Reden im Gerede – Heimatlos werden – Abschied nehmen – Philosophische und politische Literatur für den September 1996

Reden im Gerede – Heimatlos werden – Abschied nehmen

Philosophische und politische Literatur für den September 1996

 

Das  Gemeinsame  an  den  vier  so  unterschiedlichen  Büchern,  die  hier  vorgestellt  werden, besteht in der Thematisierung  des Leidens. Dabei geht es um sehr verschiedenes Leiden. Das Leiden  des  Philosophen  über  die  Tatsache des  immer  heteronomen  Redens  ist  von  ganz anderer Art als die durch Verrat, Gewalt, Menschenverachtung  und Emigration verursachten Demütigungen  und  Selbstwertverluste von Kriegsflüchtlingen oder  von Immigrantenkindern, von  ganz  anderer  Art   auch  als  die  Trauer  und  die  Gefühle  nicht  wiedergutmachbaren Versagens beim Tod eines Menschen.

 

Reden im Gerede

 

Wie  können wir anerkennen,  dass wir verschieden reden?  Dies ist  eine Frage,  die, folgt  man den Tagestrends  des Philosophiegeschäfts,  ‘erledigt’  scheint.  Sie  hat  verschiedene  Anworten gefunden,  Antworten,  die in neuerer  Zeit das Problem  einer Krise  der  Sprache zu betreffen schienen.  Da diese Frage  sich offenbar verschieden beantworten  liess,  scheint sie nicht lösbar zu sein,  oder zumindest wurde  sie bis dato verschieden gelöst.  So verschieden,  dass sich die Verschiedenheit unseres Redens bestätigte,  die Krise sich verschärfte” 1.

Für  den Philosophen  Hans  Wolfgang  Schaffnit,   1936 in  Berlin  geboren,  ist  die Frage  nicht erledigt.  Seit mehr wie zwanzig Jahren steht sie im Zentrum seiner sprachskeptischen Arbeit,  in welche  er nun mit   zwei Büchern  über  die Krise  des Redens  einen Einblick gestattet. 1995 erschien “Krisis. Über das Unterscheiden'”, ein aufwendig gestaltetes, grossformatiges dreisprachig verfasstes  Werk,  das zusätzlich zu Schaffnits  Text zwei photographische  Serien von  Monica  von  Rosen  Nestler  vorlegt,  erstaunliche,  eigenwillige  und  hochsensible  Bild­ Studien,  einerseits an Aquarelle, andererseits  an Radierungen  erinnernd,  die ein sorgfältiges und immer wieder erneutes Schauen erfordern.

Ein ebenso sorgfältiges  Lesen erfordert  Schaffnits Reflexionen,  sowohl  in  diesem ersten Buch wie   im   zweiten,   das  1996   im   Sinn   einer   vertiefenden   Weiterführung    die   im   Titel zusammengefasste   Thematik   “Das   Gerede.   Zum   Problem   der   Krise   unseres   Redens” untersucht, in einer beinah obsessiven Beschwörung  der skrupelhaft notierten Differenzen des Redens,   aber   auch   der   unterschiedlichen   Wahrnehmung   der   Differenz,   die   in   ihrer Unaufhebbarkeit zur Indifferenz wird. Dabei geht es Hans Wolfgang Schaffnit nicht nur um die kognitive, sondern  immer zugleich um die ethische  Relevanz der Anerkennung  der Differenz, da das verschiedene  und je eigene Reden unter verschieden “gleich gültig” Redenden  in einer Verantwortlichkeit  geschieht,  aus  der  niemand  niemanden befreien  oder auch  nur  entlasten könnte.  Dieser Verantwortlichkeit  gerecht zu werden,  ist jedoch unmöglich,  da,  nach Schaffnit “wir unser  Reden  von  anderen  nicht  lernen  können ….   Das  Nachahmen  eines  Redens  ist Nachahmen  und  nicht  Reden. Das  Wiederholen  eines  Redens  ist  Wiederholen  und  nicht Reden”.  So  wird  das Reden  im  Gerede,  schliesslich im  Gequassel  indifferent.  Da  aber kein Ausweg  besteht  aus  dem Wiederholen,  münden  Schaffnits Reflexionen  in  eine konsequente Resignation  ein.  “Wo wir nicht  selbst reden,  reden wir nicht.  Wo  wir nicht  selbst handeln, handeln wir nicht.  Wo wir unsere Entschlossenheit  nicht  zeigen,  ‘sind’  wir nicht.”  Das einzige, was bleibt,  ist die Anerkennung der Krise und unserer selbst, die in der Krise  sind – ein Nichts. Doch  selbst die Verzweiflung  darüber  könnte  das Nichts,  das bleibt,  verändern. Unausgesprochen  vermittelt Schaffnit zum Schluss eine beinah sokratische Gelassenheit.

1 “Das Gerede, Zum Problem der Krise unseres Redens”  Passagen  Verlag, Wien  1996,  S.25

2 “Krisis.  Über das Unterscheiden”  Edition  Mikael & Scala,  Stockholm/ Locarno  1995

 

Heimatlos werden

 

Teilnehmende  Beobachtung  ist  eine Methode  in  der Ethnographie,  die seit den  zwnanziger Jahren   dieses Jahrhunderts  den  Forscherinnen   und  Forschern   erlaubt,   einen   sogenannt objektiven Standpunkt aufzugeben und grosse Nähe zu kulturellen Systemen oder zu einzelnen Menschen  aus anderen Kulturen  zuzulassen.  Die Gleichzeitigkeit  von Aussen und Innen lässt die Forschungsarbeit  zu einem anspruchsvollen Prozess werden,  in  dem das Durchschauen  der zu untersuchenden  kulturellen Zusammenhänge  in  einer ständigen  Konkurrenz  mit der durch die Nähe  entstehenden Empathie  steht.  Es  ist  ein Lernprozess  mit vielen Dimensionen,  zu denen auch die Person der Forscherin oder des Forschers zählt.

Maja Loncarevic,  1968  in der Schweiz von jugoslawischen Eltern geboren,  lässt sich in  diesen Prozess  ein.  Nach mehrjähriger  Erfahrung  als interkulturelle  Übersetzerin  bei der Betreuung von   Asylsuchenden   im   Kanton   Aargau,  wurde   sie   1992   durch   die   Ankunft  von Gewaltflüchtlingen  aus Bosnien  mit neuen Aufgaben konfrontiert.  Es handelte  sich um  eine Gruppe  von  Männern,  die  als  Kriegsgefangene  oft mehrere  Monate  unter  erniedrigendsten Bedingungen  in Gefangenenlagern verbracht und vielfältige körperliche und psychische Folter erlitten hatten, bis sie durch das IKRK registriert und im Rahmen von Gefangenenaustauschprogrammen befreit wurden, schliesslich über verschiedene Zwischenstationen   in  die  Schweiz  gelangten,  wo  sie  einem  bestimmten  Kanton  zugeteilt wurden. Da es sich um sog. Kontingentflüchtlinge handelte, konnte nach einiger Zeit auch die Kernfamilie nachreisen,  die in der Zwischenzeit unterschiedliche Traumata erlebt hatte.

Maja  Loncarevic,  die  selbst  serbokroatisch  spricht,  baute  im  Rahmen  eines  dem  HEKS zugeteilten Integrationsmandats   im  Kanton  Aargau  eine allmählich sich festigende psychosoziale  Betreuung  der Kriegsopfer auf, die sowohl den traumatisierenden Persönlichkeitsverletzungen  und deren – zumeist  – somatischen  Äusserungen,  der kulturellen Eingebundenheit in ihre Herkunftsbräuche wie den neuen Lebensbedingungen in der  Schweiz gerecht zu werden  versuchte. Die vorliegende Studie(3), in der Maja Loncarevic ihre Auseinandersetzung mit  dem Krieg  sowie  mit den  direkten  und  indirekten  Folgen  des Kriegs bei den ihr  anvertrauten Menschen  nachzeichnet,  ist  mehr wie  ein “Erfahrungsbericht”,  als den sie ihn vorstellt.  Die  Studie  ist  ein  “document humain”  mit  erschütternder Wirkung,  gerade durch  die sorgfältige  und unprätentiöse  Schilderung  der  so schwierigen  Wege  des Verstehens und   Heilens   verletzter  und   gar   zerstörter   Persönlichkeits-   und   Familienstrukturen  unter kulturell  verschiedenen  Prämissen. Zugleich   ist  Maja  Loncarevic’s  Arbeit   im  Rahmen   des Projekts  “MIR”  (“Frieden”,  “innere Ruhe”)  von  HEKS  ein medizin-ethnologischer Beitrag  zu einer fortschrittlichen Traumatatherapie von Folter- und Kriegsopfern, deren Selbstheilungsfähigkeiten  durch   den  ungeschmälerten  Respekt   vor  ihrer  persönichen  und kulturellen  Autonomie erfolgreich unterstützt werden  konnte  – ein Beitrag,  der die “westliche” theoretische Besserwisserei auf eindrückliche Weise korrigiert.

Methodisch  auf vergleichbare Weise lässt  sich Urs Kenny  im  Rahmen  einer stadtzürcherischen halbprivaten  Institution “Chinderhus”  auf das  Leiden   von  Kindern  ein,  das  durch   schwer belastende  und  überfordernde  Familienverhältnisse  –   zumeist  Immigration  der  Eltern, langjährige Trennung  von diesen, Überbelastung der häufig alleinerziehenden  Mütter, kulturelle Entwurzelung, Verunsicherung und Verlusterfahrungen – zustandekommt. Die mangelnde Geborgenheit führt bei den Kindern zu psychischen Verweigerungen, zu Agressionen, Konzentrationsschwächen oder zu anderen inneren “Fluchtwegen”, die sich zumeist als “Verhaltensstörungen” oder als Lernschwierigkeiten zeigen, d.h. als ein durch  die Kinder  nicht integrierbares  verstörendes Leiden,  das nicht nur bei den Kindern  selbst,  sondern  häufig  auch bei den Eltern,  Geschwistern und anderen  Bezugspersonen weiteres  Leiden  auslöst. Durch  die genaue  und  liebevolle Beobachtung der  Kinder  im geschützten therapeutischen Rahmen  des “Chinderhus”,  durch  präzise  erarbeitete Familiengeschichten und  -gespräche   wie  auch  durch eine sorgfältige Erarbeitung von Vergleichsmöglichkeiten anhand relevanter  Literatur zeigt Urs Kenny  auf,  wie  langwierig  und  je  individuell  der  Heilungsweg  eines  Kindes  ist,  wie dieser gleichzeitig  die weitere  Familie  und  deren  Handlungsmuster miteinbeziehen muss,  damit  das Kind nicht unter erneuter  Einsamkeit und Überforderung mit neuem Leiden konfrontiert wird.

3    Maja   Loncarevic  und  Urs  Kenny.   Heimatlos.   Zwei  Studien zu  Migration und lntegration.   Zürcher Arbeitspapiere zur Ethnologie.  Argonaut-Verlag, Zürich 1996 (Freiensteinstrasse 5, 8032 Zürich)

 

Abschied nehmen

 

Am 22. November 1995  starb Peter  Hirsch  Surava  in  seiner Wohnung  in  Oberrieden,  83 Jahre alt.  Erich  Schmid  war für  ihn  während   der  letzten  vier  Lebensjahre  durch  die  gemeinsame Arbeit am Film “Er nannte  sich Surava”  zum Freund  und Vertrauten geworden.  Erblickte  man sie zusammen  in  der  Öffentlichkeit,  spürte  man,   wie  vieles  die beiden  Männer  verband  – gegenseitige Hochachtung,  zwangloses Vertrauen,  Stolz und prickelnde Freude am gemeinsam zustandegebrachten  Werk,  an diesem Film,  der nicht  wenig zur Rehabilitierung  des während Jahrzehnten  verfemten,   verleumdeten  oder  totgeschwiegenen  grossen  Journalisten der Kriegsjahre,  des furchtlosen  Chefredaktors  der “Nation”, beigetragen  hat, der als Peter Hirsch und als Peter Surava verschwinden musste,  sich schreibend unter verschiedenen Pseudonymen, vor allem als Ernst  Steiger,  irgendwie  “über Wasser” – sur ava – hielt und endlich noch einmal mit seinem ersten Wahlnamen,  den er einem Dorf im Albulatal  entliehen hatte,  zum lebendigen Symbol für politischen Mut wurde. Dies alles war ausserordentlich,  und Suravas aufinerksamer Blick wirkte wie eine enorme Stärkung gegen politische Resignation und Verbitterung.

Diese  Wirkung  geht  auch  vom  Gedenkband  an Peter  Surava  aus,  den  Erich  Schmid  nun vorlegt(4).  Viele Erinnerungen  der über  zwanzig  Autorinnen  und  Autoren  gehen  noch  in die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre zurück, Erinnerungen an den breiten, auch offiziell praktizierten Antisemitismus jener  Schweiz,  die offen nazifreundlich war;  andere thematisieren die Jahre des Kalten Krieg, als in unserem Land die Judenhetze  durch die Kommunistenhetze abgelöst wurde, die sechziger und siebziger Jahre, als der allgegenwärtige Fichenstaat die Gesinnungskontrolle und -repression zementierte.  Es sind private und politische Erinnerungen, die alle  mit Peter  Surava zu tun  haben,  und  es sind Reflexionen über Peter  Surava,  die im Zusammenhang  mit  seinem  Tod  geschrieben wurden.  Dazwischen  eingeschoben finden  sich Fotos aus den letzten Jahren, Gedichte und Artikel von Surava selber, schliesslich der gesamte Filmtext Erich Schmids, ein sorgfältiges Register sowie ein Verzeichnis aller von Peter  Surava unter  seinen verschiedenen  Namen veröffentlichten Bücher.  Es ist tatsächlich  so, dass  “Tote länger leben”, wie Helmut Hubacher in seiner Würdigung  schreibt, resp.  dass dieses Buch die Wiederbegegnung  mit einem grossen  Toten zulässt,  die denjenigen unter  den heute  politisch Handelnden,  die nicht mehr kämpfen und  am liebsten  klein beigeben  möchten,  den Rücken stärkt.

 

4  “Abschied von  Surava.  Eine  Dokumentation.”  Mit  Gedichten  von Peter  Surava.  Hrg.  Erich  Schmid.  Wolfbach Verlag, Zürich  1996

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