhaltens, im ständigen Nichtübereinstimmen der Werte, die einerseits, zumeist von Seite der Frauen, mit dem emotional stützenden, beziehungsorientierten und existentiell aufbauenden Bedürfnis nach Liebe und andererseits mit der – männlicherseits häufig triebhaften – Willkür dessen Erfüllung verbunden ist.

Dabei ist die Frage der Zumutbarkeit von zentraler Bedeutung. Jason hätte selber nicht ertragen können, was er Medea zumutete resp. als zumutbar erachtete. Im Zusammenhang meiner traumatologischen Untersuchungen nehme ich an, dass jede Rache Antwort auf die verhängnisvolle Täuschung der Zumutbarkeit ist: Ausdruck der Flucht aus der Erfahrung von Ohnmacht in ein destruktives Aufbegehren und gleichzeitig Ausdruck erneuter Ohnmacht in der Wahl von Korrektur der nicht ertragbaren Folgen der Traumatisierung. Wichtig erscheint mir zu beachten, dass Medea weder die Möglichkeit zugestanden wurde, in der Öffentlichkeit ihre Klage anzubringen und ernst genommen zu werden noch die Möglichkeit, selber ihre Geschichte zu schildern. Wären ihr diese Möglichkeiten zugestanden worden, hätte sie vermutlich der Flucht in die Rache nicht bedurft, da ein gestärkter, eventuell geheilter Selbstwert sie getragen hätte.

Die Klärung des Unterschieds zwischen der Möglichkeit respektive Unmöglichkeit, persönliche Geschehnisse selber schildern zu können sowie der Tatsache deren – häufig zweckgerichteten und missbräuchlichen – Darstellung durch Andere erscheint mir in der Deutung der Medea-Geschichte von zentraler Bedeutung.

 

Was ist der Wert der Selbstschau?

Medea selber konnte keinen Bericht über sich selber schreiben. Brachte sie tatsächlich, wie Euripides berichtet, als Rache sowohl den verantwortlichen Jason, sein neues Liebesobjekt Kreusa wie die zwei Kinder um? Die Komplexität ihrer Geschichte lässt die Vermutung zu, dass die Stadt Korinth, aufgebracht über die Tötung der Fürstentochter Kreusa und ihres Verlobten Jason, Medeas Kinder mit Steinen tötete. Es gab einige spätere Dichter – Seneca, Corneille u.a.m. –, welche Euripides‘ Behauptung aufnahmen und noch krasser schilderten. Aber immer wieder wurde die Anschuldigung Medeas, die »herzlose« Mörderin auch ihrer Kinder zu sein, in Frage gestellt. Mal war in der späteren Darstellung der Medea-Geschichte von einem einzigen Sohn, mal von einer Tochter, mal überhaupt von keinen Kindern die Rede, wie z.B. in den 1405 durch Christine de Pizan in deren »Buch von der Stadt der Frauen« verfassten Gesprächen über Medea, in welchen die als Fremde und Rechtlose gedemütigte Frau in ihrer Verzweiflung letztlich als schuldlos dargestellt wird. Ich nehme an, dass Christine de Pizan, welche die Gespräche immer wieder mit »ich, Christine« einleitete und weiter führte, sich in Medeas Psyche hineinversetzte und stellvertretend für sie eine Art »Selbstschau« zum Ausdruck brachte, lange bevor die feministische und psychoanalytische Entwicklung diese Möglichkeit des Verstehens rechtfertigte (vgl. hierzu Lütkehaus 2001; ausführlicher Kristeva 1989; 1990). Christine de Pizan hielt fest, nachdem sie das Unglück geschildert hatte, das Medea durch ihren Mann angetan worden war, dass »sie darüber so verzweifelt war, dass ihr Herz von dieser Stunde an weder Glück noch Freude kannte« (Pizan 1987, S. 221), dass es an den Empfindungen des Unglücks, des Selbstwertverlustes und des Ausgestoßenseins zerbrach.

Selbstschau, die Medea nicht zugestanden war und die sie nicht vermitteln konnte, die aber Christine de Pizan an ihrer Stelle zu übernehmen versuchte, ist immer auch Selbstbeurteilung des eigenen Handelns, sowohl der Regelbefolgung wie der Regelverletzung, in untrügerischer Kenntnis der Hintergründe der persönlichen Geschichte, ob im Sinn der Selbstanklage oder der Selbstentschuldigung. In psychoanalytischer Hinsicht führt die Selbstschau zur sorgfältigen Klärung und Erklärung der im Unbewussten gespeicherten Hintergründe der persönlichen Geschichte, sowohl was das eigene Empfinden in der Entwicklung der hemmenden wie der stärkenden Kräfte betrifft, die Selbstbeziehung und die Beziehung zu anderen Menschen mit allen Aspekten der moralischen und ästhetischen, der emotionalen und sinnlich-triebhaften wie der intellektuellen und handlungsmäßigen Umsetzung der Wünsche, der Fähigkeiten und des Willens in die Realität des gelebten Lebens. Die Geschichte von M., einer aktuellen Medea, die ich anschließend schildern werde, wird dies zum Teil deutlich machen, insbesondere was die Veränderung der Selbstbeurteilung im Lauf der Gespräche mit ihr bewirkte. Dabei gehe ich mit Vorsicht in die Betrachtung und Beurteilung der menschlichen »Psyche« ein, die, von der griechischen Bedeutung des Wortes her, tatsächlich jener von »Seele« und von »Gemüt« entspricht, dem Geheimnisvollen wie dem Offenkundigen, immer gestützt auf den Wert des Fragens und auf die selbst von Sigmund Freud vertretene Skepsis jeder Behauptung wissenschaftlicher »Wahrheit« gegenüber, denn »dem Eigenwert des Psychischen können wir nicht durch lineare Konturen gerecht werden wie in der Zeichnung oder in der primitiven Malerei, eher durch verschwimmende Farbenbilder wie bei den modernen Malern. Nachdem wir gesondert haben, müssen wir das Gesonderte wieder zusammenfließen lassen. Urteilen Sie nicht zu hart über einen ersten Versuch, das so schwer erfassbare Psychische anschaulich zu machen« (Freud 1974).

Was Selbstbefragung und Selbstdastellung beinhaltet, mag im Zusammenhang der Deutung von Medea die 1925 von Robert Walser entworfene »Selbstschau« sein, diesem Dichter mit kindlich weisem Gemüt, der in seinem Umfeld als »Geisteskranker« beurteilt wurde. 1929 wurde er in die psychiatrische Anstalt Waldau bei Bern und wieder vier Jahre später in jene von Herisau eingeliefert. Er hielt in seiner »Selbstschau« fest, dass sein Verhalten immer das Gegenteil von dem war, was von ihm erwartet worden sei, dass er aber keiner »Rettung« bedurft habe, da er mit sich selber »einverstanden« sein konnte. Die Tatsache, dass er die gesellschaftlichen »Regeln« männlichen Verhaltens mit seiner Bescheidenheit nicht erfüllte, bewirkte zu seinem Glück kein Verhängnis in Handlungsentscheiden anderen Menschen gegenüber. Warum war ihm dies möglich? – weil er den eigenen »Ton« finden konnte, um in Übereinstimmung mit sich selber seine Gefühle zu äußern, so dass er nicht der Selbsttäuschung bedurfte? Dass er schließlich der Flucht in die Traumwelt des eigenen Ich bedurfte und diese Flucht mit der Nähe zur vielfachen Erneuerungs- und Ruhekraft der Natur in Verbindung brachte, da er die vorgegebene Sicherheit der hierarchisch geprägten, gerechtigkeitsfremden Gesellschaft nicht mehr ertrug, war für ihn ein Versuch des selbsterhaltenden und selbstheilenden Schutzes, wurde aber von gesellschaftlicher Seite her als »Geisteskrankheit«, damit als »Irrsein« beurteilt (vgl. Seelig 1981; Schmidt-Hellerau 1986). Letztlich ist auch die psychiatrische Diagnose des anormalen Verhaltens eine Erklärung dessen, was als »fremd«, damit als nicht-zugehörig zur Gesellschaft bezeichnet wird.

Aus Robert Walsers »Selbstschau« hier ein paar Zeilen:

»Weil man nicht haben wollte, dass ich jung war, wurd’ ich jung.

Weil Leidender ich sollte sein, umschmeichelten mich viele Freuden.

. . .

Verlor ich viel, so sah und fühlt‘ ich, dass Verluste ein Gewinn sind,

dass niemand etwas wiederfinden kann, wenn er es nicht vorher verlor.

. . .

Indem man mich nicht kennen wollt‘, geriet ich auf die Kenntnis meiner selbst,

wurde verständnisvoller, liebenswürd’ger Arzt zu mir.

. . .

Jeder trägt seine Lebensbahn in allem mit sich, was an Eigenheiten

Geburt, Umständ‘ zu Hause und die Schule ihm gegeben haben,

 

und Rettung braucht nur der, dem’s nicht gelang, sich nicht zu überheben.

Niemals hatte ein mit sich Einverstandener Hilfe nötig,

falls ihm kein Unfall zustieß, dass man ins Spital ihn tragen musste.«

Im Zusammenhang der Medea-Geschichte wurde kaum die Frage gestellt, warum die Besonderheit des Verhaltens – respektive das »gegenteilige Verhalten« – im Zusammenhang von Erwartungen und/oder Regelsetzungen der Gesellschaft anders beurteilt wird, je nachdem, ob es in der »Selbstschau« erkannt und selber vermittelt wird, oder ob es von Außen erklärt und dargestellt wird, auch je nachdem, ob es um ein männliches oder ein weibliches »gegenteiliges Verhalten« geht. Robert Walsers Gedicht macht Aspekte davon deutlich, unter anderem die Tatsache, dass Menschen, die als »Fremde« bezeichnet werden, weniger auf Grund ihres Aussehens als wegen ihres besonderen Verhaltens als störend empfunden werden, eventuell weil sie damit bei anderen Menschen psychische Kräfte wecken, die in diesen selber verborgen blieben und ihnen daher fremd sind, die häufig auch unter einem Tabu-Gebot stehen und zu erkennen verboten sind, so dass die Erkenntnis, wenn sie das eigene Ich betrifft, nicht akzeptiert wird, sondern auf eine »Fremde« respektive einen »Fremden« übertragen wird.

 

Wie und womit hätte Medeas »Unfallen« verhindert werden können?

Was beim träumerischen Walser so simpel erscheint, mag zur Klärung der komplexen Zusammenhänge von Medea im Sinn einer auf sie übertragenen Selbstschau beitragen. War der Entscheid zur Rache nicht ihr verhängnisvoller »Unfall«? Mit »Unfall« kann jede Art von »fallen« verstanden werden, jeder Verlust von eigener, innerer Sicherheit, nicht nur im Gehen oder in den anderen Bewegungsmöglichkeiten des Körpers, sondern auch in den Empfindungen, im Denken und im Handeln. Was Medea betrifft, geht es um die kaum nachvollziehbare Verlorenheit und Erschöpfung in der Verzweiflung wie um den in der Wut nicht mehr steuerbaren Drang, Macht zu zeigen statt Ohnmacht, bis zur Vernichtung, d.h. den betrügerischen, rücksichtslosen Geliebten noch schwerer zu täuschen, als er es ihr gegenüber getan hatte, und Rache zu auszuüben wegen der nicht mehr ertragbaren Demütigung – all dies Ausdruck von Leiden, das keine Akzeptanz mehr ermöglichte, ein Zusammenbrechen und ein Fallen in den Abgrund der Verzweiflung, in ein Herumirren im Labyrinth der dunkeln Ausweglosigkeit.

Aufs dringlichste hätte Medea heilkundiger Hilfe bedurft, eines »Arztes«, wie es in Walser Gedicht heißt. Die Funktion des »Arztes«, aus dem mittelhochdeutschen »arzet« – »arzât« abgeleitet, entspricht im Grunde genommen jener des heilkundigen Weisen, das heißt eines Menschen mit seltenem Wissen. Laut der Mythologie war dieses Wissen und die damit verbundene Funktion ursprünglich Medea selber eigen. Schon ihr Name, aus dem griechischen Verb »medomai« – »ersinnen« abgeleitet, weist darauf hin. Höchstes Ansehen soll ihr als magischer Ratgeberin und heilender Weisen in ihrer Heimat Kolchis entgegengebracht worden sein, bis sie auf Grund ihres Liebeshungers in blinder Verliebtheit in die Abhängigkeit von Jason verfiel, auch dies ein »Fallen« in das Verhängnis maligner Beziehung (darüber später mehr), in welchem Medeas Klugheit des Denkens, welcher Ausdruck ihres persönlichen Wertes war, erstickt wurde.

Als Medea mit Jason – eventuell auch mit ihren Kindern – nach Korinth kam, war ihr bewusst, dass sie als Fremde galt, doch hoffte sie, dort für sich und ihre zwei Söhne Aufnahme und Schutz – einen »Spital« – zu finden, entsprechend der Bedeutung von »Spital« in Robert Walsers Gedicht (»Hospital« ist abgeleitet vom lateinischen »hospes« – der »Fremde«, auch der »Gast«). »Hospites« sind somit zugleich Gäste und Fremde. Jason hatte aufs dringlichste in Kolchis der Unterstützung durch Medea bedurft. Dort, wo er ein Fremder war, hatte er sie benutzt. Doch in Korinth, wo sie seiner bedurfte, ließ er sie fallen.

Medea kam sich nicht nur benutzt, sondern missbraucht vor – und zutiefst betrogen. Kein Wert mehr hatte Bestand, nachdem sie ihren Selbstwert vernichtet fühlte, als wäre sie ein alter Krümel. Und so verstummte das Gewissen, diese innere Stimme, die im Griechischen mit dem Wort »daimon« verbunden wird und die, je nachdem, Spiegel des Selbstwertes oder mahnend-unerträglicher innerer »Ton« ist. Es muss angenommen werden, dass Medea unter dem brennenden Schmerz, den sie empfand, die schützende oder mahnende Kraft des »daimon«, welche Psyche, Denken und Handeln verbinden und lenken kann, nicht mehr beachten wollte oder konnte – diese Kraft, die Wohlbefinden weckt, wenn Handlungsentscheide als gut empfunden werden, aber Unbehagen, wenn die Folgen des Handelns mit Schuld belasten können. Zu groß war der seelische Schmerz, als dass ihr Gewissen darob nicht zerbrochen wäre.

Die Perfidie des Pakts zwischen Jason und Kreon, zwischen ihrem Ehemann und dem Vater der neuen Braut, durch welchen Medea erniedrigt, ihrer Kinder beraubt und weggestoßen werden sollte, erstickte in ihr mit dem Selbstwert auch jede vom Gewissen gesteuerte selbstheilende Klugheit. Dass Rache keine Wiedergutmachung ermöglicht, sondern in die destruktive Ebenbürtigkeit mit dem Täter oder den Tätern führt, letztlich in die Selbstdestruktivität, das konnte Medea nicht mehr als Warnung erkennen. Wie sehr hätte sie der »Rettung« bedurft, doch keine helfende Begleitung war da, niemand, der vermocht hätte, sie aus dem verhängnisvollen Entweder-Oder von Unterwerfung oder von todbringender Rache auf einen dritten Weg zu führen: jenen der Befreiung von Abhängigkeit und des Rückgewinns der guten, stärkenden Beziehung zu ihrem eigenen Ich, ohne Anzweifelung ihres Selbstwertes. Vielleicht hätte es genügen können, Jason als verantwortungslosen Versager oder als eiteln »Bock« zu erklären, als Verursacher der »Tragödie«? – mehr noch, ihn nicht nur dieser Dürftigkeit zu erklären, sondern dadurch zu erkennen, so dass er tatsächlich in keiner Weise übereinstimmen konnte mit ihr und sie die Trennung von ihm als Befreiung verstehen konnte? Hätte so auch die Bezeichnung als einer »Fremden« hilfreich wirken und sie bewegen können, ohne Zwang Jason in seinem verletzenden Narzissmus stehen zu lassen, ihn selber verlassen zu wollen und mit den Kindern eine eigene Heimat zu suchen? Wäre es so möglich gewesen, die Freiheit zu gewinnen, im Sinn der Ich-stärkenden Befähigung? Doch wer stand ihr nahe, um ihrem Vertrauen zu genügen und ihr zu raten? Die Amme, die ihr beistand, hatte die Funktion einer erschrockenen Dienerin und nicht einer Weisen. Niemand konnte die »Arzt«funktion übernehmen, um sie aus dem erstickenden Abgrund der Verzweiflung herauszuführen.

Die Tatsache, dass psychisches Leiden, das durch traumatisierende Erniedrigung geschaffen wird, nicht nur zur lähmenden Traurigkeit, sondern auch zum nicht mehr kontrollierbaren, schmerzbesetzten Zorn führen kann, wird in der Tragödie vom Chor erwogen. In der Beurteilung respektive Verurteilung von Medeas Handeln, mit welchem sie ihre Auflehnung gegen die nicht mehr tragbare Ohnmacht umsetzt und gleichzeitig ihr Wissen um die entsetzlichen Folgen ihrer Rache verdrängt, wird aber der Mangel am wichtigsten Gut, dessen die Menschen bedürfen, an verläßlicher Liebe, zu wenig beachtet.; denn Verläßlichkeit zeichnet sich am stärksten durch die leidenslindernde und damit racheverhindernde Kraft des »sym-pathein« – des Mitleidens – aus.

 

Über den Hungerschmerz

 »In meiner Kammer

wo das Bett steht

ein Tisch ein Stuhl

der Küchenherd

kniet das Universum wie überall

um erlöst zu werden

von der Unsichtbarkeit –

Ich mache einen Strich

schreibe das Alphabet

male den selbstmörderischen Spruch an die Wand

an dem die Neugeburten sofort knospen

schon halte ich die Gestirne an der Wahrheit fest

da beginnt die Erde zu hämmern

die Nacht wird lose

fällt aus

toter Zahn vom Gebiss« (Sachs 1981, S. 199)

 Wenn der innere »Ton« nur noch Not ist, kommt der Entscheid zur Rache dem unüberwindlichen Zwang gleich, den überwältigenden psychischen Hunger zu stillen– doch welchen Hunger? – Hunger wonach? Das griechische Wort »daimon« hat nicht nur die Bedeutung von Gewissen, im Sinn der göttlichen Stimme in der menschlichen Seele, sondern auch von Schicksal. Ist damit nicht vorbedingte Ausweglosigkeit des Schicksals von Opfern gemeint? Kann die Auflehnung gegen das Erduldenmüssen von Leiden als Objekt der Entrechtung und Gewalt nur in die Rache führen, durch welche das Opfer Subjekt des Handelns wird und Leiden verursacht? Ist die Vermischung der Bedeutung von »daimon« als Gewissen und zugleich als Schicksal ein Grund für die Darstellung Medeas als unberechenbar »herzlose« Täterin? Werden dadurch die je spezifischen Ursachen des psychischen Empfindens, durch welches das menschliche Verhalten geprägt wird, als bedeutungslos erklärt, und wird gleichzeitig die heilende Korrekturmöglichkeit durch die Selbstschau in Frage gestellt? Ist die Empfindung eigener Wahlmöglichkeit – die Empfindung der Freiheit – Selbsttäuschung? – bleibt tatsächlich nur der Hass, damit die Selbstschädigung und Selbstbeschädigung, wie Christa Wolf (1998; 2000) sowohl in den »Medea-Stimmen« und im Gespräch vermittelt?

Es erscheint mir wichtig, im Zusammenhang dieser Fragen näher auf das vielfache Hungerleiden einzugehen (Battegay 1987), das durch traumatisierende Erfahrungen bewirkt wird. Mangel an verlässlicher Liebe, an fürsorgender Wärme und an stärkender Sicherheit, an ermutigender Unterstützung zur Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten wie an Anerkennung des eigenen Lebenswertes kann durch konstante Beziehungsarmut wie durch Gewalterfahrungen, durch Verletzungen, durch Verluste und schwere Enttäuschungen bewirkt werden. Immer wird dadurch der Wert der persönlichen Besonderheit in Frage gestellt, und immer quält und belastet in der Folge eine schmerzende Leere sowohl die Psyche wie den Körper. Gestützt auf meine Erfahrung ist eine Korrektur möglich, wenn die Kraft des »sym-pathein« die erkennende Selbstschau begleitet und wenn in der Folge eine bessere Existenzerfahrung möglich wird.

Als Beispiel will ich eine aktuelle Medea-Geschichte, die Geschichte von M., schildern, in einer knappen Zusammenfassung dessen, was die junge Frau in fünfzehn Gesprächen selber dargestellt hat. Sie war durch die Vormundschaftsbehörde an mich überwiesen worden, als sie in einem Strafverfahren wegen verübter Gewalt stand, als eine »Fremde«, die fünf Jahre zuvor in der Schweiz ein Gesuch um Asyl gestellt hatte.

Aus der frühen Kindheit waren M. kaum Erinnerungen geblieben. Ihre Mutter war ihr unbekannt; nach der Geburt war M. von ihr in einem Park der kleinen Stadt, wo sie zur Welt gekommen war, ausgesetzt worden. Den Vater habe sie gekannt, er habe sie manchmal im Waisenhaus besucht, habe ihr Bonbons oder andere Geschenklein mitgebracht. Er sei ein zweites Mal verheiratet gewesen und habe mehrere Söhne gehabt. Neben den Halbbrüdern gab es noch einen richtigen Bruder, den die Mutter nach der Geburt auch im gleichen Park ausgesetzt hatte. Der Vater habe sich nicht darum gekümmert. Kontakte habe sie kaum mit den unterschiedlichen Brüdern gehabt, für alle sei das Leben schwer gewesen. Ob irgendwo auch Schwestern leben, wusste sie nicht.

  • berichtete, dass sie vom zwölften bis sechzehnten Altersjahr in einem Waisenhaus in Z., in welchem sie auch die ganze Kindheit verbracht hatte, durch einen Mitzögling täglich misshandelt worden sei. Er sei etwa gleich alt wie sie gewesen, jedoch bedeutend größer und kräftiger; er habe ein Glasauge gehabt. Er habe sie in einen Raum eingeschlossen und sie mit dem Kabel eines Bügeleisens, mit Schuhen, mit einem Tisch und mit anderen Gegenständen auf den Kopf und den Rücken geschlagen, beschimpft und ihr mit dem Tod gedroht, falls sie das geringste verlauten lasse. Beulen auf dem Kopf, Schrammen und andere sichtbare Verletzungen habe sie in der Schule mit Unfällen erklärt. Vom vierzehnten Altersjahr an habe der gleiche Bursche sie mehrmals wöchentlich auch sexuell missbraucht. Das erstemal, als sie von ihm vergewaltigt wurde, habe er sie derart verletzt, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, doch auch dort habe sie sich nicht getraut, den Täter zu denunzieren.

Die Misshandlungen setzten sich bis zum 16. Altersjahr fort. Damals habe sie endlich gewagt, das Tabu zu brechen und dem Direktor des Waisenhauses die Schläge, Vergewaltigungen und Einschüchterungen mitzuteilen. Als »Sanktion« sei der Täter in ein anderes Waisenhaus in der gleichen Stadt versetzt worden, sonst sei er ungeschoren davongekommen. Er sei immer wieder zurückgekehrt, da das Heim, in welchem M. gewohnt habe, offen zugänglich gewesen sei, er habe ihr aufgelauert und seine Übergriffe auf sie fortgesetzt.

Mit siebzehn Jahren habe sie ein erstes Kind geboren, eine Tochter. Sie sei allein im Haus ihres Bruders gewesen, bei dem sie zu Besuch weilte, als die Wehen einsetzten. Die kleine Tochter habe ohne Hilfe niederkommen müssen. Da sie nicht gewusst habe, wie sie für das Kind hätte sorgen können, habe sie es zur Adoption weggegeben. Der Vater des Kindes sei ein älterer, verheirateter Mann gewesen, er habe sich nicht mehr um sie gekümmert, als sie schwanger geworden sei.

War der Vater ihres ersten Kindes ihr eigener Vater gewesen? M. ließ die Klärung der Frage nicht zu. Sie habe damals eine Schneiderinnenschule gemacht, die vier Jahre dauerte. Nochmals sei sie schwanger geworden und habe ein Mädchen geboren, das sie wieder zur Adoption weggab. Später habe sie erfahren, dass das Kind nach wenigen Wochen gestorben sei.

Es war Mitte der 80er Jahre, als M. erstmals in die Schweiz kam, als Saisonnière. »Ich wollte nur weg von dort, wo ich aufgewachsen war, hatte nur einen Wunsch. Ich wollte vergessen«. Aber wie konnte sie vergessen, was ihre Seele als Tabu besetzte wie eine schwere Klammer? Sie arbeitete an verschiedenen Stellen im Gastgewerbe, wurde erneut schwanger. Anfang Februar 1991 gebar sie einen Sohn, den sie nicht weggeben wollte. Als 1992 in ihrem Land der Krieg ausbrach, stellte sie ein Asylgesuch. Eine ältere Frau, Frau F., die mit einer anderen Frau – Frau B. – liiert war, unterstützte M. in der Zeit der Schwangerschaft und bei der Niederkunft des Sohnes. Mit Frau F. habe sie ein intimes, aber »liebevolles« Verhältnis gehabt. Nach deren Tod arbeitete M. bei Frau B. manchmal dreimal wöchentlich während mehreren Stunden als »Dienstmädchen«, ohne dass Frau B. ihre hassbesetzte Eifersucht gegenüber M. beigelegt hätte, auch ohne dass diese M. für die Arbeit einen Lohn bezahlt hätte. Im Frühjahr 1995 gebar M. nach einer flüchtigen Beziehung mit einem Mann, dessen Namen sie nicht einmal kannte, eine Tochter, die sie wiederum zur Adoption weggab.

 

Ständig weiter Leiden-Rache-Schaden-Schuld-Leiden?

»Lichterhelle kehrt ein in den dunkeln Vers

weht mit der Fahne Verstehn

Ich soll im Grauen suchen gehen

Finden ist woanders« (Sachs 1981, S. 153)-

Drei Mädchen hatte M. geboren und alle weggeschoben. Schmerz überwältigte sie, wenn sie davon sprach. Schmerz war die offene Wunde, die M‘s. Seele ständig besetzte. Wie hätte sie, die selber ausgesetzt worden war, für eine Tochter Halt und Vorbild sein können? Auch ihre Mutter habe ihr nichts von dem bieten können, was sie am dringlichsten gebraucht hätte. »Nicht ihre Arme gab sie mir, nicht ihren Blick, nur das gebrochene Herz und den Hunger nach Liebe«. In der Asylunterkunft, wo sie lebte, wurde sie von einem Mitbewohner im Treppenhaus mit einer Metallstange zusammengeschlagen. Hatte sie sich erstmals geweigert, sich einem Mann zu unterwerfen? Ein Gefühl der unausweichlichen Gewaltwiederholung in ihrem Leben beherrschte sie. Wie konnte sie von diesem Gefühl frei werden?

Als M. von Frau B. eines Tages, als sie bei ihr putzte, aufgefordert wurde, einen gebrechlichen und verwahrlosten, betagten Mann, der bei Frau B. als Untermieter lebte und dessen Altersrente diese für sich benutzte, wegen dessen »Dreck« zu bestrafen, und als sie M. zu diesem Zweck eine metallbesetzte Hundeleine in die Hand drückte, habe sie begonnen, den wehrlosen Alten zu schlagen, zu schlagen, hundertmal zu schlagen, bis er blutüberströmt am Boden lag. Da sei ihr voll Entsetzen bewusst geworden, was sie getan habe: Rache habe sie ausgeübt für alle Gewalt, die ihr durch Männer angetan worden sei, an einem Mann, der ihr nie weh getan habe. Nun laste Schuld auf ihr. Alles bedauere sie, alles zutiefst. Sie könne sich selber nicht rechtfertigen.

M. wirkte mit ihrer kräftigen, untersetzten Statur und ihrer schweren Gangart eher burschikos als weiblich, vielleicht wie Medea aus Kolchis. Sie urteilte in Schwarz-Weiß-Rastern, sehr heftig, ihrer Meinung nach unbeirrbar und unfehlbar. Den wenigen Menschen, die ihr Gutes getan oder die sie »anständig behandelt« haben, wollte sie »ewig dankbar« sein. Im Strafverfahren machte sie immer wieder ihr großes Bedauern deutlich über das, was sie dem wehrlosen Alten angetan hatte, zugleich äußerte sie den Wunsch nach Gerechtigkeit. »Das plagt mich wie ein Hunger«. M. konnte nicht akzeptieren, dass sie allein zur Täterin erklärt wurde, sie, die zugleich Opfer und Täterin war. Sie wolle nicht mit einem Stempel qualifiziert werden. Was sie getan habe, sei nicht »typisch für M., diese Ausländerin«, wie Frau B. gesagt habe, die bei der polizeilichen Untersuchung jede Art der Mitverantwortung leugnete. Als Strafe sollte ein Ausweisungsbefehl umgesetzt werden, unmittelbar nach dem Urteil.

  1. war von Verzweiflung besetzt. Wie sollten sie und ihr kleiner Sohn in einem Land leben, in welchem sie seit der Kindheit nur Gewalt durchstehen musste? – in welchem zudem die Folgen der kollektiven Gewalt des Krieges jeden Winkel besetzten? Erneut nur Ohnmacht? Das empfand M. als nicht zumutbar, als ungerecht und unerträglich. Mit ihrer Verzweiflung einher ging die Wut auf Frau B. und – plötzlich spürbar – das überwältigende, beinah erstickende Bedürfnis, diese »feige Person zu bestrafen«, als Rache für alles, was diese ihr angetan hatte. Ausgebeutet und in die Schuld gestoßen habe Frau B. sie, obwohl sie ihr ständig helfen musste, auch helfen wollte. Wutbesetzt, weil zutiefst erniedrigt fühlte sich M., als sie zu einem der letzten Gespräche kam. Ihre Ohnmacht gegenüber persönlicher und offizieller Macht besetzte sie und war für sie nicht mehr ertragbar. In ihrer Seele tobten Gefühle von Wut, Ohnmacht und Hass. Sie schrie laut und schlug mit den Fäusten gegen die Stirne, zitterte und glitt allmählich ab in die Phantasie der tödlich-strafenden Gerechtigkeit. Ungerecht behandelt wurde sie von der Polizei, also Rache an der Polizei? Auch das Urteil war ungerecht ausgesprochen worden, also Reche an den Richtern? Doch all dies war nicht möglich zur realisieren. Rache also an Frau B.? In M. wuchs ein fester Plan an. Da spürte sie meinen Blick auf sich. M. blickte mich an und wurde plötzlich still, begann zu schluchzen, so heftig, so ungeschickt und ungewohnt, ein so stumpfes Schluchzen, dass sie kaum mehr atmen konnte. Den Kopf legte sie auf ihre Knie und hielt mit den Armen ihre Beine umschlungen. Ihre rechte Hand hielt ich in meinen Händen. Löste sich mit dem Schluchzen ihr Hunger nach Rache auf?. Wie war dies möglich?

Als M. in der Gesprächsstunde ihre Verzweiflung ausstieß und gegen ihr Gefühl der Ohnmacht tobte, da erlebte sie, dass sie dies durfte, dass ihr das Recht auf diesen »Ton« zustand, dass ihr dieses Recht nicht abgesprochen wurde, weil sie eine »Fremde« war, auch nicht, weil sie als schuldhaft galt. Weder hierarchische Abwehr noch Angst wurde ihr in diesem Gespräch entgegengebracht. Keinen Augenblick musste sie spüren und oder hören, sie sei »böse« oder »herzlos«. Sie nahm einen Blick auf sich wahr, der Verstehen ausdrückte, und sie spürte eine Haltung sich gegenüber, die dem entsprach, was Verstehen und Mitleiden – »sym-pathein« – bedeutet. Das mochte als erste Korrektur ihrer Erfahrungen der Entwertung genügen und ließ sie spüren, dass ihre verwundete Seele heilen durfte, dass verborgene, gute Kräfte erwachen konnten. Tatsächlich war es möglich, dem brennenden Hunger, der wie ein innerer Zwang in die destruktive Aggressivität weggleiten lässt, vor einem erneuten rachebesetzten Handeln einen Halt zu geben.

  1. schluchzte lange, stand dann auf und sagte, sie wolle nicht noch mehr Schaden anrichten. Das würde nichts gutmachen, das sehe sie ein. Dass sie sich durch Frau B. habe in die Rache aufstacheln lassen, sei das Sinnloseste gewesen. Sie blickte mich an: Das Bild vom Kabel des Bügeleisens sei damals in ihr wach geworden, die nie geheilte, in ihr brennende Gewalt habe sie beherrscht. Sie habe geschlagen, wie in Trance, um endlich keine Ohnmacht mehr zu spüren. Dann sei sie daraus erwacht, voll Entsetzen. Nein, dreinschlagen nütze nichts, im Gegenteil. Durch die Rache habe sie sich Schuld auferlegt, und mit der Schuld habe sie sich selber Schaden aufgeladen, auch zusätzliches Leiden. »Rache ist Selbstbetrug«.

Ein guter Anwalt ließ sich finden, der sich für sie einsetzte. Seine Bemühungen bewirkten einen Aufschub der »Bestrafung«, doch es gelang ihm nicht, das Urteil, das schon gefällt war, zu korrigieren. Bei M. löste sein fachkundiger Einsatz zu ihren Gunsten eine Erschütterung aus: da gab es ein männliches Verhalten ohne Willkür und ohne herabsetzenden Umgang mit ihr, da war jemand, der allein bestrebt war, für ihren menschlichen Wert zu kämpfen. Wenn sie von »ihrem« Anwalt sprach, war zu spüren., wie geehrt, gestärkt und – zugleich – wie verwirrt sie sich fühlte.

Bei der als Strafe auferlegten Wegreise mit dem Sohn empfand M. das erste Mal eine leise Selbstachtung, obwohl sie die Trauer um die Schuld, die auf ihr lastete, nicht verdrängte. Doch am stärksten besetzte sie Angst. Wer sollte ihr beistehen im Land ihrer Herkunft, in welchem sie nichts erwarten konnte, was dringliche Voraussetzung ist, um gut zu leben? Einen »Arzt« könne sie dort nicht finden. Wie würde sie mit dem Hungergefühl und dem Schmerz, der sie dort von den ersten Lebenstagen an immer gequält hatte, die Zuversicht erhalten können, die in den vergangenen Wochen erwachen konnte? Wie sollte ihr kleiner Sohn, der durch seinen stillen Gehorsam und seine Traurigkeit auffiel, in einem Land groß werden können, wo es keine gute Erinnerung, kein gutes männliches Vorbild und keine Existenzsicherheit gab? Ach, warum wollte ihr die Schweiz nicht das Recht zugestehen, dass ihr Leiden hier heilen und dass sie ihre Schuld hier gutmachen konnte?

Meine Sorge war, dass sie in ihrem Hunger nach Liebe erneut in eine maligne Beziehung hineingeraten würde, so dass das Erleiden – eventuell auch das Tun – von Gewalt sich fortsetzen würde. Hatte M. denn genug lernen können, um sich selber beizustehen und ihrem Kind eine stärkende Mutter zu sein? Mit der Ausweisung aus der Schweiz, die auch unter anwaltschaftlichem Einsatz nicht verhindert werden konnte, erlebte sie erneut einen Riss in ihrer Hoffnung, nicht mehr leiden zu müssen, sondern von menschlicher und von rechtlicher Seite her eine Korrektur ihrer Ohnmacht zu erfahren, endlich ein »gutes Leben« leben zu können. Es wurde mehr als spürbar, dass Selbstschau, Sprechenkönnen und Verstandenwerden von hohem Wert sind für das allmähliche Genesen der verwundeten Seele, doch dass dies nicht genügt. So schnell nimmt die Verlorenheit und die angstbesetzte, sich in Wut steigernde Verzweiflung wieder überhand, wenn dem entwerteten und als »Fremden« bezeichneten Menschen nicht existentielle Rehabilitation angeboten wird, nicht warme »Hospitalität« und nicht rechtliche Sicherheit.

Ist es angemessen, dass Medea – und M. – anders gedeutet werden?

 

Nachwort

»Verzeiht meine Schwestern

ich habe euer Schweigen in mein Herz genommen

Dort wohnt es und leidet die Perlen eures Leides

klopft Herzweh

So laut so zerreißend schrill

Es reitet eine Löwin auf den Wogen Oceanas

Eine Löwin der Schmerzen

Die ihre Tränen längst dem Meer gab« (Sachs 1981, S. 167)

Medea – auch M. – ist »Löwin auf den Wogen Oceanas«, durch den Schmerz des offenen Traumas zugleich getragen und in Gefahr zu ertrinken auf dem sturmgepeitschten Erdmeer, verzweifelt auf der Suche nach einer Insel, welche Obdach bieten würde, vielleicht gar Heimat, und wo Genesung möglich sein könnte.

Der Begriff »Trauma« stimmt mit dem griechischen »trauma« in der Bedeutung von »Wunde«, auch von »Leck« überein, wie ich schon erwähnt habe. Er ist abgeleitet vom Verb »titroskein« – durchbohren, verwunden, und von »teirein« – reiben, aufreiben. In Homers »Odyssee« wird »trauma« gebraucht, um das Leck am Schiff und die damit verbundene angstbesetzte Gefährdung zu schildern. Von medizinischer Seite her wurde erstmals in der Zeit des Ersten Weltkriegs wissenschaftlich festgestellt und belegt[1], dass schwer traumatisierte Soldaten, die im Zusammenhang der Kriegsgewalt häufig Opfer und zugleich Täter sind, von der Komplexität der Leidensfolgen – als posttraumatisches Stress-Syndrom (PTS) bezeichnet – in hohem Maß verschont bleiben konnten, wenn sie unmittelbar nach einem erschütternden »Schock«, wie der Erfahrung tödlicher Bedrohung, eigener schwerer Verwundung, der Tötung nahestehender Kameraden etc., aus dem Gefahrengebiet entfernt und mit Sorgfalt behandelt werden konnten, auch dass die Heilungschancen um so größer waren, je stärker sie sich auf eine nicht trauma-belastete Vorgeschichte abstützen konnten.

Was in der Komplexität des psychischen Leidens bei überlebenden Soldaten während des Ersten Weltkriegs erkannt und benannt wurde, fand nach dem Zweiten Weltkrieg noch größere Beachtung, vor allem wegen der seelischen und körperlichen Langzeitleiden von Opfern, insbesondere von Holocaustüberlebenden in Israel sowie in allen übrigen Ländern, in denen sie Aufnahme gefunden hatten. Ebenso wurden Soldaten und Opfer aus dem Vietnamkrieg, Opfer des Pol Pot-Regimes in Kambodscha, der Diktaturen in Chile und Argentinien, Folteropfer aus der Türkei, Opfer aus dem Jugoslawienkrieg, Opfer von Vergewaltigungen und anderer schwerwiegender Gewalterfahrungen untersucht. Die Literatur dazu ist immens und stimmt in der Beschreibung der vielfältigen Symptome überein. Sie stimmt auch darin überein, dass fortgesetzte oder erneute Traumatisierungen das primäre posttraumatische Leidenssyndrom verstärken und eine Heilung erschweren (vgl. hierzu z.B. Keilson 1979; Mentzos 1982; Becker 1992; Kernberg 1997).

Bei Medea wie bei M. wurde das psychische Leiden durch schwere psychische Verwundungen verursacht, bei M. auch durch maßlose Gewaltübergriffe auf ihren Körper. Doch weder Medea noch M. wurden nach der ersten Traumatisierung »gerettet«, um von der seelischen Verletzung geheilt zu werden; auch gab es nicht gute, stärkende Kindheitserfahrungen, auf welche sie sich wie auf eine tragende innere »Substanz« hätten abstützen können. Über Medeas Kindheitsgeschichte ist nichts bekannt, doch muss angenommen werden, dass sie schon früh unter gefährdenden Lebensbedingungen stand und naturhafte Überlebensfähigkeiten zu entwickeln begann. Über die Vorgeschichte ihrer maßlosen Rache an Jason und Kreusa wissen wir nur, was die Zeit in Kolchis und was ihre Ehe betrifft. Auch zu Gunsten von M.’s Leidensverminderung gab es keinen Rückhalt in Kindheit und Jugend; jegliche unterstützende Hilfe, deren sie bedurfte, hatte ihr gefehlt. Die Waisenhausverantwortlichen kümmerten sich weder um die psychischen Folgen der Mutterlosigkeit noch um jene der gewalt- und angstbesetzten Alltagssituation seit der frühen Kinderzeit, die in jeder Hinsicht geprägt war durch eine schwere Zuwendungs- und Beziehungsdefizienz. Nicht im geringsten kümmerten sie sich um die Tatsache der jahrelangen Peinigungen, denen M. ausgesetzt war. In der Zeit der frühen wie der nachfolgenden Traumatisierungen standen M. weder professionelle Hilfe noch ein stärkender Rekurs auf Erfahrungen der Fürsorge und des eigenen Wertes zur Verfügung. Sie blieb in allem sich selbst und ihrem Gefühl der Ohnmacht überlassen. Ihre Entwicklung im frühen Erwachsenenalter macht deutlich, wie folgenschwer die nicht aufgearbeiteten, wiederholten Traumatisierungen weiterwirkten. Zusätzlich zu den Erfahrungen der Ausnutzung und Ohnmacht kam für sie als Emigrantin und Asylsuchende jene der rechtlichen Diskriminierung als »Fremde«, bis schließlich die Zuspitzung mit der »Ungerechtigkeit« der Schuldzuweisung im Strafverfahren erfolgte.

Die Linderung des Leidens durch therapeutische Gespräche – die sorgfältige »Selbstschau«, deren Verstehen und Klären, wie ich sie geschildert habe – wurde in wissenschaftlicher Hinsicht vielfältig beachtet; es wurde jedoch (und wird zumeist auch heute noch) zuwenig ernst genommen, dass mit dem psychischen Schmerz und den daraus sich verhärtenden somatischen Leiden existentielle und rechtliche Probleme einhergehen können, die der sozialen und anwaltschaftlichen Hilfe bedürfen, wie dies die Geschichte von M. deutlich macht. Auch wird übergangen, dass Verluste oder Infragestellungen der gesellschaftlichen Sicherheit sich gerade durch den beeinträchtigten Rechtsstatus im Asylverfahren – auch im Strafverfahren – immer wieder retraumatisierend auswirken. Dies mag unter anderem die Erschwerung, eventuell gar die Verhinderung einer guten Ausbildung und beruflichen Tätigkeit betreffen, die ermöglichen könnte, eine Existenzqualität aufzubauen, der Zukunft entgegenzuschauen und so dem Wert zu leben zustimmen zu können, oder es mag auf einer alltagspraktischen Ebene um den Mangel an Wohn- und Beziehungsmöglichkeiten gehen, die den Grundbedürfnissen entsprechen.

Immer wieder kommt es vor, dass der psychische Prozess der Verdrängung, dieser vom Wunsch zu vergessen gesteuerten Anstrengung, bewirkt, dass die Gewalt, zusätzlich zu den Symptomen der posttraumatischen Leidensfolgen, zum beherrschenden inneren Druck wird, wie ein Stein oder wie eine eiserne Zange, welche die Seele zum Ersticken bringt. Durch die Verdrängung können durchgestandene Erfahrungen der Erniedrigung und der Lebensbedrohung nicht aufgehoben werden, sie können auch nicht besser ertragen werden, im Gegenteil. Die Gefühle der Ohnmacht wachsen auf lähmende Weise an. Was als Major Depression diagnostiziert wird, kann sich zum Verlust jeglicher Lebenskraft und Lebenszustimmung in die Suizidalität zuspitzen, auch wenn, wie dies heute üblich ist, mit der Diagnose durch Psychopharmaka die »Behandlung« systematisiert wird. Allein der Begriff »Behandlung« verweist auf die Tatsache, dass häufig leidende Menschen zu Objekten der diagnostischen und medikamentösen Zu- und Unterordnung, in der Folge der regulierenden und kontrollierenden Abhängigkeit gemacht werden. Der Weg zurück zum vielfältig aktiven und selbstverantwortlichen Ich wird auf diese Weise weder im Emotionalen noch im Verstehen und Handeln kaum möglich; kaum kann es zur selbstsicheren Übereinstimmung kommen. Das Leben wird als schwer und zugleich als leer empfunden, häufig als sinnlose Pflicht.

»Als der große Schrecken kam

wurde ich stumm –

Fisch mit der Totenseite

Nach oben gekehrt

Luftblasen bezahlen den kämpfenden Atem« (Sachs 1981, S. 18)

Nicht selten führt der innerpsychische Prozess der Verdrängung zur Externalisierung der erlittenen Gewalt, wie dies bei Medea und bei M. deutlich wird, zur nicht mehr kontrollierbaren Wut, zum blinden Wunsch nach Korrektur der Ohnmacht und des erlittenen Unrechts durch Rache. Internalisierung und Externalisierung sind Ausdruck und zugleich Abwehrversuche des Leidensdrucks, mit konträrem Resultat; zusätzliches Leiden wird dadurch verursachet, eventuell auch schwer belastende Schuld.

Die Externalisierung, durch welche das Opfer zum Täter oder zur Täterin wird, geschieht als Anreiz zur »Ermöglichung« einer Korrektur der Ohnmacht, auf je persönliche Weise, ob im beziehungsintimen oder »häuslichen« Umfeld, wie bei Medea und wie bei M. ob in einer Situation der sog. »legitimen« Gewaltanwendung, etwa als Soldat in einem Krieg. Die Bereitschaft, sich als Soldat zum Töten anderer Menschen benutzen zu lassen, mag unter anderen Begründungen auch mit einem Wunsch nach Rache verknüpft sein, mit Rache an einem persönlichen oder an einem kollektiven Täter.

Die »Ermöglichung« im beziehungsintimen Zusammenhang ist immer Folge einer malignen Beziehungssituation, wie sie für Medea und, auf vielfältig andere Weise, auch für M. zutraf. Unter »maligner Beziehung« verstehe ich eine Beziehungskonstellation, in welcher sich eine destruktive Dynamik entwickelt, die infolge existenzgeschichtlicher Hintergründe und je aktueller Umstände eine Konstellation von Macht, gegenseitiger Abhängigkeit und Ohnmacht von zwei oder mehr Menschen schafft. Diese destruktive Dynamik bewirkt, dass die Kontrollfunktionen des Ich – nicht nur das Gewissen, sondern auch das Gemüt, beides dem griechischen »daimonion« entsprechend – den Triebimpulsen gegenüber abgeschwächt oder gänzlich aufgelöst sind, so dass deren Ausagieren nichts mehr entgegensteht.

Wenn eine Beziehung jeglicher stärkenden, nicht ängstigenden »holding function« entbehrt, schafft die Dominations- und Unterwerfungsstruktur eine gegenseitige, durch Gefühlsambivalenz geprägte Abhängigkeit, welche quasi notwendigerweise zur Verwirklichung von Machtphantasien führt, mit häufig sadistischem oder, auf der anderen Seite, selbst-schädigendem, masochistischem Rollenverhalten. In dieser Konstellation entwickelt sich beim einzelnen Beziehungspartner resp. bei der –partnerin ein je spezifisches Über-Ich, welches die in anderen Situationen funktionierenden Kontroll- und Warnfunktionen des persönlichen inneren Kontrollmaßstabes (»das gehört sich nicht«, »das darf man nicht«) schwächt oder gar aufhebt, das auf jeden Fall durch die zweifachen Aspekte der Machtphantasien überdeckt wird: durch das Gefühl der Selbstüberhöhung, indem einerseits befohlen werden kann, indem das Handeln delegiert wird (das steht nur »Mächtigen« zu, so Medea selber und Frau B. in der Geschichte von M.), indem andererseits eine Handlungsermächtigung und damit eine Korrektur der Ohnmacht zugestanden wird (den »Schwachen«, in der aktuellen Geschichte M. selber).

»Diese Telegraphie misst mit der Mathematik à la satane

die empfindlich musizierenden Stellen

an meinem Leib raus.

Ein Engel aus den Wünschen der Liebe erbaut

stirbt und aufersteht in den Buchstaben

in denen ich reise« (Sachs 1981, S. 157)-

Die Geschichte von M., die M. selber darstellen konnte, bestätigt die Deutung maligner Beziehung. Das Verhältnis zwischen ihr und Frau B. war nach dem Tod von Frau F. mit unausweichlichem Druck negativ bestimmt. Mehrmals schilderte M., dass sie sich wegen des Versprechens, das sie Frau F. kurz vor deren Tod gegeben hatte, verpflichtet fühlte, Frau B. zu helfen, obwohl sie eine starke Abneigung gegen die unberechenbare, gewalttätige und ausnützerische, zudem übergewichtige und ungepflegte alte Frau hatte, die sie immer wieder auf übel wollende Weise ihre Macht spüren ließ, etwa als sie kurz nach der Geburt des kleinen Sohnes nach einem gemeinsam verbrachten Wochenende M. mit dem Kind auf dem Arm aus dem Auto auf den Pannenstreifen neben der Autobahn stieß und davonfuhr.

  1. wusste um die Wut- und Rachegefühle, die Frau B. gegen sie besetzt hielten, weil sie mit Frau F. ein intimes Verhältnis gehabt hatte. Frau B. telephonierte ihr ständig, sie müsse zu ihr »den Dreck putzen« kommen, auch den übrigen Haushalt erledigen. Immer habe sie schlecht über M. gesprochen, sie habe ihr schaden wollen, wegen der Sache mit Frau F., aber auch weil M. mit ihr kein solches Verhältnis haben wollte. Zwischen Frau B. und M. bestand eine Verstrickung in Hassabhängigkeit, von pathologischen Machtphantasien beherrscht, die sich verhängnisvoll auswirkten. An jenem Tag, als Frau B. die über vierzig Jahre jüngere M. aufforderte, den wehrlosen Untermieter mit Schlägen zu »züchtigen«, trat sie – scheinbar – ihre Macht an den »Tschumpel« ab, wie M. sich selber kennzeichnete. Nun waren die Rollen umgekehrt, sie war nicht mehr das wehrlose Opfer in der verschlossenen Kammer im Waisenhaus von Z., sondern sie war ermächtigt, selber zu schlagen, zu schlagen, hundertmal und mehr, mit einem vergleichbaren Gegenstand, das Opfer in der gleichen Wehrlosigkeit. Die Wiederholung der selber erlebten Traumatisierung, jedoch mit umgekehrten Rollen, bewirkte jene Abspaltung, durch welche moralische oder rationale Überlegungen (»das darf ich nicht«; »damit schade ich nicht nur dem alten Mann, sondern auch mir selber«) keinen hindernden Einfluss mehr ausüben konnten. Das Opfer in der Rolle der Täterin schuf nicht nur ein neues Trauma-Opfer, sondern stieß sich selber in eine fatale eigene Retraumatisierung zurück.

Was Medea nicht zustand, konnte M. erleben. Sie brauchte Zeit und Geduld, bis sich ihr Misstrauen, die Therapeutin könnte eine Agentin der Behörden sein, auflöste und sie sich innerlich bereit erklären konnte, ihren Widerstand abzulegen. Dazu kam der schwere Druck, den der angekündigte und näher rückende Ausschaffungstermin auf sie ausübte, die lähmende Angst vor dem Zwang, »dort« wieder leben zu müssen, wo ständige Gewalt sie geprägt hatte. Durch das allmählich entstehende Vertrauen spürte sie jedoch, dass die Klärung eine Möglichkeit des eigenen Erkennens und des Selbstwertes weckte, dass so allmähliche ein Bedürfnis ernstgenommen wurde, das zum Hunger geworden war, weil es immer ungestillt geblieben war. So konnte der schwierige Heilungsprozess beginnen.

Dass dieser Heilungsprozess durch die Strafe der Zwangsrückschaffung unterbrochen wurde, empfand M. für sich und ihren Sohn als verhängnisvoll. Die Strafe kam einer schweren Retraumatisierung gleich. M. wurde damit in die durch Beziehungslosigkeit und Gewalt bestimmten Ursprungsbedingungen ihrer Kindheit sowie in die Erfahrungen der frühen Adoleszenz zurückgestoßen, in die Spirale der durchgemachten Verluste und Gewalterfahrungen, des psychischen Leidens und der Wehrlosigkeit, damit auch in die Gefahr einer erneuten, nicht vorhersehbaren Situation maligner Umkehrung der Traumatisierungsfolgen – vom Leiden in Gewalt – in ihrem durch Krieg und Hass zerstörten Herkunftsland.

Wie steht es also mit dem Herzen der »bösen« Medea und der gefährdenden M.? Nicht »Herzlosigkeit« kennzeichnet diese Frauen, im Gegenteil. Deren leidendes Herz bedarf des Verstehens der Ursachen des Leidens. Es bedarf bei der klärenden »Selbstschau« der verlässlichen »ärztlichen« Unterstützung – des »sym-pathein« –, wodurch plötzlich oder allmählich das Staunen über den Wert der eigenen Besonderheit geweckt werden kann. So mag es möglich werden, das Bedürfnis, »Böses« zu tun, um sich zu rächen, aufzulösen. Dies mag die erste Erfahrung von Freiheit sein, von dieser geheimnisvollen Kraft der kreativen Zustimmung zum Leben, die erste Erfahrung der liebevollen Selbstzustimmung und Selbstanerkennung, wenn seit der Kindheit psychischer Hunger und Ohnmacht zum Alltag gehörten. Eine Wahl und eine allmähliche Sicherheit der Wahl in der Lebensgestaltung wird dadurch spürbar, auch eine Sicherheit in normativer Hinsicht: es bedarf nicht des Entscheids des Entweder-Oder zwischen »Unrecht erleiden« oder »Unrecht tun«, sondern ein dritter Weg kann erwogen werden. Es bedarf der Sorgfalt um die Folgen jedes Handlungsentscheids auf das eigene Wohlbefinden, das nicht mehr gefährdet ist, wenn den Nächststehenden nicht Schaden angetan wird.

»Selbstschau« in Robert Walsers Bedeutung vermag, das dunkle Unheimliche im Überlebenshunger der verwundeten Seele zu klären. Damit wird es auch möglich, dass die Angst sich als besetzende Kralle von der Seele löst: Angst kann wieder zur warnenden Kraft der Psyche werden, die lediglich spürbar ist, wenn tatsächlich eine Gefährdung besteht.

Im untersuchenden Vergleich von Medea und M. mag die Hoffnung begründet und spürbar werden, dass, selbst wenn lange Jahre der psychischen Not die Entwicklung prägten und in ein »böses« Verhalten drängten, Genesung und Neugestaltung des Lebens im Sinn eines dritten Weges möglich ist.

 

Literatur

 

Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. v. Eugen Rolfes, hrsg. v. Günther Bien, Hamburg, Felix Meiner Verlag 1985;

Battegay, Raymond, Die Hungerkrankheiten. Unersättlichkeit als krankhaftes Phänomen, Frankfurt a.M. 1987;

Becker, David Thomas, Ohne Hass keine Versöhnung, Freiburg i.Br., Kore 1992;

Freud, Sigmund, »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1974;

Kernberg, Otto F., Wut und Hass, Stuttgart, Klett-Cotta 1997;

Keilson, Hans, Die sequentielle Traumatisierung bei Kindern, Stuttgart, Ferdinand Enke 1979;

Kristeva, Julia, Geschichten von der Liebe, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1989;

Kristeva, Julia, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1990;

Lütkehaus, Ludger (Hrsg.), Mythos Medea, Leipzig, Reclam 2001;

Mentzos, Stavros, Neurotische Konfliktverarbeitung, München, Kindler 1982;

Novak, Helga, »Brief an Medea«, in: L. Lütkehaus (Hrsg.), Mythos Medea, Leipzig, Reclam 2001;

Pizan, Christine de, Das Buch von der Stadt der Frauen, Berlin, Orlanda Frauenverlag 1987;

Sachs, Nelly, Späte Gedichte, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1981;

Schmidt-Hellerau, Cornelia, Der Grenzgänger. Zur Psycho-Logik im Werk Robert Walsers, Zürich, Ammann 1986;

Seelig, Carl, Wanderungen mit Robert Walser, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1981;

Wolf, Christa, Medea. Stimmen, München, Luchterhand 1998;

Wolf, Christa, Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Gespräche, München 2000;

 

 

 

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