Das Recht, Rechte zu haben – Sternstunden Philosophie: Zum MR-Tag und zum Abschluss des Jahres 1998 (50 Jahre MR)
Das Recht, Rechte zu haben
Sternstunden Philosophie: Zum MR-Tag und zum Abschluss des Jahres 1998 (50 Jahre MR)
1) Welches Menschenbild ist mit dem Begriff „Menschenrechte” verbunden? Wie ist dieses Menschenbild mit 1948 verknüpft, dem Jahr der „Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte”, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit den entsetzlichsten Menschenschlächtereien, in denen die menschliche Person, das menschliche Antlitz systematisch vernichtet wurde? Denn jedes der Millionen Opfer repräsentierte je einzeln, als Mensch, die ganze Menschheit (Kant). Und heute?
Rechte beruhen auf der Tatsache, dass Menschen in Beziehungen leben. Durch die Gegenseitigkeit ihrer Anerkennung als Mensch kommt ihnen das Recht zu, Rechte zu haben (Hannah Arendt). Verletzung, Missachtung und gewaltsame Zerstörung der menschlichen Beziehungen sind immer auch schwerwiegende Verletzungen der menschlichen Person.
(2) Gibt es eine historische Linie, die auf die UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948 hinführt? – oder bedeutete diese etwas Neues? Wenn ja, inwiefern? Vorher zumeist Rechte von Ständen (Bill ofRights von Virginia 1776; Französische Menschenrechtserklärung von 1789 / Verfassungen von 1848) und Klassen, mithin nicht
„Menschen”rechte ( cf 1789 Droits des „hommes”, nicht Droits de la femme et de la citoyenne – ausser auf dem Schaffott. Ausnahme waren die Habeas Corpus Akte von 1679 gegen willkürliche Verhaftung).
(3) Wie war/ist der Anspruch der „ Allgemeinen Deklaration” auf Universalität zu verstehen?
Worin bestehen die Konsequenzen? Gibt es in diesem Anspruch tatsächlich ein Element westlicher „Kulturdiktatur”, wie dies u.a. von China und anderen ostasiatischen Staaten behauptet wurde/wird? – oder ist die Ächtung von Gewalt gegen Menschen einfach politisch unbequem?
(ev. kurzer Rekurs: Wie ist der Vorschlag/Entwurf einer „Allgemeinen Deklaration der Menschenpflichten” zu beurteilen, der als – scheinbare kulturelle Korrektur – von einer Gruppe älterer Staatsmänner entwickelt und nun der UNO zur Debatte vorliegt? – Wäre nicht eher eine Deklaration der Grundbedürfnisse angezeigt, deren Anspruch auf Erfüllung die MR begründet).
(4) Von der philosophischen Analyse her erscheint mir neben der Universalität die
,, Unteilbarkeit“ der Menschenrechte die bedeutendste Errungenschaft. ,, Unteilbarkeit” bedeutet, dass alle in der „Deklaration” aufgeführten Menschenrechte in einer gleichrangigen Interdependenz Beachtung verlangen. Werden die Menschenrechte in einem Bereich verletzt, sind auch alle anderen Bereiche davon betroffen. Zum Beispiel: Wird das Recht auf Bildung (Art. 26), auf Arbeit (Art. 23) oder auf soziale Sicherheit (Art. 22) verletzt, so sind auch die bürgerlichen und politischen Rechte verletzt, da zum
Beispiel die Teilnahme und Mitsprache an politischen Entscheidungen unter Bedingungen der Bildungsschwäche oder des prekären materiellen Überlebens nicht möglich ist. Ein anderes Beispiel: Von politischer Verfolgung, Ausgrenzung, in gewissen Ländern sogar von Folter sind oft Menschen betroffen, die sich für die Durchsetzung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte einsetzen, etwa indem sie sich organisieren. Ist diese „Unteilbarkeit” der Menschenrechte unter dem Diktat des Neo-Neoliberalismus nicht aufs schwerste beeinträchtigt? Wie verhält es sich in der Schweiz?
(5) Jährlich publiziert das UN-Menschenrechtszentrum in Genf eine erschreckende Statistik.
Jährlich erreichen das Menschenrechtszentrum etwa Yz Million Beschwerden über gravierende Verletzungen, z.B. werden dort jährlich an die 50’000 „Verschwundenen” registriert. Dieses Ausmass an Menschenrechtsverletzungen bestätigt auch amnesty international. In 110 Staaten dieser Erde werden Gefangene gefoltert, in vielen davon systematisch. Aus etwa der Hälfte dieser Staaten werden auch sog. ,,extralegale” Hinrichtungen gemeldet. Auch in Staaten mit sog. ,,legalen” Hinrichtungen, etw in den USA oder in China, geht dem Vollzug der Todesstrafe jahrelange quälende Einzahlhaft oder Schlimmeres voraus. Über 300’000 politische Häftlinge sitzen ohne Anklage im Gefängnis. An die 30 Millionen Menschen sind wegen Krieg, Bürgerkrieg, ethnisch, rassistisch oder religiös motivierter Gewalt als Vertriebene und Flüchtlinge irgendwo unterwegs, werden aus Aufnahmestaaten wieder weitergeschoben, weiterdeportiert, in die Herkunftsländer zurückgeschafft, in denen sie nicht leben können. Weit über 700
Millionen Menschen sind weltweit erwerbslos und leben in grosser Armut, ein grosser Anteil von ihnen ohne Bildung und ohne Obdach. Hunger, Kindersterblichkeit, Kinderarbeit und Kinderprostitution nehmen weltweit weiterhin zu, die Frauenrechte werden mit Füssen getreten. Gewalt gegen Frauen, Kinder und Ausländer/Ausländerinnen, strukturelle Gewalt gegen sog. körperlich und geistig Behinderte sind scheinbar mit demokratischer Rechtsstaatlichkeit verträglich. Und dies, obwohl in den letzten 50 Jahren weit über 70 Menschenrechtspakte, -übereinkommen und -erklärungen ausformuliert und von den meisten Staaten der Erde ratifiziert wurden, auch von jenen, in welchen offiziell begangene Menschenrechtsverbrechen zur Tagesordnung gehören. Was fällt Dir bei dieser Summierung von offiziell begangenem oder geduldeten Terror und Schrecken ein? Hat die Menschenrechtsdeklaration von 1948 überhaupt etwas verändert in der Bilanz des Schreckens, den Menschen anderen Menschen antun? – Die Frage stellt sich, ob in Ländern, die systematisch die MR verletzen, diese mit Gewalt – z.B. durch ausländische Intervention – durchgesetzt werden dürfen.
(6) Eben war die Rede von den über 70 Menschenrechtspakten und-übereinkommen. Sie betreffen spezifische Bereiche oder Gruppen innerhalb des menschlichen Zusammenlebens. Die Schweiz ist bekannterweise noch immer nicht Mitglied der UNO. Bei mehreren Abstimmungen hat immer wieder eine Mehrheit der Stimmbürger eine Ablehnung des Beitritts durchgesetzt. Die Schweiz hat trotzdem einige dieser Pakte ratifiziert, etwa 1994 das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966, wenngleich mit einer hauchdünnen Mehrheit. Obwohl nun die sog. Antirassismusnorm sowohl in der Verfassung wie im Strafgesetz verankert ist, erfolgt kaum eine offizielle Ahndung rassistischer Delikte. Oder das Übereinkommen über die Rechts des Kindes von 1989 wurde erst im vergangenen Jahr ratifiziert. Andere Pakte, zum Beispiel den sog. ,,Sozialpakt” von 1966, hat die Schweiz noch immer nicht ratifiziert. Was bedeutet die zögerliche, ja ablehnende Haltung der Schweiz, die so laut auf ihre Rechtsstaaatlichkeit pocht, in Bezug auf die Ratifikation, resp. auf die Bereitschaft zur Durchsetzung der Menschenrechtsabkommen? Inwiefern stimmt die Gesetzesrealität mit den Internationalen übereinkommen oder mit den Verfassungsgrundsätzen überein (gerade hinsichtlich der Genfer Flüchtlingskonvention von 1956 oder der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK von 1950/51)?
(7) Bleiben wir bei der Schweiz. Internationale Übereinkommen, die sie ratifiziert hat, verletzt sie auf beschämende Art, so gerade durch die Ausschaffungspraxis von Flüchtlingen oder durch entwürdigende, von Feindseligkeit, Dissuasionsgeist und Minimalismus geprägte Aufnahme- und Unterbringungspraxis (grösste Einschränkung der Bewegungsfreiheit, keine Betätigungsmöglickeit, knappste Versorgung mit Geld, häufig montelang keine Einschulung der Kinder etc.).
Ein Beispiel: Am 10. Februar dieses Jahres meldete sich ein vierzehnjähriger Bub aus Albanien in der sog. Empfangsstelle Kreuzlingen. Am Tag zuvor war er in die Schweiz eingereist, unbegleitet, allein. Er hiess Xhevair Dura. Insgesamt sieben Tage verbrachte er an diesem stacheldrahtumzäunten, unfreundlichen Ort, der von allen Flüchtlingen, die ich kenne und die mir von ihrem Aufenhalt dort erzählt haben, als Ort der Entmutigung, als ängstigend und einschüchternd geschildert wird. Bei jenen, die in ihrer Heimat in Lagern oder Gefängnissen waren, wurden dort beklemmende Erinnerungen wach. Wie wirkt ein solcher Ort erst auf ein Kind? Während seines Aufenthalts in Kreuzlingen wurde Xhevair einmal von einem Beamten oder einer Beamtin des Bundesamtes für Flüchtlinge (BFF) kurz befragt, vermutlich eher oberflächlich: denn die Befragungen werden nach einem pauschalen Muster vorgenommen. Am 17. Februar erfolgte die Zuweisung an den Kanton Zürich, Xhevair verbrachte die Nacht im Durchgangszentrum an der Rieslingstrasse und wurde am nächsten Tag, am 18. Februar, dem Durchgangszentrum Adliswil zugeteilt, das auf die Betreuung unbegleiteter Jugendlicher spezialisiert ist. Xhevair wurde in die Sonderklasse des Durchgangszentrums eingeteilt. Er durfte, wie es seinem Alter entspricht, zu lernen beginnen, zusammen mit Gleichaltrigen aus den verschiedensten Herkunftsländern. Vielleicht konnte dies wirklich einen Neuanfang bedeuten? Was sich jedoch als Hoffnung regte, was wie eine Chance aussah, dauerte kaum drei Wochen. Am 6. März teilte ihm das BFF per Post den negativen Asylentscheid mit, mit der Erklärung, Albanien gehöre zu den „save countries”, mit anderen Worten, dort lasse es sich „in Sicherheit und Würde” leben. Dem Kind wurde eine Frist bis zum 20. März gesetzt, um sog. ,,freiwillig” auszureisen. Aber wollte Xhevair das? War das gut für ihn? Hatte er deswegen den Abschied von Zuhause auf sich genommen, seine Angehörigen, Freunde, vielleicht seine Tiere, mit denen er gespielt hatte, hatte er deswegen alles zurückgelassen? Hoffte er, es würde vielleicht doch nicht wahr sein? Auf jeden Fall begann er am 12. März, an einem Projekt mitzuarbeiten, dessen Installation am 18. April in Adliswil öffentlich begangen wurde. Das Projekt verbindet Tonaufzeichnungen von Asylsuchenden mit der künstlerischen Installation von Röhren auf öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Gebäuden, aus denen die Stimmen der Asylsuchenden zu hören sind (ist augenblicklich in Frankfurt ausgestellt). Doch am 30. März musste Xhevair gemäss einer Weisung das Durchgangszentrum verlassen. Er wurde einer begleiteten albanischen Jugendwohngruppe in Zürich, an der Elisabethenstrasse, zugeteilt. Wieder ein Wechsel, wieder eine Entwurzelung. Wie viele Entwurzelungen erträgt ein Kind? Wie viele Entwurzelungen erträgt ein Mensch? Trotz der neuen Aufenthaltssituation wollte er am Projekt weiterarbeiten, und zu diesem Zweck mehrmals wöchentlich nach Adliswil zu fahren. Jedoch am 2. April , nachts um zehn Uhr, tauchten an der Elisabethenstrasse drei zivil gekleidete Beamte der Fremdenpolizei auf. Sie verhafteten den Vierzehnjährigen, steckten ihn in irgendeine Zelle, bis er drei Tage später, am 5. April, per Flugzeug nach Tirana ausgeschafft wurde.
Ist ein Unrecht, das im Namen des Gesetzes erfolgt, weniger Unrecht? Die Schweiz hat bekanntlich die Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert. Was Xhevair Dura angetan wurde, in diesem Jahr 1998, in diesem Monat April, ist ein Hohn auf die Kinderrechtskonvention, ist ein Hohn auf die Glaubwürdigkeit jeder bundesrätlichen Unterschrift unter ein auf Humanität verpflichtendes Dokument. Dass das Recht eines Kindes auf Schutz seiner Grundbedürfnisse, dass zum Beispiel sein Recht auf einen Vormund, der die Würde seiner so ungeschützten Persönlichkeit verteidigt, mit Verachtung übergangen wird, und dies im Namen des Rechtsstaates Schweiz, ist ein offiziell begangenes Unrecht – unter vielen anderen, die erzählt werden könnten.
(8) Die von Bundesrat A. Koller und von der Mehrheit des bürgerlichen Parlaments beschlossene Revision des Asylgesetzes – die 8. Revision seit dessen Einführung im Jahre 1979 – sowie die dringlichen Massnahmen gegen sog. ,,papierlose Ausländer” ist nochmals eine schwerwiegende Amputation des Menschenrechts auf Asyl (Art. 14 UNO- MR-Deklaration) sowie ein Verlust wichtiger rechtsstaatlicher Prinzipien. Tatsache ist, dass wirklich bedrohte Menschen aus repressiven Regimes nicht über Papiere verfügen (Frauen, Refraktäre, Deserteure usw.). Schnellverfahren in den Empfangsstellen, d.h. knappe, summarische Befragung, rasche, nur summarisch begründete Entscheide über das Nicht-eintreten, eine lediglich 24-stündige Frist für einen – in einer der Landessprachen abgefassten – Rekurs vor der Asylrekurskommission, sofortige Vollzugsmöglichkeit – all dies sind Komponenten eines unwürdigen Pseudo-Verfahrens, das Menschen zu Rechtlosen stempelt. Dazu kommt, dass per dringlichem Bundesbeschluss diese Massnahmen als Notrecht überstürzt eingeführt werden. – Als Reaktion darauf die zwei Referenden, die nun zustandegekommen sind.
(9) Zunehmende Verhärtung der Asylfeindlichkeit: Einsatz der Armee an den Grenzen und bei der „Bewachung” (unter dem Titel der „Betreuung”) der Asylsuchenden, nochmalige Reduktion der Betreuungs-Tagespauschale auffrs. 14.- (Rückerstattungspauschale des Bundes an die Kantone pro Person), ,,schamlose” Aufhetzung der rrechtsbürgerlichen Kreise – inkl. FDP – gegen die Asylsuchenden etc.
(10) Eine letzte Frage betrifft die Behauptung, wir seien am Ende des 20. Jahrhunderts auch am Ende der Ideologien angelangt. Ist jedoch nicht gerade die überall aufkeimende und mit Gewalt durchgesetzte Ethnisierung eine der gefährlichsten Gegenbewegungen zum friedlichen Kampf um eine universale Umsetzung der Menschenrechte? Wie viel klingt davon in den Slogans von Rechtsaussen nach, die „Schweiz gehöre den Schweizern”? Wie kann der weit verbreiteten Angst um den Verlust des herkömmlichen Eigenen in Kultur und Tradition entgegengewirkt werden, ohne dass sich neue Feindbilder, Ausgrenzungen, ja blutige Vernichtungsaktionen der Anderen durchsetzen? Mit anderen Worten: Wie können die Menschenrechte, fünfzig Jahre nach ihrer Verkündigung, endlich zu einem weltweiten Instrument des Friedens werden? Bedarf es einer verstärkten regionalen und nationalstaatlichen Möglichkeit, MR-Verletzungen, resp. die Nicht-Erfülllung der MR einzuklagen? (Erfolgte Regionalisierungen: EMRK von 1950/51; Amerkanische MR- Konvention von 1969; Afrikanische Charta der MR und der Rechte der Völker von 1986, mit der Gründung einer damit verbundenen Kommission für MR 1987).
Und hier in der Schweiz? Was lässt sich auf der Ebene des Zusammenlebens im Kleinen tun? Kritische Urteilskraft aufbauen, Propaganda hinterfragen, Vorstellungskraft trainieren, d.h. sich an Stelle derjenigen Menschen setzen, um die es beim Abbau von Rechten geht, Koalitionen eingehen mit Menschen, die ebenfalls für eine tatsächliche Umsetzung der Menschenrechte kämpfen, vor allem für das Recht, dass Menschen verschieden zu sein dürfen, und trotzdem den gleichen Anspruch auf Persönlichkeitsrechte, Sozialrechte, politische Mitbestimmungsrechte, kurz auf ein würdiges angstefreies Leben haben.