Die psychotherapierte Gesellschaft – der Preis des “Fortschritts”?

Die psychotherapierte Gesellschaft – der Preis des “Fortschritts”?

Kulturwerkstatt Kaserne  / Basel,  13.  11.  1996

 

Das Thema  des heutigen  Abends zwingt  uns, unsere  Gesellschaft auf ihre Fehlentwicklungen hin anzuschauen.  Eine Reihe von Fragen  drängen  sich auf:  Wie kommt es, dass wir eine Gesellschaft  von therapiebedürftigen,  d.h.  von seelisch leidenden Menschen  sind? – dass alte und junge  Menschen,  auch Menschen im sog.  “besten”  Alter,  dass selbst schon Kinder,  immer mehr Kinder therapiebedürftig sind? Warum brauchen so viele Menschen  eine Therapie? Woran leiden sie? Was wird mit den Therapien bezweckt? – resp. nach welchem Menschenbild richten  sich die Therapien  aus? – resp. was wird unter Begriffen wie  “Normalität”  oder “gesunder” Mensch  verstanden? Und da die Therapeutinnen und Therapeuten auch Mitglieder dieser gleichen Gesellschaft sind, stellt sich die Frage,  wie weit sie überhaupt fähig sind, Hilfe zur Heilung vom Leiden  an der Gesellschaft zu bieten.

Meine These ist,  dass die Entfremdung der Menschen  so allumfassend und allbeherrrschend geworden ist,  dass das Leiden  übermächtig wird.  Was ist unter  “Entfremdung”  in der philosophischen Begriffsverwendung zu verstehen?  Der Begriff  stammt ursprünglich von Hegel,  der in seinen “Vorlesungen über die Philosophie  der Geschichte”  festhielt,  dass die menschliche  Geschichte zugleich  die Geschichte der Entfremdung des Menschen  sei. Der Mensch  sei nie,  was er sein sollte,  und er sollte sein,  was er sein könnte. Eine knappe Formel, welche Hegels  Kritik an der  – dem Wesen nie gerecht werdenden  – Existenz  zusammenfasst. Etwa  hundert  Jahre später  schrieb Walter Benjamin im Exil in Paris in seinem Essay über den “Begriff der Geschichte”,  dass “niemals ein Dokument der Kultur sei, das nicht zugleich eines der Barbarei sei”. Und einige Zeilen später,  dass “die Tradition  der Unterdrückten uns darüber belehre,  dass der ‘Ausnahmezustand’,  in dem wir leben,  die Regel sei”. Für den jungen  Marx, wiederum  hundert  Jahre früher,  ebenfalls als Emigrant  in Paris,  schon damals,  wurde  der Entfremdungsbegriff  zum Instrument seiner Gesellschaftskritik,  der es ihm erlaubte,  die Folgen einer durch ausschliessliches Profitstreben und zunehmende  Arbeitsteilung geprägte Entwicklung herauszuarbeiten. Entfremdung bei Marx heisst Abkoppelung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, damit Entzweiung  des Menschen mit sich selbst, Zerstörung  seiner Individualität,  Versklavung, ja Verdinglichung des Menschen. Marx zielte mit seiner Kritik nicht einfach auf höhere Löhne ab oder auf gleiche Löhne für alle, wie er immer wieder  falsch interpretiert wurde,  sondern auf die Wiederherstellung sinnhafter Existenz.   Doch ich will nicht länger bei den in den “Philosophisch-ökonomischen Manuskripten” von 1844 und später im “Kapital” wieder aufgegriffenen Thesen verweilen,  sondern von diesen zu einer kurzen Bestandesaufnahme der entfremdenden,  seelisch krankmachenden Entwicklungen in unserer Gesellschaft übergehen,  in welcher  die von Marx thematisierte  Sinnentleerung noch weiter fortgeschritten ist.

Weiche Entfremdungserscheinungen stellen wir heute in der alltäglichen Realität fest? Entfremdung des Menschen von sich selbst, vom eigenen Bild, von den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten infolge gesellschaftlich  normierter Erfolgs- und Glücks- und Schönheitsbilder, aber auch infolge einer in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen tatsächlich oder latent spürbaren  Gewalt,   Entfremdung daher von der eigenen Emotionalität, von der eigenen Körperlichkeit und von der eigenen Sexualität, von den eigenen Schwächen und Kräften; Entfremdung auch vom eigenen Zeitrhythmus  durch das Diktat  einer vorweg gesteigerten Beschleunigung aller Arbeitsleistungen und Tätigkeiten,  mit ständiger  Gehetzheit und Gestresstheit der Menschen  als Folge; Entfremdung vom Wissen um Raumverhältnisse resp. um Distanz und um Nähe  durch die extreme Beschleunigung  der Transporte,  vor allem aber der Kommunikation (diese erfolgt schon mit Lichtgeschwindigkeit),  sodass Ereignisse und Erkenntnisse veralten und “wertlos”  werden,  bevor sie erzählt oder sonst irgendwie vermittelt werden  können,  Entfremdung daher vom Wert des gelebten Lebens und der eigenen existentiellen und kognitiven  Erfahrung; Entfremdung vom Wissen um die Unterscheidung von Grundbedürfnissen und Sekundär-  und Tertiärbedürfnissen,  da das eminente Bedürfnis nach Geld alle anderen  Bedürfnisse überdeckt,  ein Entfremdungsgrund, den schon Marx aufgedeckt hat, der heute mit  der Käuflichkeit  aller Güter in einer von Werbung  und Angeboten beherrschten Welt durch die Unterschiedslosigkeit,  mit welcher der Wert und die Notwendigkeit all dieser Güter  angepriesen wird, ‘exponentiell  angewachsen  ist, Entfremdung insbesondere hinsichtlich  des Bedürfnisses nach Sicherheit und Unverletztheit der eigenen personalen Integrität und jener  der Menschen,  die man liebt und für die man sich verantwortlich fühlt,  vor allem jener  der Kinder,  durch das Gefühl einer aktuellen oder einer untergründigen ständigen vitalen Bedrohung; Entfremdung von der Sprache,  resp. vom  Sinn und von der Bedeutung der Wörter  durch deren Denaturierung durch Werbung und Propaganda; Entfremdung von den anderen Menschen und von sinnschaffenden Beziehungen, da Beziehungen immer weniger als gemeinsames verpflichtendes  Projekt,  sondern als Teil der konjunkturbedingten,  austauschbaren Güterwelt  verstanden  werden  und da sie in unendlich vielen Fällen von der allgegenwärtigen Gewalt infiziert sind;  Entfremdung von der Natur durch die überhandnehmende Künstlichkeit  der Welt, in welcher perfektionierte Machbarkeit, “virtuel reality”  die eigentliche Natur verdrängt,  die ohnehin durch rücksichtslose Ausbeutung und Verschmutzung allmählich völlig verarmt und erstickt; Entfremdung vom Produkt der Arbeit – der zentrale Kritikansatz von Marx – durch die Folgen der extremen Arbeitsteiligkeit und Rationalisierung,  damit Entfremdung von der Arbeit selbst, da diese allein nach Profitmaximierungskriterien erfolgenden Standortkriterien angeboten oder entzogen  wird,  nach Kriterien der zu steigernden share-holder-values und nicht nach den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen,  mit dem Resultat,  dass Menschen von einem Tag auf den anderen  für überflüssig  und für wertlos  erklärt werden; Entfremdung  von der Gesellschaft, da diese sich nicht mehr nach solidarischen,  sondern ausschliesslich nach ökonomischen Kriterien,  nach Rentabilitätskriterien definiert,  sodass die Rede von zu vielen” Menschen, von Übervölkerung,  von  Überalterung, von Überfremdung,  von “Massen”arbeitslosigkeit,  von Überlastung” des Sozialstaates zwar scheinbar bedenkenlos in aller Mund ist,  potentiell aber jeden einzelnen Menschen existentiell bedroht, da jeder und jede einmal Kind ist und eventuell alt,  krank oder invalid werden kann,  und in jedem Ausland Ausländer oder Ausländerin ist, heute aber Kranke und Invalide,  alte Menschen, Kinder und nicht-zahlungskräftige Ausländer und Ausländerinnen,  insbesondere Flüchtlinge “zu teuer”  sind und daher, gemäss der Logik der kapitalistischen,  neo-liberalen Ökonomie,  eigentlich wegrationalisiert werden müssten  – kurz, Entfremdung  in allen Bereichen der individuellen Existenz und der Gesellschaft,  damit überhandnehmende  Sinnentleerung, das Gefühl des Ungenügens in allen Bereichen,  der fragmentierten,  für wertlos, für austauschbar und für überflüssig erklärten Existenz,  der umfassenden Fremddefinition durch häufig benennbare,  ebenso häufig aber durch nicht mehr benennbare Mächte,  das Gefühl des Ausgeliefertseins,  der Isolation,  der Bedrohung.

Nicht alle Menschen sind sich des Ausmasses an Entfremdung gleich bewusst, viele leiden scheinbar nicht unter der Tatsache,  dass Gewalt und Geld, Hektik und Stress, Propaganda  und Werbung  alles bestimmen.  Viele verdrängen und/oder kompensieren die eigene Instrumentalisierung erfolgreich.  “Instrumentalisierung”  bedeutet, dass Menschen zu einem ihnen selbst fremden Zweck gebraucht,  behandelt,  ev.  missbraucht werden,  sowohl Menschen, über welche in demütigenden  Untergebenen- und Abhängigkeitsverhältnissen verfügt  wird (so in besonderem Mass Kinder,  in allen sozialen  Schichten,  gerade  auch in wohlhabenden Verhältnissen,  deren Existenz häufig in erster Linie der Prestigesteigerung der Eltern dient), aber auch Menschen,  die scheinbar Macht besitzen,  die jedoch  auf Grund  ihrer Fähigkeiten innerhalb eines Systems zu einem ihnen fremden Zweck  eingesetzt,  resp.  instrumentalisiert werden.  Kant hat in seiner “Kritik der praktischen  Vernunft”  das Instrumentalisierungsverbot als   praktischen Imperativ” erklärt und diesem (neben dem kategorischen Imperativ) die Bedeutung einer wichtigsten ethischen Maxime verliehen.  Heute jedoch ist die Nichtbeachtung und Verletzung dieser ethischen Maxime die Regel.  Allein die Befolgung des Instrumentalisierungsverbots würde  dagegen  bedeuten,  dass die Würde der Menschen intakt bliebe.  Dazu aber bedürfte es einer solidarischen,  nicht nach Profitmaximierungskriterien strukturierten Gesellschaft,  in welcher  der gleiche Wert jedes Menschen auf Grund  der gleichen Menschheit in jedem Menschen  respektiert würde.  Sachen  dürfen instrumentalisiert werden.  Indem Menschen  instrumentalisiert werden,  werden  sie den Sachen gleichgemacht, werden  verdinglicht,  für austauschbar und, je nachdem,  für wertlos  und für vernichtbar erklärt. Die Instrumentalisierung der Menschen  ist die schwerwiegendste Entfremdungsursache.

Wenn ich eben sagte,  dass viele Menschen diese Tatsachen erfolgreich verdrängen  und/oder kompensieren,  heisst das nicht, dass sie unentfremdet leben.  Es gibt kein unentfremdetes Leben und keine unentfremdeten Menschen.  Marx entwickelte seine  Theorie als Theorie der Befreiung von Entfremdung.  Er glaubte an die Realisierung dieser Theorie in einem echten Sozialismus,  der den Menschen  erlauben würde,  alle ihre Grundbedürfnisse selbsttätig und in paritätischer Gegenseitigkeit zu befriedigen.  Dieser  Sozialismus  wurde  nie Wirklichkeit,  wird es wohl kaum je werden. Nach Marx wäre Aufhebung  der Entfremdung Glück.  Doch  Glück ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten”,  schrieb Freud in seinem Essay  “Das Unbehagen in der Kultur”  von 1929/30,  und er fuhr fort,  dass  was man im strengsten  Sinn Glück heisst, der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse  entspricht  und seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich ist. Jede Fortdauer  einer vom Lustprinzip  ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet,  dass wir nur den Kontrast intensiv geniessen können,  den Zustand nur sehr wenig”. Dagegen seien die Möglichkeiten,  Unglück zu erfahren,  vielseitig.  Das Leiden drohe  sowohl  vom eigenen Körper her, sodann von den unerbittlichen  und zerstörenden Kräften  der Aussenwelt her, sodann aus den Beziehungen mit anderen Menschen.  In welchem  Mass Menschen anderen  Menschen schwerstes  Leid zufügen können,  tiefste Demütigungen und unerträgliche Schmerzen, Zerstörung der körperlichen und seelischen Integrität durch Torturen jeder  Art, wissen wir von Überlebenden der polnischen Ghettos  und der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, der Vernichtungskriege in Vietnam,  in Kambodscha,  in afrikanischen Ländern,  der Folterkeller in den türkischen und in anderen Polizeistationen  und Gefängnissen überall in der Welt, der Gefangenenlager im noch kaum zu Ende gegangen Krieg im ehemaligen Jugoslawien, wissen wir auch von den Überlebenden schwerer,  häufig fortgesetzter sexueller und anderer Gewalttaten und den dadurch entstandenen  Traumatisierungen in unserer Gesellschaft.  Freud folgerte,  dass es “kein  Wunder sei,  wenn unter dem Druck dieser Leidensmöglichkeiten die Menschen ihren Glückanspruch zu ermässigen pflegen,  wie ja auch das Lustprinzip selbst sich unter dem Einfluss der Aussenwelt zum bescheidenen Realitätsprinzip umbildet, wenn man sich bereits glücklich preist,  dem  Unglück entgangen zu sein,  das Leiden überstanden zu haben, wenn ganz allgemein die Aufgabe der Leidvermeidung die der Lustgewinnung  in den Hintergrund drängt. “

Ist also  “Leidvermeidung”  das oberste Ziel? Freud untersucht  die verschiedenen Möglichkeiten der Leidvermeidung und bezeichnet als eine der ersten die “Intoxikation”,  als die “roheste, aber auch wirksamte Methode”,  mit der durch Zuführung  von körperfremden  Stoffen bewirkt werde,  dass Lustempfindungen geschaffen würden,  oder dass die Menschen  zur Aufnahme von Unlustregungen untauglich würden.  Betrachten wir unsere Gesellschaft,  so steht diese “roheste” Methode tatsächlich an erster  Stelle,  von Alkohl und Nikotin über alle möglichen legalen und illegalen Drogen, auch die heute modischen  sog.  Designer-Drogen,  etwa Prozac und Ecstasy,  zu den in den Apotheken käuflichen Psychopharmaka,  den von Hausäzten/- ärztinnen verschriebenen Amphetaminen,  Antidepressiva,  Schlafmitteln und anderen Mitteln bis zu den vor allem in der Psychiatrie  eingesetzen  Neuroleptica usw.  Die Frage stellt sich, ob die Methode der Intoxikation für die Leidverminderung tatsächlich wirksam sei. Die Erfahrung aller,  die sich über Intoxikation Glück oder wenigstens  Leidvermeidung verschaffen wollen,  ist, dass dies nach relativ   kurzer  Zeit nicht einmal mehr als episodische  Erfahrung möglich ist,  dass sich im Gegenteil  das Leiden ins Unerträgliche steigert.

Intoxikation ist eine kompensatorische Methode  des scheinbaren  Glücksgewinns,  die nicht allein über die Einnahme “körperfremder”  Stoffe zu realisieren angestrebt wird,  sondern auf unterschiedlichste Weise,  etwa bei den “Workaholics” durch  selbstzugefügte Arbeitsüberlastung,  bei anderen Menschen  durch Raserei auf den Strassen,  oder durch übertriebenes Training  im Sport usw.  Die Frage stellt sich, ob es nicht wirksame,  weniger rohe, nicht-kompensatorische Methoden gibt.  Übrigens rechnen Marx und Freud  auch die Religion resp. die Religionen  zu den Kompensationen; Marx bezeichnet sie als “Opium”, Freud als Wahn.  Wo steht da die Psychotherapie? Was kann sie leisten? Fällt sie eventuell auch in die Religionsfalle? Tröstet sie eventuell  auch über die unerträgliche  Existenz  mit Heilsversprechungen hinweg?  Oder kann sie, im Gegenteil,  den entfremdeten, instrumentalisierten,  leidenden Menschen  helfen,  die ihnen gerechten,  nicht-kompensatorischen Methoden der Leidverminderung oder gar des Glücks selber zu finden? –  Methoden,  die das Leiden der  Seele wirklich heilen? Ist das überhaupt möglich? Stehen Psychotherapeuten und und -therapeutinnen nicht unter  dem gleichen Erfolgsdruck,  der heute auf allen Tätigkeiten lastet? Welches  sind Zweck  und Ziel ihrer Tätigkeit? Therapieren  sie die Leidenden,  damit diese nachher  in der entfremdeten Gesellschaft  sich wieder besser einpassen können und wieder störungsfrei funktionieren?  Stehen auch die Psychotherapeuten und -therapeutinnen unter eine Normdiktat? Arbeiten sie mit an der Herstellung einer gesellschaftlich  definierten  “Normalität” der Menschen?  Werden  sie mithin selber durch das System instrumentalisiert? Was verstehen Psyhotherapeuten und -therapeutinnen unter  “normalen”  oder “gesunden” Menschen?  (Wir wissen, wie gefährlich diese Kategorie für ungezählte  Menschen  unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde).

Oder aber wählt die Psychtherapie eine andere Option? Befähigt sie die Menschen  zum Widerstand gegen  die scheinbar  unausweichlichen Zwänge  der Gesellschaft  und gegen die der Gesellschaft inhärente Gewalt? Vielleicht gar zur Subversion? Befähigt sie die unter bestimmten Strukturen und Situationen Leidenden,  aus diesen Strukturen auszusteigen,  diese Situationen aktiv zu verändern? Könnte Psychotherapie tatsächlich ein Gegenmodell zur entfremdenden Gesellschaft sein und das bewirken, was im idealen Fall der vertrauensvolle Austausch unter Freunden  oder Freundinnen bewirkt,  nämlich Verstehen des Leidens, Parteinahme gegen den Aggressor oder gegen die als Verachtung und als Zerstörung der eigenen Integrität erlebten Macht,  Stärkung der lebensbejahenden Kräfte beim leidenden Menschen und damit Hilfe und Unterstützung  zu einem gelingenden Leben? Das wäre sehr viel.  Bei schwer traumatisierten  Menschen allerdings, bei Menschen,  deren Seele durch ein Übermass an Demütigung und Gewalt zerbrochen wurde und die zumeist auch körperlich schwer leiden,  mag selbst die beste Psychotherapie nicht mehr ein “gelingendes” Leben ermöglichen,  wohl aber vielleicht dazu beitragen,  dass die erlittenen Torturen ihre zerstörerische Wirkung nicht weiter fortsetzen.

Bevor ich zum Abschluss meiner Überlegunge  komme, noch ein paar Fragen. Die ersten  haben mit der Finanzierung zu tun, die zweiten  mit der Zukunft.  Psychotherapien kosten Geld.  Sie entbehren daher der Zweckfreiheit,  die bei wirklichen Freundschaften vorausgesetzt wird. Psychotherapie ist in der heutigen  Zeit mit den Folgelasten des in Entfremdung, Gewalt und Leiden verkehrten Fortschritts zur – mehr oder weniger – lukrativen Erwerbsmöglichkeit geworden.  Sie bedarf geradezu  der Leidenden,  d.h. jener Leidenden,  die eine Therapie  auch bezahlen  können.  Was geschieht mit den anderen? Werden  sie vor allem in die psychiatrischen Ambulatorien und Kliniken verwiesen,  da dort die Behandlung  durch die Krankenkassen bezahlt wird?

Und wie sieht die Zukunft  der Psychotherapie aus? Marx hatte die Folgen des Fortschritts,  die allen Menschen im Sinn einer Entlastung von schwerer Arbeit zugute  kämen,  als Befreiung begrüsst.  Und Kant,  gute fünfzig Jahre· früher,  hatte die Aufklärung  als Programm des Mündigwerdens der Menschen definiert,  resp. der Befreiung aus Zwängen  und Fremdefinitionen,  einer Befreiung zum Selberdenken  und zum eigenen Urteilen und Handeln. Auch Freud  erwog  als anderen,  besseren Weg als jenen der Intoxikation oder anderer Methoden der Leidverminderung,  dass der Mensch als Mitglied  der menschlichen Gemeinschaft  mit allen am Glück aller arbeite”, mithin zum Zustandekommen einer solidarischen Gesellschaft  beitrage  und dadurch  selber von dieser getragen  werde.

Waren Kant,  Marx und Freud  einfach naive Träumer?  Die Frage  stellt sich,  ob der Preis des Fortschritts tatsächlich Leiden  sein muss.  Ob wir nicht alles daran setzen müssen,  dass endlich die emanzipatorische,  befreiende,  friedenschaffende Seite des Fortschritts einlösbar wird  – auch unserer  Kinder und deren Kinder wegen,  denen nicht noch mehr Leiden zugemutet werden kann? Zwar  können  Enttäuschungen,  seelische Verletzungen,  Mangelerfahrungen und Konflikte  in keiner Form  und in keiner Weise des menschlichen Zusammenlebens ausgeschlossen werden,  aber lässt sich nicht lehren und lernen,  von Kindheit an, dass diese Unglückserfahrungen zwar ein Teil der Existenz sind, aber nicht die ganze Existenz,  dass sie integriert werden  können  in andere Erfahrungen einer gelingenden  Existenz?  Wie können  dies jedoch Menschen lernen,  deren ganze Existenz seit den frühesten  Sozialisationen von Gewalt geprägt ist? Lässt· sich ein Lernprozess für die ganze Gesellschaft  postulieren,  da die einsichtslose Weiterentwicklung der Negativfolgen des Fortschritts sowie einer weiteren einseitigen   Steigerung von Gewalt und Gewinnmaximierung die  Gesellschaft zerstört? Kann die Psychotherapie zum Mündigkeitstraining der Menschen  beitragen?  – resp. einen Beitrag leisten zu einem gelingenden,  beziehungsfähigen Leben, nach Kriterien der je subjektiven Möglichkeiten und Bedürfnisse der Menschen  und nicht der gesellschaftlichen  Normierung? Genügt  die heutige  Psychotherapie den Anforderungen,  die mit einem emanzipatorischen Konzept von Therapie,  resp.  von Heilung verbunden  sind? Wenn nicht, was dann?

 

 

 

Literaturangaben: Marx:  Philosophisch-ökonomische Manuskripte  (sog.  Pariser Manuskripte) von  1844.  – Freud: Über das Unbehagen in der Kultur,  1929/30 (Studienangabe  Bd.9: Fragen  der Gesellschaft/  Ursprünge der Religion).  – Kant: Kritik  der praktischen Vernunft  ( ab BA 65 ff)

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