Besonders sein – anders sein – in der Vielfalt zusammen leben – Über die Grundwerte der Individualität, der Heterogenität und der Reziprozität

 

Besonders sein – anders sein – in der Vielfalt zusammen leben

Über die Grundwerte der Individualität, der  Heterogenität und der Reziprozität

Weiterbildungsveranstaltung im Werk- und Wohnhaus zur Weid

am 31. 10. 2012 und am 28. 11. 2012

 

Es bedeutet mir eine Freude, für die gemeinsame Denkarbeit der kommenden drei Tage einige Elemente beisteuern zu können. Ich hoffe, dass daraus ein tragbarer Boden für einen zugleich offenen und schützenden Raum des Fragens und Erkennens entstehen kann, in dem jeder und jede Einzelne sich wohl fühlen wird.

Die wichtigsten Elemente in diesem Raum sind Sie selber, Sie je einzeln in Ihrer Besonderheit, in der Vielfalt Ihrer Persönlichkeit wie in der Gemeinsamkeit Ihres Hier- und Daseins im Werk- und Wohnhaus zur Weid. Die drei Begriffe Individualität, Heterogenität und Reziprozität finden sich in jedem und in jeder von Ihnen verwirklicht; sie werden von Ihnen verkörpert  und geistig umgesetzt, sie werden von Ihnen gelebt. Wir werden deren Bedeutung klären und vertiefen und auf die grossen Werte eingehen, die sie beinhalten.

Individualität zu erklären erscheint einfach, doch was als Wort leichthin gebraucht wird und einfach erscheint, verbirgt eine grosse Geschichte. Das „Individuum“  ist als menschliches Wesen in seiner Besonderheit einzigartig und in sich selber „nicht trennbar“  (lat. „dividere“ – trennen, „in“, „un“ – nicht). Die „Individualität“ eines Menschen bedeutet daher die nicht anfechtbare Persönlichkeit seines eigenen Ich. Doch zu wissen,  w e r  ich bin, ist oft nicht einfach, und der Tatsache zustimmen zu können, dass ich bin, wer ich bin und wie ich bin, ist das Ergebnis eines langsamen  Prozesses auf einem kurvenreichen, manchmal sandigen oder harzigen, steinigen oder überwucherten Weg des Werdens, des äusseren und des innerlichen Wachsens.  Er geht mit vielen Fragen einher, mit Stillehalten oder Überspringen, oft mit Leiden, manchmal mit Staunen. Viele Gefühle werden dadurch geweckt und klingen bei der Suche nach Antwort mit, in Dur oder Moll, hell oder dunkel, irgend einmal wohlklingend und sicher. Herkunft, Geschlecht und die sozialen Bedingungen oder Begleiterscheinungen des Werdens stehen im Mittelpunkt.

„Woher ich komme, wohin ich gehe, darauf kommt’s an. Ich verzähle mich nicht selten in der Eile, wenn ich zähle 1, 2, 3, bis 99. Ich verzähle mich nie, wenn ich rechne, hundert abwärts. Ich tauche – mein Ziel ist Tiefe. Tiefer und tiefer ich falle. Den dunkelsten Punkt in Weite erreicht, erkenn’ ich Licht des anderen Endes. Die Ausgangstür schliesst. Sogleich steh’ ich auf der Schwelle einer Eingangstüre wieder. Die Welt! Sie blendet mich! (…) Wie kann ich ahnen wollen, wenn Ende Anfang gleich –  und Alles Nichts bedeutet”[1] – „Nichts“ als Worte-Worte ohne Gewissheit des Wertes.

Die Zeilen hat Joanna Lisiak als junge Frau geschrieben, 1971 in Polen geboren, seit 1981 in Zürich. Die kleinen Gedichte und Texte, die sie veröffentlicht hat, machen deutlich, wie komplex die Frage nach den Werten ist, die die Individualität prägen. Die Herkunft – „woher ich komme” -, kann nicht gewählt werden, die Familien- und die Zeitgeschichte, die massgeblich Lebensweise und Wertgefühle der Kindheit prägen, sind weder durchschaubar noch beeinflussbar. Das Zurückzählen in der Generationengeschichte mit allem Bekannten und Unbekannten auf der Mutter- und auf der Vaterlinie, mit Notzuständen und Armut oder mit Geschichten, die voller Fragezeichen sind oder die blitzschnell abgehäckelt werden – „hundert abwärts” -, all kann in eine dunkle Tiefen führen. Es ist die in jeder Pubertät erwachende persönliche Sehnsucht, die „Ausgangstür zu schliessen” und nicht weiter in die durch Eltern, Grosseltern und durch andere Erwachsene geprägte Geschichte hineingezogen zu werden, die Sehnsucht, einen eigenen Weg zu finden und zu bestimmen. Doch immer steht der junge Mensch auf einem Punkt, der Abschied oder Abkehr bedeutet und zugleich Entscheid, Selbstbestimmung und Neuorientierung: „Ausgangstür” und „Eingangstür” lösen sich ab. Gewiss, „wohin ich gehe, darauf kommt’s an”, doch wie wissen, wohin? So vieles ist unbekannt, so vieles eine schnelle Versuchung.  „Die Welt! Sie blendet mich”,  stellt Joanna Lisiak fest. Wo zu viel Angebote sind, die blenden, gibt es keinen klaren Blick. Die Angebote beim Erwachsenwerden sind ebenso verschlüsselt wie jene der Kindheit, die weiter wirkt und nicht einfach abschliessbar ist. Wie lässt sich „ahnen”, was ihr Wert ist? Wie lässt sich eine reale Bedeutung finden, wenn „alles”, was sich als „Welt” öffnet, in einem theoretischen, virtuellen Raum, auf einer abstrakten Ebene oder in einem Geflecht unklarer Machtverhältnisse erscheint und daher „Nichts” bedeutet?

 

[1] Joanna Lisiak. Cocktails zum Lesen. Verlag Nimrod / Werkstatt-Reihe. Zürich 2000, S. 18-19

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