“Wenn das Leiden sich heimatlos niederlässt, stösst es den Überfluss aus” – Zu Chantal Wickis Skulptureninstallation “LE PAIN – THE PAIN” im Kreuzgang des Grossmünsters Zürich, Juni 1992
“Wenn das Leiden sich heimatlos niederlässt, stösst es den Überfluss aus” – Zu Chantal Wickis Skulptureninstallation “LE PAIN – THE PAIN” im Kreuzgang des Grossmünsters Zürich, Juni 1992
Der von Säulen und Wandelgängen abgeschlossene Garten mitten in dieser Stadt, der Kreuzgang, ist ein Ort des Rückzugs. Vor Jahrhunderten wurde er zur Meditation angelegt, zu einer Zeit, als das Christentum sich mit dem Schwert ausbreitete und sich mit dem Feuer der Inquisition seine Herrschaft sicherte. Alles Wilde und Anarchische sollte gezügelt, alles Abweichende, alles Häretische sollte ausgemerzt werden. Die strenge Ordnung, die im Kreuzgang zum Ausdruck kommt, gibt von jenem Geist Zeugnis: die Regelhaftigkeit der in die vier Himmelsrichtungen weisenden Wege, die sich rechtwinklig schneiden, wobei der Kreuzungspunkt der Diagonalen, die die Schnittpunkte der vier Geraden quer verbinden, innerhalb des Gevierts zum Zentrum von acht Wegen wird, ausserhalb des Gevierts aber, in der imaginären Weiterführung der Geraden und der Diagonalen, zum Zentrum von zwölf Wegen, die hinaus in die Welt führen und dort nicht mehr Gerade sind, sondern sich der Erde entlang kriimmen. Vom Zentrum inmitten des Gartens aus weist ein weiterer Weg, unsichtbar und vibrierend, zugleich nach oben und nach unten, ein vertikaler Weg wie ein Ruf, der das All durchdringt und in die Erde stösst.
Hier nun in diesem sakralen Geviert, das aus der Geometrie von dreizehn sinnenfälligen und imaginären Wegen gebaut ist, stehen die von Chantal Wicki geschaffenen, unentrinnbar zusammengeschlossenen Frauenfiguren wie ein häretisches Ärgernis, wie eine barbarisch-sinnliche Attacke: Vier majestätische Karyatiden mit zweiunddreissig Brüsten und mit acht Köpfen, die mit weitgeöffneten Augen auf die acht inneren Wege und auf die Stirnseiten des Gevierts blicken, von denen aus, dem Zentrum zugewandt, vier schwarze lachende Schwestern die vier flammenähnlich umschlungenen, ringenden Gestalten auf den Köpfen der Karyatiden betrachten. In die verschiedenen Himmelsrichtungen und zugleich in die nicht-endende Wiederholung der Gesetzmässigkeit von Unterdrückung und Auflehnung weisen goldene Lettern, die den Skandal des Sakralen, den unversöhnbaren Widerspruch innerhalb der christlichen Kirche – nicht nur damals, sondern auch heute – anzeigen: Überfluss und Elend, Brot und Schmerz, “LE PAIN – THE PAIN”. Und wieder sind es, analog der strengen Geometrie der dreizehn Wege, dreizehn Elemente, die im Garten des Kreuzgangs die skulpturale Einheit bilden: – Die eine zentrale achtköpfige Figur, die vier verschlungenen Ringenden, die vier Lachenden, die zweimal zwei Namen. Was allerdings wie ein Fest wirkt (die Karyatiden sollen ja ursprünglich steingewordene Abbilder der Mädchen gewesen sein, die beim Fest der Artemis – der heidnischen Herrin der Tiere, der göttlichen Jägerin – im Tempel von Karyai getanzt haben), ist zugleich aufwühlende Pein.
In einem ihrer letzten Gedichte schreibt die alte Nelly Sachs: “Wenn das Leiden sich heimatlos niederlässt, stösst es den Überfluss aus” …. Damit mag das skulpturale Werk im Garten des Kreuzgangs zu tun haben, aber ohne dass Chantal Wicki sich auf Nelly Sachs beziehen würde. Ihr Konzept steht viel näher den Analysen Elias Canettis, wie er sie in “Masse und Macht” formuliert. “An der Kirche gemessen, erscheinen alle Machthabenden wie traurige Stümper”, schreibt er. Und indem er auf den Kult eingeht, auf diese Inszenierung aus prunkvollem Ornat und machtbewusster Gemessenheit, vergleicht er ihn mit einer “unendlich verdünnten Totenklage, (die) über die Jahrhunderte mit solcher Gleichmässigkeit verteilt ist, dass von der Plötzlichkeit des Todes, der Heftigkeit des Schmerzes kaum etwas übriggeblieben ist: der zeitliche Vorgang der Klage ist mumifiziert”. Dem stellt sich Chantal Wicki entgegen, dem lebensfeindlichen, erstickenden Mief, der Scheinmoral dieser “Klagereligion” (wie Canetti sie nennt). Ihre Gegendemonstration ist die aufmerksame Präsenz der achtköpfigen Karyatiden, der bacchantische Überfluss der Frauenbrüste, aber auch die gequälte Direktheit der Machtlosen. Phine Paul Juni 1992