Charlotte (Lotti) Isliker-Friedli, 8. Juni 1915 bis 13. Oktober 2014

Charlotte (Lotti)  Isliker-Friedli, 8. Juni 1915 bis 13. Oktober 2014

 

Geboren ist Charlotte Friedli am 8. Juni 1915 in Königsberg, als zweitjüngstes von acht Geschwistern. Ihr Vater, ein ausgewanderter Berner aus Hasle-Rüegsau, stand als so genannter Oberschweizer einem grossen Landwirtschaftsbetrieb in Ostpreussen vor. Die Mutter stammte aus einer Kutschersfamilie aus Königsberg, eine fromme Frau, die wunderbar Geschichten erzählen konnte und unzählige Sprichwörter kannte. Unsere Mutter hat diese Sprichwörter oft zitiert und manchmal auch als sanften Druck angewandt, etwa wenn sie uns ermahnte: Sag mir, mit wem Du gehst und ich sage Dir, wer Du bist.

Gegen Ende des ersten Weltkriegs flüchtete die 10köpfige Familie vor dem russischen Vormarsch in Ostpreussen, ihr ganzes Hab und Gut musste sie zurücklassen. Als Schweizer Heimkehrer mit Flüchtlingsstatus wurde der Familie in Bliggenswil bei Bauma ein Haus zur Verfügung gestellt, Charlotte muss dort ungefähr 4 Jahre alt gewesen sein. Später ist die Familie auf einen Bauernhof in Kindhausen gezogen, von wo aus Charlotte die Primarschule in Effretikon besuchte. In den folgenden Jahren zog von den grösseren Geschwistern eins nach dem andern weg, bis schliesslich nur noch Charlotte und der jüngste Bruder René als Kostgänger im Elternhaus übrig blieben.

Als Charlotte ungefähr acht Jahre alt war, zog es den Vater wieder ins Ausland, zuerst für kurze Zeit ins Elsass, dann nach Lothringen, wo er eine Stelle bekam als Gutsverwalter bei einem französischen Baron (ob es sich tatsächlich um einen Baron gehandelt hat, muss offen bleiben, unsere Mutter war bei der Titelgebung immer ziemlich grosszügig..) Laut den Schilderungen unserer Mutter gehörte der Betrieb zu einem Schloss, das meist verwaist war und in dessen verwildertem Park sie jeweils gespielt und geträumt habe, sie sei die Schlossprinzessin. Eine Schlossprinzessin ist sie zeitlebens ein bisschen geblieben, wer sie kannte, weiss nicht nur, dass sie etwas von einer Grande dame hatte, sondern auch, wie sie es verstand, ihre Umgebung so zu sehen, wie sie sie gern gehabt hätte…

Lothringen wurde für Charlotte noch in einem anderen Sinne eine prägende Zeit. Sie hütete regelmässig die Kinder eines Ehepaars aus Paris, wenn dieses im Herrenhaus, das zum Schloss gehörte, in den Ferien weilte. Bei dieser Familie lernte die kleine Charlotte die gepflegte französische Lebensart kennen und bei der Lehrerin, Mme Lafaille, lernte sie fliessend Französisch, was ihr später in der Sekundarschule in der Schweiz zugute kommen sollte. Und beim Mann der Lehrerin, der seine Frau eine Zeit lang vertrat, hörte Charlotte zum ersten Mal von den Fabeln Lafontaines, die es ihr ein Leben lang besonders angetan hatten. Sie konnte sie alle rezitieren, bis zuletzt. Sie sei von der Sprachmelodie fasziniert gewesen, sagte sie immer. Offensichtlich nicht nur von der französischen, denn auch deutsche Gedichte haben sich ihr eingeprägt. So konnte sie beispielsweise noch im hohen Alter Schillers Glocke aufsagen – die ganze…

1929, als Charlotte 14 Jahre alt war, zog die Familie endgültig zurück in die Schweiz, diesmal nach Zürich. Der Vater arbeitete als Bauarbeiter, die Mutter verdiente mit Putzen dazu. Charlotte ging zur Schule, war aber unglücklich, weil sie nicht gut Deutsch schreiben konnte und der Lehrer sie deswegen vor der Klasse bloss stellte. Das änderte sich, als sie durch die Vermittlung einer Nachbarin zu Frau Scholl kam, einer gehbehinderten Dame, die Charlotte anbot, bei ihr zu wohnen und ihr neben der Schule im Haushalt zu helfen. Frau Scholl sei ihre grosse Chance gewesen, sagte Mutter immer, sie sei gut zu ihr gewesen und habe sie gemocht. Charlotte blieb drei Jahre, half im Haushalt, kaufte ein, half putzen und kochen und ging dazu in die Schule in der Enge. Auch in dieser Hinsicht eine glückliche Fügung, denn der neue Lehrer erkannte ihr Sprachtalent und förderte sie, so dass sie die Sekundarschule abschliessen und später eine KV-Lehre beginnen konnte.

Ins gleiche Schulhaus in der Enge ging Lola, ein jüdisches Mädchen, dem sie am Freitag, nach Beginn des Sabbats, jeweils die Schultasche nach Hause trug. Das sei ihre zweite grosse Chance gewesen, wie Mutter oft erzählte. Der Vater von Lola betrieb ein Stoffhandel- und Aussteuergeschäft, und so kam es, dass Charlotte bei Koschland und Lauf ihre KV-Lehre absolvierte und dort auch noch nach der Lehre weiterarbeitete, bis sie ihren Mann, Ruedi Isliker, kennen lernte und die beiden am 1. August 1936 heirateten. Charlotte war 21 Jahre alt, Ruedi fünf Jahre älter.

1937 kam der erste Sohn, Hans-Rudolf, auf die Welt, 1939, kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs, der zweite Sohn, Reinhard. Es waren harte Jahre, Ruedi arbeitete zuerst als Vertreter, machte sich dann selbständig, aber der Aufbau des Geschäfts wurde durch viele Aktivdiensttage erschwert. Immer wieder musste Ruedi einrücken, so dass er das Geschäft schliesslich ganz aufgeben und sich eine neue Arbeit suchen musste.

Noch während des Krieges zog die Familie nach Lenzburg, wo sich die Firma seines neuen Arbeitgebers befand. Ruedis Französischkenntnisse waren ausschlaggebend gewesen, dass ihm schon sehr früh die volle Verantwortung für die Westschweiz übertragen wurde, so dass die Familie 1945 von Lenzburg näher zur Westschweiz nach Bern zog, ins Marzili, in eine Wohnung mit einer grossen Terrasse, von der man direkt auf die Aare sehen konnte. Unsere Mutter nannte diese Zeit immer die schönste ihres Lebens…

Aber das Marzili blieb für Charlotte nur eine kurze Episode. Ruedi, der immer ein sehr fürsorglicher Mann gewesen war, fühlte sich verantwortlich für seine vollkommen mittellose Mutter und deren zwei Geschwister, Babette und Ueli. Weil den drei Geschwistern die Abschiebung ins Armenhaus drohte, suchte Ruedi nach einer Lösung und fand in Thörishaus ein Haus, wo es Platz für alle gab. Im Oktober 1946 zog die Familie dort ein, zwei Monate später kam Christine, das dritte Kind, auf die Welt.

Für uns Kinder wurde Thörishaus zum Mittelpunkt, wo wir zur Schule gingen, wo wir unsere Freunde hatten und wo wir eine glücklich Kindheit und Jugend verbringen durften. Unser Elternhaus war ein offenes Haus, am Sonntag hatten wir oft Besuch und unsere Kollegen und Freunde durften wir jederzeit mit nach Hause bringen. Wir haben dabei viel diskutiert und viel gelacht. Und als wir drei Kinder erwachsen und aus dem Haus waren und die ersten Grosskinder zur Welt kamen, übernahmen beide Eltern mit Freude und mit viel Einsatz wiederum Grosselternpflichten.

Ihren Kindern ein Heim zugeben, ihnen die Sicherheit zu geben, die sie selber als Kind nicht gekannt hat, das war Charlotte immer ein Anliegen gewesen. Dafür hat sie gelebt, auch wenn es nicht immer leicht für sie gewesen sein dürfte, mit einem Mann, der dauernd unterwegs war, das heisst, meist allein mit drei Kindern, dem grossen Haus, dem Garten und der Schwiegermutter samt Geschwistern, die alle ihre Macken hatten. Es gab viel zu tun und Charlotte drückte sich nie vor der grossen Arbeit. Sie sorgte für einen gepflegten Haushalt, kochte – sehr gut übrigens – und nähte, obwohl sie dies alles mehr aus Pflichtgefühl denn aus Leidenschaft tat. Ihren inneren Frieden fand sie vor allem in der Gartenarbeit, es war ihre Methode, ihren Ärger oder Frust abzureagieren.

Als die Kinder erwachsen wurden, engagierte sich Charlotte in der Gemeinde, mehrere Jahre in der Primarschulpflege von Thörishaus, als Präsidentin der Handarbeitskommission. Dort sorgte sie immer wieder mal für eine für die damaligen dörflichen Verhältnisse beinahe revolutionären Neuerung, zum Beispiel mit der Wahl eines modischen Stoffs oder mit dem Vorschlag, statt einer Küchenschürze lieber einen hübschen Rock zu nähen. Mit grossem Engagement setzte sie sich ebenfalls mehrere Jahre für ein Mündel ein, dessen Vormundschaft sie auf Anfrage der Gemeinde übernommen hatte. Und sie lernte Englisch. Diese wöchentlichen Englischstunden waren sakrosankt, sie bedeuteten ihr eine willkommene Abwechslung in der Routine des Alltags und sie fehlte kaum eine Stunde.

Unsere Eltern haben eine Ehe nach traditionellem Muster geführt, der Mann war der Ernährer, die Frau regierte zu Hause. Charlotte bekam, wie das damals üblich war, ein vom Ehemann festgesetztes Haushaltgeld. So musste sie immer wieder mal eine List erfinden, wenn sie etwas wollte, das ihr Budget überschritten hätte.  Mit dem ihr eigenen Charme setzte sie sich meistens durch, auch, als es darum ging, nach Ruedis offizieller Pensionierung ihr Revier zu verteidigen und dafür zu sorgen, dass es nun nicht plötzlich nach den Vorstellungen ihres Mannes ging, der vorher im Haushalt nie einen Finger gerührt hatte. Das brauchte seine Zeit, aber nachdem sich die beiden wieder zusammengerauft hatten, führten sie – für alle sichtbar – eine glückliche Ehe, wie man sie allen älteren Ehepaaren nur wünschen kann. Erst der Tod von Ruedi machte diesem neu erkämpften Glück ein Ende. Ruedi starb 1987, kurz vor seinem 77. Geburtstag. Für Charlotte brach eine Welt zusammen, „mit ihm ist eine Hälfte von mir gestorben,“ sagte sie danach oft.

Allein zurück geblieben, entschloss sie sich 19.., das Haus in Thörishaus zu verkaufen und nach Bern zu ziehen, wo sie – von allen Verpflichtungen befreit – das Stadtleben geniessen wollte. Aber sie, die ein Leben lang viel gearbeitet hatte, war plötzlich zum Nichtstun verurteilt, sie wurde unzufrieden, fühlte sich nicht ausgefüllt, die Gartenarbeit fehlte ihr. Als die Tochter Christine und ihr Mann ein Haus in Langres in Frankreich kauften, in das sie später vielleicht einmal ganz ziehen wollten, schlug Charlotte deshalb vor, sie könnte dort solange zu Haus und Garten schauen. Das brauchte eine rechte Portion Mut, Charlotte entschloss sich zu diesem Schritt gegen den Ratschlag ihrer Söhne, die grosse Bedenken hatten, schliesslich war die Mutter bereits 82 Jahre alt, und es heisst ja, einen alten Baum solle man nicht mehr verpflanzen. Aber Charlotte hat in ihrem ganzen Leben nie wirklich tiefe Wurzeln geschlagen. Ihr Anker war Ruedi gewesen, nicht der Ort, wo sie gerade lebte. Ausserdem war die Übersiedlung nach Frankreich auch die Rückkehr in ein Land, in dem sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte und dessen Kultur und Sprache sie mochte. Und obwohl sie in Langres oft allein war, fühlte sie sich dort wohl, der Garten war ihr kleines Paradies, das sie liebevoll hegte und pflegte. Fast 10 Jahre blieb Charlotte in Langres, noch mit 90 arbeitete sie täglich im Garten, und wenn Besuch kam, war sie die Lady mit der Allure einer Grande dame, die ihre Gäste empfing, ganz so, wie sie es sich im Schlossgarten ihrer Kindheit erträumt hatte.

Erst 2007, als ihre Kräfte langsam nachliessen, entschloss sich Charlotte, in die Schweiz zurück zu kehren und damit auch zurück zu ihrer Familie. Sie war jetzt 92 Jahre alt. Wie schon so oft in ihrem Leben begann für sie nochmals ein neuer Lebensabschnitt, diesmal sollte es der letzte sein. Ihren Lebensabend verbrachte sie hauptsächlich in ihrer Wohnung in Niederglatt, umsorgt von ihrem Sohn René, der täglich nach ihr schaute. Doch sie wurde immer schwächer und konnte immer weniger sehen. Nach zwei Stürzen liess sich der Umzug ins Altersheim nicht mehr vermeiden, obwohl wir ihr das alle gerne erspart hätten. Im Altersheim verblieben ihr noch drei einigermassen gesunde Jahre, aber ihre Kräfte schwanden zusehends, auch die geistigen. Das Leben mache so keinen Spass mehr, sagte sie oft, und sie wünsche sich endlich Flügel. Ihr grösster Wunsch war es, im Himmel einmal ihren Ruedi wiederzusehen… Das wünschen wir Dir auch, liebe Mam, liebe Charlotte, liebes Lotti.

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