Variationen der Leidenschaft – Ichlernen und Weltlernen – Existenzphilosophie als politische Theorie

Variationen der Leidenschaft – Ichlernen und Weltlernen – Existenzphilosophie als politische Theorie

 

Der Existenzphilosophie wie der gesellschaftlichen und politischen Theorie kommen in diesen letzten Jahren des ausgehenden  Jahrhunderts  komplementäre  Aufgaben zu.  Diese Aufgaben stellen sich aus den traumatisierenden Verlusterfahrungen der jüngsten Geschichte,  die für die einzelne Existenz wie für das Zusammenleben der Menschen zu einer wiederholbaren totalen Bedrohung geworden sind. Was menschenverachtende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche  Systeme bewirkt haben und weiter bewirken,  muss auf die zugrundeliegenden Ursachen hin befragt und aufgearbeitet werden.  Geschichtenerzählen, Fragen, die skeptische Dekonstruktion  von – kognitiv und sprachlich scheinbar gesicherten – “aquis”  fügen sich dabei zu einem sowohl epistemologisch wie politisch zu führenden Prozess der Theorie- und Herrschaftskritik   zusammen.  Im  Mittelpunkt   stehen  die  Paradoxien  von  Sicherheit  und Freiheit,  von  Beobachten, Verstehen  und  Handeln,  von  Ohnmacht,  Macht  und Machtmissbrauch. Unverkennbar ist in methodischer Hinsicht der Einfluss der – von feministischen Fragestellungen  her differenzierten und erweiterten –  Psychoanalyse und einer genauen,  auch das Alltägliche rezipierenden Historiographie.  Zugrunde  liegt vor  allem  das Bekenntnis zur Praxisverpflichtung der Philosophie.

Variationen   der   “Leidenschaft”:  Unter “Leidenschaft” verstehe ich die rückhaltlose Zustimmung zur  “condition humaine”, deren Ausdruck  sich   in  der Philosophie und in der Dichtung,  in politischen Entwürfen des guten Zusammenlebens wie im gelebten Leben des Widerstands gegen Menschenverachtung  und Unterdrückung  finden,  mit der Erfahrung des Irrens  und   Scheiterns,   der  Nichtwiedergutmachung   des   Getanen   und   der  Zeitlichkeit überhaupt, mit dem Streben nach Überwindung dieser Grenzen.

Ich  will  mit  einer  Darstellung  der  über Bilder  und  Sprache  wirkenden  Definitionsmacht beginnen,  die in den Zusammenhängen  der bedürfnisdefinierten  einzelnen Existenz  wirkt  wie die Kolonialmacht in Bezug auf ein unterworfenens Land,  als deren Zweck die Schaffung einer nach bestimmten Kriterien  definierten,  kontrollierbaren Identität  angenommen wird.  Diese zu sprengen  ist  Aufgabe  und  Weg  der  Emanzipation  resp.  der  individuellen  und kollektiven Dekolonisierung.   Ich  werde   mich   dabei   mit   der  Frage  nach  den  identitätenschaffenden Differenzen befassen,  das heisst mit den Möglichkeiten  einer Eigendefinition  in  der Pluralität der  Beziehungen  und  Verhältnisse,   in  der  nicht   linearen,   sondern   häufig  unterbrochenen Geschichte:  mit dem Weg des schwachen,  immer wieder geleugneten Ich zum Ich – unter den Bedingungen  der  Sprache,  der Zeit und Zeitlichkeit  sowie  des gesellschaftlich und  politisch strukturierten  Zusammenlebens  in  technologisch und   ökonomisch  defnierten  Räumen.  Dabei haben   Fragen   der    Zuteilung    resp.    der    Überwindung    geschlechts-,     status-        und herkunftsbedingter      individueller,  gesellschaftlicher   und   politischer   Rollenschemata   eine spezifische Bedeutung  in Bezug auf – gesellschaftlich konstruierte  – Bilder von “So-Sein”  oder “Anders-Sein”,  von  Normerfüllung  (“Eigenheit”,  “Normalität”)  und  Fremdheit  (Devianz). Im Blick   ist   die   Analyse   der   entfremdenden,   identitätskonstruierenden   und   ausgrenzenden Gesellschaft  sowie das Projekt deren Veränderung zu einer die Pluralität der Differenzen gewährenden und  diese  Differenzen integrierenden  Gesellschaft.  Im Mittelpunkt  des  zweiten Teils steht dabei eine neu zu formulierende  Theorie  der Grundbedürfnisse, deren Anerkennung als  verpflichtende Begründung für die prioritäre Umsetzung  der Grundrechte dienen könnte.

Als gesellschaftsanalytischer Modellfall von  besonderer Prägnanz bietet  sich  die  Schweiz  in diesen   Jahren    der  nationalen   Depression   an,   nachdem    sie   sich   nach   jahrzehntelangen konservativen  Verweigerungen – Verweigerung der  Aufarbeitung  der  politischen Fehlentscheide und  Schuld  im  Vorfeld  und  während  des Zweiten  Weltkriegs,  Verweigerung der   politischen   Gleichstellung   der   Frauen   bis  Anfang   der   Siebzigerjahre,   Verweigerung gerechter  Ausländerrechte  und  Kinderrechte,  Verweigerung  der  politischen  Integration  in UNO und Europäische Union und zahlreiche sozio-kulturelle Verweigerungen – in identitätsdefinierte aussenpolitische Handlungsaporien sowie in eine innenpolitisch gefährliche Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft hineinmanövriert  hat.   Verhängnisvoll erscheint  mir  die  hinter  allen  Verweigerungen  zutage  tretende   nationale Profitmaximierungsmentalität,  die zum Primat der Wirtschaft  vor der Politik  und vor allem vor der Kultur geführt hat, resp. zum Verlust des – von einem breiten Kulturverständnis getragenen und schöpferisch-kritisch belebten  –  politischen  Handelns.  Die Tatsache  der Krise  allein macht die Erörterung des  Politischen   notwendig,   auch  in Hinblick  auf die grossen  bevorstehenden Projekte der schweizerischen Verfassungsrevision und einer zu schaffenden europäischen Verfassung.  Diese Projekte  geraten  zu Potemkin’schen Übungen,  wenn  ein wachsender Anteil der Bevölkerung von jeglicher  Partizipation am Politischen ausgeschaltet wird – durch  Armut, Erwerbslosigkeit, Drogensucht und andere Süchte, durch den Ausländerstatus oder durch Ghettoisierung im Alter.

Von  den  Bedingungen  des  –  weiblichen  –  Ichlernens  zu jenen  des  sozialen  und  politischen Weltlernens  (wodurch die je  individuelle  Zeitlichkeit  zu einer geschichtlichen  wird),  resp.  von der  Analyse der  vielfachen Entfremdung bis zu Theorien deren Überwindung:  dies  ist  der  – leitmotivische – Aufbau  des Buchs.  Vorgesehen sind

I. Teil  Kolonisation  und  Widerstand.  Zu Identität und Differenz  des  Ich  (Dialektik  von Sicherheit  und  Freiheit,  Funktion  der  Sprache,  Geschlechterrollen und  Sexuallität,  Verstehen und Handeln  als  – politische – Gegenmodelle  der Freiheit zu Unterdrückung und Unterwerfung als Herrschaftsmodelle der Angst)

II. Teil      Entfremdung   und   Grundbedürfnisse.   Zu  Partizipation   und  Pluralität   in   der Gesellschaft (Verlust des politischen und kulturellen Handelns durch die – zunehmend totalitäre – Priorität der Wirtschaft, Ausgrenzung durch Armut, Erwerbslosigkeit,  Ausländerstatus, Alter sowie durch kompensatorische Bedürfnisstillung durch Drogen und andere Süchte, ein feministischer    Katalog    der    Grundbedürfnisse  / plurale    Zeitmodelle    als    solidarische Sinnschaffung)

III.  Teil     Handlungsaporie  durch  nationale  Verweigerungen.  Die nationale Depression der Schweiz (Konservativismus als antifeministisches, antipluralistisches, antisolidarisches, rassistisches und       letztlich       antidemokratisch-ständisches Besitzwahrungsmodell, “Recht”schaffenheit und Unrecht  auch   heute  in  der Praxis  der Asyl-  und  Ausländerpolitik, “Kultur” und “links” unter Subversionsverdacht, Polarisierung zwischen Bevölkerung und “Kulturschaffenden”, Verfassungsrevision als Kulturprojekt, die Neutralitätsfalle, Grenzen und Abgrenzungen  zu Europa)

Zu jedem  Teil Exkurse.

 

I. Teil – Kolonisation  und Auflehnung

Zu Identität und Differenz: Dialektik von Sicherheit und Freiheit,  Funktion der Sprache, Geschlechterrollen und Sexualität, Verstehen und Handeln als Gegenmodelle zu Angst  und Repression

 

Auf die Welt  kommen  bedeutet,  die einzige vollkommene  Sicherheit verlieren, die es gibt:  die pränatale  Symbiose  mit der Mutter.  Fortan   prägt  das Bedürfnis nach  Sicherheit  die  ganze weitere   Entwicklung.   Mit   dem   Bedürfnis   nach  Sicherheit  werden   alle   materiellen   und immateriellen Bedürfnisse zusammengefasst,  die das personale Überleben sichern  (Schutz  vor Hunger, Kälte und  Schmerz). Auch wenn Liebe,  Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mutter vermögen,  beim neugeborenen Kind ein Grundgefühl  des Vertrauens  zu  schaffen,  das  stärker ist  als  Verunsicherung und Angst,   so  ist  doch   unbestritten,   dass   das  Kind   fortan  vom konditionalen Umfeld  abhängig ist,  dem auch die Mutter unterworfen ist,  und dieses Umfeld ist nach   wie   vor   patriarchal    kolonialistisch,    d. h.    nach   patriarchalen  Herrschaftsinteressen strukturiert.  Diese  beinhalten  die Festigung   und  Ausdehnung   eines  externen  Entscheidungs- und   Handlungsraums   für   die   “Väter”,   zu   dessen    Stärkung   und   Entlastung   ein   gut funktionierender interner Bedürfnisbefriedigungsraum geschaffen wird: die bürgerliche  Ehe,  die auch  nach  dem  Scheitern  des  Bürgertums  ihre normative  Funktion  behält.  Selbst  wenn  sie schlecht  funktioniert,  wenn  sie geschieden  oder  aufgehoben  wird,  selbst wenn  ein  Kind  in nicht-bürgerliche  Verhältnisse hineingeboren   wird,  eventuell  gar  “vaterlos”  aufwächst,   bleibt der defiziente  oder  absente  Vater  als Schatten,  als Negativpräsenz übrig.  Auch  so sind es die patriarchal  definierten ökonomischen,  gesellschaftlichen  und politischen  Bedingungen,  die nach wie vor den Entscheidungs- und Tätigkeitsraum der Mutter  – ihren “oikos” (Hannah  Arendt)  – eingrenzen,  Bedingungen,  denen sie sich mehr oder weniger beugt  oder gegen  die sie sich mit mehr  oder  weniger Kraft  und  Veränderungsinitiative auflehnt,  die jedoch  immer auch für  das Kind den konditionalen Rahmen  der Regelsetzung darstellen,  dem es sich von allem Anfang an fügen muss. Sein Bedürfnis nach Sicherheit wird entsprechend  seiner Bereitschaft zur Regelbefolgung erfüllt.

Vergesellschaftung nach Herrschaftskriterien bedeutet Kolonisation. Die Kindheit ist daher der dunkle Erdteil der Kolonisation. Die Kolonisation setzt mit der Namengebung ein. Die Namengebung  ist  die erste Besetzung  des Kindes durch die Eltern.  Diese Besetzung  erfolgt durch  eine mächtige  Projektion  von Bildern und  Geschichten  – seien  dies die vorbildhaften gelebten  Geschichten verstorbener  Angehöriger  oder  irgendwelcher Helden  und  Heldinnen, toter, vielleicht auch noch lebender;  seien dies die heimlichen nicht gelebten Geschichten der Mutter  oder des Vaters,  die Traumgeschichten  und Wunschgeschichten,  die sich um ein Bild, resp.  um  einen Namen  ranken oder  die,  auf einen Namen  eingefärbt,  auf das Kind geheftet werden  wie  eine definitive,  nicht  austauschbare,  nicht  abwaschbare   Farbe, lange  bevor  das Kind beginnen kann,  seine eigenen Geschichten zu wagen.

Der Name entspricht dem Bild, das die Eltern aus sich schaffen,  aus dem ihnen gemässen Mass und Format,  zumeist  ein statisches,  ein fixiertes  Bild,  das sie dem Kind  als Vorgabe  für  sein Verhalten in der Welt auferlegen, eventuell  ein Bild  des unauffälligen, blassen  und  angepassten Verhaltens  oder  aber  des  ungewöhnlichen,  auffälligen,  vielleicht  sogar  des exotischen.  Dieses Bild    richtet   sich   in   erster   Linie    nach    geschlechtsspezifischen   und    standesspezifischen Eigenschaften,  welche  Vater  oder   Mutter  für  sich  selbst  oder   für   den  Partner,  resp.   die Partnerin beanspruchen, oder  welche  sie vermissen und  in  einer  kompensatorischen Projektion mit dem Namen dem  Kind  überziehen wie  ein viel zu  grosses Kleid.  Bei Hannah Arendt wird Gebürtlichkeit der Freiheit gleichgesetzt,  doch  ausserhalb  des existenzphilosophischen Modells, in welchem  das  Verhängnis  der  Sterblichkeit  einer  dialektischen  Gegensetzung bedarf,  eben jener der Freiheit, gibt es für das Kind  zuerst vor allem  die von  den Eltern definierte, durch  sie geschaffene Konditionalität,  in welche   es  hineingeboren wird und  in welche   es  hineinwächst. Aber   indem   das   Kind   in   das  kulturell  und   biographisch   elternmassgeschneiderte   Kleid hineingestellt   wird,        in   das    durch    generationenlange  Familiengeschichten,    durch    die persönlichen Wünsche  oder   Enttäuschungen  der  Eltern und  durch   gesellschaftliche Normen enggeheftete Identitätskorsett,  ergibt  sich die erste  und  die vorweg wichtigste  Anforderung  an die  Freiheit:   aus  der   gebürtlichen  Potentialität  in  die  Aktualisierung  zu  treten  und   dieses Korsett  zu  sprengen,   d.h.  die  Bedingungen  zu   verändern  und   selbst   zu   handeln.   Jede Auflehnung ist  der  Versuch einer  Antwort auf diese Anforderung.  So lässt  sich sagen,  dass  das Bedürfnis nach Freiheit erst durch  die Erfahrung der Unerträglichkeit der kolonialistischen Regelsetzung  erwacht,  obwohl   es  sich  vermutlich auf  ebenso ursprüngliche Weise komplementär zu jenem nach Sicherheit beim Kind vorfindet.  Doch  davon  später.

 

Namengebung der Welt

In Fortsetzung der  Namengebung des  Kindes  erfolgt  durch die  Eltern die Namengebung der Welt.  Existenz  ist  immer zugleich  Welthaftigkeit.  Beide  sind  Gegenstand kulturell  definierter, über  Generationen  konstruierter  und  wiederholter Beherrschungsstrategien.   Es  ist  nicht  so, dass irgendwo  das Ich endet und die Welt anfängt”, wie die amerikanische Konzeptkünstlerin Jenny Holzer 1991  an der Biennale von  Venedig mit bronzenen Lettern auf einer  Marmortafel festhält.

Das  Kind  selbst  bietet Laute,  Namen an für  die  Gesichter,  die  sich  ihm  zuwenden und  für  die Dinge,  die es erblickt, die es ertastet oder kostet und hört,  Laute  und Namen in  allen  Sprachen der  Welt,  welche  die Eltern zwar  zur  Kenntnis nehmen,  sogar  mit  Entzücken,  aber  verwerfen und  durch  andere,   “richtige”  ersetzen,  durch Namen,  mit denen  sie die Gesichter benennen und die Dinge  bezeichnen.  Die  Gesichter  neigen  sich nicht  zu  und  die Dinge  bleiben  unerreichbar, wenn   sie   nicht   mit   den   richtigen   Namen  bezeichnet   werden.   Mit   den   Namen  wird   die Bedeutung   der    Dinge    definiert.    Daher   kann    selbst    die    Sprachvermittlung    als    eine Herrschaftsstrategie   verstanden  werden,   nicht  nur   als   “Sprachspiel”   im   Wittgenstein’schen Sinn.   Augustinus  hält  in  den   “Confessiones”   (I/8)  fest:   Nannten  die Erwachsenen irgend einen Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu,  so nahm ich das wahr und ich begriff, dass der Gegenstand durch die Laute,  die sie aussprachen,  bezeichnet wurde,  dass sie auf ihn hinweisen wollten.  (. . .)  So lernte ich nach und nach verstehen,  welche Dinge  die  Wörter bezeichnen (. . .)  Und ich brachte,  als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck”. Fügt  man  sich der Namengebung nicht,  bleiben die Wünsche unerfüllt.  Als ich  sechs  Jahre  alt war  und  infolge  eines  schweren Unfalls  einen  ganzen Sommer im Krankenhaus verbringen  musste,  wünschte  ich mir sehr, Früchte  zu essen,  die ich einmal gesehen,  aber nie gekostet hatte, Früchte  mit süssem Duft, mit pelziger Haut  und roten Wangen.   Ich  nahm   an,   sie  hiessen  Aprikosen,   da  ich  diesen  Namen   in  Verbindung   mit köstlichen   Früchten   gehört   hatte,   die  ich  wiederum  auch  nicht  kannte.  Die  Erwachsenen brachten mir  Aprikosen,  in der  Meinung,  damit  meinen  Wunsch  zu  erfüllen,  doch  es waren nicht  die Früchte,  die ich  zu essen wünschte.  Den Namen  “Pfirsich”  kannte  ich  nicht,  so dass mir den ganzen  Sommer über und noch länger der Genuss dieser Früchte  verwehrt  blieb.

Mit  der Namengebung, mit der die Kolonisierung der Existenz und Welthaftigkeit des Kindes einsetzt,  nimmt  gleichzeitig  die  Kontrolle   seiner  Bedürfnisse  ihren  Anfang.  Die  tatsächliche Stillung und  Erfüllung   der  Bedürfnisse,  aber  auch deren  verweigerte oder  prekäre Erfüllung geschieht  nie  anders   als  in  Verhältnissen  der  Abhängigkeit.   Abhängigkeit  aber  bedeutet Unterwerfung  und   Unfreiheit,   ein  Verhältnis,   dem  das  Kind  zustimmen   muss,  um  nicht Hungers  zu sterben.  Zu den dringendsten  materiellen  Bedürfnissen  gehört jenes  nach Nahrung wie jenes  andere  nach Entledigung von der Nahrung,  nach Defäkation.  Die Kontrolle  sowohl der  Nahrungseinnahme  wie   der   Ausscheidungen,    die gewissermassen   die  Kontrolle    der Sexualität  vorwegnimmt,   schafft   grosse   Macht,   und   noch   viel   mehr   Macht  schafft   die Koppelung   der  Erfüllung   der   materiellen  Bedürfnisse  mit   der   –      genügenden    oder   der ungenügenden  – Erfüllung  des Bedürfnisses nach Anerkennung und nach Liebe. Die Erfüllung dieser  wichtigsten   immateriellen Bedürfnisse  wird   mit  einem  komplizierten   konditionalen System  verknüpft,   in  welchem  Beschämung  und  die Erzeugung von  Scham  beim  Kind  über sein ungenügendes Verhalten – ungenügend  in Hinblick auf die namen-  und vorbildverknüpfte normative Erwartung der Eltern –   eine  wichtige Rolle  spielen.  Beschämung und  Scham  sind interne Konstrukte der Erniedrigung,  die auf der  Seite der Eltern  wettgemacht werden  durch unerreichbare Grösse  sowie  durch Güte, jedoch  zumeist  durch  ein konditionales  Zugeständnis von Güte. Für das Kind wird klar, dass das So-und-nicht-anders-sein-Sollen, aus welchem  das Identitätskorsett  geschaffen  ist,  nie erfüllbar ist,  dass es immer  in  der Schuld bleiben wird.  So zeigen sich als Möglichkeiten des Verhaltens vor allem zwei, resp.  eine häufig nicht eindeutige Kombination  von zwei Möglichkeiten: Anpassung,  d.h. Unterwerfung unter  die nicht erfüllbare Norm,  oder Auflehnung und der Versuch der Eigendefinition der Norm.

 

Die Bemächtigung des Wortlosen durch die Worte

 

Da über  die  Sprache,  über  Namengebung und Weltbenennung,  die  erste  Kolonisation  erfolgt, muss der Widerstand gegen  die Kolonisation  auch über  die  Sprache  Gestalt  annehmen  –  eine schwierige  Aufgabe,   da  im  gleichen  Mass,  in welchem  die  Sprache  Herrschaftssystem  und damit  Entfremdungssystem  ist,   sie  auch Regel-  und  Orientierungssystem ist,   selbst  für  die Lokalisierung   und   Benennung   der   Erinnerungen.    Gibt   es   überhaupt   Erinnerungen   an Erfahrungen,  die der Sprache vorangingen? – ich  meine Erfahrungen,  die mit uns selbst  zu tun haben (andere sind nicht erinnerbar).  Ich vermute,  dass wir  über keine verfügen.  Denn selbst wenn  sich  sprachlose  Erfahrungen  in  der Erinnerung  erhalten  konnten,  versuchen  wir,   sie sprachlich  wiederzugeben,  bezeichnen  sie  als  Erfahrungen  der Wärme  oder  der  Kälte,   des Schreckens  oder des W ohbefindens, als Dunkel  oder als Helligkeite,  als rot, grün,  scharf, leer, schwammig  und  so  weiter.  Träume,  Fieberphantasien  und andere Nachterfahrungen  prägten sich  auf  diese  Weise ein,  früheste  Erfahrungen  der  Berührung  oder  der  Verlassenheit,   des Alleinseins,  des Leidens.  Wir wissen nicht,  wie und wann sich die Worte in uns festsetzten,  wie wir  anfingen,  sie zu gebrauchen.  Doch ich  nehme an,  dass sich  die angelernten Worte  schnell des   Wortlosen    bemächtigten,    dass   seither    –     eventuell   aus   der   Notwendigkeit    der Identitätsfindung   –  auch  das  Sprachlose  und  Unausgesprochene  in  ein  Wortkleid  gesteckt werden   kann.  So  früh  und so  unausweichlich   wurden   wir  durch  die  Sprache  in  die  Welt eingebunden,  dass für alles,  was uns  selbst angeht, eigentlich  nur die Namen  und  Pronomina, die  Attribute  und  Prädikate,  die  “Pfui”  und  “Brav”  zur  Verfügung   standen (vielleicht  auch heute noch  stehen),  die  den  eigenen  Bildern und  Empfindungen,   die das Beziehungsgeflecht hierarchisch   ordneten,  übergestülpt  wurden,  und die unsere  ersten  Tätigkeiten  als  anarchisch und unerlaubt  oder als ordentlich und mithin  als  erlaubt  klassifizierten.  Zustimmung erhielt  vor allem  ein  Verhalten  des  Gehorsams,  resp.  der regelkonformen  Rollenausführung,  analog  zu jenem   der  konservativ  definierten  mütterlichen   Pflichterfüllung,   die  ja darin  bestand,   den familiären  “Status”  zu erhalten und zu pflegen,  zu dulden,  zu verstehen  und nicht zu handeln.

Wir (ich meine die Frauen)  waren das “es”:  das Kind, das Mädchen. “Es” schläft, hiess es, “es” trötzelt,  “es”  ist ein liebes Kind oder  eben  “es”  ist kein liebes Kind.  Dem  lieben Kind –  dem fleissigen,  bescheidenen  und  gehorsamen Kind, demjenigen,  das  nicht  maulte,  das  schwieg, wenn die Erwachsenen sprachen,  das nicht neugierig war,  das zum Schlafen die Händchen  über der Bettdecke faltete,  dem lieben  Kind  taten  die bösen  Tiere  und Riesen  nichts  im  Wald  und eines Tages  würde  der Prinz kommen  und  “es”  wachküssen,   wenn  “es”  nur  lange  genug  vor sich  hindämmerte.  Die Märchensprache war  nicht  anders  als  die  reglementierte  Sprache  der grossen  und kleinen Herrschaftsstrukturen – derjenigen  von Familie, Schule und Gesellschaft-, in die wir eingebunden   waren.  Realität und  Fiktion  unterschieden sich nicht in  der  Sprache. Verdinglichung und Entwürdigung über die Sprache gehörten zur alltäglichen Eigen- und Fremdwahrnehmung.  Wohin konnte  die Phantasie  entfliehen? Und vor allem:

Wie konnten  wir mit dieser  Sprache lernen,  “Ich”  zu  sagen  und  mit diesem  “Ich”  die eigene Subjektivität, den eigenen Handlungswillen, das heisst die eigene Person in der aktiven Selbstwahrnehmung  zu  meinen  –   nicht  das  “es”,  mit  dem wir  –  als  Objekte  –  bezeichnet wurden?  Wie kamen  wir dazu,  die Diminutive  abzuschütteln,  mit denen  wir behängt wurden, wie gelang  es,  die  Sprache unserem  Bedürfnis gefügig zu  machen,  unserem   Phantasien  und unserer  Erfahrung, auch unserem  Körper, unserem  eigenen Blick? Wie kamen wir dazu, eigene Erkenntnis  und  eigene Bedürfnisse  gegen  die sprachbeherrschende  Autorität  der Erwachsenen zu  formulieren,  Erlebnisse  so  zu  verarbeiten,  dass  sie  Erfahrung wurden,   die  befähigten, Wahres  von  Unwahrem  zu unterscheiden, Widerstand zu realisieren gegen  ungenügende oder unrichtige  Erklärungen,  gegen   Anweisungen   und  Befehle,  die  gegebenen   Bedingungen  zu verändern  und zu handeln,  kurz:  Subjekt zu sein –   und nicht Objekt?   Versteh doch, hiess es während  der ganzen  Kindheit, und mit dem Verstehenwar das Gehorchen  gemeint,  d.h.  die Unterwerfung unter  die Herrschaftsinteressen.

Wie  liess  sich  (lässt  sich)  die Beziehung  zwischen  der  subjektiven  Innenwelt  des  Verstehens und der  Sprache  (die zugleich  Instrument der Kolonisation  und eigene  Sprache  ist)  aufbauen, diese  innerweltlich-sprachliche Spiegelbildlichkeit,  diese  nicht irgendwann gefestigte,  sondern ständig  kontroverse,  ständig  sich verändernde  und  in Frage  gestellte  Beziehung?   So  schnell kann sie abbrechen. Manche  von uns, die glaubten, die Sprache – “ihre” Sprache – gefunden  zu haben,  sind wieder verstummt.  Schmal ist die Identität der Sprache”,  sagt  Herta  Müller  in einem Interview,   das  im  November    1992  im  deutschen  Magazin  “Spiegel”  veröffentlicht wurde.  Auch  die eigene  Sprache wird  schnell  zum fremdbestimmten  Objekt  gemacht,  so dass sie in der geforderten  Spiegelbildlichkeit zur Fratze expontiell gesteigerter Entfremdung wird.

Der Weg  zur eigenen  Sprache  ist  Nachtweg oder  Tagweg,  Schmerzensweg  fast  immer.  Irren, Missverständnis,  Unverständnis   und  Enttäuschung  verunsichern   und  sind  doch   die  Regel. Manchmal   gibt   es  Nischen,   die  sich unversehens   öffnen.   Zu  wissen,   dass  die  Zeit  eine Einbildung ist und nichts mich zur Eile  drängt.  Ich  möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge so sehen,  wie sie sich uns nie zeigen” schreibt  Marlen  Haushofer.  Manchmal aber sind diese Nischen trügerische Rastplätze.  Wer unbekümmert den Schritt hinein wagt, fällt ins Leere.  Die Liebe?

 

Liebe – ein Wortkleid  wofür?

 

“Liebe”  ist so ein Wortkleid,  das im Lauf der Kolonisation vielem übergestülpt wurde,  vorweg, immer  wieder. Die Liebe  gehört    zum   Erfahrungsbereich   des   “oikos”,   zu   jenem    des Bedürfnisses nach  Sicherheit. Von frühester Kindheit an steht die Liebe  daher in Konflikt  zum Bedürfnis nach Freiheit.  Erste  Regelverletzungen des Kindes, Ausdruck  des Bedürfnisses nach Freiheit,  werden  zu verhindern  versucht,  indem die Regelbefolgung als Ausdruck  der Liebe des Kindes zu Mutter  oder Vater   dargestellt wird, und sie werden,  falls  sie trotzdem stattfinden, je nach der  –  mehr  oder  weniger konditional gewährten  – Liebe der Eltern verziehen  oder  nicht verziehen.   “Liebe”   ist   das   transparenteste   und  zugleich   das   am   dichtesten   gewobene, verwirrendste   Wortkleid,   das   die   die   unterschiedlichsten,  ja  widersprüchlichsten   Inhalte umhüllt.  Ob das Wortkleid  stimmt  oder  nicht,  ob es übereinstimmt  mit  der eigenen  – vielleicht auch trügerischen – subjektiven Erfahrung, wer weiss es, wenn selbst das sprachsuchende, ichsuchende “es” von Bedeutung zu Bedeutung tastet  – von der “Rippe Adams” und der “Trennungsagonie”   bei  Silvia  Plath  zum  “schönen Beischlaf”   bei  Elfriede  Jelinek  zum “Lebewohl” und  Verzicht aus Grossmut   bei Karoline  von Günderrode zur  “Lust am Taumel” bei Friederike Mayröcker bis zu  den Blicken meines  Kindes bei  allen,  die  ein Kind geboren haben,  zum verklärten und  selbstsicheren   “man mari,  oh oui,  man  mari,  man  mari”  meiner Mutter.    “Die Liebe  ist  die  Zeit  und der Raum,  in  denen  sich  das  ‘Ich’ das  Recht  nimmt, aussergewohnlich zu sein”,  hält Julia Kristeva fest.  “L ‘amour se revele  en se retirant”,  schreibt die todkranke Gillian  Rose  in  “Die  Arbeit  der Liebe” und   meint jene  unmögliche  “Ökonomie des Eros”,  die nach allen Verzehrungen,  Rückzügen und Verlusten als dasjenige bleibt,  was das gelebte  und geteilte  Leben  bedeutet   – eine  “Ökonomie”,  die jedoch  wie jede  Ökonomie  vor allem   Kontrolle    der   Ressourcen,  Disziplin   bei   deren   Verbrauch    und   Verzicht   auf  die Unmässigkeit  der  Leidenschaft   erfordert:  letztlich  Verzicht  auf die  symbiotische  “plenitude” und damit  auf die Stillung  des ganzen  Verlangens  (wohl  nicht zuletzt  auf die totale Erfüllung des Bedürfnisses nach Sicherheit) – aus Klugheit, so wie das skeptische Eingeständnis des Nichtwissens in der Philosophie? Doch  ist, was in der Philosophie Voraussetzung und Ziel ist, realisierbar in  der Liebe? Oder ist  auch die Liebe unstillbare Leidenschaft  des  Wissenwollens und des Nichtwissens?

Und wie geht es dabei dem “gewöhnlichen” Ich? Demjenigen, das mir im Angstraum entgegenblickt,  das  von mir weggeführt wird  in einem  Sträflingskleid”,  wie Hilde Domin in einem Gedicht schreibt? – Spiegelbild des “es”,  des gedemütigten  Objekts,  das dem um seine “schmale  Identität”   bangenden   Subjekt  ständig  zum  Verwechseln  ähnlich  ist?  Wie  eine Stärkung   verstehe ich daneben das Bekenntnis Rosa Luxemburgs, das sie während des Gefängnisaufenthaltes in einem Brief an den fernen Geliebten festhielt:  Aber ich schreibe ja eigentlich nur für eine Person: für mich  selbst.  Die Zeit,  als ich die  “Akkumulation” schrieb, gehört  zu den glücklichsten meines Lebens.”

Meine  älteste  Tochter  zeichnete  als  Fünfjährige  einen Vogel  und  schrieb  dazu  Der  Vogel gehört   niemant”  –   Ausdruck   der   Sehnsucht,   nicht   geheissen,   nicht    “weggeführt”    und enggeführt   zu  sein,  sondern   in  der  eigenen Freiheit   respektiert  zu  sein,  neidlos,   auch  im Aufschwung, im Flug über  den Wolken,  in den taumelnden  Irrflügen,  in den abstürzen. Immer schon  geschah  die Einbindung  und  damit  die Kontrolle  im  Mantel  der  Liebe,  die  Sehnsucht aber richtete  sich  nach  der  Autonomie,   das  heisst  nach  Befreiung,  schon  die  Sehnsucht  des Kindes.  Doch  zugleich   zeigte sich  grosse  Scheu  davor  und  Angst  vor  Schuld,  und  daraus Angst  vor Liebesverlust.  Unablegbare   Kindheit?  –  ständig wiederholte  Antike?  Liegt  nicht hierin,   im   unentscheidbaren   Sowohl-als-auch   des   Bedürfnisses   nach   Liebe   (resp.  nach Sicherheit:  “jemandem  gehören”)  und  des Bedürfnisses  nach  Freiheit  (“niemanem  gehören”) der  Kern   aller Aporien?  Und   letztlich  die  Begründung  für   die  Frage,   ob  Handeln   und Beobachten,  resp. Verstehen kompatibel seien?

 

Das Ich vor dem Unsagbaren und die Pflicht zu sprechen

 

Kann die Sprache als Mittel  der Be-freiung  dienen? Konnte  sie als Weg aus der Kolonisation in die Autonomie dienen?   –  als Training für die eigene Bedeutungsgebung? Auch wenn Auflehnung  und  Versuche der  eigenen  Definition  der  eigenen multiplen  Differenz  –  die  nicht aus dem Ungenügen  in  Bezug  auf die normative  Erwartung der Eltern  verstanden  sein wollte, sondern  aus der Dringlichkeit des eigenen Bedürfnisses -, auch wenn  diese Versuche  seit der frühesten  Kindheit den  Weg  der Befreiung  anzeigten,  so war  es in  der Zeit  der  Auflehnung, dass er sich festigte  – und zugleich  sich erstmals in  seiner bedrohlichen Brüchigkeit  zeigte.  Die Zeit der Auflehnung  war die Zeit der ersten Retrospektion  auf die Kindheit, die Zeit  der – noch unaussprechbaren  –  Wahrnehmung  grosser   Leerstellen,  die  nicht  einmal  den  Namen   eines Gefühls – etwa  der  Angst  –  beanspruchen   konnten.  Keine  Benennung  war  möglich,  da  diese Leerstellen    mit   Verweigerung   besetzt   waren,   mit   Verschlüsselungen,   mit   mehrdeutigen Chiffren.  Die Sexualität gehörte  dazu.  Und alles, was mit Hitler zu tun hatte.  Aber nicht einmal diese Chiffren wurden  ausgesprochen.

Für  die Leerstellen  gab  es nur Gerüche  und Bilder:  die Gerüche  des Elternschlafzimmers  und die Gerüche  der Flüchtlinge,  der Kinder aus den Kriegsländern.  Dann,  nach dem Krieg,  an der Hand  des Vaters,  den Gang in den Kinosaal, wo  das Kind über  die Bilder mit einmal alles zur Kenntnis  nehmen  musste,  alles aufs  eine Mal,  die Bilder  der äusserlich  – und  scheinbar  –  so normalen,  durchschnittlichen Männer  in Uniformen  und  ohne Uniformen  aus dem Gerichtssaal in Nürnberg und, mit diesen in Verbindung,  die unauslöschbar entsetzlichen, zutiefst traumatisierenden Bilder aus den Vernichtungslagern, welche die Allierten zum Zweck  der Dokumentation der unaussprechbaren  Verbrechen,  die fortan den Namen Auschwitz trugen, gemacht hatten,  Berge von ausgemergelten  Toten,  und Tausende von ausgemergelten Toten, die  noch  lebten,  deren  Blicke  auf das Kind im  Saal  gerichtet  waren.  Sprachlosigkeit  auch nachher,  ein entsetzlicher  Klotz  aus Sprachlosigkeit  und Entsetzen  in  der Brust  des Kindes, eine Eiseskälte und ein kaum mehr zu beruhigendes Zittern im ganzen Leib, das alle gelernten Wörter zum Verstummen brachte.  Wie zur Mutter davon sprechen, die,  wie  dem Kind schien, nur die Sprache des Liebseins und der Märchen kannte,  wie zur Grossmutter,  die häufig weinte wie  ein Kind,  wie  zum  Vater,  der  selber  die  Sprachlosigkeit  vorlebte?  Ein  unausrottbares Misstrauen gegen Männer in Uniformen oder in anderen straffen, überkorrekten  Anzügen sass fortan  tief im  Kind.  Und  eine nie  mehr  heilbare  Angst – aber  Angst  wovor?  Zutiefst  und atembeklemmend  vor  dem  Tod.  Und  vor  dem  todbringenden,  todschaffenden  Bösen, vor Zynismus und Gewalt.

Was galt das schmale  eigene Ich vor so viel  Gewalt?  Oder war gerade diese Frage verfänglich? Durfte  sie überhaupt so gestellt werden? Musste  nicht das Kind sein Ich  verteidigen,  als den unantastbaren   Kern?   Keine Identifikationsmöglichkeit   gab   es   mehr   mit   der   Welt   der Erwachsenen,  weder  über  die  Sprache  noch  über  ein Vorbild.  Fortan  kannte  das  Kind  das peinigende Gefühl  des  Alleinseins  und  begann  zu  ahnen,  dass  es letztlich nur zwei  Zustände gibt  –  Alleinsein  und  Nichtalleinsein,  und  dass  beide  unablösbar  miteinander verbunden  sind, jeder  die  schmerzende Begleit-  und Kehrseite des  anderen.  Geschah  hier  der  Bruch,  der  zur späteren  leidenschaftlichen  Skepsis gegenüber   allen  fertigen Lehrangeboten und  doktrinären Handlungsmodellen führte,  zugleich aber zum unstillbaren Bedürfnis zu wissen? –  von Bugen Kogons  frühem  Dokument über  den  “SS-Staat  und  das  System der Konzentrationslager”  zu den nach  und  nach  erscheinendenn   Berichten von  überlebenden  aus  den  Vernichtungslagern und Ghettos,   zu den rabbinischen und philosophischen Deutungen von Geschichte und Jenseits der  Geschichte bis zu  den Freundschaften mit einzelnen Frauen  und  Männern,  die mit  ihrem gelebten  Leben  Zeugnis  dafür  ablegen,  dass  das Böse  – die gemeine,  zynische  Gewalt  –  nicht das Ganze ist. Gerade  sie wägen  die Sprache sorgfältig ab, sprechen  selten von den Jahren  des unerklärbaren  Überlebens  inmitten  des Todes,  prüfen  die Worte  auf ihre  Tragfähigkeit,  sehen sich vor,   bevor  sie   ‘Hunger,   Schmutz,   Fieber”  sagen,   oder   Durst,    Eiseskälte, Verhöhnung,  Erschöpfung“, bedeutet  doch jedes Wort in seiner Trivialität eine relative Wahrnehmung,   ausser  für  diejenigen,  die  dessen  absolute Bedeutung   kennen,  und  diese  ist nicht aussprechbar.  Die Sprache entzieht sich, da,  wo da das Leben erstickt  wird.

Sarah  Kofman  bestand  auf der Pflicht  aller,  die das Grauen  der entsetzlichen,  unmenschlichen Gewalt  erkannt  haben und  sich ihm  widersetzen,  zu  sprechen,  auch  wenn  zu  viele  oder  zu wenig  Wörter   verfügbar   seien,   auch  wenn  die Wörter   durch  den  totalitären  Verrat   selber verletzt  worden  seien.   Ich  war  für  Sarah  Kofinan  so  ein Wort.  Im Herrschaftsbereich  der Nazis  gab es nur die Töter-Ich,  während  für die “Untermenschen”  kein Ich mehr galt  und kein Eigenname,  kein Gesicht,  kein Blick, keine Geschichte,  keine Beziehung,  kein Bedürfnis,  keine W elthaftigkeit.  Bloss  eine Nummer  galt,  die  in  die  Körper  eingebrannt wurde  und  die  von bellenden  Stimmen  in  die Baracken  und über  die Appellplätze  gebellt  wurde.  Sarah  Kofmans letztes   schmales   Werk   vor  ihrem   Suizid   im   Jahre   1994   war   eine  vorsichtige,   selbst  im Nachlesen  schmerzlich  fragmentierte  Spurensicherung  ihres  eigenen Ich über  das Erzählen  des Erinnerbaren  aus  der    Kindheit  (Rue  Ordener)  und  aus  der  Zeit  des  Heranwachsens  (Rue Labat),  über das Benennen der Leerstellen,  der Brüche,  der sprachlos gebliebenen  Verluste,  der Deportation   und    der    Tötung   des    Vaters    in   Auschwitz,    über    das   Nachspüren   der traumatisierenden     Identifikationsdiffusion    zwischen     Mutter     und   Wahlmutter     –    eine Spurensicherung   über   die   Sprache,   nachdem   sie   mit   grosser   Sorgfalt   und  vorbildlichem Respekt  in  ihrem  ganzen  Werk  den V ersuch  der Rückgewinnung des Ich in  den Erzählungen der  überlebenden  aus  den Lagern  und  den  Stätten  der  Vernichtung,   der  Vernichtung  der ungezählten   individuellen  Ich  und  des Menschheits-Ichs,   zu  analysieren   und  zu  verstehen versucht  hatte.  Philosophie,  Psychoanalyse  und feministische Fragestellungen waren  für  Sarah Kofman   komplementäre  Möglichkeiten   der  Identitätsbefragung   und  -findung,   so wie   die hilfreiche  Hand”,   die  im  Lager  genügte,   um  das  eigene   ‘Ich’,   das  kein  ‘Ich’  mehr  sein konnte,  zu ergänzen “,  wie  sie in  “Erstickte  Worte”  schreibt.  Das  Schreiben,  das Zuhören,  das Verstehen  und  das  Sprechen werden  bei  Sarah  Kofman  zur  Möglichkeit,  die Bilder  aus  der Sprachlosigkeit  zu befreien  und das Unsägliche  zu benennen,  damit  das Ich seinen/ihren  Platz und Namen  in der eigenen Geschichte  und in den Beziehungen der Welt wiedergewinnen kann.

Auch Hannah  Arendt  beharrte  auf dem  Geschichte und Geschichten-Erzählen” als Korrektiv zur verflachenden,  so leichthin alles erklärenden und  zugleich  alles zudeckenden Theorie.  Es genügt  ihr  zufolge  nicht,  das  Zustandekommen des  Missbrauchs  von  Macht  theoretisch  zu erklären.  Das  Leiden,  das  der  Missbrauch  schafft,  muss  erzählt  werden. Mit  dem  Erzählen werden  die Leidenden zu Subjekten  der Geschichte.  Allein dies verhindert  – nun gemäss Walter Benjamin  –  dass   die  jeweils  Herrschenden,   die   Sieger  –   sich   auch   der   Historiographie bemächtigen:  Auch diToten werden vor dem Feind,  wenn er siegt,  nicht sicher sein.  Und dieser Feind hat zu siegen  nicht aufgehört…  Es ist niemals  ein Dokument  der Kultur,  ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein” (Über den Begriff der Geschichte,  VI/ VII).

 

Verstehen, um weiterzuwissen:  Lesen

 

Um  mein Ich zu  stärken,  war  es nötig zu verstehen,  ohne mich zu unterwerfen.  Mit  anderen Worten:  Ich  musste verstehen,  um weiterzuwissen.  Das bedeutete in  erster  Linie,  die Wörter der  Erwachsenensprache  verstehen,   resp.  die Wörter   der  vielen  codierten   Sprachen  mit  all ihren Bedeutungen  und  Auslassungen  unterscheiden  lernen.  Den Intonationen  lauschen  und kombinieren  war  das  eine,  das  hatte  mehr  mit  Gefühl  zu  tun  als  mit  Verstand;   präzise und unerbittlich  fragen,  nachfragen,  war das andere.  Vieles war nicht zu verstehen,  oder ich  meinte zu verstehen.  Mit Befriedigung fand ich Jahrzehnte  später  in Wittgensteins  “Philosophischen Untersuchungen”  (§§  150  –  155)  genau  diese  Bedeutung   von  verstehen  wieder,  quasi  als Bestätigung meines Eigensinns.  Dem  Verstehenwollen und  Verstehenmüssen diente  auch  das Lesen.  Lesend  fand ich vorweg  Angebote  von Antworten  auf das, was ich nicht wusste.

Mit  dem  Lesen  wurde   das  Alleinsein  zum  Nicht-Alleinsein,  damit  verbrachte  ich  die  Zeit zwischen  Kindheit  und Auflehnung,   resp.  dem  Bruch  mit  der  Kindheit.  Bücher   waren  im Elternhaus in reichem Mass vorhanden,  während der Kriegs- und Nachkriegsjahre mehr Bücher als   Essen.   Wörter,   die   mir   neu   waren,   schrieb   ich   in   meine  Blindbände   auf,   ganze Textpassagen merkte ich mir und wiederholte sie im Gehen. Lesenderweise nahm ich an Begegnungen,   Gesprächen   und  Abschieden  teil,  die  mir  im  gelebten  Leben   vorenthalten wurden,  wie  ich  dachte, und  ich  lernte  Landschaften und Städte  kennen,  Hotels  und  Strassen, die mir  später,  als ich reisen  konnte,  plötzlich wiederbegegneten, ja selbst  Gesichter,  in  die ich auf Bahnsteigen und in  Cafes  irgendwann  plötzlich  blickte,  verwirrt, manchmal  erschreckt,  da mir immer erst im nachhinein bewusst  wurde,  dass diese Gesichter den Bildern  entsprachen, die ich mir beim Lesen  von  Frauen  und   Männern  gemacht  hatte,  mit denen  ich mich tage-  und nächtelang auseinandergesetzt hatte,  die sich mir nicht entzogen  hatten, die, nachschlagbar und nachlesbar,  meinen  Phantasien  standgehalten,  die ich mit dem,  was  sie  sagten  und  taten,  mit ihrem Handeln  und ihrer  Ohnmacht,  als Vorbilder gewählt  hatte.  Wien,  Moskau,  Prag,  Triest, Paris,  Deauville,  Warschau,  London,  Berlin,  Florenz hatten  die Farbe  von Bucheinbänden  und den Geruch von Papier und Staub, ich brauchte  keinen Pass für die Grenzübergänge, kein Eintrittsbillet  in  die  grossen   Trauerspiele  und  Komödien,  nichts  und  niemand  konnte  mich davon  abhalten, verstehen zu  wollen.  Ich  weiss noch,  wie  ein  Grauen  mich  erfasste,  als ich, schon  kein  Kind  mehr,  das  erstemal  von  den Bücherverbrennungen  durch  die Nazis  erfuhr, dass  ich sofort verstand,   dass  sich diese  Gewalt  sowohl  direkt  wie stellvertretend gegen  die ganze  Wirkkraft   der  dem  Verstehezugrundeliegenden  Sprache  und  damit  des sprachgewordenen Lebens richtete,  um zu verhindern,  dass die Menschen  weiterwussten.

Die Blindbände,  schön  gebundene   Bücher  ohne  Text,  waren  ein  Geschenk   des  Vaters.  Die Bezeichnung war  unklar, vieldeutig und  wurde  mir nicht erklärt.  Ich  verstand   sie  auf meine Weise.  Blind bedeutete  für mich,  dass  ich  aus  mir  heraus  schreiben  musste,  quasi  ohne  zu schauen,  und  dass  ein Band  nicht  nur  in  die  Zöpfe  geflochten   wurde,  sondern  auch  Buch bedeutete,  war  der Beginn  ungezählter Sprachtauschspiele,  Übersetzungsspiele,  Alliterationen und Worträtsel.   Nie war  mir das  Alleinsein  ängstigender  oder  beschwerlicher als  das Nicht- Alleinsein,  nie erschien mir ein Weg lang,  da ich mich  “im Kopf’  ständig  mit Sprache begleitete und  den  Rhythmus  oder  die  Art  des  Gehens  damit koordinierte,  mit  einzelnen  Worten  und ganzen  Texten,  mit Passagen  aus Gedichten,  mit  Dialogen.  Aus  der  gleichzeitigen  Erfahrung der   Kindheitskolonisation   über   die   Sprache   wie   der       Sprachverweigerung   durch   die Erwachsenen  erwuchs   im  fragenden  und  verstehenden Rückzug   etwas  Drittes:  die  –   immer wieder  beunruhigende  –  Notwendigkeit   der   eigenen   Sprachgewinnung   und   des   eigenen Ausdrucks,  und aus der Notwendigkeit die Lust  an der Sprache und an den – wie mir schien – unbegrenzten  Möglichkeiten des versuchten  Verstehens  oder  des neuen  Verstehens mit Hilfe der Sprache.

Es  wäre  jedoch   falsch  zu  behaupten,  dass  das  Schreiben  zur  Lust   geworden  wäre.  Das Schreiben wurde  früh  schon zur  Arbeit.  Und  Arbeit  –  hierin  stimme  ich  mit Marx  und  mit Hannah   Arendt   überein   –  gehört   nicht  zum   Reich   der  Freiheit,   sondern   zu  jenem   der Notwendigkeit.   In   der   Arbeit   wird   das   Ich   bis   an   die   Grenzen   der  erschöpfendsten Unterordnung strapaziert.  Dabei  aber  kommt  jene  Erfahrung  von  Wirklichkeit  zustande,   die vielleicht alle  Schreibenden  kennen.  Virginia  Woolf   sprach  davon  in  einem Vortrag,   den  sie 1928  in  Cambridge   hielt  und  in welchem  sie  die  Frauen   aufforderte  zu  schreiben,  um  in Gegenwart  der  Wirklichkeit  zu  leben,  wobei   es  auch   ihr nötig  schien  zu  klären,   was Wirklichkeit”  heisst.   Es scheint  etwas  sehr  Erratisches,  etwas  Unzuverlässiges zu  sein”, führte  sie  aus,  bald findet  man es auf einer staubigen  landstrasse,  bald auf einem Fetzen Zeitungspapier am Strassenrand,  bald als Gänseblümchen in der Sonne.  Es beleuchtet eine Gruppe von menschen  in einem Zimmer und prägt  ein paar  beiläufige  Sätze. Es überwältigt einen,  während  man  unter  den  Sternen  nach  Hause  geht, und macht die  stumme   Welt wrklicher als die  Welt der Sprache – und dann,  da ist sie wieder,  in einem Omnibus im Getöse von Piccadilly.  Manchmal scheint sie auch in Formen zu wohnen,  die  uns zu .fremd sind,  als dass wir erkennen  könnten, welches ihre Natur  ist.  Aber was immer sie berührt,  sie fixiert es und  macht   es  dauerhaft”.   Virginia   W oolf   sagte  anschliessend,    es   sei   das   Glück   der Schreibenden,  mehr  als  andere  Menschen  in  Gegenwart  dieser  Wirklichkeit zu leben,  da  es schliesslich   ihr   Geschäft    sei,   sie   zu   finden,    zu   sammeln    und    mitzuteilen.    Diese    – sprachgewordene –  Wirklichkeit sei es, die übrigbleibt, wenn die Hülle des Tags in die Hecke geworfen wird “

 

Die  ‘Hülle des  Tags”,  das wechselnde  Lieben  und Hassen,  die Aufregungen,  Kurzweiligkeiten und  kurzwelligen   Erschütterungen des  Tages,  der  Dunst  und  Staub  der  Strassen,  selbst  das Fremde  – all  dies ist  abwerjbar”?  Und nicht-abwertbar?  Was unaustauschbar,  was notwendig ist?  Besteht  nicht  die Gefahr  eines  –  mehr  oder  weniger  rigiden  –   Essentialismus?  Kann  die Gefahr vermieden werden,  wenn  das Notwendige die Arbeit bedeutet  –  die “Arbeit  der Liebe” (nach  Gillian  Rose),   die  Arbeit  des  Überlebens,   die  Arbeit  der  Befreiung  und  jene   der Gerechtigkeit,   die  Arbeit  des  Kindergrossziehens,   die  Arbeit  des   Schreibens,   der  Kunst überhaupt?  Ist all diese “Arbeit”  letztlich,  was “Kultur”  heisst?

 

 Schreiben in den Grenzen  des Ichs

 

Das  vertraute Gesicht eines  Wortes,  die  Empfindung,  es habe seine Bedeutung  in sich aufgenommen,  sei ein Ebenbild seiner Bedeutung  – es könnte Menschen  geben,  denen  das alles fremd ist.  (Es würde  ihnen die Anhänglichkeit an die Worte fehlen).  – Und wie  äussern sich diese Gefühle  bei uns? – Darin,  wie wir Worte wählen und schätzen.  – Wie finde ich das richtige Wort?  Wie wähle ich unter den  Worten? Es ist wohl manchmal,  als vergliche ich sie nach feinen Unterschieden  ihres Geruchs:  Dies   ist zu sehr… ,    dies zu sehr … ,     – das  ist das richtige. Aber ich muss nicht immer beurteilen,  erklären; ich könnte oft nur sagen: ‘Es stimmt einfach noch nicht.’ Ich bin unbefriedigt, suche weiter. Endlich kommt ein Wort:  ‘Das ist es!’ Manchmal kann ich sagen,  warum.  So schaut eben hier das Suchen aus,  so das Finden. ” So  schildert   Wittgenstein   (in  den “Philosophischen Untersuchungen”)  die Arbeit des Schreibens.  An den “Philosophischen Untersuchungen” hatte er sechzehn Jahre lang gearbeitet.

1945  hielt  er  sie  für  abgeschlossen.  “So  schaut  eben  das Suchen  aus”…  Über  die  Sprache dachte  er seit seiner Teilnahme  als österreichischer Freiwilliger am I.  Weltkrieg nach,  über  die Richtigkeit,  über den Sinn und über die Grenzen  des Sagbaren,  über das Ich und über die Welt. Die  Infragestellung  drängte   sich  durch  die  Absurdität   der  Gewalt  auf,  und  diese  wiederum hatte   nur   zustandekommen   können   durch   die   kaum   mehr   auflösbare   vorausgegangene strukturelle  Gewalt – Militarismus, Kolonialismus, Bourgeosie und Patriarchalismus, die Selbstmorde  seiner  zwei  Brüder,  breitester  Antisemitismus,  Nationalismus  und Massenverelendung,  dann der Krieg.  Die erste Fassung  des “Tractatus”  entstand  bekanntlich  in den gefechtfreien Stunden an der Front in Galizien und  später  an der italienischen Front.  Als Anfang November  1918  der  Waffenstillstand  zwischen  Österreich  und  Italien  zustandekam, wurde   Wittgenstein  mit  rund   500’000  weiteren   Soldaten   als  Kriegsgefangener  interniert. Während   der  Gefangenschaft  bemühte   er  sich  verzeifelt,  für  sein  Buch  einen  Verleger  zu finden,  stiess  jedoch  auf grosse  Schwierigkeit”,  wie  er  selbst  schrieb.  Nach  einer  weiteren Absage notierte  er:  ‘Meine Arbeit ist entweder ein Werk ersten Ranges, oder sie ist kein Werk ersten Ranges.  Im zweiten  – wahrscheinlicheren  – Falle  bin ich selbst dafür,  dass sie nicht gedruckt  werde.   Und im ersten ist es ganz gleichgültig,  ob sie zwanzig  oder  dreissig Jahre früher oder später gedruckt wird”.

Als Bertrand Russel  schliesslich  die kleine  Schrift,  die er als genial  einstufte, 1921 in einer philosophischen Zeitschrift in England  auf Englisch  publizierte,  war diese Erstveröffentlichung von  so vielen  Druckfehlern und  Unsorgfältigkeiten verunstaltet,  dass  Wittgenstein  sich nicht freuen konnte.  Aus der im Krieg erlebten entsetzlichen  Vereinzelung  und Todesnähe  ergab sich für ihn die zwingende  Notwendigkeit einer  Sinngebung – über  das  Schreiben.  Das  Schreiben machte  den  Grenzpfad  der  Verzweiflung  begehbarer, jene  Grenze,  die  er  als  das  denkende, erfahrende  Ich verstand, das  nicht  Teil der  Welt”,  sondern  eine  Grenze der  Welt ist”,  wie er im  “Tractatus”  festhält,  wobei  zugleich  die Sprache  sich als  Grenze  zeigt.   Was jenseits  der Grenze liegt,  wird einfach  Unsinn sein”,  folgert er, das heisst, ohne Sinnrelation zwischen  dem Ich und der Welt.

Ich  habe  mich  oft  gefragt,  woraus sich der Widerstand  gegen  Wittgensteins Werk  aufbaute, woran   die  Ablehnung   lag,  die  er  erfuhr?   Vielleicht   daran,   dass  die  60  Seiten   Text,   die Wittgenstein   in   fünf   Jahren   geschaffen    hatte,   etwas    ganz   Neues   waren,    hermetisch verschlüsselte Dichtung,  dabei  zugleich  Logik und Ethik,   steng philosophisch und zugleich literarisch,  es wird aber doch nicht darin geschwafelt”,  wie er in einem Brief festhielt? Es war ein Text,  der erschreckte,  der aus unabwendbarer  Notwendigkeit  entstanden war,  für den es nicht  Variationen  oder  Eventualitäten des Entstehens  gab,  sondern  nur  die eine zwingende Form.   Gewiss,  ein  so  unbedingter   Sprachwille   liess   sich  schlecht mit   der  üblichen,   aus Erfolgskalkül und Trendanpassung  entstandenen und leichthin  verlegten Literatur  vereinbaren. Wittgenstein war jener Mensch im  Sturm,  der sich nur mit Mühe  auf den Beinen hält”,  der sich aber weigert,  sich selbst in  Sicherheit zu bringen.  Als er in jenem selben  Jahr 1921  seinen Entschluss  bekanntgab,  auf jede  Konformität  zu verzichten  und  als  Volksschullehrer  in  einer der ärmsten und verlassensten  Gegenden Österreichs  zu wirken,  schrieb ihm  seine  Schwester Hermine,  er komme ihr  vor wie  einer,  der eine derbe Kiste  mit einem Präzisionsgerät  öffnen wolle. Darauf antwortete  ihr Wittgenstein,  sie  dagegen erinnere  ihn  an einen Menschen,  der aus  einem  geschlossenen Fenster  schaut  und  sich  die   sonderbaren   Bewegungen  eines Passanten nicht  erklären  kann”,  da man hinter der  schützenden  Scheibe nicht wissen  könne, “welcher Sturm draussen  wütet,  und dass dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe GZ(f den Beinen  hält”.

Auch  was  Franz  Kafka   über   die   “Zwangsarbeit”  und  über   das   “unendliche  Glück”   des Schreibens  in  seinen  Briefe an  Felice  und  an  Milena  unaufhörlich  thematisiert,   was  er  als quälende Erfahrung in seinen Tagebüchern festhält, ist genau dies: die unausweichliche Notwendigkeit zu schreiben  und zugleich  die Bitterkeit vor der Ohnmacht  des Schreibens, vor der  sich entziehenden   Sprache,  vor dem Ungenügen  der Wörter  und  Sätze.   “Kein  Wort fast, das  ich   schreibe,  passt  zum   anderen,   ich   höre,   wie   sich   die   Konsonanten   blechern aneinanderreihen,  und die  Vokale  singen  dazu wie Ausstellungsneger.  Meine  Zeifel stehn um jedes  Wort  im Kreis  herum,  ich  sehe  sie früher  als das  Wort,  aber  was denn!  ich sehe  das Wort  überhaupt nicht,   das  erfinde  ich.  Das  wäre ja  noch  das  grösste  Unglück  nicht,   nur müsste ich  dann  Worte  erfinden können,  welche  imstande  sind,  den Leichengeruch  in  eine Richtung zu  blasen,  dass  er mir und dem  Leser  nicht  gleich  ins  Gesicht kommt.   Wenn  ich mich  zum  Schreibtisch  setze,  ist mir  nicht  wohler  als einem,  der  mitten  im  Verkehr  auf der Place de  l’Opera fällt und beide Beine  bricht.  (..) Das viele Leben  schmerzt ihn, denn er ist ja ein   Verkehrshindernis,   aber   die  Leere   ist   nicht   weniger   arg,   denn   sie   macht  seinen eigentlichen Schmerz los.”  (TB 15.  12.  1910).  Am darauffolgenden  Tag notiert  er:  “Dass  ich so viel weggelegt  und weggestrichen habe,  ja fast  alles,  was  ich  in diesem  Jahr  überhaupt geschrieben habe,  das hindert mich jedenfalls auch sehr am Schreiben.  Es ist ja  ein Berg,  es istfünfmal so viel,  als ich überhaupt je geschrieben  habe,  und schon  durch  seine Mase zieht es alles,  was ich schreibe,  mir unter den  Füssen  weg.” Dann  am 27.  12.  1910:  “Meine Kraft reicht zu keinem  Satz mehr  aus.  Ja,  wenn es sich um  Worte  handeln würde,  wenn  es genügte, ein  Wort hinzusetzen und man  sich  wegwenden könnte  im ruhigen  Bewusstsein,  dieses  Wort ganz  mit sich erfüllt zu haben.” Wenn Kafirn jedoch  einen Tag oder  gar zwei-drei  Tage nicht schrieb,  so geriet  er in  einen Zustand  der kaum aushaltbaren  existentiellen Bedrohung,  aus der er um des Überlebens willen  schreibend herausfinden  musste.  ”Ich ziehe,  wenn  ich nach langer Zeit zu schreiben anfange,  die  Worte  wie  aus  der  leeren  Luft.  Ist  eines  gewonnen,  dann  ist eben  nur  dieses  eine  da  und alle  Arbeit fängt  von  vorne  an.”  Am  16.   1.   1922,  nach  einem vollständigen  Zusammenbruch,  notierte  er:  “…  die  Jagd geht durch  mich  und zerre isst mich. (.) ‘Jagd’ ist ja nur ein Bild,  ich kann auch sagen,  ‘Ansturm gegen die  letzte  irdische Grenze’, und zwar Ansturm von unten,  von den Menschen her,  und kann,  da auch dies nur ein Bild ist, es ersetzen durch das Bild des Ansturms von oben,  zu mir herab.  Diese ganze Literatur ist ein Ansturm  gegen die Grenze”.

Wenn es Kafka allerdings gelang,  den schmalen Grenzpfad zu finden, auf dem die Sprache  sich ihm  nicht  enzog, sondern erschloss,  konnte er ein Werk in  einem Zug vollenden.  So entstand die Erzählung “In  der Strafkolonie”  in  drei Tagen, vom 15.  bis zum 18,  10.  1914,  während er vorher und nachher,  das heisst vom August  1914  bis zum Januar  1915,  gleichzeitig fieberhaft am  “Prozess”  arbeitete.  Ohne  Zweifel  sind  diese  Werke  “dans  le  vrai”,  wie  Kafka  selbst Flaubert zu zitieren pflegte,  “ils sont dans le vrai “:  Werke ohne Zugeständnis an die Trivialität, das heisst  an den Geschmack der Zeit,  an die Gefälligkeit.  Schon  am 7 .1.1904  hatte er an den Freund Oskar Pollak geschrieben:  “Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich. “

Die schwere  Arbeit des Schreibens,  die Notwendigkeit?  Ob es für alle,  die schreiben,  zutrifft? Ich  weiss  nur,  dass  mir neben  Wittgenstein  und  Kafka  eine  grosse   ungeordnete   Reihe glühender,  sich  verzehrender  Schreibender einfällt, Schriftstellerlnnen  und  Dichterlnnen  aus allen Jahrhunderten – Rahel  Varnhagen,  Karoline von Günderrode,  Gustave Flaubert,  Heinrich Heine,  Virginia  Woolf,   Sylvia  Plath,  Robert   Walser,  Walter  Benjamin,  Simone  Weil,  Else Lasker-Schüler – nur  einige wenige,  ungezählte mehr  liessen  sich nennen,  deren  Werk  nicht irgendwie  entstand,   sondern  aus dem  Ich-definierten  Müssen,  aus  der  Unentrinnbarkeit  des Suchens:  aus Notwendigkeit.

 

Und  die Freiheit? Im Schreiben,  in  der Philosophie,  in  der Kunst  überhaupt zeigt  sich Freiheit nur  aporetisch,  nur  als Paradox, jedoch   in  allen  Variationen  der  Leidenschaft.  Gerade  weil “Freiheit”  hier  im  Sinn  von  “Möglichkeit  der Wahl gänzlich  anderer  Lebensoptionen”  total nicht ist (hierin besteht  ja die Definition der Notwendigkeit,  deren Ausdruck  die Arbeit  ist),  ist sie und wird  sie im Mangel total ausgeschöpft,  verteidigt und erfordert.  Es handelt  sich  wohl um das merkwürdigste Paradox  der Freiheit.

 

 Aufgebrochene Eindeutigkeit des Geschlechtlichen

 

Rückzug  und Auflehnung,  Unterwerfung und Befreiung waren wechselseitige und gleichzeitige Erscheinungen der Konstituierung  des ständig  in  Frage  gestellten Ichs.  Die  Sprachgewinnung war  der  eine geheime  Weg,  die  Auseinandersetzung  mit  der  Sexualität,  mit  Geschlecht  und Geschlechterrollen der andere. Auch dieser zweite  Weg war durch  die Erwachsenen scheinbar genau  definiert und  zeigte  sich zugleich voller  Vieldeutigkeiten.  Dabei  waren  es gerade die genauen Definitionen, die sich als   unerträglich zeigten, da sie sich, wenn auch noch auf unverstandene,  bedrohliche  Weise,  als Leerstellen,   als  Defizienz  des  Ichs  zur  Schau  stellten, buchstäblich,  etwa die Männer  in den makellosen, straffen Anzügen  oder die Frauen in rollenspezifischen  Kleidern  der  Unterwerfung,  als  die  ich  vor allem Korsette  und Schürzen betrachtete.  So  ging  die  Suche  nach  der  eigenen  Sprache  einher  mit  der  Suche nach  neuen Geschlechtsbildern,  nach  Vorbildern,  weiblichen   Vorbildern   vor  allem,  damit  auch  in  den nächtlichen Phantasien irgend  ein Weg tragfähiger werden  könnte.

Es war in jener  Zeit,  als  auf Kinoplakaten  erstmals Marlene Dietrich  mit Hosenkostüm,  Filzhut und Zigarette zwischen den schön geschminkten  Lippen  erschien.  Ein Mannsweib”,  hiess es, die Verwirrung  war  enorm,  die Männer  empörten sich,  weil  ihnen  mit  eleganter  Parodie  ihre Gesten  gestohlen  wurden,  die Frauen  in Röcken  und Schürzen  empörten sich,  weil sie bei der Verführung  durch  Travestie  nicht  mithalten  konnten,  insgeheim  aber  beneideten  Frauen  und Männer  den Ausdruck von Freiheit,  der sich im Kostümwechsel anzeigte.  Vor allem wir jungen Frauen  –   denn  in  der  Suche   nach  Vorbildern   war   ich   nicht   allein   -,  die  den  Mief  der traditionellen   Gesellschaft   nicht  mehr  ertrugen,  die  wir  uns  gegen   die  mit  den  weiblichen Geschlechtsrollen  und  -kleidern  verbundene  Kolonisation   aufbäumten   (  obwohl  einzelne  die Rollen  teilweise   schon  internalisiert  hatten)  und,  weil  die  mütterlichen   Identifikationsbilder fehlten,   grosse     Schwestern   suchten,   waren  von  der  Leichtigkeit   der  weiblich-männlichen Selbstinszenierung angetan.  Das  wirkte  einerseits  wie  eine  Parodie  und  wie  eine  spielerische Dekonstruktion    des    bedrohlich   Männlichen,    andererseits    wie    ein   neuer,    differenter, uneindeutiger Weiblichkeitsentwurf.  Hosen  zu tragen  galt fortan  als  Zeichen  der Befreiung.  In den Internaten,   in  die ich  während  Jahren  eingesperrt  wurde,  waren  Hosen verboten,  obwohl, zum   Beispiel,    zugelassen    wurde,    dass   sich       einmal   monatlich,    beim   Tanzen    in    der abgedunkelten  Halle,  Mädchenpaare  bildeten,   die,  eng  umschlungen,   Verschmelzung  ohne definierte    Geschlechterrollen    erlebten.     Für    die    streng    beobachtenden    Nonnen     war Geschlechtlichkeit  mit dem Kostüm konnotiert  und  allein  die rollendefinierte  Heterosexualität sündhaft.  In der von uns unausgesprochen genutzten Ambiguität  ergab  sich trotz  aller Verbote und Kontrollen  die Möglichkeit von Freiheit (nicht nur in der Wahl der Tanzpartnerin,  sondern in  der  Ambiguität   selbst)  und  von  –  erstmals  erfahrener  –  stechender,  schneidender,  sich krümmender Lust.  Die Frage,  was daran männlich,  was weiblich war,  stellte ich mir nicht.

Dass  mit den Hosen  für  die Frauen  noch  nichts gewonnen  war,  zeigte sich bald.  Die  Hosen wurden  zur Mode   degradiert,   die  emanzipatorische Bedeutung   wurde  durch  den  Kommerz erledigt.  Der  Kostümwechsel  allein  genügte  nicht,  da  ging  es ja  nach  wie  vor  um  binäre Modelle,   es  brauchte  mehr.  Ich  spürte,  dass  jedes  herrschaftsdefinierte resp. unterwerfungsdefinierte Bedeutungskorsett  gesprengt werden  musste,  in der  Sprache,  in  den hierarchisch ausgerichteten Rollenzuteilungen der Geschlechter, vor allem jedoch  im Selbstverständnis   der   Geschlechter,   aber   wie?  Es   galt,   eine   neue   weiblich-männliche Lebensform zu finden, die einem Menschenbild  der gleichen Akzeptanz jeder  Art von Differenz gerecht  werden  konnte. Gleichzeitig aber war in jener  – moralisch entmündigten – Nachkriegsaufbauzeit die Kontrolle  einer strikten Befolgung der traditionell normierten Geschlechterollen unerbittlich.  Sie wurde  zur  Garantie  einer unaufhaltsamen “efficiency”.  Die Kontrolle  wirkte  wie  Terror.  Sie liess  den Widerstand verstummen  oder,  im  Gegenteil, feuerte ihn  an.  Wie  aber  liess  sich  für  ein  anderes  Menschenbild   kämpfen,  wenn  es  unter   all  den Opfern,  Mitläufern und Mitläuferinnen,  unter  den Tätern und Täerinnen  keine Vorbilder gab?  – an den Gymnasien auch kein entsprechendes Fach,  an den Universitäten  ebenso wenig,  auch im Fach Philosophie nichts.

Hing  dieser Terror eventuell  mit der Unterdrückung der Sexualität  hinter den – gesellschaftlich scheinbar  so  eindeutig klassifizierten  – Geschlechtern  und  Geschlechterrollen  zusammen,  mit der gleichzeitigen  Tabuisierung  und Dämonisierung  der Sexualität?  Denn  die Sexualität  war  – neben Hitler und der Judenvernichtung  –  die eigentliche Leerstelle,  um die herum  während  der Kindheit    all  das  Schweigen  aufgebaut  wurde.   Und  zunehmend   verstand   ich,  dass  ich  die Leerstelle  füllen musste,  aber wie?  Da von der  Sprache  her nur  “Liebe”  zur  Verfügung  stand, galt   es zuerst   auseinanderzzuhalten,   was   der   Anteil   der   Sexualität,   was   der   Anteil   der Sublimation,  was  der  Anteil  der bedingungslosen,  lebenserhaltenden  Beziehungsarbeit  in  der Liebe   ist.   Und   vor  allem  wollte   ich   wissen,   warum  Sexualität   zugleich   tabuisiert   und dämonisiert  wurde.  Wegen  der  damit  verbundenen  Lust?  –  denn  die Lust  und  das Verlangen nach Steigerung  der Lust wurde tatsächlich  zum Motor.  Doch warum  sollte die Lust tabuisiert sein?  Weil  in der Lust  das  so  prekäre  Ich  sich fraglos-grenzenlos  als  Ich  empfindet?  (Noch hatte  ich  Freud  nicht  gelesen).  Oder  weil  – auf unausgesprochene  Weise  –   der  Väter-  und Müttergeneration  bewusst   war,   dass  alles  schöpferische  Handeln  aus der  Sexualität  (und  – eventuell  –  aus deren  Sublimation)  erwächst,  als  Ausdruck  der rückhaltlosen  Affirmation?  Mit anderen  Worten,  dass  die  Sexualität,  vergleichbar  der  Vernunft,  Bedingung  der  Möglichkeit des nach Erkenntnis strebenden  schöpferischen  Handelns  ist?  Voraussetzung dafür,  etwas  zu verändern  in  der Welt?  Auch Zeugung  ist Veränderung der Welt,  und jedes  Schöpfertum  ist Veränderung.       Und   gerade    dies   galt   es   zu   verhindern?    –   bedeutete   doch   für   diese Elterngeneration    “richtiges    Handeln”    die   Erfüllung    des   Notwendigen    in   hierarchisch- autoritären  Strukturen der Ein- und Unterordnung,  und eben nicht Verändern.  Und  die Gewalt in der  Sexualität?  – der Missbrauch  der  Schwächeren  (Frauen,  Kinder)  durch  die  Stärkeren? Hinter  den  vielen  individuellen,   biographischen und  situativen  Erklärungsmöglichkeiten  für sexuelle  Gewalt   scheinen  mir zwei  Gründe  von massgeblicher überindividueller Bedeutung zu sein:   der  eine  hat  resultiert   aus  der  Ich-Schwäche,   aus  der  Nicht-Akzeptanz,  ja  aus der Verachtung  des  eigenen  Ich  (und  mithin  des  anderen  Ich,  insbesondere  des  weiblichen  Ich) zahlreicher konventionell  zu Härte  und  “Männlichkeit”  erzogener  Männer,  eine Schwäche,  die durch  pure  physische  Kraft  –   durch rücksichtslose Unterwerfung und  Gewalt  –   kompensiert wird;  der  zweite  aus  der  generationenlangen  Tabuisierung   und Verhinderung  nicht  nur  des weiblichen  Bedürfnisses  nach Lust,  sondern  auch  nach  (sexueller)  Selbstbestimmung. Zutiefst erschreckend  ist die Tatsache,  dass in  der   durch   das  Patriarchat  pervertierten, zynisch gewordenen Zivilisation Unterwerfungshaltung aus Angst  Gewalt generiert – anders als bei den meisten  Tieren,  wo  sie Nachsicht  und Milde bewirkt.  Ich bin daher  der Ansicht,  dass es – von der  Tatsache  der  Gewalt  her  – keinen  Gradunterschied  des Verbechens   zwischen Vergewaltigungen  in  der  Ehe,   oder   im  Krieg,   oder   in  den  Parkhäusern,     Kellern   und Vorstadtgehölzen  gibt.  Ich  kam  zu  diesem  Schluss,  als  die  Verbrechen  der Massenvergewaltigungen  an Frauen  im jüngsten   Jugoslawienkrieg bekannt  wurden  und  alle möglichen   ethno-spezifischen   Erklärungen   konstruiert    wurden    (z.B.   Frauenraub    und   – missbrauch zum Zweck  der Demütigung der feindlichen Männer).  Nein, diejenigen Männer, die Frauen (und Kinder)  im Krieg  schänden,  tun dies nicht aus “taktischen”  Gründen,  sondern weil sie Frauen  (und Kinder) generell  nicht  als paritätische  Individuen  respektieren,  eventuell  auch, weil das Ausmass  ihrer  eigenen  Selbstverachtung und Liebesunwert-Empfindung  unerträglich ist. Wer es im Krieg tut,  tut  es auch zu Hause  oder  in den zivioen Verstecken der  Städte und Dörfer,  es  ist  dasselbe  Verbrechen und  muss  nach  denselben  Massstäben  geahndet  werden. Merkwürdig  erschien  mir,  dass von  allen Verbrechen,  die im  Jugoslawienkrieg  (vor allem im Krieg  um  Bosnien) begangen   wurden,  die  Massenvergewaltigungen  während   Monaten   die stärkste Medienbeachtung fanden, bedeutend mehr als, zum Beispiel, die systematischen Aushungerungen ganzer Städte, die Massenexekutionen und Folterungen von Männern, die systematische Zerstörung der Kultur  des Zusammenlebens durch Deportationen, Vertreibungen und Umsiedlungen  von Hundertausenden von Menschen  ( die sog.  “ethnischen  Säuberungen”). Sowohl  in den allgemeinen Medien  wie in den frauenspezifischen  erinnerte  die Ausführlichkeit, mit  der  die  Vergewaltigungen  thematisiert  wurden, an beinah  voyeuristische  Wiederholung. Dabei fiel, mit wenigen Ausnahmen, die plakative, platte Sprache auf, die Unfähigkeit, die Vergewaltigungen  anders  als unter  den quantitativen  Aspekt  der Häufung  von  “Greueltaten” zu schildern.  Allerdings   haben  diese  Schilderungen  eine  grose   Frauensolidaritätsbewegung bewirkt: Frauengruppen sind aus allen Ländern,  auch aus der Schweiz, nach Belgrad  und nach Zagreb  gereist, Hilfsprojekte für vergewaltigte Frauen wurden  entworfen, bei mir im Büro  (ich arbeitete    damals   bei    der    Schweizerischen   Flüchtlingshilfe,    der   Dachorganisation    der Hilfswerke) trafen täglich Angebote  von Psychotherapeutinnen für Psychotherapien mit vergewaltigten Frauen  ein,  ein Arzt  und  eine Ärztin  riefen an und boten ihre Bereitschaft   an, Abtreibungen vorzunehmen,  Familien  riefen  an und  wollten  unerwünschte Kinder  adoptieren, und so weiter.

Warum  weckten  die Vergewaltigungen diese starken Solidarisierungen, während  die schweren seelischen Traumata  der anderen Kriegsopfer – etwa jene der Kinder oder der alten Menschen  – in viel geringerem  Mass oder überhaupt kaum Beachtung  fanden? Ich vermute,  dass die Vergewaltigungen der einzige Aspekt von Gewalt in diesem Krieg  sind, der sich mit äussersten Gewalterfahrungen  in   unserer   zivilen  Gesellschaft  messen  lässt,   dessen   psychische  und körperlliche Folgen – insbesondere – Frauen nachvollziehen können, währen der ganze Krieg in seiner  Gewaltsummierung jede Vorstellung  übertrifft,  damit  aber  auch  den gefühlsmässigen Nachvollzug   und   eine  wirkliche   Solidarisierung  verunmöglicht.   Die   Möglichkeit,   diese Verbrechen  als  Opfer  (potentielle  oder  tatsächliche)  nachzuvollziehen,  erklärt  weitgehend, scheint  mir,  sowohl  den breiten  Platz in  der Frauenpresse  wie  die  Solidarisierungskampagnen der Frauen.

Dass gerade diese an Frauen begangenen  Verbrechen auch in der allgemeinen Presse einen viel breiteren Platz einnehmen als alle anderen Kriegsverbrechen, hat meiner Ansicht nach vor allem damit zu tun,  dass es sich um  Schilderungen brutalster   Sexualität handelt,  die,  neben aller Abscheu,  die  diese  auch  bei  Männern  wecken  mag,  eine  –  kulutrell  zwar geächtete,  aber trotzdem vorhandene – Geilheit bewirkt,  die in allem Voyeurtum aktiv ist und die gemeinhin als Sensationslust   bezeichent   wird.    Man    muss    sich    die   Horden   von    Journalisten   und Journalistinnen, Kameraleuten,  Photographen und Photographinnen  etc.  in  den Aufnahmelgern und -kliniken  vorstellen.  Dass  dabei  die Opfer  definitiv  zu Opfer  gemacht  werden,  dass ihnen jede   Subjektwürde  genommen   wird,   wird   vor  lauter  lüsterner Solidarisierung  skrupellos weggesteckt – quasi als Marktpreis.  Wo beginnt die Mittäterschaft?  – die Mittäterinnenschaft?

 

Die Bürgertumsfalle

 

Als ich  in  der Zeit  der  Auflehnung  begann,  wie  viele  der gleichen  Generation,  unsystematisch nach sprachfähigen Vorbildern der Herrschaftskritik zu suchen,  nach Vorbildern des Muts  zur Eigendefinition,  begann  ich  zu ahnen,  dass es nur Rollen gibt,  nichts  “Eigentliches”,  resp.  dass das   “Eigentliche”   das   “Uneigentliche”   ist   –   einfach   die  Existenz   in   ihren  unentwegten Lernprozessen vom  Ich zur Welt und wieder  zum Ich, im Rollenprobieren und  -aufführen, im ständigen  Vorweg-Vorbei-Vorweg-von Neuem,  so wie in Kafkas Naturtheater von Oklahoma, wo jeder  und jede eingestellt wird und eine Rolle spielt.  Doch ich begann auch zu ahnen,  dass es schlecht ist, mir durch  die autoritären Regisseure  der kleineren und grossen  Bühnen  Rollen zuschreiben  zu  lassen,  dass  es besser  ist,  die Rollen  allein  zu  suchen,  selbst  wenn  ich  dabei Vorbilder  nachahmte,   denn  “(. . .)  ich ahmte  nach,  weil  ich  einen Ausweg  suchte,  aus keinem anderen Grund”,  wieder gemäss Kafka (aus dem Bericht für eine Akademie).

Nicht  zuletzt  aus diesem  Bedürfnis  heraus  wählte  ich  das  Studium  der Philosophie,  vertiefte mich in  zuerst  curriculummässig  in  die antiken  Quellen und in  den mächtigen  Literaturfundus der grossen Denker  vom ausgehenden Mittelalter bis in  dieses J ahrhunert,  dann suchte ich nach den Denkerinnen,  entdeckte Vita und Werk  der George Sand, befasste mich  eingehend mit  den politischen  und  privaten  Leidenschaften Rosa  Luxemburgs,   stiess irgendwann  auf Olympe  de Gouges,   auf Flora  Tristan,  auf Rahel  Varnhagen,  verschlang  die  Werke  Simone  Weils  und Hannah  Arendts und kehrte  immer wieder zu diesen zurück,  versetzte  mich  in  die Fussstapfen Mary  W ollstonecrafts,  deren  Schrift    “Vindication  of  the  Rights  of  Women”,   die  1792  in London   als  erbitterte  Kritik  an  der  systematischen  Entwürdigung und  an  der  organisierten Bevormundung  der  Frauen erschienen  war,  zum  Nachvollzug   aufrief  Mary  Wollstonecraft’s Feststellung,   dass  der Begriff eines Geschlechtscharakters  die  Moral zerstört”,  bot  sich als Schlüssel  zu Fragen  an,  die mich  auf diffuse Weise  bedrängten.  Hätte  alles Entsetzliche,  was “Auschwitz”   beinhaltet,   verhindert   werden   können,  wenn   die  Frauen  und  Männer   meiner Elterngeneration  gegen  die  geschlechts-  und  schichtspezifische  Kolonisation  ihrer   eigenen Kindheit  aufgestanden  wären,  gegen die Rollenmuster und Unterwerfungserwartungen,  wenn die  Männer  sich   zur   Wehr   gesetzt   hätten   gegen   die  Forderung,    “hart”   zu   sein,   sich bedingungslos  einer äussern  Autorität  zu unterwerfen,  mit  gedankenloser  Präzision  Befehle auszuführen,  eigene Stärke  aus der Verachtung und Quälerei  der Schwächeren  zu schöpfen?  – wenn die Frauen,  statt    “fraulich  mild” zu  schweigen,  weil  “Schweigen  Gold war”,  wie  sie gelehrt wurden,  laut gegen die Unerträglichkeit ihres Missbrauchs als Dienerinnen der Männer, als  Verschönerinnen  des Hauses,  als  ewig  duldende  und tröstende  Mütter  der harten Männer protestiert und die Verachtung ihrer selbst,  die damit verbunden war,  als unerträglich deklariert hätten,  statt diese Verachtung zu internalisieren,  zu somatisieren,  an die Töchter weiterzugeben und die Söhne  mit dem Frauenbild  der Unterwerfung  dem Vaterland  zu überlassen?  Warum diese Unterwerfung?  Und warum die Reproduktion  der Unterwerfung bei den Töchtern (und – in   patriotisch-militaristischer  Hinsicht   –  bei   den   Söhnen)?       Warum   dieser   individuell wiederholte,   kollektive   Masochismus   der   Frauen   in  meiner   Elterngeneration?  Im  enggeschnürten Rollenkorsett verdorrten deren Talente, wurden sie flügellahm und traurig, fromm oder  verbittert,   je  nach  Veranlagung  –  und  stimmten  dieser  entsetzlichen   Lebenserstickung sogar noch  zu.  Im alters- und  schichtspezifischen Umkreis  meiner  Mutter   und    Grossmütter kannte  ich nicht eine Frau,  die nicht  unter  – zum  Teil  schweren  –  Depressionen  sowie unter verschiedenen körperlichen Beschwerden litt – ausschliesslich Frauen  aus dem Bürgertum. Das Bürgertum, die bürgerliche  Ehe und Familie waren  das kulturelle  Korsett, das ein Ausmass  an subtiler weiblicher  Repression schuf,  an struktureller Repression,  wie sie sich sonst  in keiner gesellschaftlichen  Schicht vorfand,  weder  in der Arbeiterschaft  noch in  der Landwirtschaft.  Die eine Grossmutter starb  an  gebrochenem Herzen”wie es hiess, ohne  dass meine Mutter  und meine Tanten  den Lebensstil  ihres Vaters  offen zu kritisieren gewagt  hätten. Und  als ich mich einmal  wegen  männlicher  Unerträglichkeit  bei  meiner  Mutter   beschwerte,   in  der  Hoffnung, dass  sie meine  Auflehnung  unterstützte,  antwortete sie seufzend,  dazu  hätte  sie  halt auch ja gesagt,  indem sie ja zur Ehe gesagt” habe.

Sigmund Freuds Psychoanalyse war gewissermassen Produkt und Spiegel dieser – privat – sprachfähigen,  jedoch   in  ihrem Ichwert   zutiefst  verletzten,  ins  Private  eingeschnürten,  zur Stützung der hypostasierten männlichen  Identität ganz und gar instrumentalisierten Klasse von Frauen.  Bertha  Pappenheim  war eigentlich weniger Freuds  erste  “Analysandin” als ein – für die Methode der Psychoanalyse  maieutisch  wirkendes  –  Beispiel  der weiblichen  Ichbefreiung  aus den rollendefinierten  Ankettungen.  Gerade  weil  ich  erlebte,  wie  in  konservativen  Schichten diese Strukturen bis in die jüngste  Zeit aufrechterhalten wurden,  vermochte  ich,  die Bedeutung der  Psychoanalyse  als  Methode  der  privaten  wie der  gesellschaftlichen Herrschaftszertrümmerung zu erahnen,  sowie,  gerade  deshalb,  die Gründe für deren Ablehnung in  rechtsbürgerlichen  Schichten:  nicht  Psychoanalyse,  sondern  Psychiatrie,  nicht  Bereiung, sondern Kontrolle,  Zähmung und Züchtigung.

1973  starb  Ingeborg Bachmann,  die in  “Todesarten”  in verschiedenen  knappen  Erzählungen festhielt, mit welch  unmerklicher   Gewalt   das  weibliche  Ich,   das  nach  Männerdiktat   und gesellschaftlicher Usanz  unterwürfig und gesichtslos  sein soll,  nach und  nach  vernichtet  wird. Etwa   um  die  gleiche  Zeit     tötete  sich  meine  engste  Freundin mit  der  Militärpistole  ihres Mannes,  in ihrer Ausweglosigkeit überzeugt,  es sei besser,  tot zu sein als lebendig,  da es ja gar nicht  gelingen  konnte,  das  eigene  Glücksverlangen  zu erfüllen.  Und  die Kinder?  Die  sollten nicht durch das Unglück der Mutter leiden müssen,  war ihre Antwort,   besser keine Mutter. Sie war  aus “reichem Haus”  gewesen,  ihre  eigene Mutter,  eine früh verwitwete  Geschäftsfrau, hatte  ich  als  pflichtbewusst,  aufopfernd  und  als  gänzlich  freudlos  kennen gelernt.  Jahrelang verwahrte ich in meinem Kasten  eine dunkelblaue  Strickjacke der toten  Freundin  als Dokument meiner Schuld,  selber  überlebt  zu  haben.  Die  Jacke  glühte  in  meinen  Händen,  Beweis,  dass Frauen  dieser  Schichte,  welche privat  oder  politisch  eine Form  der Auflehnung  suchten,  noch in  unserer  Zeit  auf grausame  Weise  zur  “Paria”  gemacht wurden  und,  gebrochen,  beschädigt, schliesslich   zu   früh   aus   dem   Leben   schieden.   Flora   Tristan   hatte   zu  Beginn  des   19. Jahrhunderts für sich die Paria-Bezeichnung  gewählt,  nachdem  das Gericht,  bei dem sie  Klage gegen   ihren  Ehemann   Andre-Francois   Chazal   eingereicht   hatte   wegen   Missbrauchs   ihrer zwölfjährigen   Tochter,    wegen   zweimaliger    Entführung    ihres    Sohns    und   wegen    eines Mordanschlags  auf sie mit  der  Schusswaffe,  sie verurteilte, die Ehe  verlassen  zu haben.   Ich war Frau,  ich war Mutter,  aber die  Gesellschaft hat mir das Herz gebrochen.  Jetzt  bin ich nicht mehr Frau,  nicht mehr Mutter,  ich bin die Paria,  schrieb  sie.  Und nicht weniger  heftig, wenngleich  anders  im Ton,  formulierte  Rahel  Varnhagen  in  ungezählten  Briefen  die gleiche Erbitterung,  so etwa  an Pauline  Wiesel  (am  8. Juni  1826):   Keine Freiheit.  Wollen  Sie noch mehr wissen? Oft wundere ich mich,  dass ich lebe,  dieselbige bin und so weit von mir abkam . . .    Man  ist nicht frei,  wenn man in der  bürgerlichen  Gesellschaft etwas vorstellen soll:  eine Gattin,  eine Beamtenfrau usw. ” – heute wie damals.  Ich erinnere etwa an Iris von Roten und an die extremen Diffamierungen,  die  sie –  auch  und  besonders  von  Frauen  –  zu  erleiden hatte, nachdem  sie 1958 ihr Buch  “Frauen im Laufgitter” veröffentlicht hatte. Es gab zum Glück auch andere Beispiele.

 

Furchtlos gegen die Komplizität des Schweigens

 

Im Frühling  1989 hielt ich mich längere Zeit  in Sizilien auf, um journalistisch den Kampf der Frauen gegen die Mafia zu dokumentieren. Es war dies, wie mir schien, eine der bedeutendsten Frauenrevolutionen in der europäischen Geschichte.

Während  Generationen hatte für die sizilianischen Frauen  das Gesetz  des Schweigens gegolten, nicht aus eigenem  Willen, sondern  aus Einschüchterung durch  das Gesetz  der Gewalt und aus tradierter, sprachlos gewordener Resignation. Scheinbar gab es keinen Ausweg  aus dem Frauenschicksal des Duldens,  der Angst, des Schweigens, der lebenslangen Trauer um verschwundene Söhne,  um  ermordete Ehemänner,  Väter  und  Brüder,  scheinbar gab  es keine Alternative zur erniedrigenden,  sprachlosen Rechtlosigkeit.  Allein die Unterwerfung unter  die “omerta”    schien  “Sicherheit”  zu gewähren.  Ende  der achtziger  Jahre  aber fanden  Frauen  den Weg  zueinander,  von  denen  jede  einzelne  genug  der  Einschüchterung und  Gewalt  ertragen hatte,  von  denen jede  einzelne  nicht länger Kinder auf die Welt  stellen  wollte,  die, bevor  sie erwachsen   waren,  als  Instrumente  eines  skrupellosen   Erpressungs-  und  Machtsystems  den Müttern    entfremdet,   zu   verbrecherischen   Zwecken    missbraucht   und   durch   das   System bedenkenlos  “erledigt”  wurden,  wenn  sie sich nicht widerstandslos  duckten  und anpassten.  Als am 15. April 1989 nach einem elfmonatigen Prozess  das Geschworenengericht von Palermo 82 angeklagte Mafia-Verdächtige, darunter  einige notorische Mafia-Häupter, wegen  scheinbar “ungenügender   Tatbeweise”    freisprach,   ging   nicht   nur   eine   Welle   der   Bitterkeit   und Resignation durch die sizilianische Öffentlichkeit. Aus der Unerträglichkeit dieses – letzlich gesellschaftlich  legitimierten und  allein aus Gründen  der  “omerta”  möglichen  –  Urteils  sprang auch ein Funke  des Aufbegehrens und der zum Widerstand  entschlossenen  Unerschrockenheit von  Frau  zu  Frau.  Es  waren  Mütter und  Ehefrauen,  zugleich  Töchter   und  Schwestern  von Männern,  die zum  Teil Opfer,  zum  Teil aktive  Mittäter  des mafiosen  Systems  waren,  Frauen, die  das  Gesetz  der  Angst  nicht  mehr  ertrugen,   die  bereit  waren,  ihre  vier  Wände  und  das Schweigen  aufzugeben und  vor Gericht Zeugnis  abzulegen.  Sie entschlossen  sich zu  diesem Schritt,   weil   sie   die  Verlogenheit   einer  aus  Einschüchterung   und   Gewalt  gezimmerten “Sicherheit”  nicht mehr mittragen wollten.  Sie zogen  die Unsicherheit des Widerstandes aus Verzweiflung vor und entdeckten, dass aus der veränderten  Öffentlichkeit, die sie mit diesem Schritt schufen, eine neue Sicherheit erwuchs:  die Sicherheit,  “richtig” zu handeln, nämlich in Übereinstimmung mit den innersten eigenen Bedürfnissen, zudem eine Sicherheit, die aus der – vorher nicht erlebten – Solidarisierung mit anderen Frauen erwuchs.

Was der Feminismus im Bereich der öffentlichen und öffentlich-rechtlichen sowie der wirtschaftlichen, insbesondere der sozialen und lohnmässigen  Diskriminierungen der Frauen zu korrigieren  versucht   hat,  unterstützte   ich,   seit  ich   erwachsen   war.   Als  Bewegung   der Emanzipation der “Rechtlosen”, d.h. der durch die Frauen erkämpften Selbstzuschreibung von Rechten, der Verteidigung von Subjektwürde, von eigener Handlungskompetenz  und von selbstbestimmtem Leben entsprach er meinen eigenen Bedürfnissen. Trotzdem befand ich mich selbst  der  Frauenbewegung gegenüber   ständig  in  jener   skeptischen  Abgrenzung,   die  mich erfolgreich vor jeder  Religions-  oder Parteizugehörigkeit beschützte.  Es ist  der – vielfach  nach wie vor binär und pauschal definierte – Frauen/Opfer-Männer/Täter-Diskurs mit dem damit verbundenen  feministischen “Revanchismus” sowie die nicht mehr qualitativ, sondern  nur noch geschlechtlich begründete politische Interessenklüngelei, die ich falsch und störend, ja gar verhängnisvoll und  unemanzipatorisch fand und finde.  Jede  fundamentalismusähnliche Borniertheit kann mich in die Flucht treiben. Dieser reduzierte und zugleich redundante “Feminismus”  hat,  wie  sich  dies  in  der  Praxis  zeigt,   auch  wenig  mit  wirklicher,  gelebter Solidarität  zu tun.  Trotz meiner  Kritik  und zeitweiligen  Distanz  halte  ich jedoch  Feminismus als Theorie der Herrschaftskritik und Frauenbewegung als Menschenrechtsbewegung für unerlässlich. Die Geschichte der jahrhundertelang verfestigten weiblichen Verachtung und Unterdrückung  sowie   deren   Folgen   und  Wiederholungen  müssen   heute   ebenso   ernsthaft untersucht werden  wie jene  des Antisemitismus, der Zigeuner-  und Jenischenverfolgung sowie anderer  Rassismen   und Kolonialismen,  jedoch   nicht  allein  aus  frauenspezifischen  Gründen, sondern  auf Grund  einer  fortgesetzten Notwendigkeit  gesellschaftsanalytischer, herrschaftskritischer  Arbeit.  Deren Ziel ist  die Dokumentation  der Folgen  von Herrschaft über das   Erzählen   von   Geschichten;      deren   Zweck    die   Sensibilisierung   für  jede   Art   von systematischer   Diskriminierung   oder   Minderachtung   von   Differenz   heute,   resp.   für   die Erkenntnis  der zu fordernden  Anerkennung    der pluralen  Differenz  in jedem  Menschen  und zwischen den Menschen,  mit dem  Anspruch der  gleichen  zivilen  und politischen  Rechte für alle.  Ich bin jedoch  überzeugt (wie  auch  Christina  Thürmer-Rohr, Frigga  Haug  und  andere), dass,  ohne  eine ebenso  genaue  Untersuchung des Beitrags,  den die Frauen als Täterinnen  zur Unterstützung des patriarchalen  Systems geleistet  haben,  und sei es allein durch ihre Erziehung von Söhnen und Töchtern wieder zu geschlechtsspezifischen Vertretern und Vertreterinnen des Systems,  dieses  System  sich nicht ändern wird.  Wer nur als Mädchen  oder  als Junge,  als Frau oder als Mann  sozialisiert  wird,  lernt  nie,  den so widersprüchlichen  und komplexen Menschen in sich – und in den anderen – zu verteidigen.

Neulich bemerkte  ich zu meiner jüngsten  Tochter, die offiziellen Personalausweise dürften,  um emanzipatorischen Vorstellungen zu genügen  und um – letztlich  – menschenrechtskonform  zu sein,  die Rubrik  “Geschlecht”  ebenso wenig enthalten wie die Rubrik  “Religion”,  da Geschlecht und  Religion  die Intimität   des  einzelnen Menschen  betreffen,  die unbedingt  zu  schützen  sei. Zudem  sei  die  Deklarationspflicht im  Grunde  genommen  nicht  nur  unethisch,  sondern auch überflüssig,  da  nur  die  Weise  des  gelebten  Lebens  –  die Beziehungen,  die  eingegangen  und gelebt werden,  sowie die Verantwortung und die Pflichten,  die daraus  folgen  – die Richtigkeit oder Falschheit der  Deklaration bestätigen könnten.  Meine  Tochter  lachte und  stellte  mit der realistischen  Einschätzung  ihrer  Generation   fest,  darauf könne  ich noch  zweihundert  Jahre warten,  das sei eine pure Utopie,  auch wenn ich  mit meiner Forderung und deren Begründung recht  habe. Leider  muss  ich ihrer Einschätzung  zustimmen.  Solange  “Identität”  als Hypostase verstanden  wird,  als  mit lauter  Grossbuchstaben geschriebenes  SELBST,  als  handle  es  sich dabei  um ein vergegenständlichtes  Gut, um einen “Besitz”,  den ein Mann oder eine Frau ( oder eine Familie  oder  ein Volk)  einmal erwirbt und  in  der  Folge  verteidigen muss,  solange  wird tatsächlich   auch  in   der   Geschlechterfrage   ( ebenso   wenig   wie   in  der  Rassismusfrage)   ein Fortschritt   zu   erwarten  sein.   Adornos   stimmt   noch   heute,   dass   Furchtbares  hat  die Menschheit sich antun  müssen,  bis das Selbst,  der identische,  zweckgerichtete,  männliche Charakter des Menschen geschaffen war,  und etwas davon wiederholt sich noch in jeder Kindheit wiederholte  sich auf jeden  Fall  noch  in  meiner  Kindheit  und  liess  die Auflehnung dagegen zu einer Notwendigkeit werden.

Es  handelte  sich jedoch um  mehr  als  um meine  individuelle Auflehnung  und  um jene  einiger gleichaltriger   junger   Frauen,    es   war    eine   Epoche    der   Auflehnung,    die   Epoche    der Dekolonisation.

 

Der Versuch  der kollektiven  Dekolonisation

 

Zurück  zu  “1968”.  Damals  und  in  den  voraus-  und  nachfolgenden  Jahren  zeigte  sich  eine kollektive Übereinstimmung unter  den jungen  Nachkriegs-Erwachsenen  in  der  Infragestellung der   rechthaberisch besetzten Weltbilder  sowie aller Macht- und Unrechtpositionen der Vätergeneration und  der  “Mutterländer”.  Diese  Übereinstimmung zeigte  sich im  Widerstand gegen  den  von  de  Gaulle  kolonialistsich   geführten  Algerienkrieg,  im Widerstand  gegen  den Vietnamkrieg der USA, in der Unterstützung der Black Power-Bewegung gegen die Rassensegregation in den USA,  im Widerstand gegen die Antimarxismus-Hysterie und  ihren Meinungsterror auch hier in der  Schweiz, gegen  neu einsetzenden  Antisemitismus und  andere Rassismen,  in  der  Revolte  gegen  die  mangelnde Mitsprachemöglichkeit  der  Studierenden  in den Universitäten, der Arbeiter und Arbeiterinnen in den Fabriken,  sie zeigte sich in der Frauenbewegung  gegen  die jahrhundertealte Geschlechterhierarchie,  in der  Bewegung  gegen atomare  Aufrüstung  und  in  der  Bewegung der “Blumenkinder”  gegen  die Domination   durch die  “harten,  erfolgreichen  Väter”   –  lauter  “Bewegungen”,  deren gemeinsamer  Grundtenor kritisch,  antiautoritär  und  –  alles  in  allem  –  in  Hiblick  auf eine  mögliche   gesellschaftliche Veränderung optimistisch war. Die Hippiebewegung etwa war nicht zuletzt eine Feminisierungsbewegung der jungen Männer, resp. ein kollektiver  Versuch  der Geschlechterdiffusion,  mit  Witz  und Poesie,  mit  Musik,  Locken, Kostümvielfalt,  Promiskuität und LSD.  Dass der Versuch  nach wenigen  Jahren in sich zusammenfiel, hatte  nicht nur mit den Wasserwerfern  der  Polizei  und  dem  gesamten   übrigen  Druck   des  “Vätersystems”  zu  tun, sondern  auch mit  der Tatsache,   dass  selbst  die Hippies,  indem  sie ein wenig  älter  wurden,  in ihren  Kommunen   die  üblichen  Unterwerfungs-  und   Herrschaftsstrukturen  reproduzierten, gegen   die   sie   eigentlich   aufgestanden   waren.   Die  Revolte,   die   zu   einer   gründlichen Dekolonisation angesetzt  hatte,  entpuppte  sich – leider – als Episode.

Als im Herbst 1996  die  algerische  Schriftstellerin  Assia Djebar in  die  Schweiz kam und  ihr neues  Buch “Le  blanc  d’Algerie”  sowie  einen  Film    “La  Zerda   ou  les  chants   de  l’oubli” präsentierte, den sie 1982 geschrieben und produziert hatte,  wurde  die Begegnung mit ihr und ihrem Werk  zu  einem  Stück Erinnerungsarbeit in Bezug  auf die erschütternde Erfahrung der Unabtrennbarkeit  von  individueller  und  kollektiver  Geschichte.  Dieser  Film,  aus Archivaufnahmen zusammengebaut, schildert die generationenlange Geschichte der maghrebinischen Kolonisation, eine Geschichte der nationalen kulturellen Fremddefinition, eine über unzählige Menschengeschichten sich fortsetzende und sich vervielfachende Geschichte der Beherrschung  über  die Sprache und über die Kontrolle  der Bedürfnisse,  eine Geschichte der mangelnden   Anerkennung,   der   Unterwerfung    und   der   unendlichen   Demütigung.   Die Demütigung,   das   wurde   deutlich,   bestand   und   besteht   in   der   Verunmöglichung   der Eigendefinition   der   Bedürfnisse   und   der   Art und   Weise   deren   Erfüllung,   mithin   der Eigendefinition der Differenz.  Verun-möglichung bedeutet, im Sinn des Wortes, Unterbindung von Möglichkeit.  Was  als  Möglichkeit  unterbunden wird,  soll  nie Realität  werden.  Zumeist resultiert  Verunmöglichung  aus dem Missbrauch  von Macht,  als  Folge von Herrschaft.  Dass jede externe Definitionsmacht Missbrauch  generiert  und in Herrschaft ausartet,  wurde mir bei der Betrachtung  des Films in der Abfolge der Bilder einmal mehr klar.

Ich erinnere mich, wie eine ähnliche Erschütterung von Frantz Fanon’s Buch  “Les damnes de la terre”  ausgegangen war, diesem  Manifest des  1924  in der Französischen Kolonie Martinique geborenen Bauernsohns,  der  in  Frankreich Philosophie  und  Medizin  studiert  hatte,  während des  Zweiten   Weltkriegs  in  der  Resistance   mitkämpfte  und anschliessend  als  Psychiater  in Algerien während  drei Jahren  eine psychiatrische Klinik leitete,  worauf er in  einem öffentlichen Brief  an   den   französischen   Generalgouverneur  demissionierte   und   sich   der   Algerischen Nationalen Befreiungsfront anschloss.  1961  erschien Fanon’s Buch in Paris,  mit  einem Vorwort von Jean Paul  Sartre,  in welchem dieser  die europäischen Länder,  die “Mutterländer”,  aufruft, sich  in Fanon’s  Buch  zu  vertiefen,  damit  sie  verstehen, was auf sie  zukommt,   nämlich  die Frucht  der Demütigung:  die während  Generationen  zurückgehaltene  Wut,  die sich lange nicht als  Gewalt  gegen   das  “Mutterland”  und  dessen  Herrschaft   zu  richten  wagte,   sondern  im kolonisierten Land internalisiert und in  sog.  “Bruderkriegen”  ausgetragen wurde.  Sartre  schrieb im  Vorwort,   dass  der Bruder,  der sein Messer gegen  seinen  Bruder  erhebt,  glaubt,  das verabscheute Bild ihrer gemeinsamen Erniedrigung ein- für allemal zu tilgen”.  Er versuchte deutlich zu machen,  worum  es Fanon  ging: um die Notwendigkeit, eine kollektive  Neurose  zu heilen, die von den Kolonialherren durch  die Einführung  des  “Eingeborenenstatus” geschaffen worden  war,  eines Status  der Unmündigkeit, jenem ähnlich,  der für die Kinder defininiert wird. Das  zutiefst  Neurotisierende  daran  war,  dass  mit  dem “Eingeborenenstatus”  zugleich  der Status  des  “Menschen”  verlangt  und verleugnet  wurde,  mit  anderen  Worten,   dass von  den Kolonisierten  einerseits   verlangt  wurde,   dass  sie  sich  wie  Angehörige  des  “Mutterlandes” bewegten, kleideten, arbeiteten,  marschierten, als Soldaten kämpften,  Steuern bezahlten, auch Schulen   besuchen   und   studieren   durften,   dass   sie   sich   aber   andererseits   immer   ihrer Abhängigkeit  und  ihrer Minderwertigkeit bewusst  bleiben sollten.  Wollten sie den  Status von “Menschen” im Sinn des “Mutterlandes” erlangen, mussten  sie zu Komplizen  der Kolonisierung werden,  um festzustellen,  dass sie auch dann noch minderrangig  blieben.

 

Politisches  Handlungsrezept Gewalt

 

Um die kollektive  Neurose zu heilen,  gibt  es, nach Frantz  Fanon,  nur  die  Gewalt.  Fanon  rief mit  seinem  Buch   zur   Gewalt  auf,  zum  Mut   zur  Gewalt:   Die  Dekolonisation,  die  sich vornimmtdie Ordnung der Welt zu verändern,  ist, wie man sieht,  ein Programm  absoluter Umwälzung.  Sie  kann  nicht  das  Resultat   einer  magischen  Operation,   eines natürlichen Erdstosses  oder einer friedlichen  Übereinkunft sein”.  Und Fanon   fuhr fort,  dass  so, wie  sich die  Kolonisierung  unter  dem  Zeichen  der  Gewalt  abspielte  und  erzwungen   wurde,  sowohl äusserlich in der Organisation des Landes,  wie innerlich in den Köpfen der Kolonisierten,  die Dekolonisation nur durch  Gewalt erfolgen könne. Nur über die Gewalt könne  der Prozess  der Rückgewinnung der zur Folklore denaturierten, fremdbeherrschten eigenen Kultur und der politischen sowie der ökonomischen Unabhängigkeit eingeleitet werden, dieser Prozess  der Identitätsfindung,  der letztlich unabschliessbar ist.

Als Fanon’s Buch  in den  sechziger  Jahren  erschien,  wirkte es wie  ein Fanal.  Ich  war  damals knapp über zwanzig.  Der im Buch  enthaltene Aufruf zur Gewalt,   die Gewalt selbst  erschreckte mich,  und  den  Entscheid   für  die  Gewalt,  wie  Ulrike Meinhof,   Gudrun  Ensslin  und  andere Frauen  ihn  im  Umfeld  der  europäischen  Stadtguerillas  einige  Jahre  später umsetzten,  konnte ich  nur  als  Ausdruck   einer  aporetischen  Verzweiflung   verstehen.  Auch   sie  mussten   doch wissen,  dachte   ich,   dass   die   ‘Massnahme “,   die  sie   immer   wieder   aus  Bertold   Brechts “Lehrstücken”  zitierten,  ein Verhängnis  war,  die  Fortsetzung aller Verhängnisse,  unter  denen sie selbst litten,  dass es eben nicht  so war,  dass  nur mit Gewalt diese  tötende  Welt zu ändern ist,  ·wie jeder Lebende weiss”.  Ich ahnte jedoch,  dass der mit Gewalt verbundene  Aufstand  der kollektive  Ausdruck der  Sprachlosigkeit  war,  der jenem  glich,  den ich  seit meiner  Kinderzeit als  Notwendigkeit  der  Auflehnung  empfand,  für  die  ich,  je  nach  den Möglichkeiten,  über  die ich  vorweg   verfügte,  nach  einem  eigenen  Ausdruck   suchte,   dabei  aber  nie  meine  Skepsis gegenüber  alleinrichtigen Rezepten  aufgab,  auch nie meine Skepsis gegenüber  “clans”,  Parteien und ähnlichen durch Zugehörigkeit definierten Kollektiven.  Lieber übte ich Ungehorsam allein, auch   Widerspruch   und      Fluchten    (“fugues”),    suchte    allein   nach   künstlerischen,   resp. symbolischen oder literarischen Formen des bildnerischen und sprachlichen Ausdrucks, internalisierte  allerdings  auch die Gewalt,  etwa durch einen schweren  Unfall  und anderes  mehr, war stets nach Eigendefinitionen aus und nach Gegenentscheiden zum Bild, dem ich hätte entsprechen   müssen,   insbesondere  durch   die  Abkehr   von   der  von   den Herkunftskreisen vertretenen Bürgerlichkeit, welche die Kolonisierung der Frauen  als Programm  aufrechterhielt, damit durch  Zustimmung  zu  Programmen  der  Auflehnung  gegen  Herrschaft   und  gegen  den Missbrauch von Menschen  in allen Bereichen, nie aber zur Gewalt. Gewalt konnte kein Gegenentscheid  zur  erlittenen  Gewalt  sein.  Und  als  ich  Kinder geboren hatte  und  daraus  für mich   mit   fünf   Menschen   ein   unauflöslicher    Vertrag    entstand    (auch   mit  jener    schwer behinderten  Tochter,  die kurz nach  der  Geburt  starb),  bestand  dieser in  der  Zustimmung   zu meinen Kindern als  Subjekten,  nicht  als kolonisierbaren  Objekten,  daher in  der Zustimmung  zu ihrem Recht  auf Irrtum  und auf Lust in selbst gewählten  Tätigkeiten  und Beziehungen,  auch in der Zustimmung wiederum zu ihrer Auflehnung,  selbst zu ihrer zeitweisen Ablehnung  meiner Zustimmung. Zustimmung schliesslich zur Auflehnung  der Kolonisierten im eigenen Land und anderswo   –  der  Frauen,   der  Fremden,  der  Armen  -,  kurz  Zustimmung  zu  Programmen  der Subversion von Herrschaft, zu Programmen der Eigendefinition. Immer  deutlicher schälte sich heraus,  dass  das Private vom  Politischen nicht zu trennen  war,  und  das Politische nicht vom Privaten,  und ich wurde  zwar nie und in keiner Partei Mitglied,  aber “une femme politique”,  die sich schreibend  und redend  im öffentlichen Leben einmischte.

 

Zwischen Fanatismus  und offener Perspektive

 

Diese Art der Zustimmung wird als  “Engagement”  verstanden.  Engagement ist ebenso  nah dem Fanatismus  wie  der Leidenschaft,  resp. der offenen Perspektive.  Immer wieder fragte  ich mich, wie und wodurch  es zur einen,  wie zur anderen Entwicklung kommt.  Und nochmals befasse ich mich  mit Ulrike Meinhof,  mit Rudi Dutschke:  an welcher  Weggabelung entschieden  sie sich je anders?  Dutsche etwa  war  kurz vor dem Mauerbau  aus der damaligen  DDR  nach  Westberlin gezogen    und    begann    dort     1961    zu    studieren    (im    Osten    hatte    er    wegen    seiner Militärdienstverweigerung keinen  Studienplatz  bekommen).   Durch  seinen  Einsatz  im  Kampf gegen  die Unterdrückung kritischer Meinungsäusserung  sowie gegen  die Kälte  eines  Systems, das  allein   durch   Marktinteressen   und  durch   Waffengewalt  bestimmt   war,   wurde   er  zum Wortführer    und     immer     mehr     zur     eigentlichen      Symbolfigur     der    antiautoritären Studentenbewegung,  die  sich  nach  der  Erschiessung  des  Studenten  Benno  Ohnesorg  durch einen Berliner Polizisten  ( am 2. Juni  1967)   zu einer breiten Protestbewegung entwickelte.  Im Zusammenhang  mit  dem Internationalen  Vietnamkongress,   der  im  Februar   1968   in   Berlin stattfand  und  an welchem  sich  Intellektuelle  aus der  ganzen  Welt  gegen  den  amerikanischen Krieg  in  Indochina  vereinten,  wurde  Rudi Dutschke    durch  die Behörden und  Springerpresse zum gefährlichen  Volksfeind  erklärt.  Die Hetze  gegen  den damals  28jährigen  war  gnadenlos. Im April  des gleichen  Jahres  wurde  er durch einen fünf Jahre jüngeren,  ebenfalls  aus der DDR stammenden  Arbeiter,  Josef Bachmann,  niedergeschossen.  Rudi  Dutschke  überlebte,  tauschte mit dem Attentäter Briefe aus, in denen er ihn von der Notwendigkeit  des gleichen Kampfes zu überzeugen suchte,  starb jedoch  1979  an den Folgen  des Attentats.   Josef Bachmann beging im Februar  1970  Selbstmord.

Und  Ulrike  Meinhof?  Am 8.  Mai  1976  wurde  sie in  ihrer  Zelle im  Hochsicherheitsgefängnis von  Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden, nach langer Einzelhaft  am Ende  ihrer Kräfte,  eine Philosophin,  Pädagogin  und  Journalistin,  eine Atomwaffengegnerin,  die zur  RAF- Terroristin geworden   war,  für  die  Mächtigen   eine  Staatsfeindin,  für  viele  Sprach- und  Machtlose  eine Kämpferin  für  Demokratie  und  Menschenwürde,  für  viele  ihrer  linken Zeitgenossinnen  und Zeitgenossen das tragische  Opfer einer fanatisch verhärteten und  damit inhuman gewordenen Theorie  des  richtigen Handelns,   die  sich  nicht  mehr  über   Sprache,  sondern   über   Gewalt durchzusetzen versuchte  und damit selbst zum Instrument  von Unrecht  wurde  –  entgegen  den Intentionen  des ursprünglichen Engagements.

1963  hatte  Rudi  Dutschke in  einem Tagebucheintrag festgehalten:  Entfremdung ist für mich auch Starrheit  des Denkens,  Geschlossenheit  des Denkens.  Die Befreiung  des Menschen  ist nur durch wirkliche Einsicht  in die notwendigen Gegebenheiten des gesellschaftlichen Lebens möglich.  Eine Änderung  der Besitzverhältnisse  ist nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung der Entfremdung”.  Ein Jahr früher hatte  Ulrike  Meinhof in  “konkret”,  der Zeitschrift,  für die sie   als  freie   Journalistin   und   als   Chefredaktorin   gearbeitet   hatte,   einen   kurzen    Text veröffentlicht,  der berühmt  werden sollte.  Er trug  den Titel  “Die  Würde  des Menschen”.   Sie hielt  darin fest,  dass der Verrat  am Grundgesetz durch  die Einführung  des “Notstandsgesetze” zu einer – parlamentarisch  abgesegneten Tatsache  geworden  war,  nachdem  schon 1956  durch die “Wehrartikel”,  d.h.  die atomare  Aufrüstung der BRD im Rahmen der NATO,  das Bekentnis zu einer unbedingten Friedenspolitik hinfällig geworden war. Und sie schloss:  Die Würde des Menschen ist wieder antastbar geworden”.  Die Wiedergutmachung dieser Verletzung  war  das Ziel ihres Engagements; es führte  sie in den Fanatismus.

Nochmals,  warum?  Warum  spitzte  sich Ulrike  Meinhofs  Engagement in die Ausweglosigkeit von Gewalt, Gegengewalt und Terror zu, und Rudi Dutschkes  Engagement versuchte  sich als politisches Handeln  (im  Sinne Hannha  Arendts),  das  heisst  über  die  Sprache,  zu  realisieren? Liegt   die  Erklärung  vieleicht  in  Rudi   Dutschkes    Satz,   dass   die  Starrheit   des  Denkens Entfremdung bewirkt?   – ja Entfremdung  ist?  Verhindert   diese  Starrheit  die  Frage  nach  der Angemessenheit der  Mittel  sowie nach  der zeitlichen  Terminierung,  mit denen  und  innerhalb derer ein Ziel  erreicht werden  soll?

Ich   frage  mich,   ob   die   Vorstellung   einer   in  Freiheit   sich  konstituierenden   gerechteren Gesellschaft,  letztlich  die Vorstellung  eines bessern Lebens nicht  nur  für  sich selbst,  sondern für   alle,   dann   aufhört,   eine  Brücke   in   die Zukunft   zu   sein,   wenn  jedes   Mittel   zur Verwirklichung   dieser   Vorstellung    gerechtfertigt   erscheint,   wenn   die  Ungeduld    der Realisierung zum Zwang wird, wenn damit verschiedene Optionen des Handelns nicht mehr in Betracht fallen.  Die Brücke  hält nur  dank der federnden Elastizität  der  ständigen kritischen Rückfragen an das eigene Handeln, dank der ständigen Erwägung der Richtigkeit und Angemessenheit  der Mittel.  Entfremdung bedeutet  im tiefsten  Sinn Verlust dieser Möglichkeit der Infragestellung der eigenen Definition, das heisst Verlust der Freiheit, unter verschiedenen Optionen des Handelns  abzuwägen und die je – vielleicht  nur vorläufig  –  bessere,  aber immer wieder  korrigierbare  zu  wählen.  Engagement   ohne  Skepsis  entwickelt  sich  zu  einer  immer engeren Spirale des missionarischen Eifers, der Orthodoxie und Orthopraxie, zur verzweifelten Ausweglosigkeit. Wie aber soll die Kraft zur ständigen Infragestellung auch der eigenen Überzeugung,   geschweige   fremder   Überzeugungen,   erhalten   bleiben?  –    die  Kraft   zum skeptischen Widerstand und zur widerständigen Skepsis?

Im  Lauf meiner  existenz-  und  gesellschaftsanalytischen  Arbeit  stellte  ich  fest,  dass,  wenn Ermattung überhandnimmt und  die Kraft  zum Widerstand abhanden  geht,  das  Gefühl für die Bedeutung der Realität,  auch das Gefühl für den Rythmus  der Zeit,  selbst das Gefühl für Recht und Unrecht  verloren geht.  Die Unterwerfungszugeständnisse,  die in solchen  Zeiten  gemacht werden,  demütigen   die  Menschen  vor  sich  selber  in  einem  Mass,  dass  sie  sich  klein  und ohnmächtig   fühlen.  Was  Rudi  Dutschke   als  Entfremdung    bezeichnet,  findet  sich  in  den Frühschriften   von   Marx,  vor  allem   in   den   “Ökonomisch-philosophischen   Schriften”   als ausführlich thematisiert (nicht erst im “Kapital”) und trifft nicht nur für die kollektiven Zusammenhänge zu,  sondern  für jede  Existenz.  Der  Verlust  der  Widerstandskraft bedeutete Verlust  der Liebe zum Leben.  Bevor jedoch  das Übermass  an Entfremdung zur Lähmung  führt, kann es eine Krise verursachen, die, statt in Unterwerfung einzumünden,  wiederum zur Eigendefinition führen  kann.  Die  persönliche Emanzipation,  die nie ein für  allemal geschieht, entspricht  dem  Prozess  der  Dekolonisierung.   Egibt  kein  richtiges Leben  im falschen, schreibt  Adorno  in  den  “Minima  Moralia”.  Der Prozess um das  richtige  Leben”  ist  der Weg zur  Autonomie,  resp.  der  Weg  zu  einer  eigendefinierten  Identitäts-  oder  besser Identitätenfindung durch  Zustimmung zur eigenen  Differenz und zur Differenz der  anderen in einer zwar kolonial geplünderten, jedoch  wiederaufbaubaren Welt.

 

Plurale Identitäten

 

Ich  spreche  ausdrücklich   von  “Identitäten”,    auch  wenn  es  sich  um  die  einzelne  Existenz handelt.  Selbst wenn “Identität”  im  Singular  verwendet  wird,  in  den üblichen  Verwendungen, etwa  in der Rede  von  Identitätspapieren,  von  Identitätsbestätigung bei  Warenkontrollen,  von Identitätserziehung, Identitätskrise, Berufsidentität, weiblicher/männlicher Identität, von kultureller  Identität etc.  wird deutlich,  dass der Identitätsbegriff  zwar alles andere  als eindeutig ist,  jedoch  gebraucht   wird,   als  wäre   er  eindeutig.  Dabei  ist  festzuhalten,  dass   Identitäteinerseits  immer ein relationaler Begriff ist, d.h. ein Verhältnis darstellt, dass er andererseits ein Verhältnis  der  Gleichheit,   resp.   der   Obereinstimmung vorgibt,   obwohl   das   dem  Wort “Identität”  innewohnende  “idem”  ( eadem,  idem),  resp.  “derselbe”,  “dasselbe”, “dieselbe”  sich letztlich  nur  in  der  mathematischen  Gleichung   a  = a  findet.   Schon  völlig  zufällig   ist   die Bedeutung von Identität etwa  beim Vergleich  von Waren  und  Warendeklarationen,  oder  von Person und Personalausweis. (Falsche Papiere waren häufig fürs Überleben von Menschen unerlässlich,  so  etwa bei meiner Freundin  Janina Kapczynska,  die diesen –  christlich polnischen –  Namen  seit  ihrer  Rettung aus  dem  Warschauer  Ghetto  beibehielt  und  ihren ursprünglich jüdischen   Namen  Maria  Rajbenbach,  der  mit  der  Erinnerung  an  die  Quälereien  verbunden bleibt,  erst wieder auf ihren Grabstein  einmeisseln lassen will).

Die  (in  Verhältnissen   sich  herstellende)   referentielle  Bedeutung  von   Identität   bietet   den pluralen  Gebrauch  – Identitäten für das eine Ich an, um einen doppelten Zweck  zu erreichen: zugleich  die Korrektur der  als Fremddefinition bedrohlichen  Identitätshypostasierung  und die als  Prozess   verstandene  Eigendefinition   im   Rekurs   auf  die  eigene  Geschichte.   Über   die rekonstruierbare  und  erzählbare  individuelle  Geschichte  lässt  sich  die  Identitätspluralität  im selben Ich belegen,  in der ich mich als das gleiche handelnde oder leidende,  resp. als das gleiche aktive  oder  passive Subjekt  wiedererkenne,  jedoch  je  nach  den  Verhältnissen,  in  denen  ich mich  befinde,  in  einer immer  wieder erkennbaren   Subjektdifferenz  – etwa  als  Tochter  meiner Eltern,    als   Enkelin   meiner   Grosseltern,    als   Zeitgenossin  inmitten   der   heute   lebenden Nachkriegsgenerationen,  als  Mutter   meiner  Kinder,  als  Partnerin   in Liebesverhältnissen,  als Lehrende,  als Philosophin,  als  Staatsbürgerin,  als Angehörige von Basisgruppen im Flüchtlings- und  Asylbereich,  als  Ausländerin  und Fremde  im  Ausland  etc.  -,  in jedem  dieser  Verhältnisse handle “ich” nach Kriterien, die häufig untereinander nicht kompatibel sind, die sich sogar widersprechen,  die jedoch  meiner  jeweiligen  Identität   im   jeweiligen   Verhältnis  ensprechen mögen,  resp.  diese  geradezu  herstellen.  Diese   Subjektpluralität konstituiert  sich  durch  die allmählich im Lauf der Dekolonisierung gewonnene Vielzahl des Ichsagens  in der Vielzahl der erzählbaren  Geschichten,   als handelnd  oder  leidend, als widerständig  oder  als unterworfen, als aktiv oder als  passiv sich/mich wiedererkennend,  in  der Pluralität der Ichs diese unterscheidend und zugleich  diese von  den anderen  Ichs unterscheidend.  Daraus  folgt  etwa,  dass das Ich  sich als Subjekt  in dialogischen  Verhältnissen  erkennt,  wo  es als  Du angesprochen wird,  oder  dass es sich in referentiellen Verhältnissen erkennt,  wo es als Er oder als Sie dargestellt  und referiert werden  kann, jedoch  auch in der Referenz immer als  Subjekt erkennbar  bleibt.  Denn ob als  Ich in  der Selbstreferenz,  als  Du  (respektive  als  Ihr  oder  Sie)  in  der dialogischen  Referenz,  oder als Er und Sie in der indirekten Referenz, immer kann das Subjekt auch in dieser Puralität der Verhältnishaftigkeit  als  Subjekt  des Handelns  oder Erleidens  erkannt  – und  anerkannt  werden, oder kann ihm das Erkennen,  resp. das Anerkennen  verweigert  werden. Eine der schwierigsten Anerkennungen – vor allem für das weibliche  Ich,  aber nicht  ausschliesslich  für das weibliche Ich  –  zeigt sich  bei  der  geschlechtlichen  Identitätspluralität,  d.h.  bei  der  Anerkennung   der pluralen   Äusserungen  geschlechtlicher   Differenz   im   eigenen    Ich,    ob    diese    sich   als morphologische, als hormonale, als psychologische oder  als referentielle und soziale Differenz zeige,  ob  in  der  Gestalt  und  im  Bild,  das  die  Gestalt  vermittelt,   ob  im Selbstbild,  ob  im Begehren  und  in  den  vielen  Sprachen  des Begehrens,   ob  in  den  gelebten  Verhältnissen,  wie auch immer.  Mir  scheint,  dass es das Ziel  der Identitätsfindung  sein müsste,  Geschlechtlichkeit als Bedingung  der Möglichkeit eines schöpferischen,  sinnvollen, damit selbstdefinierten Lebens in Beziehungen  zu verstehen,  in  einer Art der vorausgesetzten (transzendentalen)  Verknüpfung mit   Vernunft   resp.   mit   Freiheit,   der   so   die   Anerkennung    der  Individualität   und   ihrer Bedürfnisse,  resp.die Anerkennung der Differenz,  zukäme.  Ich  frage mich,  ob das  seit Freud behauptete Zwanghafte der Geschlechtlichkeit nicht eine der schwerwiegendsten Folgen generationenlanger Kolonisation der Kindheit und des Erwachsenwerdens ist.

Vieles dieser zu leistenden Arbeit der Identitätsfindung, wie sie sich etwa bei Luce  Irigaray, bei Judith  Butler,  bei Muriel Dirnen,  bei Jessica  Benjamin oder,  wieder ganz  anders,  bei Gilligan Rose findet (die sogar  ihren Namen  änderte),  hat, vermute  ich, mit den fehlenden Müttern  und Vätern   als   Identifikationsfiguren   des   sprachfähigen,  selbstdefinitionsfähigen   Widerstandes gegen   deren      eigene   demütigende  Kolonisation   zu   tun,   vor  allem   aber   des  fehlenden Widerstandes  gegen   eine  von   entsetzlichstem  Herrschaftsmissbrauch  –  von   Auschwitz   – gezeichnete  Welt, eine  Welt  der  hypostasierten patriarchalen Verachtung aller Differenz,  der gegenüber   die  Väter  und  die Mütter  in  die Sprachlosigkeit fielen  oder,  eventuell,  gar  in  die Komplizenschaft.  Die  feministische Arbeit der jüngsten  Jahre  ist daher gekennzeichnet durch Trauer,  sodann  durch  das  Bemühen,  über  die Geschlechts-  und  Geschlechterdifferenz  hinaus die  Notwendigkeit  der  Anerkennung  der  unendlichen  Pluralität  von  Differenz  im  Bild  des Menschen   nachzuweisen  und anzunehmen,   auch  jener  Differenz,  die  als  Fremdheit  und  als immer wieder andere Fremdheit erschreckt.

 

Aus der Nicht-Übereinstimmung von Können  und Sollen die Frage nach der Freiheit

 

Der  existenzphilosophische  Ansatz  in  der  Befragung  pluraler  Identität   impliziert  somit  vor allem die Frage  nach der Wahl des Handelns  und jene  nach der Legitimierung dieser Wahl. Wie komme  ich  dazu,  so zu handeln,  wie ich handle? Dabei wird vorausgesetzt,  dass ich  im Prinzip gut  handeln  will.  Wie  aber  weiss  ich,  was  gut handeln bedeutet?   Worauf stützt  sich  meine Wahl? Die im Prozess  der Dekolonisation  oder Emanzipation geschehende  Ablösung  von einer externen  normativen  Definitionsmacht  (jener   der  Eltern,   der  Religion,   des   Staates,   einer politischen      Führungsgestalt   etc)  durch   meine   interne   eigene   Definitionsmacht  ( ev.   die internalisierte   externe  Definitionsmacht) befähigt  mich  noch nicht  zur Wahl  eigener  Kriterien des  guten  Handelns,   resp.  selbständig  bestimmter   Normen,  verpflichtet   mich  aber, dies  zu versuchen  und solche zu benennen.  (Zu diesen Kriterien gehört  u.a.  der – auf einer nicht  weiter hinterfragten  Subjekt-   und   Vernunftdignität   begründete   –   kategorische   und   praktische Imperativ).   Die  Nicht-Übereinstimmung  von  Können  und  Sollen  liegt  der existenzphilosophischen Frage  nach  der die Identitäten  mitentscheidenden Wahl  des Handelns zugrunde.  Sie mündet  ein in die Frage  nach der Freiheit und wird dadurch  zur ethischen  Frage. Die  Ablehnung dieser  Frage,  resp.  die  Ablehnung  der  Verantwortung  für  die Handlungsdefinition   wiederholt    und   verstärkt    die  durch   die   ursprüngliche   Kolonisation geschaffene Ich-Entfremdung.  Wie  soll ich mich  in  der  Selbstbefragung  als dasselbe  Subjekt erkennen,  wenn ich  mich  in  der Begründung des Handelns  nicht  erkenne,  resp.  wenn  ich  mich nicht immer wieder als fremddefiniert und damit auch als leidendes Subjekt    (nicht notwendigerweise als Objekt)  erkenne?

In einer theoretischen Zusammenfassung liesse sich sagen, dass alle nicht prozesshaft,  sondern ontologisch    (aus   dem  “Sein”   und   “So-Sein”)   definierten   Identitätstheorien,   sowohl   die religiösen  wie  die  politischen,  der  Legitimation und der  Aufrechterhaltung  von  Herrschaft dienen. Dass  sie eine Disziplinierungsfunktion gegenüber  dem bedrohlich Wilden  der Existenz beanspruchen,  gegenüber dem  Anarchischen,  das  möglicherweise  allein  schon  Kindsein  oder Weiblichkeit beinhaltet,  letztlich gegenüber der Freiheit des Ich-hungrigen  Subjekts.  Dass  sie letztlich  jedes   Sosein  an  einem  “Sein an  sich”,  an  einem  absoluten   Sein  messen,   dessen Normativität   die   freie   Konstituierung   des   Ich   verhindern   soll.  Diese    Theorien   einer hypostasierten,  starren Identität  liegen ebenso der patriarchalen Geschlechterordnung zugrunde wie  den  einseitig  auf Gehorsam   und  Unterordnung  ausgerichteten  Erziehungstheorien.  Sie machen  auch  die Normativität  der  Assimilationsforderung Fremden  gegenüber   aus,  wie u.a. Zygmunt  Bauman (Modeme und Ambivalenz) nachweist.  Sie sind Fundament  und Zweck  aller Kolonisierungsprogramme und  aller Nationalismen.  (Auf die Dialektik von jüdischer Emanzipation und Assimilation gehe ich später gesondert ein).

Normativ geforderte Identität  und  Gleichschaltung sind nicht weit  voneinander   entfernt.  Auf deutliche Weise zeigt sich diese Tendenz in den rassistischen Parolen und in den Gleichschaltungsforderungen   antifreiheitlicher   politischer  arteien,  auf  extreme   Weise   in totalitären Systemen.  Identität  im konventionellen  Sinn konstituiert sich vor allem  durch  das Konstrukt von  Gleichheit,  damit  durch  die hypostasierte  Ungleichheit  mit jenen  ( oder jenem), die  ( oder  das)  “anders” sind  ( oder  ist).  Nicht  “fremd”  ist  unvereinbar  mit  “gleich”,   sondern “anders”.  Während  “fremd”  durch Kennenlernen und Kenntnis  “bekannt”  wird, bleibt “anders” die unveränderliche Differenz zur hypostasierten  Gleichheit oder Identität.  Im Unterschied zu Zygmunt   Bauman   meine   ich,   dass   sich   das   Phaenomen   der   kollektiven   Identität   als Zugehörigkeit  zu einer grösseren  Einheit von  “Gleichen”  durch den Gegensatz  von  “gleich” und fremd”  nicht genügend erklären lässt,  sondern dass es sich erst durch die Unverträglichkeit und   den   Ausschluss   der   “anderen”   als   der   Nicht-Dazugehörenden   kennzeichnet.   Da “Dazugehören” in den meisten Fällen als etwas Erstrebenswert  gilt, d.h.  mit positiven Werten besetzt ist, wird die Differenz resp. die Divergenz  oder das Anderssein negativ bewertet,  als minderwertig  oder als bedrohlich.

Das Nicht-Dazugehören wurde seit ältester Zeit mit Ausgrenzung der “anderen”, eventuell mit Sanktionen verbunden,  z.B. mit dem Barbaren-  und ev.  Sklavenstatus bei den Griechen,  mit Exkommunikation   resp.  “ewiger   Verdammnis”  durch die  katholische  Kirche  (wobei  zum Ausschluss   aus   der   Gemeinde,    resp.   aus   den   für   die   Gleichen   geltenden,  Sicherheit verleihenden  Bedingungen  des  gelebten   gesellschaftlichen  Lebens,   der  Ausschluss  aus  der Gemeinde  des Jenseits  kam – eine wohl nicht mehr zu überbietende Geste  totaler Herrschaft), mit  dem Cherem  in  der  mittelalterlichen jüdischen  Gemeinde  ( der sich jedoch  in  keiner Weise auf die  messianische  Met-Zeit  erstreckte),  mit  öffentlichem Pranger,   mit  Landesverweisung resp.  Ausbürgerung  in jüngerer  Zeit,  mit  Enterbung   resp.  Ausschluss  aus  der Familie, mit Ausschluss   aus   einem   Verein,   mit   gesellschaftlicher   Diffamierung   ( subtielr  Ausgrenzung innerhalb der Gesellschaft) wie “der/die ist kein/e echte/r  Schweizer/in”, etwa bei den Armeegegnern/-gegnerinnen,  bei  den  Kommunisten/Kommunistinnen,  Atheisten/Atheistinnen bis zu gesellschaftlichem Ausschluss  durch Entmündigung, Psychiatrisierung, Inhaftierung  etc., schliesslich  bis hin zum tödlichen  Ausschluss,  den die Rassegesetzen bewirkten,  bis zum “J”  in den  Pässen,  zum  Judenstern  und  zur  Selektionsrampe,  bis  zur  Vernichtung   des  “unwerten” Lebens   und bis  zur   “ethnischen  Säuberung”.   Während   “Fremden”  gegenüber  seit  ältesten Zeiten   Gastpflicht   besteht,  wird  die Ausgrenzung   derjenigen,  die  als  “anders”   qualifiziert werden,  ebenfalls  seit ältester Zeit  als  legitimen  Schutz  des/der “Identischen”  resp.  “Gleichen” und   daher   nicht   als  unethisch  verstanden.   Das   mag   als   diffuse,   aus   einem   mythischen Hintergrund  wirkende Komponente für das implizite,  aus dem  Schweigen,  aus der Indifferenz und aus der Nicht- Intervention  sich herausbildende  Einverständnis   nicht nur des Grossteils  der christlichen deutschen und polnischen Bevölkerung,  sondern  auch  der französischen, holländischen,  österreichischen etc.  mit der Deportation und Vernichtung der  Juden  und  der Zigeuner  gewirkt haben,  nicht  nur bei  der gewöhnlichen  Bevölkerung,  sondern  auch bei den verantwortlichen  politischen   und   militärischen  Verantwortlichen.   “Juden”   und   “Zigeuner” waren  nicht “Fremde”, sondern  sie wurden  als  “anders” verstanden  und  definiert.  Der  im  19. Jahrhundert sich wechselseitig stärkende  Nationalismus und Rassismus  als doppeltes Konstrukt hypostasierter Identität gab  dem  diffusen,  auf der Folie der “Christlichkeit”  herausgebildetem Empfinden  ein Programm,  das  im Nationalsozialismus  zum Menschenvernichtungsprogramm wurde,    das,    offen    deklariert,    quasi    im   Angesicht    der    Welt,    die  Deportation,   die unbeschreibliche  Quälerei  und  die Tötung von Millionen  von Menschen  – je  ein einzelner  und eine einzelne und ein einzelner und eine einzelne millionenfach – nicht nur zuliess, sondern legitimierte.

Dass  dies geschehen  konnte  und von der ganzen Welt zugelassen wurde  –  die Umkehrung  von grösstem  Unrecht,  von schwersten und  entsetzlichsten   Verbrechen in  Recht  –  war  der  nicht mehr gutzumachende europäische Zivilisationsbruch.  Dass im jüngsten  europäischen Krieg,  im Jugoslawienkrieg, wieder “ethnische Säuberungen” von  den “Warlords”  in aller Öffentlichkeit deklariert und,  elektronisch  dokumentiert,  als  Gemetzel  an Hundertausenden von Menschen durchgeführt wurden, macht deutlich, dass der einmal zugelassene  Bruch allen späteren verbrecherischen Wiederholungen eine vorauseilende Legitimation gibt.

Ich bin daher überzeugt, dass, ohne eine gründliche und sorgfältige Dekonstruktion der hypostasierten geschlechtlichen, nationalen, religiösen,  “ethnischen” und wie immer definierten “Identität”, jeder  scheinbare  emanzipatorische Fortschritt in eine neue Reaktion  und Repression führt.  Meine Hoffnung – nicht Utopie  – ist,  dass die Erkenntnis  und Erfahrung der Relationalität jeder  Existenz,  die Erfahrung der  gegenseitigen  Abhängigkeit  in  der  gleichzeitigen Welthaftigkeit,  deutlich werden  lässt,  dass jeder  Mensch  zugleich  Ich und Du und Er und  Sie ist,  in  der Vielfalt  der Differenzen  seines/ihres eigenen  Werdens  als  Kind,  als Heranwachsende und  als  Heranwachsender,  als  Erwachsene  und  Erwachsener,  als  alter Mensch  und  in  der Pluralität  der Verhältnisse, in denen jede  Existenz sich vorweg  aktiv und passiv, handelnd  und leidend  in  einer  Subjektpluralität  befindet,  dass  sich  daher  jede  Identitätshypostasierung  als unsinnig   erweist.  Sodann,   dass   die  jede   Existenz   auszeichnenden  Grundbefähigungen Vernunft,  resp.  Geistigkeit,  sowie Körperlichkeit mit  der ihr je eigenen Geschlechtlichkeit  – als transzendentale Befähigungen zur Freiheit  erkannt  werden,   oder,  mit anderen  Worten,   als Bedingungen  der Möglichkeit frei  gewählter,  sinnvoller Menschlichkeit.  Diese  existentiellen Grundbefähigungen   gestatten   den   Menschen,   in   Verhältnissen   zu   leben,   Beziehungen einzugehen, mit anderen Menschen  in der Welt zu leben, schöpferisch zu sein und  sich, je nach Lebensphase,   mehr  oder  weniger  als Frau  oder  als Mann  zu fühlen sowie soziale Rollen  und Aufgaben zu erfüllen,  im Eingeständnis der Fülle  immanenter und  sich vorweg entwickelnder Differenzen.

In den grossen  Städten  ist  allmählich  den Phaenomenen der Geschlechtsdiversität gegenüber  – etwa der Homosexualität oder  der Travestie gegenüber  –  eine grössere  Toleranz   festzustellen. Allerdings  heisst  Toleranz  noch  nicht Akzeptanz im Sinn anerkannter Gleichberechtigung des vielfach Differenten. Toleranz  ist letztlich nicht viel mehr wie eine kollektive “Laune” des Geltenlassens, die bei veränderten Prämissen schnell wieder ändern  kann.  Alice Rühle-Gerstel machte  schon 1932 darauf aufmerksam  (“Die Frau und der Kapitalismus.  Eine psychologische Bilanz”),  dass  auch  in  der  homosexuellen   Liebe  von  Frauen   sich  vor  allem  heterosexuelle Muster  finden, resp.  hierarchische Muster  von  “oben” und  “unten”, von  “männlich-aktiv” und “weiblich-passiv”.  Dies  hat  sich  in  der  Regel  bis  heute  nicht  verändert,   da noch  immer  die Vorstellung  der  multiplen  Differenz in jedem  einzelnen  Menschen,  die allein  Parität  in  den Verhältnissen  ermöglicht,   in  der  Praxis  zu  Gunsten  binärer  Modelle,  die  immer Über-  und Unterordnung  beinhalten, aufgegeben  werden.  Gerade   in jüngster  Zeit,  wohl  nicht  zuletzt infolge  der  wirtschaftlichen Rezession,  zeigt  sich  sogar wieder ein  regressiver   Trend  in  der Verstärkung eindeutig definierter, konservativer Geschlechterrollen. Gleichzeitig nehmen rassistische Phaenomene wieder zu,  Phaenomene   der  “ethnisch”  definierten,  als unverträglich deklarierten “Andersartigkeit”, deren angstbesetzten, zumeist  gewalttätigen Ausgrenzung.  Was “Verstehen” und “Weiterwissen” im Individuellen zum Auflösen  von Aporien befähigt,  müssste in gesellschaftliche Prozesse umgesetzt werden können.

Die  hypothetisch-postulative  Formulierung   zeigt  die  Komplexität   an.  Freiheit  kann  nur  von vielen wahrgenommen werden,  wenn ein genügender Handlungsraum besteht,  um Prozesse des Wandels,  die immer  auch  Irrtümer   generieren, angstfrei  zuzulassen.  So  wie  die  individuelle Freiheit  das  Gegenmodell  zur  Angst  ist  –  Angst  vor  dem  Verlust  von Sicherheit  –  ist  die kollektiv gewährte  und  auch für Minderheiten (die als “anders” gelten) garantierte Freiheit das politische  und gesellschaftliche Gegenmodell  zur Angst. Doch  wem  schon  die eigene Freiheit “ungeheuer”  ist,   erscheint die Freiheit der “anderen”  als grösste  Bedrohung.

Ich nehme an,  dass tatsächlich  im  innersten  Zentrum  aller  Ängste die Angst um das flüchtige, von Leiden und Tod bedrohte  eigene Leben hockt,  eine archaische  und zugleich je  aktuelle existentiale  Angst.  Während  Jahrhunderten konnten  Krankheiten  und  Sterben  weder  erklärt noch kontrolliert werden,  und bis auf den heutigen Tag lassen  sie sich nicht überwinden,  trotz aller Beschwörungen  und Jenseitsversprechungen  der Religionen und trotz  aller von Medizin, Biochemie   und    anderen   Wissenschaften   entwickelten    Techniken   und   Methoden    der Lebens”rettung”  und Lebensverlänerung,  trotz  Gentechnologie  und  Organtransplantationen. Sterben und Tod stellen sich allem Wissen und allen technischen Fortschritten  als letzte Grenze entgegen,   die  nicht  gebannt  und  nicht  überwunden  werden  kann.    Mir   scheint,   dass,  je raffinierter    die    Lebensverlängerungstechniken     sind,    je    ängstigender    Zeitlichkeit    und Sterblichkeit  empfunden werden.  Seit  beinah alle biologischen,  chemischen und physikalischen Prozesse als  steuerbar und kontrollierbar oder als vorhersehbar gelten,  seit beinah alles, bis vor kurzem noch Unmögliche,  nicht  nur möglich, sondern  machbar oder  verhinderbar  erscheint, wird  die Tatsache  des Todes  zum  definitiven  ganz  “Anderen”  – und  die Angst  vor dem  Tod wird zur Angst schlechthin.

Verstehen,  weiterwissen,  handeln aus Freiheit sind die drei  Schritte,  die dem Ichlernen und dem Weltlernen  aufgegeben sind.  Das  Ziel, vorweg  wie insgesamt,   ist die Überwindung der Angst.

 

 

II. Teil – Das Problem der Entfremdung und die Erfüllung der Grundbedürfnisse

Zu Ausgrenzung,  Sinndefizienz und kompensatorischer  Bedrüfnisstillung,  zu Partizipation  und Pluralität  in der Gesellschaft:  ein feministischer Katalog der Grundbedürfnisse und neue Zeitmodelle

 

Ich nehme nochmals Rudi Dutschkes  Tagebucheintrag von 1963  auf:  Entfremdung istfür mich auch Starrheit des Denkens…  Die Befreiung der Menschen ist nur durch  wirkliche Einsicht in die notwnendigen Gegebenheiten des menschlichen Lebens möglich.  Eine Aufhebung  der Besitzverhältnisse  ist nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung  der Entfremdung”.  Ich teile Dutschkes Einschätzung,  nicht nur für die Sechzigerjahre,  sondern übernehme sie auch für heute. Doch,  lässt sich einwenden,  ist der Entfremdungsbegriff als Instrument für die heutige Gesellschaftsanalyse noch tauglich? Ist er auch tauglich,  um eine Theorie der Grundbedürfnisse – der “notwendigen Gegebenheiten des gesellschaftlichen Lebens”:  zu entwickeln? Da ich diese Meinung vertrete, will ich einen kurzen historischen Exkurs einfügen,  der zugleich die Begriffspräzision und die Begriffsweite von “Entfremdung” deutlich machen soll, auch die enge Konnotation mit anderen frühen Bedürfnistheorien.

Im Jahr 1841  hatte der damals 23jährige Karl Marx in Jena seine Doktorarbeit eingereicht, noch nicht über die erschreckenden Mangelfolgen des Fortschritts,  über die er drei Jahre später im Exil in Paris schreiben wird,  sondern über die “Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie im allgemeinen”.  Das Studium der Antike bot Marx die breite propädeutische Vorbereitung zum Studium des Menschen – der Natur des Menschen,  wie er schrieb – und der Gesellschaft.  Wären die Zeitbedingungen damals freier und ruhiger gewesen, weniger von antidemokratischen und antijüdischen Kräften beherrscht,  hätte nicht polizeitstaatliche Repression die freiheitshungrige Jugend in Auflehung und Aufruhr versetzt, würde   sich vielleicht der Wunsch  des Rabbinersohns  nach einer akademischen Karriere  erfüllt haben.  So aber wurde  er zum politischen  Journalisten und zum Redakteur der “Rheinischen Zeitung”  in Köln,  schliesslich zum Emigranten,  der ab 1843  in Paris begann,  zusammen  mit Arnold Ruge und weiteren  Emigranten die “Deutsch-Französischen Jahrbücher”  herauszugeben und sich über die Fehlentwicklung der Gesellschaft  den Kopf zu zerbrechen.  So entstanden  die – für die heutige Fragestellung überaus  bedeutungsvollen – “Philosophisch-ökonomischen Manuskripte.  Allerdings  hat Marx trotz seiner breiten Kenntnisse  der antiken Literatur übersehen,  dass sich gerade  in der griechischen Mythologie  eine kleine Geschichte findet, welche die Brücke  zwischen  seinem eigenen wissenschaftlichen und seinem gesellschaftsverändernden Bedürfnis schlagen könnte,  und welche zugleich seiner Entfremdungstheorie als Theorie der Verletzung, ja der Negation  der menschlichen Bedürftigkeit,  resp. der wichtigsten Grundbedürfnisse wie als Theorie deren notwendigen Einforderung eine – buchstäblich klassische  – Abstützung  verleiht,  auch wenn es als kühn erscheinen mag, sie in diesem Zusammenhang zu verwenden.  Ich nehme mir die Freiheit,  in Fortsetzung der sokratischen Freiheit,  Geschichten neu zu erzählen.

 

Eros  – Kind der Bedürftigkeit?

 

Die Geschichte  handelt von Eros  und findet sich in Platons  “Symposion”  (was weniger “Gastmahl”,  denn “Trinkrunde”  bedeutet).   Sokrates hat sie den mit ihm um die Tafel versammelten jungen  Männern  erzählt,  als Korrektur der irrigen Meinungen  über die Natur  des Eros,  wobei  Sokrates wiederum die Geschichte von Diotima vernommen  hatte,  der Seherin aus Mantineia.  Diotima zufolge war Eros  keineswegs  vornehmer Abstammung,  wie ständig erzählt wurde,  und weder  war Zeus  sein Vater noch Aphrodite  seine Mutter.  Es verhielt  sich völlig anders.  Als Aphrodite  zur Welt kam, wurde  zu ihrer Ehre im Olymp ein grosses  Fest gefeiert, zu welchem  alle Götter und Göttinnen geladen wurden. Nur Penia,  die Bedürftigkeit,  hatte keinen Zutritt  zum Fest. Da bemerkte  sie,  die ausgeschlossen war,  wie Poros,  der göttliche Wegefinder,  müde vom Essen und vom Nektar,  sich im Schatten eines Baumes  ausruhte.  Sie legte sich neben ihn und empfing von ihm den Eros. Daher ist der Eros,  führt Sokrates  aus, zuerst immer arm und bei weitem nichtfein und schön, wie die meisten glauben,  vielmehr rauh,  unansehnlich,  unbeschuht,  ohne Behausung,  auf dem Boden immer umherliegend und unbedeckt,schläft vor den  Türen und auf den Strassen im Freien und ist,  der Natur seiner Mutter gemäss,  immer der Dürftigkeit Genosse.  Und nach seinem Vater wiederum stellt er dem Guten und dem Schönen nach,  ist tapfer,  keck und rüstig,  ein gewaltiger Jäger,  allezeit irgend Ränke schmiedend,  nach Einsicht strebend, sinnreich,  sein ganzes Leben lang philosophierend,  (. . .)  und weder wie ein Unsterblicher geartet noch wie ein Sterblicher,  bald an demselben  Tag blühend und gedeihend,  wenn es ihm gut geht,  bald auch hinsterbend, doch auch wieder auflebend nach seines Vaters Natur.   Was er sich aber schafft,  geht ihm immer wiederfort.”

 

“Entfremdung”  in den frühmarxistischen  Schriften

 

Hier hätte Marx einhaken können,  er war ja Philosoph,  und die Geschichte wird in der Regel, wie es auch Platon tat, benutzt,  um zu erklären, was Philosophie sei und auf welchen göttlichen Ahnen die Philosophierenden  sich berufen könnten – eben auf Eros.  Ist jedoch  Philosophie, dieser Ausdruck  unstillbaren  Hungers  nach Erkennen  und Wissen,  nicht ebenso sehr Ausdruck der existentiellen Entfremdung wie  jeder  andere – immaterielle – Hunger,  oder doch gewiss eine dessen sublimierten Formen,  wie die Kunst? Wenn ich vorn auf Gillian Rose’s  Ökonomie des Eros” verwies und mich mit ihr einverstanden  erklärte für das Erkenntnisstreben in der Philosophie,  nicht aber für das gelebte Leben,  so mag dies hier nun klarer erscheinen.  Dass das Schöne und das Gute,  wonach  die Menschen  mit aller Inständigkeit streben,  vorweg  verloren geht, dass alle Anstrengungen vergeblich  sind,  dass sie um das Resultat  ihres  Strebens,  ihrer Arbeit betrogen  und ständig in die  Bedürftigkeit zurückgeworfen werden,  ist das entsetzliche Leiden,  das Marx  in den sog.  “Pariser Manuskripten”  von 1844  als Entfremdungbezeichnet.

Der Begriff stammte  ursprünglich von Hegel, der in seinen “Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte”  festhielt, dass die menschliche Geschichte zugleich die Geschichte der Entfremdung des Menschen sei. Der Mensch sei nie,  was er sein sollte,  und er sollte sein, was er sein könnte.  Eine knappe  und radikale Formel, welche Hegels Kritik an der – dem Wesen nie gerecht  werdenden – Existenz zusammenfasst.  Etwa  hundert  Jahre später schrieb Walter Benjamin im Exil in Paris in seinem Essay über den “Begriff der Geschichte”,  dass  niemals ein Dokument der Kultur sei,  das nicht zugleich eines der Barbarei sei”.  Und einige Zeilen weiter, dass  die  Tradition der  Unterdrückten uns darüber belehre,  dass der ‘Ausnahmezustand’,  in dem wir leben,  die Regel sei”.  Für den jungen Marx,  wiederum hundert Jahre früher,  ebenfalls als Emigrant  in Paris,  wurde  der Entfremdungsbegriff zum Instrument  seiner Gesellschaftskritik,  der es ihm erlaubte,  die Folgen  einer durch ausschliessliches  Profitstreben und zunehmende  Arbeitsteilung geprägte Entwicklung herauszuarbeiten,  resp. die Negativfolgen in der Dialektik des Fortschritts.  “Entfremdung”  bei Marx heisst Abkoppelung des Menschen  vom Produkt seiner Arbeit, damit Entzweiung des Menschen  mit sich selbst, Zerstörung seiner Individualität,  Versklavung, ja Verdinglichung des Menschen.  Marx zielte mit seiner Kritik nicht einfach auf höhere Löhne ab oder auf gleiche Einkommen  für alle ( das war eine Forderung von Pierre Joseph Proudhon,  welche dieser im  1840 erschienen Werk “Qu’est-ce que la propiete?” erhoben hatte),  wie er immer wieder falsch interpretiert wurde,  er zielte schon gar nicht auf eine Aufhebung  der Freiheit  ab, wie dies der totalitäre Bolschewismus durchsetzte,  im Gegenteil:  Marx strebte  in diesen frühen Werken  nach einer Wiederherstellung  sinnhafter Existenz,  oder,  wie Erich Fromm in einem Kommentar festhielt, nach  einer geistigen Emanzipation  des Menschen,  nach seiner Befreiung aus den Fesseln der wirtschaftlichen Bestimmtheit,  um ihn zu befähigen,  zur Einheit und Harmonie mit seinen Mitmenschen und der Natur zu finden”.

Indem Marx die Entfremdung der Menschen  untersucht, thematisiert er indirekt  die Frage der Grundbedürfnisse.  Deren massive Nichterfüllung erzeugt jenes geistige,  materielle und soziale Elend, insbesondere jene Phaenomene der Verlassenheit und der Sinnlosigkeit,  die Marx als “Entfremdung”  diagnostiziert.  Marx stellt fest,  dass die Menschen einander gegenseitig  ständig neue Bedürfnisse suggerieren,  doch handelt es sich dabei um unechte, um sekundäre oder tertiäre Bedürfnisse,  zu deren Erfüllung in erster Linie Geld, viel Geld erfordert ist. Dahinter steht das manipulative, egoistische und auf Bereicherung ausgerichtete Bestreben,  das durch die Erzeugung  sekundärer Bedürfnisse immer weiter von der Erfüllung der Grundbedürfnisse wegführt.  Im III.  Manuskript von 1844 finden sich diese Einsichten klar formuliert:  “Jeder Mensch spekuliert darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen,  um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen,  um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten.  (. . .) Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich derjremden  Wesen,  denen der Mensch unterjocht ist,  undjedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung.  Der Mensch wird umso ärmer als Mensch,  er bedarf umso mehr des Geldes,  um sich des feindlichen Wesens zu bemächtigen,  und die Macht seines Geldesfällt gerade in umgekehrtem  Verhältnis als die Masse der Produktion,  das heisst seine Bedürftigkeit wächst,  wie die Macht des Geldes zunimmt.  Das Bedürfnis des Geldes ist daher das wahre,  von der Nationalökonomie produzierte Bedürfnis und das einzige Bedürfnis,  das sie produziert.  Die Quantität des Geldes wird immer mehr seine einzige  mächtige Eigenschaft;  wie es alles  Wesen auf seine Abstraktion reduziert,  so reduziert es sich in seiner eigenen Bewegung als quantitatives Wesen.  Die Masslosigkeit und Unmässigkeit wird sein wahres Mass. “

 

Von der Raffinierung zur Verwilderung und Verrohung  der Bedürfnisse

 

Marxens  Analyse erfasst alle Bereiche  der in – willkürlich geschürte  – Gelüste oder in Ausbeutung pervertierten Grundbedürfnisse,  der materiellen ebenso wie der psychischen und der sozio-politischen.   Entfremdung ist das Resultat sowohl der “Raffinierung” wie der “Verwilderung” und  “Verrohung”,  ein völliger Verlust der Untrüglichkeit im Wissen, was wirklich not tut.  Marxens  Text liest sich wie eine prophetische Klage:  “Selbst das Bedürfnis nach freier Luft hört beim Arbeiter auf, ein Bedürfnis zu sein,  (…) Licht,  Luft etc.,  selbst die einfachste tierische  Reinlichkeit hört auf, für den Menschen ein Bedürfis zu sein”.  Der Arbeiter lebe in miefigen Kellerwohnungen,  in  “Höhlenwohnungen”,  die er sogar bezahle,  aus Angst,  aus diesen hinausgeworfen zu werden.  “Die rohesten  Weisen der menschlichen Arbeit kehren wieder, wie die  Tretmüle der römischen Sklaven  (. .. .) “,  und  “die  Vereinfachung der Maschine,  der Arbeit wird dazu benutzt, um den erst werdenden Menschen,  das Kind,  zum Arbeiter zu machen,  wie der Arbeiter ein verwahrlostes Kind geworden ist.  Die Maschine bequemt sich der Schwäche  des Menschen,  um den schwachen Menschen zur Maschine zu machen. ” Marx erkennt,  dass die Sinnentleerung der menschlichen Arbeit die Sinnentleerung der menschlichen  Existenz nach sich zieht.  Immer wieder betont  er, dass das dem Arbeiter ( die Arbeiterin vergisst  er systematisch)  zugestandene dürftige Überleben,  das keine Sinnlichkeit und nicht  den geringsten Luxus zulasse,  nicht genügen  könne.  “Je weniger  du isst,  trinkst, Bücher kaufst,  ins Theater,  auf den Ball,  zum  Wirtshaus gehst,  denkst,  liebst,  theoretisierst, singst,  malst, flehtest etc.,  um so mehr sparst du,  um so grösser wird dein Schatz,  den weder Motten noch Staub fressen,  dein Kapital. Je weniger  du bist, je weniger  du dein Leben äusserst,  um so mehr hast du,  um so grösser ist dein entäussertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem  entfremdeten  Wesen. “

Im Zentrum von Marxens Kritik steht unmissverständlich die mit dem kapitalistischen Ziel der Profitsteigerung verbundene Überflussproduktion,  die Verführung des  einen Teils der Menschen zur Anhäufung von Überflüssigem und die Instrumentalisierung des anderen Teils zu dessen Herstellung,  ein sinnloser Abtausch von Lebensqualität gegen Quantität der Sachen ( oder der Sicherheit),  sei es in der Akkumulation,  sei es in der Fliessbandproduktion.   Was das Ausmass an Entfremdung betriffi,  meint Marx,  dass Verschwendung und Ersparung,  Luxus und Entblössung,  Reichtum und Armut gleich” seien.  So oder so ist eine trostlose menschliche Verarmung der Fall.  Und nicht nur deine  unmittelbaren Sinne wie Essen  etc.  musst du absparen,  auch  Teilnahme mit allgemeinen Interessen, Mitleiden,  Vertrauen etc.,  das alles musst du dir ersparen,  wenn du ökonomisch (d.h.  durch das kapitalistische  System definiert, M. W.) sein willst,  wenn du nicht an Illusionen zugrunde gehen willst. ” Marx erkennt,  dass das sinnentleerte Leben,  das seinen eigenen Wert nur nach quantitativen Kriterien,  resp. nur in Geldkategorien misst,  auch ausschliesslich nach quantitativen Kriterien gemessen wird und dadurch wertlos, ja überflüssig wird.  Sogar das Dasein  des Menschen ist ein purer Luxus, und, wenn der Arbeiter ‘moralisch’ ist(..),  wird er ‘sparsam’ sein an Zeugung.  Die Produktion der Menschen erscheint als öffentliches Elend.”

Marx  spürt schon in der Anlage des Kapitalismus jene menschenverachtende totalitäre Tendenz heraus,  die sich in der Kombination von Imperialismus und Rassismus  verdichten  und im Faschismus,  insbesondere im Nationsozialismus aufs entsetzlichste zuspitzen  wird, mit der Quälerei und der beispiellosen  Erniedrigung,  schliesslich der industriellen Tötung von Millionen von überflüssigen,  “unwerten Leben”, millionenfach ein Mensch  und ein Mensch und ein Mensch, dessen/deren Menschsein  geleugnet  wurde und dessen/deren  Tötungsaufschub höchstens  vom eventuellen  Profit,  den er oder sie noch erbringen konnte,  abhing.  Hannah Arendt hat in ihrer  1955  erschienen Analyse des Zustandekommens des Nationalsozialismus (“Urspünge und Elemten  totaler Herrschaft”) eben dies als entscheidend herausgearbeitet:  dass ein totalitäres  System  sich dadurch  kennzeichnet,  dass es Menschen  für überflüssig  erklärt. (Der zugespitzte Neoliberalismus und sein Popanz  “Markt”  tut heute dasselbe,  ein neues totalitäres  System,  das Millionen von Menschen  für überflüssig erklärt  – und wiederum  leisten alle Demokratien der Welt Beihilfe.  Ich komme noch eingehend darauf zurück).

Der durch den Kapitalismus,  für den bei Marx zumeist die Chiffre  “Privateigentum”  steht, geschaffene Ungleichwert menschlichen  Lebens, mit der Konsequenz dessen Wertlosigkeit, könnte  nur über eine radikale Umkehr  korrigiert werden. Was als  Abschaffung des Privateigentums später in der programmatischen Realisierung zu verhängnisvoller Gewalt und zu einer ideologischen Aporie führte,  entsprach ursprünglich  – nicht in der Konsequenz – Marxens  Konzept der Gleichheit. Dieses Konzept lag seinem ursprünglichen,  noch in keiner Weise parteimässig  verfestigten Kommunismus zugrunde.  Er bezweckte damit nichts anderes und nicht geringeres   als die Aufhebung  der Entfremdung,  resp. die Restitution des gleichen Menschseins in jedem  Menschen,  dessen Werthaftigkeit ( oder “Würde”,  wie es in der Menschenrechtserklärung von  1948  heissen wird) keiner anderen Begründung als derjenigen des Menschseins  selbst bedarf,  oder,  mit anderen Worten,  die sich in der Reflexion  des Bewusstsein,  im  Selbstbewusstsein,  konstituiert.  Ebenfalls im III.Manuskript von 1844 findet sich diese Absicht klar formuliert:  Die Gleichheit ist nichts anderes als das deutsche Ich  = Ich in französische, das heisst politische Form übersetzt.  Die Gleichheit als Grund des Kommunismus  ist seine politische Begründung und ist dasselbe,  als wenn der Deutsche ihn sich dadurch begründet,  dass er den Menschen als allgemeines Selbstbewusstsein fasst. “

 

Negation des menschlichen Selbstwerts- Verdinglichung  der Menschen

 

Marx war sich im Klaren,  dass das wichtigste Grundbedürfnis des Menschen die Anerkennung und der Respekt seines Selbstwerts als Mensch ist (seiner Würde, wie wir heute sagen),  und dass alle übrigen Grundbedürfnisse,  deren Mangel er im entfremdeten Leben als schwerwiegendes Leiden,  als Verarmung und als Verelendung diagnostiziert,  sich aus diesem ersten und wichtigsten Grundbedürfnis ableiten – etwa das Bedürfnis nach  Wissen,  nach Bildung,  nach Partizipation an den überindividuellen,  den allgemeinen Interessen,  nach Vertrauen,  nach Musse,  Erholung und nach Schönheit.  Die “Verdinglichung”  der Menschen, d.h.  deren Degradierung zu Marktobjekten,  ist die Folge der Aberkennung menschlichen Selbstwerts.  Marx war sich jedoch im Klaren,  dass mit der Erkenntnis dieser Tatsache für das tatsächliche Leben der Menschen noch nichts gewonnen war,  resp. dass die Philosophie nicht genügt, um die Entfremdung aufzuheben.  Er schreibt,  in Fortsetzung  der oben zitierten Erläuterung von “Gleichheit”:  “Um den Gedanken des Privateigentums aufzuheben,  dazu reicht der gedachte Kommunismus  vollständig aus.  Um das wirkliche Privateigentum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche kommunistische Aktion.  Die Geschichte wird sie bringen undjene Bewegung,  die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen,  wird in der  Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Prozess durchmachen. Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten,  dass wir von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung und ein sie überbietendes Bewusstsein  erworben haben.”

Wenn wir das, was der damals  sechsundzwanzigjährige Emigrant in Paris  wie ein Visionär vorauszusehen glaubte – den rauhen und weitläufigen Prozess”,  aber auch die Beschränktheit als das Ziel der geschichtlichen Bewegung” mit demjenigen Prozess vergleichen,  der  1918  begann und  1989 zu Ende kam, so müssen wir feststellen,  dass Marxens Entwurf und die sowjetkommunistische Realität sehr verschiedene,  sehr ungleiche Konzepte beinhalteten.  Von Gleichschaltung,  von Entmündigung und Unfreiheit,  vom Terror  der Gesinnungskontrolle findet sich nichts in den marxistischen Frühschriften,  die, wie ich erstn neulich erfuhr, innerhalb des sowjetrussischen Herrschaftsbereichs während langer Zeit gar nicht verfügbar  waren,  resp. gar nicht gelesen wurden  durften.  Die Entfremdung der Menschen wurde auch im  sowjetkommunistischen  System vorweg  generiert und petrifiziert,  da,  nicht anders als Kapitalismus,  der einzelne Mensch zu einem ihm selbst fremden Zweck instrumentalisiert wurde,  sei es zur Steigerung des – staatskapitalistischen – Mehrwerts,  sei es zum ideologischen Zweck  der Herrschaftssicherung.  Weder wurde  die extreme  – zutiefst entfremdende – industrielle Arbeitsteiligkeit aufgehoben-,  das eigentliche Instrument  der kapitalistischen Mehrwertakkumulation,  noch wurde  die Abhängigkeit vom Geld zum Motor und Ziel  einer eventuell  dadurch  tatsächlich zu verbessernden Existenz, noch wurden  die anderen systembedingten Mängel behoben,  die den Menschen  in die Ungleichwertigkeit und in die Wertlosigkeit versetzen,  im Gegenteil.  Die Einsicht drängt  sich auf, dass die realkommunistische  “Abschaffung des Privateigentums”  etwas ganz anderes war als das, was Marx als  Aufhebung  von Entfremdung – als  Negation der Negation” – entworfen hatte, ja dass das marxistische Konzept überhaupt  noch nie realisiert wurde.

Was sich allmählich zu realisieren beginnt, ist höchstens jene von Marx im I. Band des “Kapitals”  als Bedingung für das “Reich der Freiheit”  geforderte Reduktion  der Arbeitszeit, dies jedoch  nicht gemäss  der ursprünglichen  sozialistischen Zielsetzungen einer Befreiung aus dem “Reich der Notwendigkeit”  mit seinen heteronom  definierten Zwecken,  zu deren Erfüllung die Menschen  mit all ihren Energien und und all ihrer Lebenszeit/Arbeitszeit instrumentalisiert werden,  sondern infolge jener  dem Kapitalismus eigenen Masslosigkeit,  die sich die Fortschritte in der Technologie und die globale Flexibilisierung der Produktion zunutze  macht, um Menschen  zur Kurzarbeit zu verurteilen  oder sie ganz aus dem Arbeits- und Erwerbsprozess  auszuschalten.  Damit geschieht die Verkürzung der Arbeitszeit auch wieder unter dem heteronomen Diktat jener weniger,  welche für sich selbst auf Kosten  der vielen eine Profitsteigerung anstreben  – und kann daher in den wenigsten Fällen als Befreiung von der Arbeit und als Möglichkeit einer autonom  gewählten Tätigkeit  verstanden  werden, wie Marx dies als wirklichen Fortschritt und letztlich als Erfüllung  eines wichtigsten Grundbedürfnisses postuliert  hat.

 

Die gesteigerte Entfremdung der Frauen:  weibliche Bedürfnistheorien

 

Doch zurück  zum  19.  Jahrhundert:  Was Marx zwar nicht ausser acht liess,  aber nur eher beiläufig untersuchte, vermutlich weil er sich selber innerhalb  des patriarchalen Herrschaftssystems nicht zum Gegenstand  der Selbstkritik machen wollte und daher auch das Patriarchat nicht als (Herrschafts)System der Entfremdung untersuchte,  ist die Tatsache  der zusätzlichen  Entwertung und “Wertlosigkeit”  der Frauen.  Wenn tatsächlich  die Arbeit (mithin der Arbeitslohn)  das Konstituens des Kapitalismus ausmacht,  wie Marx immer wieder festhält, so hätte der so viel geringere  Arbeitslohn  der Frauen  (und der wiederum noch viel geringere der Kinder) für die gleiche Arbeit ihn eigentlich zutiefst beunruhigen müssen.  Dem aber war nicht so. Er setzte sich zwar vehement,  vor allem im I.Band des “Kapitals”,  gegen  die industrielle “Vermarktung”  der Kinder und der jungen  Frauen ein,  doch er machte  den zusätzlichen  systemimmanenten Affront des Kapitalismus  – jenen der geringeren  Frauenlöhne und der noch viel geringeren  Kinderlöhne  – in diesem Sinn nicht zum Thema,  entsprach doch der geringere Arbeitslohn jener  generellen Minderwertigkeit der Frauen,  die das patriarchale System propagierte resp. heute noch propagiert.  (Hierauf geht Alice Rühle-Gerstel mit besonderem Nachruck  ein).

Marxens  Nachlässigkeit erscheint umso signifikanter,  als er,  der damals in Paris lebte,  direkt oder über Arnold Ruge  die Arbeiten der 1844 in Bordeaux gestorbenen Flora Tristan kennen musste,  dieser unermüdlich kämpferischen,  furchtlosen französisch-peruanischen Frühfeministin und Frühsozialistin,  deren Leben ich eigentlich erzählen müsste,  damit die Bedeutung ihrer theoretischen Arbeit und ihrer Versuche  einer tatsächlichen Veränderung der Lebenszusammenhänge der Arbeiterinnen und Arbeiter klar würde.

Nur so viel:  Flora Tristan,  1802 geboren,  verfügte  über kein akademisches  Studium wie Marx, ja sie hatte nicht einmal  die öffentliche Grundschule  besuchen können.  Sie wurde  von ihrer Mutter  unterrichtet,  mit der zusammen  sie in Paris in grösster  Armut lebte.  Weder  war der früh verstorbene Vater  als ihr legitimer Vater  anerkannt  noch konnten  sie oder ihre Mutter  etwas von dessen beträchtllichem Vermögen  erben,  da die in einem spanischen Kloster heimlich geschlossene Ehe ihrer Eltern  durch den französischen  Staat nicht anerkannt  wurde.  Flora Tristan kannte  die unbeschreiblich elenden Lebens-  und Wohnverhältnisse des französischen Industrieproletariats aus der Nähe,   auch jene in London,  wohin sie dreimal gereist war,  und ebenso die Armutsverhältnisse in Peru,   dem Herkunftsland ihres Vaters,  das sie während zweieinhalb Jahren bereist  hatte.  Sie erkannte  nicht nur die Gesetzmässigkeit von Menschenverachtung und Ausbeutung durch den Kapitalismus,  sondern ebenso deren Verdoppelung für Frauen  durch die entwürdigende Geschlechterhierarchie, die sich auch im Proletariat ungeschmälert durchsetzte.  Jeder Proletarier hat noch eine Frau,  die er unterdrücken kann”, schrieb  sie in ihrem letzten,  kurz vor dem Tod fertiggestellten Buch “Union ouvrière”  (“Arbeiterunion”).  Für sie stand fest, dass Frauen einer guten Bildung bedurften,  um ihre Lebensverhältnisse und ihre Rechtsverhältnisse zu verbessern.  Und ebenso stand für sie fest,  dass Lernen  und Wissen nicht geschlechtsspezifische Bedürfnisse,  sondern Grundbedürfnisse aller Menschen  sind. Dass allein  durch deren Erfüllung  die schreckliche Demoralisierung der Arbeiterschaft korrigiert werden  könnte  – das, was Marx  als deren “Verrohung”  bezeichnet  -, vertrat  sie nicht nur in diesem letzten Buch,  sondern in all ihren Werken  (“Peregrinages  d’une Paria”,  “Promenades dans Londres”  etc.).  Sie kämpfte für die Errichtung von sog.  “Arbeiterpalästen”,  einer Art Volkshäuser,  die allen Arbeiterinnen  und Arbeitern  gemeinsam  gehören würden,  in denen die Kinder und die nicht mehr arbeitsfähigen alten Menschen  eine Obhut fänden,  wo vielfältige Weiterbildung angeboten würde  und wo die in prekären,  engen und hässlichen Wohnverhältnissen lebenden Menschen  einen Ort der Musse und der Erholung  fänden.

 

Bildung  statt Fürsorge

 

Flora Tristan nahm damit in feministischer Weise Ideen auf,  die der mit ihr befreundete Robert Owen in seiner Fabrikanlage im schottischen New-Lanark schon verwirklicht hatte, wobei auch Owen ein Erziehungs-,  Arbeits- und Wohnkonzept für Arbeiterfamilien und Waisenkinder weiterführte und verbesserte,  das sein Schwiegervater, David Dale, 1784 mit der Errichtung seiner “cotton-mills”  begründet hatte.  Robert  Owen übernahm  deren Leitung  im Jahre  1799, nachdem  er eine Tochter Owens geheiratet  und die “cotton-mills”  gekauft  hatte.  Er erbaute in deren Mitte jene  “Neue Anstalt”,  die er als Ort und als Hort  der Sozialisation für die kleinen Kinder im Vorschulalter wie als eine Art Gemeinschaftshaus für die grösseren  Kinder und die Erwachsenen konzipierte,  damit die Regeln des guten, rücksichtsvollen  Zusammenlebens und eine ständige Weiterbildung unter  einem Dach geübt und praktiziert werden konnten.  In seiner 1817  erstmals erschienen  Schrift  “Eine neue Auffassung von der Gesellschaft”  hielt Owen fest, dass allein über eine sorgfältige und ausreichende  Erziehung  auch der ärmsten Bevölkerung eine Verbesserung der Gesellschaft zu erreichen war.  Den Knaben oder Mädchen soll in der Schule gelehrt werden,  gut zu lesen und das Gelesene zu verstehen,  eine gute leserliche Hand geläufig zu schreiben und die  Grundregeln des Rechnens richtig zu lernen,  so dass sie imstande sind, sie zu verstehen und leicht anzuwenden.  Den Mädchen soll auch gelehrt werden zu nähen, zuzuschneiden und nützliche Kleidungsstücke für die Familie herzustellen, (. . .) auch sollen sie lernen,  wie man auf sparsame Weise gesunde Nahrung zubereitet und ein Haus sauber und gut in Ordnung hält.  (. ..) In vielen Schulen wird den  Kindern der armen und arbeitenden Klassen niemals gelehrt,  das Gelesene zu verstehen; die Zeit,  welche mit diesem Scheinwerk von Unterricht verbracht wird, ist deshalb verloren.  In anderen Schulen lernen die Kinder,  infolge der Unwissenheit ihrer Lehrer,  ohne Nachdenken zu glauben,  und so lernen sie niemals,  zu denken oder richtig zu schliessen. Diese jammervollen Methoden müssen unfehlbar den jugendlichen Geist für eine klare,  einfache und vernünftige Unterweisung untüchtig machen.” Owen setzt somit bei Erwachsenen und Kindern die gleiche Ernsthaftigkeit im Wissenwollen voraus.  Kann der Mensch im Besitz der  Vollkraft seiner geistigen Fähigkeiten über irgend einen Gegenstand sich ein vernünftiges  Urteil bilden,  wenn er nicht vorher alle ihn betreffenden  Tatsachen,  soweit sie bekannt sind, gesammelt hat?( . .) Nach denselben Grundsätzen sollten auch die Kinder unterrichtet werden. “

Flora Tristan’s wie Robert  Owen’s Postulaten stand somit jene  “Gleichheit”  Patin – Gleichheit des gleichen Menschseins  -, die Marx zur Begründung  seines gesellschaftsverändernden Konzepts anführte, jedoch  mehr noch  – was bei Marx fast ausschliesslich  mit der Reduktion der Arbeitszeit in Verbindung gebracht  wurde  – die Freiheit resp. die Möglichkeit,  das eigene Leben aus eigenem Impuls und aus eigener Verantwortung zu verändern  und selbst Optionen des Handelns  zu formulieren,  unbhängig  von Geschlecht,  Stand, Klasse,  Herkuft,  was immer. Was bei Robert  Owen auffällt,  ist sein moralisierendes,  auch idealisierendes Konzept einer besseren Menschheit,   während  bei Flora Tristan dieser Ton wegfällt. Ich empfinde es als frauenspezifisch,  dass sie nie in jene paternalistisch-moralisierende Distanz  zu den Fragen des Proletariats geriet,   die sich bei vielen männlichen Theoretikern findet, dass sie auch nicht in abstrakter Sprache für die Aufhebung  der Entfremdung kämpfte,  sondern  ganz konkret  für gerechte  Löhne,  für anständige Wohnverhälntisse,  für Sicherheit bei der Arbeit,  für den Schutz der Kinder,  und vor allem und immer wieder für die Unverfügbarkeit und Eigendefinition der Frauen.  Ihr Werk,  das aus der Erfahrung der Entrechtung der Frauen,  insbesondere der Frauen des Proletariats,  sowie aus der Erfahrung skrupelloser  männlicher Gewalt  heraus  entstanden war,  liess  den Rahmen  der individuellen Erfahrung trotzdem weit zurück  und machte die Lebens-  und Arbeitbedingungen der Frauen überhaupt sowie deren Bedürfnis nach Änderung dieser Bedingungen zum Thema.

Flora Tristans  Analyse der Gründe und Zusammenhänge der materiellen und moralischen Verelendung war gewiss nicht so erschöpfend wie diejenige von Marx und Engels,  doch verfiel sie auch nicht einer pauschalen,  irrealistischen Idealisierung der Arbeiterklasse wie andere Frühsozialisten.  Sie war eine Wegbereiterin in  der unerschrockenen frühfeministischen und sozialistischen Überzeugungsarbeit,  die von anderen bedeutenden Frauen weitergeführt wurde, von Rosa Luxemburg insbesondere und von Clara Zetkin in Deutschland,  von Rosa Bloch und Rosa Grimm in der Schweiz und von zahlreichen anderen Frauen.  Auch waren ihr andere Frauen vorausgegangen,  aus deren Werk  sie Ermutigung schöpfte.  Mary Wollstonecraft und Olympe de Gouges  waren  hinsichtlich der Formulierung weiblicher Rechtsansprüche und damit wichtigster Bedürfnisse bedeutende Vorbilder.

Auch auf Mary Wollstonecraft habe ich schon im I.Teil hingewiesen.  1759  an einem unbekannten Ort in England  geboren, hatte  sie ausser der Grundschule  ebenfalls keine weitere Bildung genossen,  sondern  sich im  Selbststudium,  neben Lohnarbeit  als Gesellschafterin  und Erzieherin,   mehrere  Sprachen und ein grosses  Wissen angeeignet.  Als 1791  der französische Minister Talleyrand eine Schrift über öffentliche Erziehung publizierte,  in welcher die Erziehung der Mädchen,  die ja als nicht-bildungsfähige menschliche Geschöpfe galten, lediglich in ein paar knappen  Paragraphen gestreift  wurde, schrieb Mary Wollstonecraft innerhalb  weniger  Wochen  eine Entgegenung,  in welcher  sie nicht nur Talleyrand,  sondern auch Rousseau und dessen in “Emile”  niedegelegte Erziehungstheorie aufs  eindrücklichste angriff und widerlegte.  Sie hielt fest,  dass Frauen und Männer  einander ebenbürtig  seien,  dass diese Ebenbürtigkeit jedoch  nicht länger durch Erziehung und Bildung vorweg  zunicht gemacht werden  dürfe.  Theoretische und praktische Forschritte in der Gesellschaft seien wirkungslos,  solange  die Frauen  in  allen privaten und öffentlichen Bereichen unterdrückt würden.  Der Begriff eines “Geschlechtscharakters”  zerstöre die Moral.  Auch könnten  Kinder nur zu menschlichem  Respekt  erzogen  werden,  wenn schon ihre Mütter  in  diesem Geist aufgewachsen seien.  Des weiteren gebe es keine Vernunftargumente dafür,  dass die eine Hälfte der Menschheit die andere von jeglicher  Regierungsverantwortung ausschliesse,  auch keine Erklärung,  dass es Vernunftargumente für die Rechte  der Männer,  aber keine für die Rechte der Frauen  gebe usw.

Die “Promenades  dans Londres”,  die “Union ouvrière”  und die “Vindication of the Rights  of Woman”  als weibliche und damit als  allgemein menschliche Bedürfnistheorie zu bezeichnen,  ist, scheint mir zulässig,  da Rechte ja nur eine Umsetzungsmöglichkeit haben,  wenn die ihnen zugrunde  liegenden Grundbedürfnisse anerkannt  sind.  Bei beiden Autorinnen geht es um das Grundbedürfniss der Anerkennung des gleichen Menschseins,  unabhängig  von Geschlecht und Herkunft,  sowie,  davon  abgeleitet,  um das gleiche Grundbedürfnis nach Lernen,  nach Bildung und nach Partizipation an den Entscheidungen,  die das Zusammenleben der vielen betreffen (um die sog.  Regierungsverantwortung).  Es geht im Grunde genommen  um das Bedürfnis, selbst “ich”  zu sagen,  ohne dass das Ich durch die einschränkende  Konditionalität der patriarchalen  Gesellschaft  geleugnet  wird.

 

Das Recht  auf die Tribüne

 

Auf unmissverständliche Weise findet sich diese Bedürfniserklärung in der “Declaration des droits de la femme et citoyenne”, die Olympe de Gouges  als Antwort  auf die “Männerrechtserklärung”  von  1789   (Tieclararion des droits de l’homme”) veröffentlicht hat und wofür  sie 1793  mit dem Tod auf dem Schaffott zahlen musste.  Auch Olympe de Gouges, als Marie  Gouze,  1748 in  Südfrankreich geboren,  offiziell  die Tochter  eines Metzgers,  inoffiziell diejenige  eines Herzogs, mit sechzehn Jahren verheiratet und mit siebzehn Mutter  eines Sohnes und Witwe,  war kaum zur Schule gegangen,  so dass sie, als sie furchtlos  mit ihrem Kind nach Paris kam, kaum ihren Namen  fehlerfrei  schreiben konnte.  Sie schlug alle weiteren Heiratsangebote aus, sie schärfte ihren Geist in einigen der fortschrittlichen  Salons,  vor allem aber auf der Strasse, wo die revolutionäre Unrast  immer mehr um sich griff  Als sie 1780 zu publizieren begann,  brannten ihr die Themen buchstäblich  unter den Fingern:  die  Sklaverei,  die Rechtlosigkeit der Frauen,  die Schuldenhaft,  die unbeschreiblichhen Zustände in den Armenspitälern,  in den Gebäranstalten und Waisenhäusern,  das Elend der übervölkerten Faubourgs – die ganze Palette sozialen und politischen  Unrechts.  Alles in allem veröffentlichte sie an die dreissig Theaterstücke und buchstäblich  ungezählte Streitschriften,  Manifeste, öffentliche Anklagen,  Briefe und Plädoyers.  Sie bezichtigte  öffentlich die revolutionären Machthaber als eine blutrünstige Verbrecherbande,  worauf diese Olympe zur Zielscheibe  ihrer Angriffe machten.  Doch  Olympe lies  sich nicht einschüchtern,  auch nicht, als sie nach ihrer “Frauenrechtserklärung”  und  einem öffentlichen Plädooyer  für die zum Tod verurteilte Königin selbst verhaftet,  von Gefängnis zu Gefängnis transportiert und selbst zum Tod durch die Guillotine verurteilt  wurde.  Da ihr ein Anwalt versagt  wurde,  verteidigte  sie sich selbst in einer stolzen Rede,  die zugleich  eine erneute  Anklage Robespierre’s war.

Das Erstaunliche an Olympe de Gouges’  “Frauenrechtserklärung”  ist,  dass diese Frau des 18. Jahrhunderts nicht einfach die “Männerrechtserklärung”  in die weibliche Form übersetzte, sondern  dass sie begriff, dass politische  Grundrechte nicht genügen,  um ein Leben in Würde zu garantieren,  dass es gleichzeitig  der Garantie der wichtigsten Persönlichkeitsrechte bedurfte. Auch sie schrieb ja nicht aus einer Elfenbeinturmdistanz,  sondern aus der Erfahrung der vielfachen alltäglichen Diskrimierung.  So verlangte sie, zum Beispiel,  dass der für Frauen nachteilige Ehevertrag abgeschafft  und durch einen Vertrag  ersetzt werde,  der sowohl für den Fall  der Ehe wie für den Fall des Konkubinats (das dadurch  legalisiert wurde) die gleichen Bedingungen für Männer  wie für Frauen  enthalten würde.  Sie verlangte Rechtsschutz für ledige Mütter  bei der Vaterschaftsermittlung,  verbunden  mit der Anerkennung  der gleichen Mutterschaftswürde wie bei verheirateten Frauen.  Sie vertrat  den Rechtsanspruch von Frauen und Kindern  auf Zahlung von Alimenten im Fall einer Scheidung, sodann das Rechts  auch unehelicher Kinder auf die väterliche  Erbschaftsfolge.  Die “Declaration des droits de la femme et citoyenne”  drückt  in allen Artikeln das Grundbedürfnis nach Anerkennung  der gleichen Würde aus, ganz konkret,  in allen Bereichen,  in denen der Alltag und die traditionelle Rechtspraxis diesem Bedürfnis Hohn  sprachen.  Ebenso  wenig wie Mary Wollstonecraft erlebte sie jedoch  eine solidarische Haltung der Frauen.  “Les femmes veulent etre femmes et n’ont pas de plus grands ennemis  qu’elles-memes”,  stellte sie zutiefst enttäuscht  fest.  ”Malheureusement le plus grand nombre  se joint impitoyablement au part  le plus fort. “Die stärkste Partei  ist jedoch immer diejenige der Machthabenden.  Selbst eine Frau wie Germaine de Stael,  die Tochter des – noch vor-revolutionären  Finanzministers Necker -, die über eine viel breitere intellektuelle und gesellschaftliche Abstützung verfügte als Olympe, zog es vor,  die traditionelle männliche Position gutzuheissen,  indem sie sich auf das – patriarchale – Konstrukt des Geschlechtscharakters berief:  “On a raison d’exclure les femmes des affaires publiques et civiles”,  schrieb diese,  rien n’est plus opposé a leur vocation  naturelle”.

In welchem Mass noch ein gutes Jahrhundert später Olympe de Gouges’ Unerschrockenheit  als Bedrohung  empfunden wurde,  beweist das Gutachten, das 1904  ein gewisser Dr.  Guillois im Auftrag des französischen militärischen Gesundheitsdienstes über die “Frauen der Revolution” machte.  Darin wird Olympe de Gouges als Geisteskranke qualifiziert, als Hysterikerin,  die von einem krankhaften Narzissmus und von der ‘paranoia rejormatoria heimgesucht gewesen sei.

 

Die Friedensbewegung gegen  Aufrüstung und Krieg

 

Eine  wichtige  Linie  darf nicht  vergessen   werden,  wo  die  erlebte  Unrechtspraxis  zu  einer Formulierung wichtiger Grundbedürfnisse geführt  hat.  Ich  meine  die Friedensbewegung,  die noch im 19. Jahrhundert und zu Beginn  des 20. Jahrhunderts vor  allem durch  die hartnäckige Initiative von  Frauen  zu  mächtigen  Manifestationen gegen Menschenverachtung und  Gewalt wurde,  damit  zu Manifestationen  für  ein friedfertiges  Zusammenleben.  Dabei  ging  es, denke ich,  im Grunde um das Bedürfnis nach Respekt  vor jeglicher  Differenz im gleichen Menschsein, dessen Erfüllung unvereinbar ist mit menschenverachtender Gewalt – mit imperialistischer, kolonialistischer,  rassistischer  Gewalt.  Robert  Owen  hatte  in  seiner  1817  erschienen,  oben zitierten  Schrift festgehalten,  dass  die Kunst des Kriegs nutzlos gemacht würde,  wären alle Menschen zu  vernünftigen  Wesen  erzogen”.  Es  ging  tatsächlich  um  das  den  Geboten  der Menschlichkeit   zugrundeliegende  Gebot  des  vernünftigen  Lebens.  In  der  Friedensbewegung gelang   es   den   Frauen,  sich   weltweit   zu   solidarisieren,   auch   wenn   es   –    leider   –   eine Solidarisierung  der  Ohnmacht   war:  Schon  vor Ausbruch  des  Ersten   Weltkriegs  hatten  sich Frauen  aus  allen  Ländern   Europas   zusammengeschlossen,  unter Einschluss  der Frauenbewegungen Englands  und  der USA,  ja  selbst Brasiliens,  Australiens,  Britisch-Indiens und  Japans,   um   gegen   die   Aufrüstung   und   gegen   die  Kriegsvorbereitungen   öffentlich Widerstand  zu leisten. Am 15. Mai 1899 fand in Den Haag die erste Internationale Friedensdemonstration  der  Frauen  statt;  am gleichen  Tag veranstalteten überall  in  der  Welt Frauenorganisationen Kundgebungen gegen  den Krieg. Besonders   stark  war  die feministische Friedensbewegung  in  Russland,   obwohl  nach  Erlassen  der  zaristischen  Polizei  öffentliche politische Versammlungen  nicht  gestattet  waren,   schon  gar  nicht  solche   von  Frauen.   In Spanien und in Japan  gingen  die Frauen  an diesem Tag überhaupt  das erstemal  organisiert  mit einem politischen  Anliegen  auf die  Strasse.  In Amerika schlossen  sich  l ‘250’000  Frauen  den Kundgebungen an.

Der Bericht,  den die deutsche  Pazifistin Margarete Lenore  Selenka für die Erste  Internationale Friedenskonferenz in Den Haag verfasste,  liest  sich heute mit  Staunen.  Er ist  ein Dokument  für die Effizienz jener  Kraft,  die Frauen  in  allen Ländern bewog,  sich zusammenzuschliessen,  nicht nur, um gegen  die Kolonialkriege  –  zum Beispiel  die Burenkriege  – und gegen  das Wettrüsten in  Europa   aufzustehen,   sondern   um  gegen  jede   Art   der  Verachtung  und  Minderachtung menschlichen Lebens  Einspruch   zu  erheben   –   ihres   eigenen  Frauenlebens,  für  das  sie  die gleichen beruflichen und  persönlichen  Entfaltungsmöglichkeiten  und  die  gleichen politischen Rechte forderten wie die Männer sie selbstverständlich für sich beanspruchten,   des Lebens von Kindern,  für welche sie Gesetze gegen Ausbeutung und für das allgemeine Recht auf Schulung und Bildung durchsetzten,  des Lebens von Arbeitern und Arbeiterinnen,  für die  sie gesetzlich geregelte Arbeitszeit, Schutzbestimmungen  am Arbeisplatz und Arbeitslosengelder verlangten. Sie  protestierten, gingen  auf  die  Strasse,  organisierten  Versammlungen,  hielten Reden  und schrieben  Manifeste,  Briefe  und Bücher,  sie  kämpften gegen Gewalt  und Prostitution,  gegen Verwahrlosung,    Alkoholismus   und   Tuberkulose,    sie   gründeten   und  leiteten    Schulen, Waisenhäuser,  Kinderbetreuungsheime,  Frauenbildungsstätten,   Parteihochschulen   und  vieles mehr.  Sie  kamen  aus  allen   Schichten  der  Gesellschaft,   waren  religiös   oder  nicht  religiös, katholisch,  protestantisch  oder jüdisch,  waren Sozialistinnen,  Kommunistinnen  oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete.  Feministinnen waren sie alle.  Sie hiessen  –  um nur (in alphabetischer Reihenfolge) einige zusätzliche Namen jener Generation zu nennen, die ich noch nicht  erwähnt  habe,   zum  Teil  berühmte,  zum  Teil  vergessene   Namen  –   Anita  Augspurg, Josephine Butler, Verena  Conzett-Knecht, Hedwig  Dohm,  Caroline  Farner, Margarethe Faas- Hardegger, Emmy  Freundlich, Marie Goegg-Pouchoulin, Claire Goll, Gertrude  Guillaume-von Schack, Lida Gustava  Heymann,  Marie Humbert-Müller, Käthe Kollwitz, Alexandra Kollontai, Selma  Lagerlöf,  Berta   Lask,   Rosa   Mayreder,  Helene  von  Mülinen,   Frida  Perlen, Emma Pieczynska-Reichenbach,  Adelheid  Popp,   Alice  Rühle-Gerstel,  Meta   von  Salis-Marschlins, Olive Emilie Albertina Schreiner,  Toni  Sender,  Helen  Stöcker,  Bertha  von  Suttner,  Gertrud Johanna Woker,  Mathilde Wurm und weitere mehr.

Wir wissen  es heute:  Mit dem Krieg von  1914-1918  war der erste weltweite Beweis  erbracht, dass  mit  gezielter   nationalistischer Hetzpropaganda   Millionen  von  Menschen  zu  gefügigen Werkzeugen gemacht werden konnten, dass Millionen von Menschen  sich – entgegen aller anerzogenen religiösen  Gebote und moralischen Normen –  in den Dienst  der Machtphantasien skrupelloser   Staatschefs  und  Generäle  sowie  der  nicht  weniger  skrupellosen Bereicherungsinteressen einzelner “Rüstungsbarone” einspannen liessen, dass sie sich zum erbärmlichen  Töten und  Getötetwerden buchstäblich berauschen  liessen.  Zum systematischen Morden  muss   bei  normal  veranlagten Menschen  erst  der  entsprechende Rausch   erzeugt werden”,  stellte Rosa  Luxemburg   fest.  “Der Bestialität der Praxis  muss  die Bestialität der Gedanken und Gesinnung entsprechen,  diese muss jene vorbereiten und begleiten. “

Nicht  die Tatsache  der Bereitschaft zur moralischen  Verführung  – der Verführung  zum Hassen und  Töten –  und  zur politischen  Überlistung waren  neu; nur  weil  dies  immer schon  so war, gelang überhaupt die “Gesinnungsvorbereitung”, von der Rosa Luxemburg spricht. Zur “Weltenwende”  wurde   der  Erste  Weltkrieg,  weil  er  den  Kodex   der  Angst  zum weltweiten Instrument der Repression werden  liess. Weil er die Grammatik der Entwertung des einzelnen Menschenlebens und, in der Konsequenz, die Entwertung millionenfachen Menschenlebens länderübergreifend, kontinenteübergreifend – sowohl durch die Mittel der elektronischen Propaganda  wie  jener   mächtiger   Waffensysteme  –  zum  Zweck   staatlicher   Machtinteressen quasi  programmatisch  für  die  weitere   Zukunft   festlegte.  Weil  damit  Sprachlosigkeit  und Gewalt als – quasi legitime –  ultima ratio sich durchsetzten, nicht einmal mit dem Vorwand  der Regelung  von   Konflikten,    sondern  in   der   Durchsetzung  von   Interessen.   (Die   mit   dem Kriegsende einsetzende Trauergeschichte des  Völkerbundes  erbringt  dafür  den Beweis).  Der Erste  Weltkrieg  wurde   zur  “Weltenwende ,   weil  er  die    philosophische  Errungenschaft  der Aufklärung –  den  Anspruch  des  einzelnen Menschen  auf Subjektwürde,  auch  dann,  wenn  er Objekt ist-, weil er diese Errungenschaft, die die bürgerlichen Revolutionen in Amerika  und in Frankreich,  die  auch  den  Kampf gegen  das  Sklaventum  beflügelt   hatte,  defintiv  zur  Farce werden    liess.   Seither   ist   es   schwer,   gegen   die  millionenfach   erwiesene    Tatsache    der Bereitschaft  der  einzelnen  Menschen  zur  Entmündigung  den  Beweis  für  die unverzichtbare Würde  selbstverantwortlichen Handelns anzutreten.

 

Ist “Hoffnung”  ein politischer Begriff?

 

Bleibt  Hoffnung  in  dieser  angsterfüllten  Welt?”  fragte  Theodor   W.   Adorno   Jahrzehnte später,     nachdem     der   Zweite    Weltkrieg    alle    Erfahrungen    des    Grauens     und    der Entmenschlichung des Ersten Weltkriegs in einem nicht mehr vorstellbaren, nicht mehr beschreibbaren Ausmass  hinter  sich gelassen  hatte.  Als selbst  die Tatsache  von Abermillionen von Ermordeten und von Abermillionen  von gequälten Überlebenden,  von elternlosen Kindern, von Verstümmelten  und  Vertriebenen  die  Frage   der  Verantwortung  und  damit  der  Sühne höchstens  auf der Stufe  der Helfershelfer,  der instrumentalisierten Willfährigen,  stellte,  weil die verantwortlichen Machthabenden und deren Nachfolger  sich entweder  aus dem Staub  gemacht oder  in  den  alten  Konfigurationen  konstruierter  Feindschemata  schon  wieder  neue  Kriege führten,  weil auch  diese geführt  und  nicht durch  die Aufarbeitung früherer Kriege verhindert werden  wollten,  in  Korea,  in  Afrika,  in  Vietnam,  in  Iran und Irak  – Hunderte von Kriegen  seit dem  Zweiten  Weltkrieg,  Kriege  zwischen  Nationen,  zwischen  Grossmächten  und  kleineren Staaten, im Innern von Nationen  gegen Minderheiten – bis nun zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien,   dessen   Zeugen   und   Zeuginnen   wir   mit  Entsetzen    und   Ohrnacht  oder   mit wachsender Indifferenz geworden  sind.

Wo müssen  aktuelle  Bedürfnistheorien  ansetzen?  Darf überhaupt von  “Hoffnung”  gesprochen werden? Mir scheint, “Hoffnung” sei ein ausschliesslich religiöser Begriff, der, ausser der eschatologischen  Bedeutung,  die ihm  eigen  ist  – der Ausrichtung  auf Erlösung  im  Jenseits,  in einer Meta-Zeit -,  philosophisch und politisch  nur in Analogie verstanden werden  kann. Wenn Adorno fragt,  ob es “Hoffnung”  in  dieser Welt gebe,  so mag er darunter  ‘Aufschub” verstehen, wie Walter Benjamin die “Hoffnung” des Angeklagten in Kafkas  “Prozess” auslegt.  ‘Aufschub” bedeutet   eine  neu  gesetzte  Frist,   in  der   ein  anderes   Handeln   einsetzen   könnte.  Es   gibt tatsächlich  auch heute  Ansätze  echter  Friedensarbeit, welche  sich die schwierige  Aufgabe  zum Ziel setzen,  aus den Aporien der Gewalt hinauszuführen und der Unterdrückung jener menschheitlichen  Grundbedürfnisse  entgegenzuwirken,  deren  Erfüllung  eine  Zusammenleben der vielen verschiedenen Menschen  ermöglichen  würde.  Eine Beispiel  ist  die arabisch-jüdische (und zugleich  christlich-jüdisch-muslimische)  Gemeinschaftssiedlung Neve  Shalom  oder  Wahat al-Salam,  die,  in  der  Mitte  zwischen  Ramallah und  Tel Aviv  auf dem  Westufer  des  Jordan gelegen,  1972  vom Dominikanermönch Bruno  Hussar  gegründet  wurde  ( er starb 1996),  und in der  seither  gleich viele Kinder  aus beiden  Völkern  und  aus  allen  drei  Religionen  gemeinsam aufwachsen, von gleich  vielen  Lehrern  und Lehrerinnen  beider  Kulturen vom Kindergarten  an in  beiden  Sprachen  unterrichtet werden  und gemeinsam  die Feste  der drei Religionen  feiern  – dies  seit  mehr  wie zwanzig  Jahren.  Dem  Unterricht für die Kinder  der  Siedlung folgen auch Kinder   aus   den   umliegenden   arabischen   Dörfern  und  jüdischen    Siedlungen.  Mit   einem gemeinsamen   Schulbus  werden   sie  abgeholt  und  zurückgebracht.  Und  zugleich  werden  seit fünfzehn Jahren  in Neve  Shalom/Wahat  al-Salam  eine  Art  Seminare  abgehalten,  drei- bis fünf Tage  lang,  die  “Friedensschule” heissen  und  die  gleichviel  Jugendlichen   und  Erwachsenen beider   Völker   offenstehen.   Seit  Bestehen   dieser   “Friedensschule”  haben  über  zehntausend Jugendliche  und mehrere  tausend  Erwachsene aus beiden Völkern  die wechselseitigen Ängste, Vorstellungen und Ärgernisse hier zur  Sprache gebracht  und diskutiert,  sie konnten  Vorurteile abbauen  und  ein friedliches,  aller Differenzen bewusstes  Umgehen  miteinander als die bessere Option kennenlernen und üben.

Das   gewaltfreie   Umgehen    mit   Konflikten,    das   Leben   mit   Differenzen   und   Konflikten schrittweise  und vorbildlich zu vermitteln,  im  Sinn  einer modellhaften  und  auf die politische, soziale und private Praxis übertragbaren Aktivierung der kreativen  Vernunft,  muss das Ziel von Bildungs-  und Friedensarbeit  sein.  Dies würde  erlauben,  Eros, dem Kinder  der Penia  und  des Poros,  einen Platz überall im  sich fortsetzenden  Alltag, aber auch auf den grösseren Bühnen  zu sichern.  Denn  allmählich müssten  wir  (“wir”  im    Sinn des pluralen  Menschheits-Ichs)  wissen, dass  sich nur die wenigsten  Konflikte  lösen  lassen,  nur die geringsten,  sowohl  im  politischen wie  im  privaten  Zusammenleben.  Vor allem  müssen  wir  lernen,  die Angst  vor Konflikten  zu durchschauen,    auch   die   Vorstellung   von   ausschliesslichen   Entweder-Oder-Lösungen   zu durchbrechen.  Wir müssen  lernen,  Konflikte  und Differenzen  als  Anforderung  an die kreative Vernunft  in  die Normalität  des Zusammenlebens  der vielen  – auf welcher  Ebene  auch immer  – einzubauen.  Dies würde,  scheint  mir,  nach und  nach  erlauben,  Entfremdung  abzubauen,  statt immer  wieder  neue  Entfremdung  zu generieren,  und  den wichtigsten  Grundbedürfnissen  der Menschen   in  allen  Bereichen   –  in  jenen  der  materiellen Lebenssicherung,   wie  mit jenen  der psychischen,  der sozialen und politischen Zusammenhänge – gerecht  zu werden.

 

Unersättlichkeit statt kreative  Vernunft?

 

Im Mass, in dem Armut,  Erbwerbslosigkeit und Gewalt zunehmen,  klinkt sich die Jugend und ein Teil der Erwachsenengesellschaft aus der “Welt”  aus. Drogen,  Akohol,  Tabak,  Glückspiel und Medikamente sind nur ein Teil der Süchte und Süchtigkeiten,  in die sie fliehen, weitere kommen hinzu:  Magersucht, Esssucht,  Erotomanie und Sexsucht, Arbeitssucht (Workaholics), Kaufsucht,  Sammelsucht, Fernseh-  und Unterhaltungssucht,  Risikosucht,  Erfolgssucht, Geschwindigkeitssucht,  Bereicherungssucht,  Gewalt- und Zerstörungssucht,  Herrschsucht, Gerechtigkeitssucht usw.  – alles Phaenomene der Unersättlichkeit,  die häufig auch kombiniert auftreten,  die sich oft während  Jahren verdichten  und steigern und zunehmend  schwerer steuerbar  sind,  sodass  ein zusätzliches Phaenomen,  dasjenige der Abhängigkeit, auftritt. Menschen  aus allen Herkunfts- und Altersschichten,  Männer  und Frauen, junge und alte Menschen  und solche in den “besten Jahren”,  selbst Kinder,  immer mehr Kinder weisen irgend ein Suchtverhalten auf  Was haben diese unterschiedlichen Phaenomene gemeinsam,  resp. haben sie überhaupt  etwas  gemeinsam?

Meine These ist,  dass die Entfremdung heute so  allumfassend und allbeherrrschend geworden ist,  dass das Leiden übermächtig wird.  Süchte verstehe  ich als Phaenomene der Unersättlichkeit,  ob diese sich in der Einverleibung oder Anverleibung von Stoffen zeige, oder in der Unterwerfung und Konditionierung der eigenen Psyche,  des eigenen Körpers oder jener anderer Menschen,  mit welchen  die Aufhebung  resp. die Befreiung von Entfremdung bezweckt wird.  Meine zweite  These ist,  dass es  untaugliche  Versuche  sind, da unsere ganze Gesellschaft in all ihren Bereichen  Entfremdung vorweg  generiert,  dass es mithin einer Veränderung der Gesellschaft  bedarf,  damit Menschen  ihre Grundbedürfnisse stillen können – nicht nur die materiellen,  sondern  insbesondere die psychischen und die sozialen-,  damit nicht schwerwiegende Mangelerfahrungen entstehen,  die sie durch Unersättlichkeit zu kompensieren suchen.

Was der junge Marx in den”Philosophisch-ökonomischen Manuskripten”  von 1844 und später im  “Kapital”  unter Entfremdung versteht,  ist bekannt.  Ich will nicht dabei verweilen,  sondern zu einer kurzen Bestandesaufnahme der entfremdenden,  seelisch krankmachenden Entwicklungen in der heutigen post-industriellen Gesellschaft übergehen,  in welcher  die von Marx thematisierte  Sinnentleerung noch weiter fortgeschritten ist.

Welche Entfremdungserscheinungen  stellen wir heute fest? Entfremdung des Menschen  von sich  selbst, vom eigenen Bild, von den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten infolge gesellschaftlich  normierter und durch überall gegenwärtige Werbung  weit verbreiteter Erfolgs- und Glücks- und Schönheitsbilder,  aber auch infolge einer in  allen gesellschaftlichen Zusammenhängen tatsächlich  oder latent spürbaren  Gewalt,  Entfremdung daher von der eigenen Emotionalität,  von der eigenen Körperlichkeit und von der eigenen  Sexualität,  von den eigenen Schwächen und Kräften; Entfremdung von der eigenen Geschichte,  von den eigenen Lebensetappen mit ihren Hoffnungen und ihrem Versagen,  auch mit dem Bestehen von Schwierigkeiten und Prüfungen durch eine von Angeboten  überbordenden “Kultur”  der Zerstreuung und des Vergessens;  Entfremdung auch vom eigenen Zeitrhythmus durch das externe Zeitdiktat einer vorweg  gesteigerten Beschleunigung aller Arbeitsleistungen und Tätigkeiten,  mit ständiger  Gehetzheit und Gestresstheit der Menschen  als Folge;  Entfremdung vom Wissen um Raumverhältnisse resp. um Distanz und um Nähe durch die extreme Beschleunigung der Transporte,  vor allem aber der Kommunikation ( diese erfolgt schon mit Lichtgeschwindigkeit),  so dass Ereignisse und Erkenntnisse veralten und “wertlos”  werden, bevor sie  erzählt  oder  sonst irgendwie vermittelt werden  können, Entfremdung daher vom Wert des gelebten Lebens  und der eigenen existentiellen  und kognitiven Erfahrung; Entfremdung vom Wissen um die Unterscheidung von Grundbedürfnissen und Sekundär- und Tertiärbedürfnissen,  da das eminente Bedürfnis nach Geld alle anderen Bedürfnisse überdeckt, ein Entfremdungsgrund,  den schon Marx aufgedeckt hat, der heute mit der Käuflichkeit  aller Güter in einer von Werbung  und Angeboten beherrschten Welt durch die Unterschiedslosigkeit,  mit welcher  der Wert und die Notwendigkeit all dieser Güter angepriesen  wird,  exponentiell angewachsen  ist; Entfremdung insbesondere hinsichtlich des Bedürfnisses nach Sicherheit und Unverletztheit der eigenen personalen Integrität und jener  der Menschen,  die man liebt und für die man sich verantwortlich fühlt,  vor allem jener  der Kinder, durch das Gefühl  einer aktuellen  oder einer untergründigen ständigen vitalen Bedrohung; Entfremdung von der Sprache,  resp.vom  Sinn und von der Bedeutung der Wörter  durch deren Denaturierung durch Werbung  und Propaganda; Entfremdung von den anderen Menschen  und von sinnschaffenden Beziehungen,  da Beziehungen  immer weniger als gemeinsames verpflichtendes  Projekt,  sondern  als Teil der konjunkturbedingten,  austauschbaren Güterwelt verstanden werden  und da sie in unendlich vielen Fällen von der allgegenwärtigen Gewalt infiziert sind;  Entfremdung von der Natur durch die überhandnehmende Künstlichkeit  der Welt, in welcher  perfektionierte Machbarkeit,  “virtual reality” die eigentliche Natur  verdrängt, die ohnehin durch rücksichtslose Ausbeutung  und Verschmutzung allmählich völlig verarmt und erstickt; Entfremdung vom Produkt der Arbeit – der zentrale Kritikansatz von Marx – durch  die Folgen  der extremen Arbeitsteiligkeit und Rationalisierung,  damit Entfremdung von der Arbeit selbst, da diese allein nach Profitmaximierungskriterien erfolgenden Standortkriterien angeboten oder entzogen  wird, nach Kriterien der zu steigernden  share- holder-values und nicht nach den Bedürfnissen der arbeitenden  Menschen,  mit dem Resultat, dass Menschen  von einem Tag auf den anderen für überflüssig  erklärt werden; Entfremdung von der Gesellschaft,  da diese sich nicht mehr nach solidarischen,  sondern  ausschliesslich nach ökonomischen Kriterien,  nach Rentabilitätskriterien definiert, so dass die Gesellschaft selbst zum “Unternehmen”  wird,  wo die Rede von “zu vielen”  Menschen,  von Übervölkerung,  von Oberalterung,  von  Überfremdung,  von  ”Massen” arbeitslosigkeit,  von  “Überlastung” des Sozialstaates zwar  scheinbar bedenkenlos in aller Mund ist,  potentiell  aber jeden  einzelnen Menschen  existentiell bedroht,  da jeder  und jede  einmal Kind ist und eventuell alt,  krank oder invalid werden  kann,  und in jedem  Ausland Ausländer  oder Ausländerin ist,  heute aber Kranke und Invalide,  alte Menschen,  Kinder und nicht-zahlungskräftige Ausländer und Ausländerinnen,  insbesondere Flüchtlinge  “zu teuer”  sind resp. nicht rentieren und daher, gemäss der Logik  der kapitalistischen,  neo-liberalen Ökonomie,  eigentlich wegrationalisiert werden  müssten   – kurz, Entfremdung  in allen Bereichen der individuellen Existenz und der Gesellschaft,  damit überhandnehmende Sinnentleerung,  das Gefühl des Ungenügens  in allen Bereichen, der fragmentierten,  für wertlos,  für austauschbar und für überflüssig  erklärten Existenz,  der umfassenden Fremddefinition durch häufig benennbare,  häufig aber durch nicht mehr benennbare  Mächte,  das Gefühl  des Ausgeliefertseins,  der Isolation,  der Bedrohung.

 

Hauptursache der Entfremdung:  Instrumentalisierung der Menschen

 

Nicht alle Menschen  sind sich des Ausmasses  an Entfremdung gleich bewusst,  viele leiden scheinbar nicht unter  der Tatsache,  dass Gewalt und Geld, Hektik und Stress,  Propaganda und Werbung alles bestimmen.  Viele verdrängen und/oder kompensieren die eigene Instrumentalisierung erfolgreich.  “Instrumentalisierung”  bedeutet,  dass Menschen zu einem ihnen  selbst  fremden Zweck gebraucht, behandelt,  ev.  missbraucht werden,  sowohl Menschen, über  welche  in demütigenden Untergebenen- und Abhängigkeitsverhältnissen verfügt wird  (so in besonderem Mass  Kinder,  gerade auch  in wohlhabenden Verhältnissen,  deren  Existenz häufig in  erster  Linie  der Prestigesteigerung der Eltern dient),  aber auch Menschen,  die scheinbar Macht besitzen,  die aber  auf Grund  ihrer Fähigkeiten innerhalb  eines  Systems zu einem ihnen fremden Zweck eingesetzt,  resp.  instrumentalisiert werden.  Kant  hat in  seiner “Kritik  der praktischen Vernunft” das Instrumentalisierungsverbot  als  ‘praktischen Imperativ” erklärt  und  diesem  (neben  dem kategorischen Imperativ) die Bedeutung einer wichtigsten ethischen Maxime verliehen.  Heute jedoch ist  die Nichtbeachtung und  Verletzung dieser ethischen Maxime die Regel.  Allein die Befolgung des Instrumentalisierungsverbots würde dagegen bedeuten,  dass  die Würde der Menschen intakt bliebe.  Dazu  aber bedürfte es einer anderen,  einer  solidarischen,  nicht  nach  Profitmaximierungskriterien  strukturierten Gesellschaft,  in welcher der gleiche  Wert jedes Menschen auf Grund  der gleichen  Menschheit in jedem Menschen respektiert würde.  Sachen dürfen instrumentalisiert werden.  Indem Menschen instrumentalisiert werden,  werden sie daher  den Sachen gleichgemacht,  werden verdinglicht,  für austauschbar und, je nachdem, für wertlos erklärt.  Entfremdung und Instrumentalisierung haben  die gleichen  Folgen,  resp.  die Instrumentalisierung der Menschen ist  die schwerwiegendste Entfremdungsursache.

Wenn  ich  eben  sagte,  dass viele Menschen diese Tatsachen erfolgreich verdrängen und/oder kompensieren,  heisst das nicht,  dass  sie unentfremdet leben.  Instrumentalisierung geschieht partout.  Es gibt kein unentfremdetes Leben  und  keine uninstrumentalierten Menschen.  Marx entwickelte  seine   Theorie als  Theorie  der Befreiung von Entfremdung.  Er glaubte an die Realisierung dieser  Theorie in einem  echten  Sozialismus,  der den Menschen erlauben würde, alle ihre Grundbedürfnisse selbsttätig und  in paritätischer Gegenseitigkeit zu befriedigen. Dieser  Sozialismus wurde nie Wirklichkeit,  wird  es wohl  kaum je werden.  Nach  Marx  wäre Aufhebung der Entfremdung Glück.  Doch   Glück ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten”, schrieb  Freud in  seinem  Essay  “Das Unbehagen in der Kultur”  von  1929/30,  und er fuhr fort, dass  was man im strengsten Sinn Glück heisst, der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse entspricht und seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich ist.  Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet,  dass wir nur den Kontrast intensiv geniessen können,  den Zustand nur sehr wenig”.  Dagegen seien die Möglichkeiten,  Unglück zu erfahren, vielseitig.  Das Leiden  drohe sowohl  vom  eigenen  Körper her,  sodann  von  den unerbittlichen und zerstörenden Kräften  der Aussenwelt her,  sodann  aus den Beziehungen mit anderen Menschen.  In welchem Mass Menschen  anderen Menschen  schwerstes Leid zufügen  können, tiefste Demütigungen und unerträgliche  Schmerzen, Zerstörung der körperlichen und seelischen Integrität durch Torturen jeder  Art, wissen wir von Überlebenden der polnischen Ghettos  und der nationalsozialistischen Vernichtungslager,  der Vernichtungskriege in Vietnam, in Kambodscha,  in afrikanischen Ländern,  der Folterkeller in den türkischen  und anderen Polizeistationen und Gefängnissen überall in der Welt,  der Gefangenenlager im noch kaum zu Ende gegangenen Krieg im ehemaligen Jugosalwien,  wissen wir auch von den Überlebenden schwerer,  häufig fortgesetzter sexueller und anderer  Gewalttaten und den dadurch entstandenen Traumatisierungen in unserer Gesellschaft.  Freud folgerte,  dass  es  kein  Wunder sei,  wenn unter dem Druck dieser Leidensmöglichkciten die Menschen ihren Glückanspruch zu ermässigen pflegen,  wie ja auch das Lustprinzip selbst sich unter dem Einfluss der Aussenwelt zum bescheidenen Realitätsprinzip umbildet,  wenn man sich bereits glücklich preist,  dem  Unglück entgangen zu sein,  das Leiden überstanden zu haben,  wenn ganz allgemein die Aufgabe der Leidvermeidung die der Lustgewinnung  in den Hintergrund drängt.”

 

Leidvermeidung als oberstes  Ziel?

 

Ist also  ‘Leidvermeidung  das oberste  Ziel? Nichts Neues,  liesse sich einwenden,  die Stoiker, insbesondere die Epikuräer waren  schon dieser Meinung, und gewissermassen war dies die massgebliche  Linie des Utilitarismus  seit Hume und Bentham.  Freud jedoch untersucht die verschiedenen Möglichkeiten der Leidvermeidung aus seiner medizinischen und analytischen Praxis.  Als eine der ersten bezeichnet er die Intoxikation”,  und zwar als die  roheste,  aber auch wirksamte Methode”,  mit der durch Zuführung  von körperfremden  Stoffen bewirkt werde,  dass Lustempfindungen geschaffen würden,  oder dass die Menschen  zur Aufnahme von Unlustregungen untauglich  würden.  Betrachten wir unsere Gesellschaft,  so steht diese “roheste”  Methode  tatsächlich  an erster  Stelle,  von Alkohl und Nikotin  über alle möglichen legalen und illegalen Drogen,  auch die heute modischen  sog.  Designer-Drogen,  etwa Prozac und Ecstasy,  zu den in den Apotheken käuflichen Psychopharmaka,  den von Hausärzten/- ärztinnen verschriebenen Amphetaminen,  Antidepressiva, Schlafmitteln und anderen Mitteln bis zu den vor allem in der Psychiatrie eingesetzen  Neuroleptica usw.  Die Frage stellt sich,  ob die Methode der Intoxikation für die Leidverminderung tatsächlich  wirksam  sei. Die Erfahrung aller,  die sich über Intoxikation Glück oder wenigstens Leidvermeidung verschaffen wollen, ist, dass dies nach relativ  kurzer  Zeit nicht einmal mehr als episodische Erfahrung möglich ist,  dass sich im Gegenteil  das Leiden ins Unerträgliche steigert.

Intoxikation ist eine kompensatorische  Methode  des scheinbaren  Glücksgewinns,  die nicht allein über die Einnahme “körperfremder”  Stoffe zu realisieren angestrebt wird, sondern  auf unterschiedlichste Weise,  bei den “Workaholics”  etwa durch   suchthaft  selbstzugefügte Arbeitsüberlastung,  bei anderen Menschen  durch Raserei  auf den Strassen,  oder durch übertriebenes Training im  Sport,  durch suchthaftes  Hungern  oder suchthaftes   Essen,   durch ständige Zerstreuung usw.

 

Und die Rolle der Psychotherapie?

 

Die Frage  stellt sich,  ob es nicht wirksame,  weniger rohe, nicht-kompensatorische Methoden gibt.  (Übrigens rechnen Marx und Freud  auch die Religionen  zu den Kompensationen; Marx bezeichnet sie als  “Opium”,  Freud als Wahn. Ausgenommen davon ist,  meine ich, jene nicht instutionalisierte Religiosität, die ich mit dem Begriff der “Hoffnung”  anvisiert habe,  als ein – vielleicht absurder – Rekurs auf eine nicht benennbare Transzendenz).  Gibt es Methoden der Rückgewinnung einer sinnhaften Existenz,  ohne dass diese kompensatorisch seien und ohne dass sie in Bezug auf die entfremdete Gesellschaft systemerhaltend wären? Wo steht zum Beispiel die Psychotherapie  als Suchttherapie? Fällt sie eventuell auch in die Religionsfalle? Tröstet sie eventuell auch über die unerträgliche Existenz mit Heilsversprechungen hinweg? Ist sie auch Teil eines grossen Kompensationsangebots?  Oder kann sie, im Gegenteil, den entfremdeten,  instrumentalisierten,  leidenden Menschen helfen,  die ihnen gerechten,  nicht- kompensatorischen Methoden  der Leidverminderung oder gar des Glücks selber zu finden? – Methoden,  die das Leiden der  Seele wirklich heilen? Ist das überhaupt möglich? Stehen Therapeuten und und Therapeutinnen nicht unter dem gleichen Erfolgsdruck,  der heute auf allen Tätigkeiten lastet?  Welches sind Zweck und Ziel ihrer Tätigkeit? Therapieren  sie die Leidenden,  damit diese nachher  in der entfremdeten Gesellschaft sich wieder besser  einpassen können und wieder störungsfrei funktionieren?  Stehen auch die Therapeuten und Therapeutinnen unter  einem Normdiktat?  Arbeiten  sie mit an der Herstellung  einer gesellschaftlich definierten  “Normalität”  der Menschen?  Werden  sie mithin  selber durch das System instrumentalisiert? Was verstehen  Psyhotherapeuten und -therapeutinnen unter “normalen”  oder  “gesunden”  Menschen?  (Wir wissen,  wie gefährlich diese Kategorie  für ungezählte  Menschen unter  der nationalsozialistischen Herrschaft  wurde).  Können  sie dazu beitragen,  dass der einzelne Mensch zu seiner/ihrer eigenen Norm findet, zur Selbstdefinition seiner/ihrer Bedürfnisse,  zu einem gelingenden Leben mit den eigenen  Schwächen, Möglichkeiten und Talenten?

Suchttherapien kosten Geld, schaffen daher Arbeits-  und Erwerbsmöglichkeiten. Suchttherapien  sind in der heutigen Zeit mit den Folgelasten des in Leiden verkehrten Fortschritts zur – mehr oder weniger – lukrativen Erwerbsmöglichkeit und damit zu einem Teil des Systems geworden.  Sie bedürfen geradezu  der Leidenden,  d.h. jener Leidenden,  die eine Therapie auch bezahlen  oder die über Programme der öffentlichen Hand daran teilhaben können.  Was geschieht mit den anderen? Werden  sie vor allem in die psychiatrischen Ambulatorien  und Kliniken verwiesen,  da dort die Behandlung  auf jeden Fall durch die Krankenkassen bezahlt wird? Und was geschieht  mit den Suchttherapieprogrammen bei  einer Verknappung der öffentlichen Mittel oder bei einer Liberalisierung der Drogen? Wird angenommen,  dass die verschiedenen  Süchte dann erträglicher sind?   resp. wurden  die Therapien  nur infolge günstiger  konjunktureller Voraussetzungen als notwendig erachtet  oder nur als die bessere  Option im Vergleich zur Repression,  eine Option,  die scheinbar wegfallen kann, wenn es keine Repression mehr gibt?

Oder aber wird eine weitere  Option  ins Auge gefasst? Könnte  diese beinhalten,  dass Menschen zum Widerstand gegen  die scheinbar unausweichlichen Zwänge  der Gesellschaft befähigt werden?  Vielleicht gar zur  Subversion? Dass die unter bestimmten  Strukturen und Situationen Leidenden  befähigt würden,  aus diesen Strukturen  auszusteigen,  diese Situationen aktiv zu verändern?  Könnte  Psychotherapie als  Suchttherapie tatsächlich  ein Gegenmodell zur entfremdenden Gesellschaft  sein und das bewirken,  was im idealen Fall  der vertrauensvolle Austausch  unter Freunden oder Freundinnen bewirkt,  nämlich Hilfe und Unterstützung zu einem gelingenden  Leben?  Könnte  Therapie zu einem anderen Wort für Kultur werden,  im Sinne Freuds?

 

Statt Therapien  Partizipation – wie und wo?

 

Marx hatte die Folgen  des Fortschritts,  die allen Menschen  im  Sinn einer Entlastung von schwerer  Arbeit zugute  kämen,  als Befreiung begrüsst.  Und Kant, gute fünfzig Jahre früher, hatte die Aufklärung als Programm des Mündigwerdens der Menschen  definiert, resp. der Befreiung aus Zwängen und Fremdefinitionen,  einer Befreiung zum Selberdenken und zum eigenen Urteilen  und Handeln.  Auch Freud erwog  als anderen,  besseren Weg als jenen  der Intoxikation oder anderer Methoden der Leidverminderung, dass der Mensch  als Mitglied der menschlichen  Gemeinschaft mit allen am Glück aller arbeite”, mithin zum Zustandekommen einer solidarischen Gesellschaft,  zu einer solidarischen Kultur beitrage  und dadurch  selber von dieser getragen  werde.

Waren Kant, Marx und Freud  einfach naive Träumer?  Die Frage  stellt sich,  ob der Preis des Fortschritts tatsächlich Leiden sein muss.  Wie können jedoch  Menschen  so fragen,  deren ganze Existenz  seit der frühesten Sozialisation von Gewalt und von der Nicht-Erfüllung der Grundbedürfnisse geprägt ist?  An Fortschritt glauben heisst nicht glauben,  dass’ ein Fortschritt schon geschehen  ist.  Das ist kein Glaube,  schreibt Kafka,  und die dichterische Antönung  auf Religiosität (nicht Religion)  öffnet wiederum ein Fenster  auf die Meta-Zeit. Aber,  was die Jetztzeit betrifft,  lässt  sich ein Lernprozess für die ganze Gesellschaft postulieren?  – denn es ist offensichtlich,  dass die einsichtslose Weiterentwicklung der Negativfolgen des Fortschritts  sowie einer weiteren  einseitigen   Steigerung von Gewinnmaximierung die  Gesellschaft zerstört.  Kann das Mündigkeitstraining der Menschen als wichtigstes Ziel angestrebt werden,  ein Training des beziehungsfähigen Lebens,  nach Kriterien  der je subjektiven Möglichkeiten und Bedürfnisse der Menschen  und nicht der gesellschaftlichen Normierung,  mithin auch ein Training des selbständigen Verzichts auf kompensatorische Glücksangebote?

Die Bedingungen der Entfremdung,  unter  denen Menschen  in der heutigen  Gesellschaft  leben, führen tatsächllich  zu unerträglichen psychischen und sozialen Mangelerfahrungen und zu einem daraus wachsenden Leidensdruck,  welcher  der Entlastung  bedarf  Entlastung aber durch Intoxikation oder durch  andere Methoden der kompensatorischen Leidverminderung oder eventuell  des Lust-  und Glückgewinns führen in jene Zirkel  der Unersättlichkeit,  die wir als Sucht bezeichnen  und die gerade  das Gegenteil   des angestrebten Zwecks  bewirken,  nämlich keine –  auch nur annähernde  – Befreiung aus den Bedingungen  und Folgen  der Entfremdung, sondern zusätzliche Verstrickung in deren Folgen und dadurch Verstärkung der Unfreiheit und des Leidens.

 

 Bedürfniserfüllung aus der Veränderung der Ursachen?

 

Was bleibt also zu tun? Die Antwort,  scheint mir,  ergibt sich aus dem im  Suchtverhalten angestrebten Zweck.  Dieser  kann nur durch die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen,  durch Veränderung der Gesellschaft  selbst erreicht werden. Eine Erfüllung  nicht nur der matriellen,  sondern  auch der pychischen und sozialen Grundbedürfnisse kann nicht durch Therapien,  sondern  nur durch Rückbesinnung auf die Grundbedingungen sinnhafter Existenz in der Pluralität  der Menschen  geschehen:  durch eine andere Kultur.  Dazu gehört  ein Bildungswesen,  das mit  Sorgfalt der Diversität  und Differenz der Kinder und Jugendlichen gerecht  wird und das nicht auf Grund normierter Leistungskriterien verhängnisvolle Wettbewerbsmodelle mit der Dichotomisierung von Starken und Schwachen,  Gefälligen und Schwierigen,  Reichen und Armen etc.  vorwegnimmt,  das nicht Differenz mit Ausschluss bestraft,  sondern  das dem vielfältigen Hunger  nach Realitätserfahrung und nach Gruppenzugehörigkeit gerecht  wird.  Dazu gehört  eine Rückbesinnung auf den Wert der menschlichen  Beziehungen.  Es ist tatsächlich  verhängnisvoll,  dass Beziehungen heute Warencharakter haben,  dass Menschen  nach einigem Verbrauch ersetzt  werden  wie  Strümpfe. Beziehungen eingehen,  pflegen und erhalten,  sowohl mit den Liebes- oder Lebenspartnern und -partnerinnen,  mit Kindern und jungen  Menschen,  mit Fremden  und nahen, mit alten Menschen,  im Freundes-/Freundinnen- und Bekanntenkreis,  nachbarschaftliche Beziehungen unterhalten,  sich mitverantwortlich fühlen für die Qualität des Zusammenlebens im Quartier,  im Dorf, in der  Stadt,  all dies kann Entfremdung vermindern,  bedarf jedoch  der Zeit, resp. einer grösseren Langsamkeit   im Alltagstempo sowie im Ablauf der geforderten Arbeitsleistungen. Diese grössere Langsamkeit kann erreicht werden,  wenn die Vollarbeitszeit auf die Hälfte der heutigen Arbeitszeit reduziert wird,  eine längst fällige Reduktion,  datiert  der Achtstundentag als soziale Errungenschaft doch aus den dreissiger Jahren.  Die Halbierung der Vollarbeitszeit hätte nicht nur den Vorteil,  die den Menschen  und den Beziehungen zwischen den Menschen dringend benötigte Musse  zu schaffen,  sondern auch die Probleme  der Arbeits- und Erwerbslosigkeit, damit der Marginalisierung,  der “Entwertung”  und Entmündigung durch Fürsorgeabhängigkeit von Hundertausenden von Menschen  zu  lösen.  Bei der Verteilung  und Reinvestition des gesellschaftlichen Mehrwerts müssten in massgeblicher Weise die jungen Menschen  und die Frauen  mitbestimmen können.  Das heisst,  dass die politische Mitbestimmung demokratisch auf andere Weise als nach dem herkömmlich  strukturierten patriarchalen Parteienverhältnis geschehen  müsste,  dass demokratische Entscheidungsmacht, deren Veränderung und Korrektur nicht nach Massgabe  der geldstärksten Propagandafabrikation,  hinter der die Partikulärinteressen weniger stehen, zustandekommen dürfte,  sondern  gemäss  dem Zusammenschluss der vielen,  deren Vorstellung von Lebensqualität die gleiche Lebensqualität für die Schwächsten in der Gesellschaft miteinschliesst,  der Kinder,  der alten Menschen,  der Fremden,  insbesondere der Flüchtlinge, der Invaliden und Kranken  oder ganz einfach jener,  die nicht fähig sind, sich für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu wehren.

Vielleicht könnte  so jene  “Technik der Lebenskunst”  einzeln und gemeinsam  geübt werden,  auf die Freud  in seinem oben zitierten  Essay hinweist,  nachdem  er alle Methoden der Leidverminderung als ungenügend nachgewiesen  hat? Keine Utopie,  meine ich,  sondern ein Projekt,  welches  eine Schritt für Schritt zu realisierende Linderung  der Entfremdung zum Ziel hat, so dass diese ertragbar würde,  nicht auf kompensatorische Weise,  sondern im Zugeständnis der nicht aufhebbaren Unvollkommenheit aller Formen  und Gestalten des Zusammenlebens, jedoch  im Wissen um die notwendige  Sorgfalt im Vermeiden jeder  Art von Instrumentalisierung von Menschen.

 

Und die zunehmende  Armut?

 

Dass Armut keine unvermeidbare gesellschaftliche  Notwendigkeit ist,  wirkt nach wie vor als Provokation.  Nach wie vor ist es eine Provokation zu sagen,  dass sie von der Welt,  von jedem Land und von jeder  Gesellschaf geschaffen wurde und geschaffen wird.  ökonomisch gesprochen ist sie das Resultat  eines bestimmten  Verteilungs-  und Investitionsschlüssels  des gesellschaftlichen Mehrwerts,  der letztlich mit der – noch immer aus dem griechischen  “oikos”- System tradierten – Annahme  zu tun hat, dass ungleiche Rechte  eben “naturgegeben”  seien. Moralisch gesprochen ist sie die Schuld jenes  Teils der Welt, der im Überfluss  lebt,  der diesen Überfluss  vergeudet und verschwendet,  ob für private oder für militärische und andere nicht- gemeinwohlfördernde öffentliche Zwecke,  die Schuld jenes Teils der Welt, der eifersüchtig und schlau sein Eigentum  verteidigt  und die Augen verschliesst  vor jenem  anderen Teil der Welt, vor jenen Menschen,  die im Dunkeln leben”,  wie Bertold  Brecht schrieb,  welche die Chancen der Freiheit nur in der Theorie haben, tatsächlich  aber weder  die Möglichkeit zu lernen und sich Wissen anzueigenen  noch so zu arbeiten,  dass sie sich und die Ihren ohne Not ernähren können,  die keinen Ort haben, wo sie sich wirklich erholen können,  keinen Ort, wo es schön ist,  die auch keine Aussicht auf echte Erleichterung und nachhaltige Veränderung ihrer Situation  oder jener  ihrer Kinder haben.  Ich meine mithin nicht jene Armut,  die als Erfahrung eines geringeren Einkommens und einer Verknappung der Mittel über kürzere  oder längere Zeit, aber als befristete Erfahrung viele Menschen  kennen,  sondern jene andere,  die in Frankreich als  “grande pauvrete”, als  “grosse Armut” bezeichnet  wird und die von den Menschen  selbst wie eine ungerechte lebenslängliche Verurteilung empfunden  wird.

Ich hoffe,  dass in den Fragen der Armut  eine Bewusstseinsveränderung – eine nachhaltige Veränderung – tatsächlich erfolgt, dass eine breite Bewegung  entsteht,  welche das unzumutbare Unglück,  die Unerträglichkeit der Armut aufdeckt und zu deren Bekämpfung aufruft – eine Bewegung,  wie in den siebziger Jahren Black Power  in den USA zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung,  oder wie Greenpeace zur Bekämpfung  der Zerstörung der Weltressourcen.  Armut bedeutet  die Zerstörung der Handlungs-  und Freiheitssressourcen einer ganzen Menschheit.  Ich rechne daher mit einer wachsenden Beunruhigung bei immer mehr Menschen,  dass Armut weltweit der am meisten verdrängte und zugleich der grösste und ständig sich noch vergrössernde  Menschenrechtsskandal ist,  eine Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität von insgesamt Milliarden von Menschen.  Und ich rechne mit einer Aktivierung  des gemeinsamen  Kampfs der Armen sowie der Nicht-Armen und Weniger-Armen für eine Beseitigung der Ursachen  und der Folgen  der Armut.

Ich spreche  nicht von Hoffnungen,  auch nicht von Träumen,  sondern von Zielsetzungen.  Diese Zielsetzungen will ich nun begründen.

 

Armutserfahrungen – Begründung des Kampfs

 

Als ich siebzehn Jahre alt war,  damals in der sechsten Klasse des Gymnasiums,  meldete  ich mich während  der Sommerferien für einen Pro Juventute-Einsatz.  Ich wurde  in den Solothurner Jura in ein kleines Dorf geschickt,  in eine Familie mit neun Kindern und einem blinden,  pflegebedürftigen Grossvater,  deren Armut ich während  fünf Wochen teilte, wobei ich versuchte,  die übermüdete,  überanstrengte Hausfrau zu entlasten.  Ich bewunderte sie:  Sie klagte nie, sie hatte ihre Kinder und ihren Mann gern,  sie versuchte,  trotz  der Enge und Morschheit des Häuschens,  wo sie lebten,  trotz der entsetzlichen Geldknappheit,  trotz der Winterhilfe-Kleider,  die kaputt  waren,  bevor die Kinder sie trugen,  trotz  des kargen und monotonen Essens,  trotz alledem einen Grundton  des “guten Lebens” zu vermitteln.

Als ich erwachsen  war,  lernte ich die Armut in  den Aussenbezirken und in den Schächten der Untergrundbahnen der grossen  Städte kennen, in Barcelona zum Beispiel die Armut  der arbeitslosen  Landarbeiter,  die mit ihren Familien  aus Andalusien zugezogen  waren,  als Illegale am Rand  der Stadt lebten und keine Chance hatten,  irgend  eine Arbeit zu finden, da sie weder lesen noch schreiben  konnten.  Oder in den nördlichen  Banlieues von Paris die Armut der illegalen Immigranten und Immigrantinnen aus Ländern  des Maghreb  und des Ostens Europas. Aber auch in der Schweiz konnte ich ihr nicht ausweichen.  Ende der achtziger Jahre begann das  Schweizerische Arbeiterlnnenhilfswerk (SAH),  Lese- und Schreibkurse für Erwachsenen zu organisieren Überall wurden  sie angeboten,  in  den Städte und auf dem Land. In kurzer Zeit waren alle Kurse  ausgebucht,  die Nachfrage war enorm.   Ich war damals als Journalistin verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit beim SAH und machte zahlreiche Interviews  mit Frauen  und Männern,  die sich für diese Kurse angemeldet hatten,  funktionale Analphabetinnen und Analphabeten,  die von Kindheit an nur auf der Schattenseite der Gesellschaft  gestanden hatten, Frauen und Männer  meiner Generation,  aus einem hoch entwickelten Land, deren Biographien  nicht anders lauteten als jene, die wir aus Fürsorgechroniken aus dem letzten Jahrhundert kennen,  auch kaum anders als jene von Taglöhnerinnen und Taglöhnern aus Brasilien oder aus einem der vielen anderen Armutsländer der Welt.

Was erfuhr ich aus diesen Lebensgeschichten? Da waren zumeist  schon sehr beengte  bis trostlose  elterliche Verhältnisse gewesen,  Überarbeitung von Vater  oder Mutter  oder Arbeitslosigkeit,  Krankheit,  manchmal  Alkoholismus,  Hilfsarbeit schon im Kindesalter von den frühen Morgenstunden  bis in die Nacht  hinein,  Botengänge,  Mitarbeit im  Stall  oder auf dem Hof, frühe Verantwortung für Geschwister oder fremde Kinder,  eine enge Küche,  in der die Schularbeiten beim besten Willen nicht gut gemacht  werden  konnten,  Unpünktlichkeit und Unregelmässigkeit des Schulbesuchs,  Rückstände,  Rügen und Schläge durch den Lehrer, Gespött der übrigen Kinder,  Kleider von der Winterhilfe,  die zu gross oder zu klein waren, nie neue gute  Schuhe,  eine ständige Erfahrung der Minderwertigkeit,  Abkapselung,  Scham, hilflose Wut,  häufig Fremdplazierungen,  selten zum Guten des Kindes,  manchmal  schlimmste Ausnützung,  selbst sexuelle Ausnützung.  Eine Frau, zum Beispiel, lernte ich kennen,  die  als Verdingkind  mit zwölf – dreizehn Jahren  täglich während  des Kirchenbesuchs der Bäuerin durch den Bauern  missbraucht wurde,  und da war keine Möglichkeit,  über Gewalt und Not zu reden,  da der Bauer es eingerichtet hatte,  dass sein eigener Bruder  zum Vormund des Mädchens  ernannt  wurde,  da gab es keine Möglichkeit,  Freundschaften zu pflegen,  einen Beruf zu erlernen,  dagegen  wurde  sie, wie viele,  weitergereicht von einer Hilfsarbeit zur anderen, wurde in fremden Haushalten plaziert,  wie viele,  die als Mägde bei Bauern; als Hilfsarbeiterinnen in kleinen Fabrikationsbetrieben,  als Hilfskräfte im Gastgewerbe,  in Wäschereien für einen kleinen Lohn arbeiteten,  so wie die Männer als Handlanger auf dem Bau und als Knechte  in der Landwirtschaft,  dann kam es zumeist zur frühen Heirat  im gleichen Milieu, zu frühen und zahlreichem  Schwangerschaften,  und unversehens  ging die bedrängte Jugend über in eine Ehe,  die sich kaum von jener  der Eltern unterschied,  und das Unglück nagte an ihnen,  den eigenen Kindern,  die sie nun in die Welt stellten,  nicht ein besseres  Leben bieten zu können,  als sie es selbst erfahren hatten. Krankheiten stellten sich ein, Betreibungen und Pfändungen,  immer wieder erfolglose  Stellensuche, Fürsorgeabhängigkeit, Wut, Kraftlosigkeit,  Demütigung um Demütigung.  Kein bisschen Schönheit,  keine Freude.  Dann plötzlich,  von irgend jemandem aufgeschnappt,  bot sich diese Möglichkeit,  noch lesen und schreiben zu lernen,  und plötzlich keimte die Hoffnung auf, vielleicht doch noch aus dem immer gleichen Kreis heraustreten zu können,  vielleicht doch noch eine Chance zu haben, eine Stelle,  eine bessere  Stelle finden zu können,  sich wehren zu können,  geachtet  zu sein.

Das hat mich bei all diesen Menschen,  die in Armut  leben und deren Leben ich kennenlernte, am meisten berührt:  der Mangel  an Achtung,  der Mangel  an Anerkennung,  der Mangel an Glück,  vor allem  aber das Leiden über diesen Mangel. Für viele empfand ich grosse Bewunderung.  Sie schufen  sich eine eigene Würde,  so wie jene Familie im  Solothurner Jura, die ich als  Schülerin kennenelernt hatte.  Andere  aber waren gebrochen.  Woher  sollten sie die Kraft zu einer Veränderung nehmen? Ihre Auflehnung  mündete häufig in Wut, wodurch  sie nicht selten in  Situationen gerieten,  in denen sie straffällig wurden  – ein Ausdruck  ihrer Hilflosigkeit  und eigenen Verletztheit.

 

Die gleiche existentielle  Bedürftigkeit aller Menschen

 

Wenn ich sage, Armut  sei ein Menschenrechtsskandal,  so begründe  ich dies mit der Nichterfüllung der Grundbedürfnisse. Menschenrechte,  Grundrechte haben ihre Allgemeingültigkeit in der Tatsache  der gleichen existentiellen Bedürftigkeit aller Menschen. Diese Bedürftigkeit ist dergestalt,  dass sie nur durch die Aufmerksamkeit der anderen Menschen  und durch ihre Bereitschaft,  sie zu stillen,  das heisst durch ihr Handeln,  ertragen werden  kann, ob es sich um den physischen Hunger handle oder um den geistigen,  um das Bedürfnis nach Erhaltung  und Förderung des körperlichen Leben oder um das Bedürfnis nach Erkenntnis,  nach Bildung,  nach Liebe,  nach Respekt,  nach Partizipation  an den Entscheiden,  deren Folgen viele betreffen,  ein ganzes D01f oder eine ganze Stadt,  nach Partizipation  an der politischen und sozialen Verantwortung,  ob es sich um das Bedürfnis nach Schönheit,  nach Erholung und nach sinnhafter Arbeit handle.  Niemand kann diese Bedürfnisse allein stillen, jedes  Kind, jede Frau und jeder Mann ist dafür auf andere Menschen angewiesen.

Das Verhältnis von Bedürftigkeit und Würde,  resp. von  Grundbedürfnissen und Grundrechten spiegelt eine existentielle Grundbedingung, die normativen  Charakter  hat, resp. die ein handlungsanweisendes  Sollen beinhaltet.  Simone Weil stellt diese Grundbedingung mit dem Inselparadigma dar (in “Enracinement”).  Angenommen,  ein Mensch  lebte völlig allein im Universum,  so hätte  dieser Mensch  keine Rechte,  wohl  aber Pflichten. Er befände sich gewissermassen in einer Grundverpflichtung sich selbst und seinen primären  Bedürfnissen gegenüber.  Er wäre zwar nicht in der Lage,  diese alle zu stillen,  und trotzdem gälte die Verpflichtung,  sich darum  zu bemühen,  aus Respekt  vor seiner Person.  La notion d’obligation prime la notion de droit” ist  Simone Weils lakonische Folgerung,  die auch für die Tatsache  des Zusammenlebens vieler Menschen  gilt.  Die Grundpflichtigkeit erhält auf Grund der Vielheit der Menschen  den Charakter der Reziprozität.  Mit anderen Worten: Indem ich die Grundbedürfnisse der anderen anerkenne und zu deren Stillung beitrage,  erwerbe ich mir das Recht,  dass meine eigenen Bedürfnisse  anerkannt und gestillt werden.  Da dies für alle Menschen so gilt,  da bei allen die gegenseitige  und wechselseitige Anerkennung  derje gleichen Bedürftigkeit vorausgesetzt ist,  wird der Anspruch auf Erfüllung der Gundberfnisse zum Menschenrecht.

Von “universellen”  Menschenrechten kann nur die Rede sein, wenn tatsächlich  niemand davon ausgeschlossen ist:  wenn der Gesellschaftsvertrag,  den jede  staatliche Verfassung darstellt,  die Erfüllung  der Grundbedürfnisse garantiert.  Nun ist es jedoch  so, dass dieser Anspruch noch in keiner Verfassung garantiert ist,  sodass  die universelle Menschenrechtserklärung Rethorik bleibt.  Und der praktische Anspruch  scheint nur für Menschen  zu gelten,  die “im Licht” stehen, die über Mittel,  über Geld und Publizität verfügen,  damit  sie ihre Rechte  geltend machen können.  Der gleiche Anspruch  geht bei den Armen ins Leere.  Sie verfügen  weder über Publizität noch über andere Druckmittel.  Es ist, als  seien ihre  Stimmen tonlos,  obwohl  sie einen riesigen Chor darstellen.  Sie erfahren Verachtung  statt Achtung, abgewendete Blicke statt Aufmerksamkeit,  höchstens  Fürsorge statt Partizipation.  Selbst die Fürsorgeleistungen werden unter neoliberalen Bedingungen zunehmend  reduziert oder von “Erfolgsleistungen”  abhängig gemacht.

In Zürich und andernorts,  zum Beispiel,  wurden  und werden  durch das Fürsorgeamt seit einigen Jahren für Frauen  und Männer,  die in Armut leben,  zunehmend  Befähigungsprogramme geschaffen,  Umlern-  und Weiterlernangebote,  die aus den Engpässen  von Arbeitslosigkeit, Fürsorgeabhängigkeit und Selbstwertverlust herausführen  sollen, die Kenntnisse  und Selbstvertrauen vermitteln sollen.  Arme sollen nicht weiter Almosenempfängerinnen und Almosenempfänger sein, sondern, indem ihnen Hilfe und Anleitung zur Selbsthilfe geboten wird, sollen sie sich selbst die  Möglichkeit  schaffen,  die einseitige Abhängigkeit  zu verändern. Doch  es braucht  dazu nicht nur diese Programme,  es braucht bei den Armen Mut, vor allem aber braucht es Ermutigung durch die Gesellschaft.  Diese aber fehlt zumeist.  So ist es häufig der Mut der Verzweiflung, der hinter dem Entschluss  steht, sich für Kurse und Weiterbildungsprogramme zu melden,  da die heutige Arbeitsmarktsituation Menschen,  die keine Erfolgszeugnisse vorzeigen können,  deren Curriculum nicht Effizienz verspricht,  sondern von Misserfolgen gezeichnet ist,  schon kaum mehr eine Einstiegschance gewährt.  Ist es da verwunderlich,  dass viele,  die sich ein Herz genommen  haben,  ihre  Situation zu verändern, nach kurzer Zeit resignieren?  Ich kenne zum Beispiel  eine knapp vierzigjährige Frau, die in armen ländlichen Verhältnissen  aufgewachsen war,  als  Sechzehnjähre in einem Gasthaus  zu arbeiten begann,  schwanger wurde  und eine Tochter  zur Welt brachte.  Diese wurde  schon bald nach der Geburt  in einem Kinderheim  untergebracht,  wo sie aufwuchs,  während  die Mutter zunehmend  alkoholabhängig wurde,  häufig die Stelle wechselte  und immer weniger belastbar war.  Vor drei Jahen hat sie sich entschlossen,  einen Maschinenschreibkurs zu absolvieren,  “vor allem wegen  der Tochter”,  sagte sie mir,  die nun achtzehn  Jahre alt wird.  Doch  der Kurs verhalf ihr nicht zur erhofften  Lebensveränderung,  da heute auch für einfache Büroarbeiten nicht Maschinenschreiben,  sondern  Computerkenntnisse erfordert sind.  Sie fand schliesslich eine Wohnmöglichkeit und eine Arbeit in einem Heim für Männer,  die zwischen die Maschen der Gesellschaft  gefallen sind. Sie hat dort einen “Unterschlupf’  gefunden,  wie  sie mir sagte, aber ihren Entschluss,  in diesem Heim zu arbeiten,  hat sie aus Resignation  getroffen.  Sie hat den Weg  “in der Welt”,  in der Stadt,  nicht geschafft.

 

Ein Menschheitsskandal

 

Armut – ein Menschheitsskandal.  Es sind weltweit Millionen von Menschen,  es ist zumindest die Hälfte der Menschheit, die Opfer der Kälte,  der Härte und Indifferenz der anderen Hälfte sind, allein in der Schweiz,  nach offiziellen Statistiken,  an die 500’000,  die unter  dem sogenannten  “Existenzminimum”  leben,  die ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können. Die Zahlen wachsen  schnell an:  1994 waren  es gesamtschweizerisch insgesamt 245’000  Menschen, die Sozialhilfe brauchten, doppelt  so viele wie  1990.  Innerhalb von zwei Jahren, von  1994 bis heute,  hat sich die Zahl wieder  verdoppelt.  Um zu wissen,  was diese Zahlen bedeuten,  müssen wir unsere Vorstellungskraft anstrengen,  müssen wir uns 500’000mal je ein einzelnes Leben vorstellen,  ein Leben  der ständigen Erniedrigung,  des ständigen Leidens. Es ist tatsächlich der Folter vergleichbar.

Die aufwühlendste Tatsache  ist,  dass, wer arm ist, keine Freiheit wahrnehmen  kann.  Wer arm ist,  lebt allein unter  dem Gesetz  zwingender Notwendigkeiten,  zwingender  “Notdurft”,  wie Hannah  Arendt  die blosse  Subsistenzerhaltung nennt. Ein Leben ohne Freiheit ist ein Leben der Unterdrückung.  Was aber sind die Folgen  eines Lebens in Unterdrückung,  in Unfreiheit und in ständigem Leiden?  Es sind Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit,  es sind tiefe Depressionen,  das heisst ein allmähliches Absterben  der Lebenskräfte – oder es ist Auflehnung,  eventuell sogar aggressive  Auflehnung,  Auflehnung,  die in Gewalt übergeht,  wie sie immer wieder in grossen Städten,  in New  York,  in Paris,  Marseille, London  und anderswo auffiammt, wie sie jedoch immer durch die viel mächtigere  Gegengewalt des Staates,  durch Polizeigewalt,  durch Waffengewalt erstickt wird, ohne dass deren Ursachen verändert würden.  Darum aber muss es in diesem Jahr gehen:  um die Veränderung der Ursachen der Armut. Die Folgen der Armut werden sich dann von selbst verändern.  Wenn,  wenn … Solange mit  “wenn”  argumentiert wird, geschieht nichts.  Daher haben überall in der Welt die Armen begonnen,  sich zu wehren,  statt länger stumm zu dulden.  Sie haben begonnen,  für die Erfüllung ihrer Grundbedürfisse und ihrer Rechte zu kämpfen. statt auf eine Veränderung zu warten,  die doch nie erfolgt.

 

Die vierte Welt sagt der ersten den Kampf an

 

Der Impuls ist nicht neu.  Schon vor rund 160 Jahren schrieb der französische Frühsozialist Auguste Blanqui: “Sehen Sie, das ist der Krieg der Armen gegen die Reichen.  Allen Besitzenden muss daran liegen,  den Ansturm abzuwehren.  Dies ist der Krieg zwischen den Reichen  und den Armen.  Die Reichen haben  es so gewollt,  denn sie sind die Angreifer. Schlechtfinden sie nur,  dass sich die Armen zur  Wehr setzen. ” Der Aufstand,  den ich meine, ist allerdings kein Krieg,  auch keine Revolution  mit Gewaltcharakter,  es ist eine Bewegung mit demokratischem Charakter,  eine starke Bewegung des Widerstandes  gegen Unrecht:  eine Menschenrechtsbewegung.  Aus dieser Bewegung heraus haben sich Organisationen gebildet, von denen ich zwei kurz vorstellen will:  “ATD Vierte Welt” und “Kairos Europa”.

Vor gut dreissig Jahren,  1965,  wurde  der schweizerische Verein ATD Vierte Welt gegründet, im Anschluss  an die Vereinigung der Obdachlosen  in einer Banlieue von Paris,  in Noisy-le- Grand,  die 1956  erfolgt war.  Den Anstoss  zur Gründung  hatte ein katholischer  Geistlicher gegeben,  der selbst in grosser  Armut in Frankreich aufgewachsen war, Josephe  Wresinski (1917 -1988),  Sohn eines polnischen Immigranten mit deutschem  Pass, aus dem ehemals deutschen Poznan,  der im damaligen Frankreich als  “Deutscher”  suspekt war und daher,  trotz eines Diploms  als Maschineningenieur,   keine Arbeit finden konnte,  sowie einer spanischen Lehrerin,  die in Frankreich  nur als Putzfrau Arbeit fand. Josephe  Wresinski hatte  erstmals “grosse Armut”  als Menschenrechtsverletzung deklariert und zu einer weltweiten Bewegung der Armen zur Überwindung der Armut aufgerufen – zu einer Basisbewegung,  die mich mit Trauer an die frühsozialistischen Bewegungen zu Beginn des 19.  Jahrhunderts erinnert,  die doch dasselbe Ziel  anstrebten.  Haben zwei Jahrhunderte nichts vermocht?  Tatsache  ist,  dass die Ideale von  1789  – Freiheit,  Gerechtgkeit (resp.  Geichheit), Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit – nach wie vor Privilegien einzelner Bevölkerungsschichten statt  allgemeine Rechte   sind.

Die Armen aus Noisy-le-Grand hatten  ihrem Zusammenschluss erstmals den Namen  gegeben, der in der Folge in verschiedenen anderen Ländern  überall  in der Welt aufgegriffen wurde: “Aide a toute  détresse  – Quatrième monde”.   Ich stiess darauf erstmals  1985,  als ein Buch von Helene Beyeler-von Burg  erschien  “Schweizer ohne Namen.  Die Heimatlosen von heute”,  ein aufwühlendes Buch,  das aus der Arbeit von ATD heraus entstanden  war.   Mit dem Namen,  den die Armen ihrer Organisation gaben,  verbanden  und verbinden  sie ein ganzes Programm:  Sie waren gewillt,  die Hierarchie der Welten deutlich zu machen, indem sie  sich nach der Ersten, Zweiten  und Dritten Welt als Vierte Welt konstituierten,  als “unterste”  Welt, gewissermassen als eigenen Kontinent,  der zugleich Teil aller anderen Kontinente  und Welten ist.  Mit der Unterstützung von Freiwilligen (Volontairen und Volontairinnen)  aus anderen gesellschaftlichen  Schichten versuchten  sie nach und nach,  die eigenen Lebensverhältnisse zu verändern.  Doch zugleich gaben sie sich eine öffentlich hörbare Stimme. Am 17.  Oktober  1987 enthüllten sie auf dem Trocadero in Paris, auf diesem zentralen Platz,  eine Mahntafel,  die den Armutsopfern gewidmet ist und auf der die Überwindung der Armut als Menschenrechtsverletzung  gefordert wird.  Fortan wurde  der 17.  Oktober  zum Tag der Überwindung der Armut.  Ende der achtziger  Jahre versammelten sich dann Delegationen von ATD aus allen Ländern  in  Strasbourg,  beim Europarat,   berieten,  wie sie ihren Anspruch  auf Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse und ihrer Rechte  formulieren und beim Europarat vorbringen wollten.  Es ist ATD sogar gelungen, beim Sitz der UNO in Genf und New York einen Beobachterstatus zu erlangen,  bei verschiedenen UNO-Organisationen,  so beim UNICEF  oder beim UNHCR  Einfluss zu nehmen und zu erreichen,  dass das Jahr 1996 zum Jahr der Armut erklärt wurde:  zum Jahr der Verringerung, ja der Überwindung der Armut.  In der Schweiz hat ATD Vierte Welt ein Zentrum  in Treyvaux  im Kanton  Fribourg.  Vieles,  was sonst utopisch erscheint,  realisiert  sich dort:  Familienferien für Menschen, die in grosser  Armut leben, dieAusbildung  von Freiwilligen,  Weiterbildung im Rahmen einer “4.Welt-Universität”  und mehr.

Die zweite Bewegung,  die mir auffiel, nennt sich “Kairos Europa”  (“Kairos”  bedeutet bekanntlich  “Zeitpunkt”  oder  “der richtige Moment”,  gewissermassen,  wenngleich  überhaupt nicht explizit, eine Anwendung des Arendt’schen Mottos ‘ganz gegenwärtig zu sein”).  Die Bewegung wurde  1989  im Anschluss an die “Ökumenische Versammung”  in Basel gegründet, und zu den Initianten  und Initiantinnen gehörten  Frauen und Männer,  die es ernst meinten mit der Gerechtigkeit,  u.a. von der Theologischen Bewegung  für Solidarität und Befreiung, vom FriedensdorfFlüeli-Ranft,  vom Ökumenischen Friedensnetz Basel,  vom Romero-Haus in Luzern und weitere mehr.  Die schweizerische Kairos-Europa Gruppe  gehört  zu einem lockeren Netz von heute rund 500  Gruppen,  die seit dem September  1993  in Bruxelles  ein europäisches Sekretariat haben.  1992 war ein Kristallisationsjahr gewesen,  einerseits  weil  es das 500. Erinnerungsjahr an die “Entdeckung”  resp. die Kolonisierung  der sog.  Neuen  Welt war,  die in Folge dieser Geschichte zur Dritten Welt wurde.  Andererseits  nahm 1992 in Westeuropa der EG (resp. EU)-Binnenmarkt seinen Anfang.  “Kairos Europa”  machte es sich zur Aufgabe,  den Blickpunkt  der Benachteiligten dieser Markt-  und Machtkonzentration zu übernehmen  und zu formulieren,  gemeinsam mit diesen  selbst.  Die Sozialcharta der Europäischen Union,  zum Beispiel,  wird mit den Augen und Interessen  der Arbeitslosen und sozial Ausgegrenzten,  mit den Augen der auf diesem Markt  diskriminierten Frauen  untersucht,  das Schengener Abkommen mit den Augen von Asylsuchenden und Flüchtlingen,  die Abkommen  zur europäischen Agrarpolitik mit den Augen der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern usw.  An Pfingsten  1992 wurde  daher in  Strasbourg ein “Parlament von unten” gebildet,  an dem rund 800 Frauen und Männer  aus 52 Ländern teilnahmen,  Langzeitarbeitslose,  Obdachlose, Migrantinnen und Migranten,  Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter,  Asylsuchende, Kleinbauern  und -bäuerinnen und weitere  in grosser  Armut lebende Menschen.  Sie bildeten fünf Arbeitsgruppen,  die je ein – nicht gestilltes – Grundbedürfnis ausleuchteten:  Nahrung, Wohnung,  Arbeit,  freie Wahl des Wohnortes und kulturelle Identität.  Die Arbeit dieser Arbeitsgruppen war die “Aufarbeitung von Leidensgeschichten”.  Unmittelbar nachher, ebenfalls im Juni  1992,  trafen sich in Luzern wiederum die rund 3 00 Mitglieder von Kairos- Europa  Schweiz,  um eine Standortbestimmung vorzunehmen und Aktionen  gegen die soziale Ausgrenzung  zu erörtern.  Diese sollten vor allem an der Basis organisiert  werden,  in den religiösen  Gemeinden  und Pfarreien.  Wichtige Bewusstseinsarbeit sollte damit verbunden werden,  etwa hinsichtlich  der Vorurteile,  die armen Menschen  entgegengebracht werden, hinsichtlich der Zusammenhänge von Ausgrenzung, hinsichtlich des Verhaltens der Nicht- Armen den Armen gegenüber und mehr.

Die beiden Bewegungen haben zwar religiöse Gründungsimpulse gehabt,  sind jedoch  in ihrer Ausrichtung sekuläre Bewegungen.  Es ist den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften gewiss nicht abzusprechen,  dass sie sich für eine Veränderung der Gründe  und Folgen  der Armut einsetzen,  im Gegenteil.  Es gibt an vielen Orten diesbezüglich  ein erfreuliches,  längst nötiges Umdenken,  hatten  doch gerade  die Kirchen während  allzu langer Zeit den Armen die falschen Tugenden  gepredigt (etwa Demut in  der Annahme von “Gottes Willen”). Ungerechtgkeit,  Demütigung,  wirtschaftliche und kulturelle Not können  nicht “Gottes Wille” sein.  Auch dienten die “mitleidvollen Gaben”, wie sie zum Habitus  der Kirchen und der Gläubigen gehörten, ja kaum dazu, die Armut zu verändern,  sondern  eher,  die Armen in ihrer Armut, in ihrem “Stand”  zu fixieren,  resp. die ständische Hierarchie,  zu der eben auch die Armut gehörte,  aufrechtzuerhalten,  gleichzeitig dienten  sie der Gewissensberuhigung der mitleidvoll Gebenden.  Aber die Armen wollen kein Mitleid,  sondern  ein Ende der Ausgrenzung.  Ich sage es nochmals:  Sie wollen Gerechtigkeit und volle gesellschaftlliche  und politische Partizipation.

Es genügt jedoch  nicht,  dass die Bekämpfung der Armut  Sache der Religionen  ist,  schon gar nicht heute, wo Erfindergeist und Technologie  es ermöglichen,  die meisten Probleme zu lösen. Die Verringerung und Überwindung der Armut muss ein vorrängiges politisches  Ziel sein, nicht nur einer linken Politik,  sondern  der Politik überhaupt.  Eine Gesellschaft  ist nur so stark wie ihre schwächsten Glieder es sind. Die Erfahrung und politischen  Folgen der grossen allgemeinen Armut und Verelendung in den dreissiger  Jahren infolge der enormen Inflation und Arbeitslosigkeit müsste  genügen,  damit nicht länger gezögert wird.  Es braucht, unter  anderem, dringend neue Arbeitszeitmodelle,  damit Arbeit nicht zum seltenen Privileg von wenigen wird, damit nicht länger eine zunehmende  Zahl von Menschen  ihre Existenz  als wertlos  erleben, ferner neue Partizipationsmodelle dank einer Verstärkung der Bildungs-  und Weiterbildungsangebote,  vor allem aber neue Verteilungsmodelle des kollektiven  Mehrwerts und eine Verfassungsgarantie für die Erfüllung  der Grundbedürfnisse.

Es gibt genug Fachleute,  die in der Lage sind, praktische  Umsetzungsmöglichkeiten dieser Modelle zu erarbeiten.  Was jedoch  vorgängig  gestärkt  werden  muss, ist die Einsicht in die politische Dringlichkeit dieser Aufgabe,  sodann der politische Willen, aus der Einsicht die politischen und sozialen Konsequenzen zu ziehen.  Das bedeutet im Klartext,  dass diejenigen, die nicht in Armut  leben, bereit sein müssen,  den Gürtel  enger zu schnallen,  damit diejenigen, die in Armut leben,  weniger  eingeengt leben können.  Alle diese politischen Forderungen  haben jedoch  nur eine Chance,  verwirklicht zu werden,  wenn das Menschenbild enthierarchisiert wird, d.h.  wenn die Verschiedenheit der Menschen  nicht länger als Wertverschiedenheit gilt, sondern als Varietät des gleichen Menschseins,  der,  nach Kant, gleichen  “Menschheit”  in jedem einzelnen Menschen.

 

Die Armut der Frauen

 

Ich musste – wollte  – zuerst  die Unerträglichkeit der Armut überhaupt schildern, bevor ich auf die besondere  Armut  von Frauen  eingehe.  Sie ist auf anschauliche  Weise eine Folge des hierarchisierten Menschenbilds, das dem konventionellen Geschlechterverhältnis in allen Schichten der Gesellschaft  zugrundeliegt.

Eine besondere Armut?  Es sind gemäss allen  Statistiken und Armutsstudien tatsächlich mehr Frauen als Männer,  die unter dem Existenzminimum leben,  zugleich  aber verwendet  der Grossteil  der in Armut  lebenden Frauen ihre Energie  vor allem darauf,  die Armut zu verbergen. Im Strassenbild in den grösseren Städten der Schweiz treten  sie kaum in Erscheinung,  in den Obdachlosenunterkünften sind sie seltener als die Männer, und falls sie dort unterkommen, wirken sie häufig eher wie Pensionärinnen.  Auch mit den spärlichsten Mitteln gelingt es vielen, die sichtbare Verelendung, ja Verwahrlosung aufzuhalten,  nicht nur die äussere,  die mit der Erscheinung zu tun hat,  sondern auch die innere,  die mit der sozialen Kompetenz korreliert ist. Da bei Dreivierteln der Scheidungen die Kinder bei der Mutter bleiben, jedoch bei einem ebenso grossen Prozentsatz  Frauen und Kinder nach der Scheidung ärmer sind als vor der Scheidung und ärmer als die Männer nach der Scheidung, bedeutet für viele Frauen Scheidung zugleich Armut.  Bis zur jüngsten Revision der AHV hatte eine Scheidung vor allem katastrophale Folgen im Alter,  vor allem für Frauen ohne eigenes Einkommen.  Seit kurzem werden nun Haus- und Erziehungsarbeit als rentenberechtigt gewertet – ein grosser Fortschritt, der nicht gefährdet werden darf  Doch nicht erst im Alter,  zumeist schon im aktiven Leben beeutet Scheidung für viele Frauen,  dass sie von diesem Augenblick an auf Sozialhilfe angewiesen sind, auf staatliche Alimentenbevorschussung,  auf stundenweise,  schlecht bezahlte Arbeit,  falls  sie überhaupt  Arbeit finden. Noch immer ist es in der Schweiz so, dass die Arbeit von Frauen bis zu einem Drittel  schlechter bezahlt wird als die Arbeit von Männern  – gleichwertige Arbeit-,  um welche  Arbeit es sich auch handle,  um sogenannt  “unqualfizierte” oder um “qualifizierte”  Arbeit, um Fabrikarbeit  oder um intellektuelle Arbeit.  Aber Arbeitszeit ist Lebenszeit,  d.h.  die Geringerwertung der Arbeitszeit von Frauen bedeutet  zugleich  die Geringerwertung der Lebenszeit  von Frauen.  Es ist ein offener Skandal,  der jedoch  von einem Teil der Arbeitgeberseite kaltblütig fortgesetzt wird.  Und da die Löhne  der Frauen  tiefer sind, da sie infolge von Familienrücksichten und aus anderen Gründen  häufiger die Stelle wechseln müssen,  sind sie auch bei  den Arbeitslosenentschädigungen  benachteiligt,  da diese ja nach Lohnprozenten und Dauer  der Anstellung  ausgerechnet werden.  Dazu kommt,  dasss in der Schweiz wichtige  soziale Absicherungen,  wie die Mutterschaftsversicherung,  noch immer ausstehen  und von bürgerlicher Seite auch weiterhin torpediert werden.  Laut der Auskunft  der der Leiterin der Fachstelle  für Schuldenfragen im Kanton Zürich führt auch die Tatsache  der häufigen Konsumkredite zu einer weiteren  Zunahme  der Armut von Frauen,  nicht weil diese sich häufiger verschulden  würden  als Männer,  im Gegenteil,  sondern weil sie nach Trennungen und Scheidungen auf den Kredit-  und Abzahlungsverträgen sitzenbleiben,  die sie mitunterschrieben haben, manchmal noch jahrelang,  nachdem  die Männer  sich aus dem Staub gemacht  haben.

Gestützt  auf die Erfahrungen der Armutsbekämpfung in der Dritten Welt,  bei der spürbare Erfolge an der Basis über Frauenbildungs- und Unterstützungsprojekte erzielt werden,  sollten auch bei uns die Mittel zur Veränderung der Lebensbedingungen analog eingesetzt  werden. Frauenprojekte in Nicaragua,  in San  Salvador oder in Burkina Faso, von denen ich Kenntnis habe, konnten  erreichen,  dass Frauen  ihre Vereinzelung durchbrechen und sich, zum Beispiel, in Produktions-,  Verkaufs-  oder Weiterbildungskollektiven zusammenschliessen.  Es ist nötig, dass Frauen  sich in stärkerem Mass miteinander und untereinander solidarisieren,  aus welcher sozialen  Schicht,  aus welchem Land sie auch kommen, Einheimische und Ausländerinnen.

 

Das Umverteilungsprojekt

 

Die Veränderung der Armuts-  und Unrechtsbedingungen auf demokratischem Weg ist keine Utopie.  Die Frauen  sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung,  und da in der anderen Hälfte auch ein Teil der Männer  die grossen  sozialen und kulturellen Diskriminierungen als unerträglich empfindet,  könnten  neue Arbeitszeitmodelle, fortschrittliche Sozialversicherungen, Bildungs-  und Weiterbildungsmöglichkeiten, könnten in sozialer und kultureller Hinsicht ganze Strukturveränderungen auf politischem Weg erreicht werden.

Nicht nur die Armut,  auch die Bekämpfung der Armut ist eine Frage der Verteilung  – der Umverteilung – von bezahlter und unbezahlter Arbeit sowie des kollektiven Mehrwerts.  Dass zusätzliche Quellen für die Erfüllung der wachsenden Aufgaben gefunden werden müssen – sei dies zum Beispiel über die Besteuerung  der Kapitalgewinne oder des Verbrauchs der nicht- erneuerbaren Energien – muss ernsthaft mitberücksichtigt werden.  Meine Vorstellung und Forderung ist,  dass in allen Kantonen und auf Bundesebene zu diesem Zweck aus allen Schichtender Bevölkerung,  mithin unter Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern  der aktiven Anti-Armutsbewegungen,  innovative  “brain pools” geschaffen werden,  welche die verschiedenen kurz- und längerfristigen Massnahmen zur Armutsbekämpfung untersuchen, ausformulieren und für deren demokratische Umsetzung kämpfen,  nicht zuletzt für die Errichtung einer konjunkturunabhängigen Existenzsicherung,  d.h.  eines gesicherten Grundeinkommens für alle Menschen,  die in unserem Land leben.  Zusätzlich müssen,  parallel zur Globalisierung des Marktes,  Massnahmen  zur Globalisierung von Kriterien der Lebensqualität durchgesetzt werden,  auf nationaler wie auf transnationaler Ebene,  damit  auch die Phänomene  der Migration – zumeist Folgen von unerträglicher Armut – berücksichtigt werden.  Die Umsetzung dieser Massnahmen  erscheint mir dringend,  soll das 21. Jahrhundert nicht zum Katastrophenkommentar der Unterlassungen dieses Jahrzehnts  werden

 

Braucht es heute einen feministischen Katalog der Grundbedürfnisse?

 

Trotz  meiner  immer  wieder  spürbaren   Skepsis  “dem”  Feminismus   gegenüber,  bin  ich  der Meinung,  dass emanzipatorische Projekte nach wie vor Gegenstand  feministischer Politik sein sollten,  zumal  in  allen  Bereichen,  in denen Frauen  politische  Verantwortung übernehmen,  sich in   zunehmendem   Mass    Verhinderungsversuche   gegen    emanzipatorische   Veränderungen spürbar  werden,  das heisst  gegen  Veränderungen,  die aus der patriarchalen “mancipatio”,  aus der patriarchalen Verfügungs- und Interpretationsmacht zu mehr Freiheit und zu mehr Eigenbestimmung,   damit   zu   mehr   personaler  Würde   und   damit  zu   mehr   Lebensqualität herausführen   sollen. Diese   Verhinderungsversuche  konzentrieren  sich  meiner  Beobachtung nach   auf  drei  grundsätzliche  Zusammenhänge,  die  in  ihrer  wechselseitigen  Abhängigkeit analysiert werden müssen,  damit Veränderungen erreicht werden,  eben nicht im  “utopos”,  nicht im  “nirgendwo”  einer  fernen Zukunft  und  nicht  allein  in  den  Phantasien,   sondern  –  von  der Vorstellung  einer  lebenswerten  Zukunft   her  –  in  der  unmittelbaren  Gegenwart,  d.h.  in  der vorweg  zu gestaltenden gesellschaftlichen und politischen Praxis.

Bei  den  drei  Zusammenhängen,  geht  es  um  Verteilungsprobleme,  hinter  denen Grundbedürfnisse und Grundrechtsprobleme stehen. Es geht um die Frage der Bedürfnisinterpretation  und  um  die  Verteilung der  öffentlicheFinanzen,  sodann  um  die Definition von Macht  und  um  die  Verteilung von Macht,  schliesslich  um  das Menschenbild sowie um die Definition  und Zuteilung des Werts der Zeit.

 

Die Frage  der Bedürfnisinterpretation und die Verteilung der öffentlichen Finanzen

 

Die von Hannah  Arendt  in  “Vita  activa”  erarbeitete  Unterscheidung der Bereiche  menschlicher Organisation  –   den  politischen   und   den  gesellschaftlichen   –  sowie   der  Merkmale   dieser Unterscheidung  sind im wesentlichen  seit der Antike  die gleichen:  die “polis”,  der Bereich des politischen  Entscheidens   und  Handelns,   ist   gekennzeichnet   durch Freiheit,   durch  gleiche Rechte und durch Sprachbefähigung.  Dass dieser Bereich bis in  die jüngste Zeit ausschliesslich den Männern  zustand,   daran  hatten  auch  die  grossen  Revolutionen   nichts   geändert:   von “liberte,  egalite,  fraternite” waren  die Frauen  ausgeschlossen,  und erst  recht  die Kinder  und “das  Gesinde” (damals  die Sklaven,  heute Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen,  Migranten  und Migrantinnen,  Flüchtlinge).  Von  gleichen Rechten  sind  diese  “Ungleichen”  auch heute  noch weit  entfernt,  obwohl  selbst  in  der  Schweiz  die Frauen  seit 25 Jahren über  das Stimm-  und Wahlrecht  verfügen.    Doch   die   formale   Rechtsgleichheit   ist   noch   keine   Garantie   für tatsächlichen Einfluss auf die politischen Verhältnisse.  Die verfassungsmässige und gesetzliche Ermächtigung,  Rechte auszuüben,  genügt nicht, solange  es nicht zu einer breiten,  spezifischen Selbstermächtigung  kommt,  welche  die  Rechte  erst  wirksam  werden  lässt:   es  bedarf der “Sprachfähigkeit”,   es  bedarf  der  Fähigkeit,   die  eigene   Stimme,   die  eigenen  Foderungen vernehmbar  zu machen  und auf nachhaltige  Weise  mit  anderen  Stimmen  zu verbinden.  Den “Feministinnen”  der  “ersten  Stunde”,  die noch  keine Rechte  hatten,  war  dies auf vorrangige Weise bewusst,  scheint mir, den Pazifistinnen, den Kämpferinnen gegen Armut und gegen Ausbeutung  von Kindern  und Frauen in den frühkapitalistischen  Produktionsprozessen, in der Landwirtschaft   und  in   den   privaten   Haushalten.   Sie   haben   Rede-   und   Debattierzirkel eingerichtet,  haben  das  öffentliche Reden  geübt und  sich gegeseitig dazu  ermutigt,  und  zum Zweck  der Veränderung der Misstände  haben  sie in  erster  Linie Bildungspostulate  formuliert oder  selbst Bildungs-  und  Weiterbildungsstätten insbesondere für Arbeiter  und Arbeiterinnen eingerichtet. Die emanzipatorischen Veränderungen müssen im Bereich des “oikos” – der Gesellschaft  –   geschehen,  wo während  Jahrhunderten allein der Haushaltvorstand,  der  “pater familias”,   das   Recht    der  Bedürfnisdefintion   und   -interpretation   der   Familienmitglieder wahrnahm,  ganz  nach  seinem  Gutdünken  und  nach seinen  Eigeninteressen.  Als Mitglied  der “polis”,   des   politischen    Gremiums   der   “Sprachfähigen”,   und   zugleich    als  Haupt    des “sprachlosen Haushalts”,  bestimmte er (oder bestimmt  noch immer),  was die Frau braucht,  was die Kinder brauchen und  was  “das  Gesinde”  braucht,  immer in Abhängigkeit  davon,  was  er selbst braucht.

In Analogie mit diesem  “Familienmodell” bestimmt  der  Staat oder  dessen Funktionäre auf den verschiedenen  Ebenen,   in welcher   Höhe   wer   welche  Sozialleistungen  braucht  oder   nicht braucht,   das  heisst  wem  welche  Lebensqualität  zusteht.   Dieses  Modell  hat   bis  zu   den pervertiertesten Ausformulierungen im totalitären  Staat alle Arten  von  gesellschaftlichen  und politischen Realisierungen  vorzuweisen,  nicht  nur in  vergangenen Zeiten,  sondern  auch heute, auch hier  in  der  Schweiz,  trotz,  ich  wiederhole,  trotz Frauenstimm- und  -wahlrecht  und trotz zögerlicher  Vertretung der  Frauen  in  eidgenössischen,  kantonalen  und  Gemeindelegislativen und -regierungen.  Die reaktionären Kräfte verstehen  sehr wohl,  worum  es geht.  Sie versuchen, die in  den letzten  Jahren  erstarkten   Stimmen  der Frauen  im öffentlichen  Raum  zu übertönen und  diejenigen  Frauen,  die sich zu ihrer  “Sprachfähigkeit”  bekennen  und  diese  in  den Dienst der noch  stummeren  und  rechtloseren Mitglieder  der  Gesellschaft  stellen,  zu  diffamieren und auszuschalten.  Die ständige  Verlächerlichung  und  Verunglimpfung  der  “Feministinnen”  durch die Boulevardblätter,  die gehässigen Attacken  auf Bundesrätin Ruth  Dreifuss sowie auf Parlamentarierinnen, die sich für eine effektive Verbesserung der Alters- und Hinterbliebenenversicherung   (AHV)   für   Frauen   oder   für   die   Mutterschaftsversicherung einsetzen,  sind im grösseren Zusammenhang nur als besonders schrille Töne zu bezeichnen.

Die Attacken  und  Verunglimpfungen sollen von  massgeblichen  Tatsachen  ablenken:  einerseits von der Tatsache  der erschreckend wachsenden Armut, der zunehmenden  Zahl von Sozialhilfeempfängern und  -empfängerinnen in unsrem  Land  (Ende  1993  gesamtschweizerisch rund  180’000 Personen,  Ende  1994  schon  über  300’000),  wobei  die – wiederum  in starkem Mass systembedingte – Pauperisierung der Frauen und junger Menschen besonders ins Gewicht fällt,  andererseits  aber von der Tatsache,  dass auch heute noch nur dank der unentgeltlichen Leistungen  der  Frauen  im  Haushalt,  bei  der  Kindererziehung  und  bei  der  Betreuung  von kranken und alten Menschen,  dank all  dieser enormen Leistungen im sogenannt  “informellen Sektor”,   der   laut   der   Wirtschaftswissenschafterin   Mascha   Madörin   etwa   2, 5    %   des Bruttosozialprodukts ausmacht, die bürgerlichen Abstriche in der Sozialpolitik nicht zu einem sozialen  Notstand   führen.  Dass  mit  der  10.  AHV-Revision  dieser  sogenannte  “informelle Sektor”  endlich  als  rentenberechtigt   anerkannt  wird,  erklärt  die  giftige  rechtsbürgerliche Reaktion,   nicht   nur  in  den  Angriffen   auf  die   “subversiven”   Feministinnen,   sondern  im handfesten Gegenschlag  der Erhöhung des Frauenrentenalters.

Es steht  fest,  dass, solange Frauen ihre  Bedürfnisse  nicht  selber  definieren  und interpretieren, diese nach männlichen Eigennutzkriterien  bestimmt und ausgelegt werden,  ob im Rahmen und Zusammenhang des privaten oder  öffentlichen Haushalts. Die Kriterien für die Verteilung  und Zweckbestimmung   der   öffentlichen   Finanzen    sind   dafür   Abbild   und  Konsequenz.   Die amerikanische   Feministin  Nancy   Fraser   weist  dies  in  ihren  (1989   in  Amerika,   1994  in Deutschland  erschienenen)  Untersuchungen  für   die  Verhältnisse  in   den   USA   nach.   Die Ergebnisse  ihrer Untersuchung gelten im Prinzip  auch für Europa  und für die Schweiz.

Doch  welches   sind  die  Bedürfnisse  der  Frauen?  Lassen   sich  diese  überhaupt  unter   einen Nenner bringen, angesichts der enormen Verschiedenheit der Lebensentwürfe und Lebensbedingungen von Frauen,  allein  schon in  der Schweiz, geschweige  in Europa (inklusive Ost-  und  Südosteuropa mit  den  heute  kaum  durchschaubaren  und  für  die  nächste Zukunft kaum  einschätzbaren  Destabilisierungen,  mit  Krieg  und  mit  bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen in vielen Ländern),   geschweige   in  den  anderen  so  verschiedenen Kontinenten. Meiner  Ansicht  nach sollen in  erster  Hinsicht die unterschiedlichen  Bedürfnisse  der Frauen  in ihrer  Besonderheit,  das  heisst  gemäss  ihrer  spezifischen  Priorität,   Sprache  und  Forderung werden. Denn  es ist vor allem die Frage  der Priorität, welche die Unterschiede ausmacht. Die Bedürfnisse   selbst,   wie   dies   auch   die   Untersuchungen   der   deutschen Wirtschaftswissenschafterin       Susanne  Schunter-Kleemann   in   den   meisten   europäischen Ländern  beweisen,  haben  eigentlich  ausnahmslos   mit Grundrechtsmängeln zu  tun,  das  heisst mit  der  ungenügenden  rechtlichen  Anerkennung,  Absicherung  und  Erfüllung der Grundbedürfnisse.

Tatsache  ist,  dass die universale Erklärung der Grundrechte wertlos  ist,  wenn diese nicht durch die   verfassungsmässigen   oder  gesetzlichen  Garantien  der  einzelnen  Staaten oder transnationaler Verbände  einklagbar werden.  Solche Garantien kommen jedoch  nur  durch  die Anerkennung  der  wichtigsten   Bedürfnisse  als  universellen  Bedürfnissen  zustande.   Daher sollten  sich  die Frauen trotz  aller  Differenzen  in  der  Prioritätenfrage  zu  einer  gemeinsamen Erklärung   ihrer wichtigsten,   unverzichtbaren   Bedürfnisse   einigen,   so   wie   dies   an   der Interntionalen  Frauenkonferenz  in  Nairobi und  in  Peking  geschah,   damit  in  den  einzelnen Ländern  die Forderungen und  Vorstösse der Frauen  nach Realisierung und  nach  öffentlicher Finanzierung    ihrer   spezifischen   Rechtsansprüche   mehr   Durchsetzungskraft   haben.   Dabei scheint  mir  unbestreitbar  zu  sein,  dass     ein  feministischer  Katalog  der  Grundbedürfnisse zugleich  die  Bedürfnisse  der  heutigen  Menschheit  erfasst,  insbesondere  der  sprachlosen,  in ihrem Überleben zutiefst bedrohten Menschheit,  der Kinder,  der Hungernden und Verfolgten.

Noch  während  des letzten  Weltkriegs  wurden  Vorarbeiten  dazu  durch  Simone  Weil geleistet. In “L’enracinement”, ihrem  letzten Werk,  das sie 1943,  kurz vor ihrem  Tod im Exil  in London vollendet    hat   und   das    1948    durch    Albert   Camus   veröffentlicht    wurde    ( ein   überaus widersprüchliches Werk,  das zugleich  wichtige  emanzipatorische Impulse vermittelt,  aber auch höchst   reaktionäre),  macht   sie  deutlich,   dass   Grundbedürfnisse   nicht   nur   die   materielle Existenzsicherung  betreffen,  sondern  ebenso  sehr geistiger  Art  sind, dass  sie den Hunger  nach personalem   Respekt,   nach   Wissen,   nach   Bildung,   nach   Freiheit,   nach   Sicherheit,   nach Verantwortung, nach sinnvoller Arbeit,  nach Frieden,  nach zwangsfreier und demütigungsfreier Einordnung    in  kollektive  Zusammenhänge  betreffen,   insbesondere auch  den  Hunger   nach Schönheit.      (Auf     nicht-explizite     Weise     greift     sie     damit      die     früh-marxistischen Entfremdungsursachen  auf). Wenn  ich  mir zum Beispiel  Lebensbedingungen vergegenwärtige, wie ich sie in Flüchtlingslagern gesehen  habe, wo die Menschen  zwar  ein Dach über  dem Kopf haben und den Hunger  stillen können, wo aber kein bisschen  Schönheit,  kein bisschen  Freiheit, keinerlei   sinnvolle   Arbeit,   kein  bisschen   Sicherheit   ist,  weiss   ich,   in   welchem   Ausmass Millionen   von   Erwachsenen   und   Kindern   in   der   Erfüllung   ihrer  Grundbedürfnisse   auf unerträgliche  Weise  zu  kurz  kommen.  Die  hilflose  kompensatorische  Suche  nach  Erfüllung mündet häufig in – internalisierte oder externalisierte – Gewalt ein.

 

Die Definition von Macht  und die Verteilung  von Macht

 

Gewalt  hat   nicht  zuletzt   mit  einem  Macht-   und  Handlungsdefizit  zu  tun,   im   Sinn   der Machtdefinition Hannah Arendts,   die  ich teile.  Macht  haben  bedeutet,  der  Sprache  mächtig sein, das heisst der Kunst des Argumentierens, des Überzeugens und Verhandelns,  der Bündnisbildung und der Druchsetzung von Entscheiden. Unter Macht verstehe ich Handlungskompetenz in jeder  Hinsicht, nicht nur Sprach-, sondern  auch Urteils-  und Sachkompetenz.  Das  Kernproblem  der  Macht  besteht   darin,  dass  Sach-  und Handlungskompetenz nicht  notwendigerweise  mit  Gerechtigkeitskompetenz, resp.  mit moralischer Kompetenz verknüpft  ist.

Da  während   Jahrhunderten  Macht   ausschliesslich  patriarchale  Macht   bedeutete  und  immer zugleich   Herrschaft,   das   heisst   ein   System   von   Machtmissbrauch   implizierte,   ist   für Generationen von  Frauen  (und  für  Generationen  von  Feminismustheorien)  der  Machtbegriff negativ  besetzt.  Macht  und  Missbrauch  von  Macht  sind jedoch   nicht dasselbe.  Missbräuche können nur aufgedeckt, benannt  und verhindert  werden,  wenn sie nicht mit der Machtausübung selbst  verwechselt  werden.  Macht   als  Kompetenz   verstanden,  ist  positiv.  Leider  gilt,  dass Frauen  dem Missbrauch von  Macht  Vorschub leisten,  sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich,  solange  sie auf einer negativen  Defiition und Auslegung  des Machtbegriffs beharren. Missbrauch  von  Macht   kann  nicht  durch  Abstinenz  von  Macht  korrigiert werden,   sondern allein  durch  eine  andere  Art  der Machtausübung,  durch Macht  im  Dienst  des  “bien  commun”, des Allgemeinwohls,  das sich am Wohl  der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft  misst.

Es  ist dringend,  dass Frauen in Bezug  auf den Machtbegriff umdenken,  dass  sie Macht  nicht fürchten,   dass   sie  ihren Anspruch    auf  Macht   geltend  machen   und   gewillt  sind,  Macht auszuüben,  zumal Macht,  die mit öffentlichen Ämtern in demokratischen Verhältnissen zusammenhängt,  immer  als  Mandat   auf befristete  Zeit  verliehen  wird.  Zum  Mandat   gehört auch,  dass  die Art  und  Weise  der  Machtausübung  rechenschaftspflichtig ist.  Doch  da Macht mit Kompetenz verknüpft  ist, wird auch dieser Rechenschaftspflicht vorweg  durch das Handeln selbst Genüge getan.

Da es darum geht, die Gegenwart von der Zukunft her zu verändern,  ist feministische Machtpartiziation dringlich und unaufschiebbar.  Konzepte einer  lebenswerteren,  einer friedlicheren und gerechteren Gesellschaft,  in welcher die Differenz von Geschlecht,  Alter,  Pass und Stand nicht zu einer Differenz von personalem Respekt,  von Handlungsmöglichkeiten und Rechten,  kurz von Lebensqualität führt,  solche Konzepte lassen sich nur  verwirklichen,  wenn Frauen  in  den machtausübenden Gremien  mitreden,  wenn  sie selbst Macht  ausüben  und wenn sie  gewillt  sind,  Bündnisse  einzugehen mit jenen  Männern,  welche  die  gleichen emanzipatorischen Ziele anstreben. Das heisst zugleich: wenn sie Machtmissbrauch nicht länger dulden,  sondern  eine andere  Art des politischen Handelns vorschlagen und vorleben.

Die   erste   Voraussetzung  besteht    darin,   die   Forderung   ernst   zu   nehmen,   die   eigenen Bedürfnisse  zu  prüfen,  sie selber  zu  definieren,  zu  interpretieren  und  zu  formulieren.  Die zweite,   den  eigenen  Widerspruch  zu  dem,  was  ist”, zu  ergründen   und  zu  begründen.  Die dritte,  den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen und  laut zu sagen,  was ist”, nach einem Wort Rosa Luxemburgs.  Die vierte,  den Mut,  den dieser  Schritt in  die Öffentlichkeit  kostet,  nicht  zu verlieren,  sondern ihn als Motor zu benützen,  um die eigene Kompetenz    in Hinblick auf eine emanzipatorische  Veränderung der Gesellschaft  einzusetzen.  Als Ansporn  dienen  einmal  mehr jene  Frauen,  die  ohne  Theorie  und  ohne  andere Vorbereitung  als  die gelebte,  die  erfahrene Unerträglichkeit der Verhältnisse gewagt haben, eine Gegenmacht  zu diesen Verhältnissen herzustellen,  etwa   Olympe   de  Gouges,   die,  selbst  nicht  einmal  des  Schreibens   fähig,  die Hintansetzung  der  Frauen       im  Bereich   der  Bildung   und   der   politischen Mitsprachemöglichkeiten nicht ertrug, die der Revolution  der Männer von 1789 die Menschenrechtserklärung  der  Frauen  entgegenstellte und  dafür  mit  dem  Leben zahlte;  oder Flora Tristan,  die im  ersten  Drittel  des letzten  Jahrhunderts als eine der  ersten  das Bedürfnis und  das Recht  der Frauen auf Selbstbestimmung,  auf Scheidung und  auf Namensgebung der Kinder,  kurz,  die feministische Postulate  mit  sozialistischen  verband;  oder Bertha  von  Suttner, die  Friedenkämpferin   im   Gemetzel   des   Ersten    Weltkriegs,   oder   Rosa   Luxemburg,    die furchtlose   Mahnerin    gegen   die   Instrumentalisierung   der   Menschen   in  der   undustriellen Produktion wie im Krieg,  sodann    in jüngster Zeit  die Frauen  in  Sizilien,  die  öffentlich  das Gesetz  der “omerta” brachen und gegen  die Mafia  aufstanden, oder die Frauen  in Sarajewo, in Belgrad,  in Moskau  und anderswo,  die eine Gegenstimme zur Kriegspropaganda und zur nationalistischen   Aufhetzung   vernehmen   lassen   und   damit   eine   moralische   Gegenmacht darstellen.

Die Art und Weise, wie Macht  ausgeübt wird, hängt  zutiefst mit dem Menschenbild  zusammen sowie mit der Einschätzung vom Wert der Zeit.

 

Von der Ungleichwertung von Menschen  zur Ungleichwertung der Zeit

 

Der persönliche,  gesellschaftliche und politische  Alltag,  auch die  rechtsstaalichen  Verhältnisse, wie   sie  heute   gelten,  führen   zu   einer   ständigen   Konfrontation   mit   der   offensichtlichen Ungleichwertung   und   Entwertung   von  Menschen.    Es   gibt   wohl   kaum   jemanden,    der diesbezüglich  von  der  eigenen  Initiation  des  Unrechts   und  des Leidens  verschont  geblieben wäre.  Es lassen  sich dafür jedoch  nicht  einfach  Strukturen  (z.B.  das Patriarchat)  oder Systeme (z.B.   der  Kapitalismus)   verantwortlich   machen;   letztlich   erfolgt   in   allen   Strukturen   und Systemen,  wie sie  auch  seien,   die  Ungleichwertung  und  Entwertung  von  Menschen   durch andere Menschen.  Dass  dies geschieht, hat unzählige  Gründe,  die sich jedoch,  wie  mir scheint, auf zwei   hauptäschliche   Stränge   zusammenfassen   lassen:  einerseits   spielt   die  so  häufige individuelle  narzisstische  Selbstüberschätzung  mit,  bei  der  pathologische Erscheinungen  der Ich-Schwäche,  die als  unerträglich  empfunden  werden,  durch  Verachtung  anderer  Menschen kompensiert  werden;   andererseits   verhindert   eine  weit   verbreitete,   schichtenübergreifende Lern-  und Aufklärungsresistenz  die Infragestellung  von  Vorurteilen,  da deren  Veränderung ja Konsequenzen  nach   sich  ziehen  würde.   Tragisch   ist,   dass   diese   gehäuften   individuellen Menschenverachtungsmuster  durch  ein – implizit rassistisches  –  Gesellschaftssystem,  das  sich aber auf demokratische Weise  vorweg  als Rechtssystem konstituiert,  quasi legitimiert  werden. Die,  zum  Beispiel,  öffentlich  nicht  nur  geduldete,   sondern  praktizierte  Verachtung  und  die daraus folgende Diskrimierung  von Menschen,  die als  “Randständige”  bezeichnet  werden,  von Armen  und  Fürsorgeabhängigen, von  Menschen,  die  aus  körperlichen   oder  aus  psychischen Gründen  den heute  geforderten  Effizienzkriterien nicht genügen  können,  von  Asylsuchenden, insbesondere   von   sogenannten   “Illegalen”   prägt  die  gesamte   schweizerische  Realität.   Es bräuchte  eigentlich   nicht   des  Hinweises   auf  das   so  knapp   zustandegekommene  positive Resultat  der Antirassismus-Abstimmung oder auf die desaströse Zustimmung  der Mehrheit  der Stimmenden zu  den Zwangsmassnahmen im Ausländerbereich,  ebenso  wenig bräuchte es der Erinnerung  an die fehlende Unterzeichnung wichtiger internationaler Konventionen durch  die Schweiz,  etwa  der  Kinderrechtskonvention  oder  der  Sozialcharta.  Die asyl-und flüchtlingspolitischen Tatsachen  könnten  genügen. Sie sind em Hohn  auf alle Grundrechtsdeklarationen,  und   dies  nicht   nur  in  der   Schweiz,   sondern  in  allen  Ländern Europas. Ausser für die ganz wenigen Menschen, die als Flüchtlinge  anerkannt  werden  und die damit eine Art von  “normalem” Ausländerstatus erhalten, gelten für die meisten, das heisst für Tausende  von Menschen,  eine Vielzahl  von genau  definierten Bedingungen,  die als “Status”  L oder  F  oder mit  anderen   Abkürzungen  bezeichnet   werden   und  die  alle  eine  Vielzahl  von Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung bedeuten: Arbeitsverbot, ständige Zumutung  von Untätigkeit,   Verbot des Zusmmenlebens  von Familien,  kollektive Wohnverhältnisse,  die nicht die geringste  Privatheit zulassen,  demütigende Taschengeldzuteilungen,  die pro Tag in Zürich nicht  einmal  für  einen  Kaffee  oder  für  eine  Tramfahrt  reichen,  keine  freie  Berufswahl  für Jugendliche,  vor allem  aber ständig  aufrechtgehaltene Unsicherheit    bezüglich  der Dauer  des Aufenthalts,  bezüglich  einer möglichen  Rückschaffung ins  Land,  in  dem Leben  und  Sicherheit so gefährdet waren,  dass  Flucht  und  Exil  unausweichlich   wurden,  vor allem auch  ständiges Misstrauen jeder  Erklärung  und jedem  Bedürfnis gegenüber, ständiger  Vorwurf des Schmarotzertums, ständige  Entwertung und Herabsetzung der menschlichen  Person. Alle diese Verletzungen menschlicher Grundbedürfnisse und Grundrechte,  die durch Gesetze,  durch Weisungen  eidgenössischer oder kantonaler Ämter und durch eine allgemeine Praxis legitimiert werden,  bedeuten   letztlich,   dass  überhaupt  kein  Verlass  auf  irgendwelche  Deklarationen universeller Rechte  besteht. Wo es eine einzige Ausnahme  gibt, gibt es keine Universalität der Rechte. Wo  es aber keine Universalität der Rechte  gibt, kann letztlich jede  Willkür  und jedes Verbechen  als legitim erklärt werden.

 

Räumlichkeit  und Zeitlichkeit:  Abschaffung  des Warencharakters der Zeit

 

Ruth Klüger,  die als Kind  zuerst  nach Theresienstadt,  dann nach Auschwitz  deportiert worden war   und   auf  wunderbare Weise   überlebte,   sagte   einst  in  einem   Gespräch,   sie  sei   eine überzeugte   Feministin,   weil   Feminismus  Humanismus    bedeute.   In   diesem   Sinn   könnte Feminismus  als  emanzipatorisches  Projekt  heute  neu  definiert  werden,   indem  das bedingungslose und uneingeschränkte Bekenntnis zum gleichen Wert  eines jeden  Menschen  die politischen Konzepte und  alles zwischenmenschliche,  gesellschaftliche  und  politische Handeln bestimmen   würden. Forderungen,  welche   die  spezifische  Rechts-   und  Lebenssituation  von Frauen betreffen, lassen sich nur auf glaubwürdige Weise formulieren, wenn sie alle Diskriminierten einschliessen. Dies betrifft nicht zuletzt die Forderung nach einer existenzgerechten Wertung der Zeit und damit nach einer entsprechenden Abgeltung der Arbeitszeit,  das heisst nach einer Wertung,  die nicht standesmässig  und  einkommensmässig unterschiedlich   definiert  ist,   sondern  die  universalen Kriterien  zu  genügen  vermag.  Das bedeutet,  dass der  Warencharakter der Zeit abgeschafft werden muss.

Diese  – revolutionäre  – Forderung  leitet  sich  aus der  Grundrechtsforderung  ab,  dass jedem Menschenleben  der  gleiche Wert  und  der  Respekt  zukomme.  Es  ist  absurd,  die  sogenannt “universale” Erklärung der Menschenrechte gutzuheissen,  gleichzeitig  aber zuzulassen,  dass die Zeit  – Lebenszeit/Arbeitszeit  – jedes Menschen mit jeder  Art von Ungleichheit  gewertet  wird. Für einen vorläufig  aufgenommern  Flüchtling,  zum Beispiel,  wird während  Jahren Lebenszeit als  Zeit  der  Untätigkeit,   als   “leere”   Zeit   und  damit   als   wertlos   gewertet,   eine  Woche erschöpfender Arbeit  am Fliessband gilt als  gleichviel  “wert”  wie eine einzige Stunde  eines Bankgeneraldirektors oder eines Marketingmanagers.  Da jede Existenz zeitlich bestimmt ist,  da jeder  Existenz  auf gleiche  Weise  die ungleiche  Frist zwischen  Geburt  und Tod  als  Sinnauftrag aufgegeben  ist,   erscheint   mir   die  monetäre   Ungleichwertung  der   Zeit,  das   heisst   deren Verwandlung zur wertlosen oder wertvollen  Ware,  Ursache  der tiefsten Entfremdungen zu sein und    damit     schwerwiegendster     individueller     und     kollektiver      Leidenserscheinungen, Depressionen und kompensatorischer Selbstwertbestätigungen, Drache von Sinnleere, von Verzweiflung   und Gewalt.  Wenn ich einen Gott anerkenne, so ist es die Zeit”,  schrieb Franz Schubert in  einem Brief,  doch  seit dem Beginn der Modeme  hat der transzendente Gott  seinen Platz   dem  monetären   Gott   räumen   müssen,  und  der  Gott  der  Zeit  ist  der  Geldwert   der kapitalisierbaren Zeit. Solange  der Warencharakter der Zeit nicht aufgehoben ist, ist der Warencharakter  der menschlichen  Existenz  nicht  aufgehoben,  der  nicht  nur  das  antike  und moderne  Sklaven-/Sklavinnentum bewirkt  hat, sondern  der letztlich jedes  Verbrechens,  das die menschliche personale Integrität verletzt oder  zerstört,   erklärt.  Sachen  dürfen gebraucht  und verbraucht,  ersetzt  und ausgetauscht, für überflüssig  erklärt und vernichtet werden  – Menschen nicht.

Die Reflexion über den Wert  der Zeit muss eingerückt sein in die breitere Reflexion über die existentialen Bedingungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit.  Ich will hier nicht auf alle Zeit- Theorien  unserer westlichen Philosophiegeschichte eingehen, von der platonischen und aristotelischen über diejenigen von Augustinus,  Galilei, Newton,  Descartes, Kant, Kierkegaard, Bergson,  Minkowski,  Einstein  bis zu denjenigen der verschiedenen Existenzphilosophen und – philosophinnen sowie der zeitgenössischen Physiker mit ihren Berechnungen des Raum-Zeit- Kontinuums  unter Berücksichtugung der Unschärfetheorien usw.  Wenn ich von Räumlichkeit und Zeitlichkeit als  existentialen Bedingungen spreche,  meine ich  damit Möglichkeiten,  sich als Mensch in Verhältnisse zu setzen:  “Räumlichkeit”  bedeutet  das Verhältnis zur Welt, bedeutet W elthaftigkeit resp. In-der-Welt-sein – in keiner Weise ein einfaches  Verhältnis, sondern  ein überaus  widersprüchliches,  da das “Hier”  des einzelnen Menschen  immer auch das “Hier”  vieler anderer Menschen  ist, und In-der-Welt-sein daher sowohl  der Grenzen,  der abgrnezung  wie der Überwindung der Grenzen bedarf  “Zeitlichkeit” versteht  sich als das existential paradoxe  Verhältnis zu Notwendigkeit und Freiheit,  zu Sterblichkeit  und Gebürtlichkeit (Befähigung zum Neuanfang,  gemäss Hannah  Arendt),  bedeutet  die unerbittliche und unausweichliche Weise,  in der das individuelle Leben des Menschen  durch Beginn und Ende bestimmt ist,  durch Einmaligkeit und Nichtwiederholbarkeit des Ablaufs des Lebens, bedeutet  in diesem Ablauf immer zugleich Handeln und Leiden  im Jetzt wie Verändern und Mitschleppen des “unwiderruflich Getanen”  (Arendt) und Gewesenen  wie Mitbedenken und Planen des Noch-nicht,  eine mit zunehmender Lebenszeit  wachsende Erfahrung der Flüchtigkeit und des Ungenügens in Hinblick auf das “Auftragsverhältnis”  der Existenz.  Dieses “Auftragsverhältnis”  ist mit dem ursprünglichen Paradox  von Freiheit und Notwendigkeit gegeben,  durch welches  Möglichkeit Wirklichkeit werden  soll, jedoch  nach Kriterien einer für die Pluralität der Menschen  grösseren Wirklichkeit.  Hierin besteht  die ethische Komponente des existentialen Auftragsverhältnisses, resp. der Aspekt der Verantwortung,  der sich aus der unabtrennbaren Verknüpfung der Freiheit mit dem Vermögen  zu erkennen  und zu urteilen ergibt,  das heisst, mit dem Vermögen,  die Art und Weise des Handelns  unter Berücksichtigung der Folgen  des Handelns  zu wählen,  sowoh  der unmittelbaren wie der weiterreichenden.  In der Verantwortung zeigt sich das Verhältnis von Vereinzelung und von Welthaftigkeit,  wodurch die einzelne Existenz zu einer sozialen und politischen Existenz wird,die  nicht nur Bedeutung für sich selbst hat, sondern  auch für andere Menschen wie für das Zusammenleben.

Umgekehrt  werden  Räumlichkeit und Zeitlichkeit als existentiale Bedingungen,  die eigentlich nicht zur Disposition  stehen, durch die gesellschaftlichen,  zivilisatorischen und politischen Umstände  in  starkem Mass beinflusst.  Gerade  unter den gegenwärtigen Bedingungen,  sowohl den ökologischen wie den ökonomischen,  geraten  sie enorm unter Druck.  Hierin liegt der wohl bedrohlichste Aspekt  der post-industriellen Entwicklung.  Einerseits  werden  durch nationalstaatliche oder übernationale (EU,  USA) Migrationsgesetze (resp. Immigrationsgesetze)  sowie durch Ressourcenknappheit  und Bodenverteuerung die den Menschen  verfügbaren Räume  zunehmend  reduziert,  auch geht das Raumgefühl  durch die enorme Verkürzung der Reisezeiten  wie durch die elektronische Abrufung  der künstlichen Räume  der virtuel reality mehr und mehr verloren;  andererseits  wächst  das Ungleichgewicht zwischen  der technologisch nicht weiter steigerbaren zeitlichen Beschleunigung der Kommunikation,  die heute mit Lichtgeschwindigkeit erfolgt,  oder der atemraubend schnellen, automatisierten Produktionsabläufe sowie der ständig gehetzten,  von Termin zu Termin jagenden Vertretern und Vertreterinnen einer auf höchste  Profitsteigerung ausgerichteten Markteffizienz,  und der stillstehenden  Zeit von Millionen von Menschen,  die aus  den Produktionsabläufen ausgeschaltet und für überflüssig  erklärt werden,  die buchstäblich  nichts mehr “anfangen”  können.

 

Grenzen,  Abgrenzungen,  Respekt  und Überwindung von Grenzen

 

Um das Ausmass  der Bedrohlichkeit dieser Entwicklung zu erfassen,  ist es nötig,  die Bedeutung von Zeitlichkeit  und Räumlichkeit als Existentialien vor Augen zu halten.  Sie definieren,  d.h.  begrenzen die Existenz aller Menschen  als deren allgemeine Bedingungen. Denn Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind zugleich die individuellen Existenzbedingungen des einzelnen Menschen  wie die Bedingungen aller Menschen.  Die Tatsache  der Gleichzeitigkeit der unzählbar vielen Menschen  in der Welt,  von denen ein jeder,  eine jede Zeitlichkeit und Räumlichkeit als Bedingungen ihrer je eigenen existentiellen Entfaltung beanspruchen,  von denen auch jeder  und jede  Grundbedürfnisse haben, deren  Stillung sie gegenseitig  voneinander abhängig werden  lässt,  diese Tatsache  der Gleichzeitigkeit schafft die Notwendigkeit von Regeln, von Gesetzen.  Gesetze  sind Grenzen  im sozialen und im politischen Raum,  mithin Grenzen  der Freiheit.  Sie dienen der geregelten Erfüllung der Grundbedürfnisse aller.  Die ursprüngliche Notwendigkeit für die Regelsetzung, resp. für die Verfassung- und Gesetzgebung,  ergab sich aus der Erkenntnis,  dass die individuellen Existenzbedingungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit mit den Existenzbedingungen der vielen vereinbar  gemacht werden  müssen,  damit auch das schwächste Individuum innerhalb  der vielen nicht zu kurz komme.  Sowohl das gesellschaftliche Regelsystem,  das wir “Konventionen” nennen, wie  das politische,  das aus Verfassung und Gesetzen  besteht,   bilden jene Grammatik  des Zusammenlebens, welche die schwer vereinbaren  Voraussetzungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit in Hinblick auf den möglichst grossen Nutzen ( oder den möglichst kleinen Schaden)  sowohl für jedes Mitglied der grossen menschlichen Gesellschaft wie für die Allgemeinheit verbinden soll, damit dieser möglichst grosse individuelle Nutzen zugleich dem möglichst grossen allgemeinen Nutzen entspreche.  Diese Optimierung von Nutzen und Schaden ist jedoch in allen Jahrhunderten nie nach Gerechtigkeitskriterien, welche auf prioritäre Weise das Wohl  der Schwächsten anstrebten, verwirklicht worden, da die Definition der Bedürfnisprioritäten durch die gleichen Individuen (Monarchen, Diktatoren),  Klassen oder Schichten erfolgte,  welche die Gesetze sowohl erliessen wie durchsetzten.  Daran hat auch die Demokratie wenig geändert,  obwohl nur die Demokratie jene Sozialgesetzgebung ermöglichte, welche heute die schwersten Verelendungsfolgen des neo-liberalen Marktdiktats  auffängt. Diese Folgen nehmen jedoch in einem Ausmass zu, das die staatlichen Kassen überstrapaziert, sodass sie für die nötigen Sozialleistungen kaum mehr aufkommen können, zumal infolge von Kapital- und Steuerflucht der Reichen die einkommenschwächeren und -schwachen Schichten der Bevölkerung praktisch allein für die Finanzierug  ihrer eigenen Notlagen aufkommen müssen.

 

Mit den Anfängen der Kulturgeschichte setzte  die Gestaltung und Modifikation der “condition humaine”  ein,  begann  das Eingrenzen  und Bewohnbarmachen des – ursprünglich unbegrenzten – Raums,  das Markieren von Territorien,  das Erstellen  von Zäunen,  Mauern  und Wällen und verband  sich mit Eigentumsvorstellungen,   d.h.  mit Vorstellungen der Unvereinbarkeit von Dein und Mein, mit Vorstellungen der Privatheit.  Zugleich aber – dafür gibt es zahlreiche kulturhistorische Belege  – wurden  Räume für die allgemeine oder kollektive Nutzung geschaffen und markiert,  gemäss einer Protovorstellung von Öffentlichkeit,  lange bevor  es diesen Begriff gab. Zeit und Zeitlichkeit  wurden  erst viel später als die eine gleiche Dimension  erkannt,  die allen Menschen  auf ungleiche Weise zur Verfügung  steht,  erst viel  später wurde begonnen,  die Zeit zu befragen,  zu erklären  und zu definieren,  resp.  sie Gesetzen  und Konventionen zu unterwerfen,  sie einzuteilen  nach Mondphasen,  sie in Kalenderzeiten zu unterteilen und zu benennen  und neu einzuteilen. Es ist immer wieder von Nutzen,  sich in Erinnerung zu rufen, dass der Gregorianische Kalender,  der uns als Zeitraster dient,  erst vor gut 400 Jahren,  im Jahre 1582,  nach der Revision des Julianischen Kalenders durch Papst Gregor XIII festgelegt wurde.  Gerade  die Regulierung der Zeit ist,  nach einem Wort von Norbert Elias, ein “gesellschaftlicher Code”, eine Konvention.  Als solche ist  sie jedoch  nicht nur ein Ordnungs- und Organisationsinstrument,  sondern  dient auch zur Kontrolle  des menschlichen Zusammenlebens.  Zu erinnern ist etwa an die Einführung  eines neuen Kalenders in der Folge der Französischen Revolution und der “Abschaffung”  des Christentums:  da wurde  das Jahr 1792 zum Jahr 1 erklärt,  und es wurden Monate  à drei Wochen  und a  10 Tage eingeführt,  um den Beginn  des neuen Zeitalters unmissverständlich zu markieren.  Noch  heute gelten ja selbst in unserem Kulturkreis mehrere  Kalender gleichzeitig.  So wird zum Beispiel gemäss dem jüdischen  Kalender das Jahr 2000   als das Jahr 5760 gerechnet,  oder der 27. April  des Jahres 1996  entsprach  dem 8. Ijar,  des Jahres  5756,  d.h.  dem achten Tag des achten Monats  im jüdischen  Jahr 5756.  Nochmals  viel später als die Kalendereinteilung wurde  die Feinmessung der Zeit, d.h.  die verbindliche  Begrenzung der subjektiven Zeit der Menschen, vorgenommen, mit Hilfe des Sonnenlichts,  des rinnenden  Sandes,  der ineinander greifenden Räder.  Erst  1657 wurde  die erste Pendeluhr  gebaut,  167 4 die erste  Spiralfederuhr,  sodass  die Zeitmessung,  wie sie für uns anhand von Chronometern geläufig ist,  erst seit etwas mehr wie dreihundert Jahren eingeführt  ist.

Neben diesen gesellschaftlichen Codices  oder Regelsystemen,  durch welche die Zeit für Abmachungen,  Fahrpläne, Arbeitspräsenz,  Ausgangssperren und ähnliches abgegrenzt und verfügbar gemacht wird, ist Zeit jedoch vor allem ein Phaenomen der Innerlichkeit, eine subjektive Empfindung,  oder, wie Kant sagte,  eine Form der inneren Anschauung a priori.   Die Zeit wird als sich verdichtende oder als mangelnde Intensität der Existenz wahrgenommen,  als fliegende oder als schleppende Abfolge von Ereignissen,  doch haben wir,  um diese Intensität auszudrücken,  nur Metaphern zur Verfügung.  Auch die räumlichen Begriffe,  mit denen wir die Zeitempfindungen wiedergeben,  sind Metaphern,  so wenn wir sagen,  die Zeit erscheine uns “kurz”  oder “lang”,  wenn wir von “Kurzweil”  sprechen oder über “Langezeit”  klagen.

Diese subjektive Empfindung der Zeit blieb sich seit den Anfängen der Menschheit gleich, unbesehen der Tatsache, dass mit dem Aufkommen der Kapitalbildung auch die Zeit zur Ressource wurde, jedoch zur ungleich wertvollen oder wertlosen Ressource, je nach dem sozialen Rang der Menschen,  deren Existenzzeit als Arbeitszeit gewertet wird,  und je nach dem sozialem Prestige  der geleisteten Arbeit.  Diese ungleiche Wertdefinition der Zeit – denn Arbeitszeit  ist Existenzzeit – die seit dem Beginn der Industrialisierung einen ungleichen Existenzwert der Menschen  impliziert und die letztlich den sozialen Klassen  sowie der damit verbundenen  sozialen Ungerechtigkeit zugrundeliegt,  hat sich im letzten Viertel  dieses Jahrhunderts,  in der post-industriellen Zeit,  aufs empfindlichste  gesteigert.

Obwohl Zeitlichkeit  und Räumlichkeit unverfügbare  Existentialien sind, wird die Ungleichheit in der Verfügbarkeit von Zeit und Raum für die Menschen  von heute immer grösser.  Dadurch wird das Zusammenleben immer prekärer.  Von neuem baut sich eine ähnliche soziale Dynamik auf, wie Hannah  Arendt  sie als Voraussetzung für das Zustandekommen totalitärer Verhältnisse analysiert hat.  Sie zeigt  sich im Entstehen  grosser  Massen  arbeitsloser,  um ihre Subsistenz bangender,  um ihre Zeit und Handlungskompetenz betrogener und daher durch Ordnungs-  und Gewaltrezepte leicht verführbarer Menschen,  in der zunehmenden Polarisierung zwischen Eliten,  die in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht das Handeln bestimmen, und Massen,  die vom Handeln,  das heisst von der Freiheit,  ausgeschlossen und zur Passivität verurteilt  sind,  im Überhandnehmen von Zukunftsangst und von Vertrauensverlust bezüglich der demokratischen Verbesserungsmöglichkeiten angesichts der Schwächung des Nationalstaates durch die globalisierte Wirtschaft  und den Markt.  Sie zeigt  sich in einer wachsenden  Unterwerfung des Politischen unter das ökonomische,  damit in einem wachsenden Freiheitsverlust generell,  der sich nicht zuletzt  in einem Verlust solidarischer Modelle  des Zusammenlebens zeigt,  die letztlich die optimale Erfüllung  des Freiheitsbedürfnisses aller,  die zusammenleben,  auch der Schwächsten berücksichtigen würden.  Nicht dass in den Gesellschaften des ehemaligen  “real existierenden  Sozialismus”  diese Optimierung wirklich erreicht worden wäre,  auch wenn das Ausmass  an Beschränkung in der Verfügbarkeit über Zeit und Raum – die Freiheitsbeschränkung – mehrheitlich gleich war.  Das Zusammenbrechen dieses Systems hat jedoch  nach  1989 in beinah allen Ländern  und Gesellschaften  schlagartig zu einem Ungleichgewicht geführt,  dessen Auswirkungen zu versteckten ( ökonomischen und sozialen)  oder zu offenen (militärischen) Kriegen geführt  haben – überall im Einzugs-  und Beherrschungsgebiet der ehemaligen UdSSR.  Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien,  den wir im westlichen Teil Europas – zwar mit grosser  Distanz,  wenn nicht gar mit schändlicher Indiflferenz, jedoch  noch am nächsten  – miterlebt haben, versetzt  uns einmal mehr in  eine Gleichzeitigkeit der kollektiven Trauer  und der geforderten Neuordnung zerstörten Zusammenlebens,  nicht nur im ehemaligen,  nun kriegsversehrten Jugoslawien,  sondern in Europa  überhaupt, und verstärkt das Bewusstsein der Hilflosigkeit vor den polarisierenden und lähmenden Auswirkungen falscher,  d.h. menschenverachtender  Politik überhaupt und überall, auch in den westlichen  Ländern.

Eine Krise von diesem Ausmass  könnte  eine Chance sein, die Bedingungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit als Bedingungen des Zusammenlebens grundsätzlich zu überdenken,  damit aus den durch Profitmaximierungskonzepte entstandenen Aporien des politischen  Handelns  zu solidarischen Modellen  gefunden  werden  könnte.

 

Von der Einführung der Sozialzeit zum Zukunftsrat

 

Der monetär  definierte Ungleichwert von Existenzzeit qua Arbeitszeit und die zunehmende Polarisierung durch das Ungleichgewicht in der Verfügbarkeit von Zeit und Raum verstärken, wie ich ausgeführt  habe, die Leidensfolgen der Entfremdung.  Kollektive Frustrationen und Depressionen – jedoch  je individuell  erlittene – führen zu einem Ausmass  an internalisierter Gewalt (Süchte,  Somatisierungen,  Suizide)  sowie an externer  Gewalt,  das für das Zusammeneben der vielen bedrohlich  wird. Diese vielfache Gewalt ist nicht nur ein Indiz für den Macht-  und Handlungsverlust der vielen einzelnen,  sondern  auch für den überhandnehmenden Sinngebungsverlust.  Sinngebung erfolgt durch die Erfüllung  der vielfältigen Verhältnishaftigkeit der Existenz in Zeit und Raum,  durch deren aktive, verantwortliche Einbindung  in das Zusammeneben der vielen.  Was als  Sinnkrise, ja als Verzweiflung  und Sinnleere heute in Erscheinung tritt – bei einem grossen  Teil  der Jugend   wie bei älteren und alten Menschen  – ,  kommt  aus dem Gefühl, aus den Verhältnissen als unnütz entlassen worden zu sein,  buchstäblich  nichts mehr “anfangen”  zu können und alleingelassen zu sein.  Die damit verbundenen Verlustgefühle lassen das Leiden ander Existenz,  das Bewusstsein der Sterblichkeit als ängstigende Fragilität der Existenz  (nach Freud den Todestrieb) übermächtig werden.  Sinngebung dagegen  schafft ein Gefühl  der Furchtlosigkeit,  wie dies zum Beispiel bei  den Frauen  in Sizilien,  Frauen aus den ärmsten Bevölkerungsschichten,  deutlich wurde,  als sie den Kampf gegen  die Mafia aufnahmen und dadurch  aktiv ihre eigene Verhältnishaftigkeit in Zeit und Raum – das Zusammenleben auch für die Zukunft  – veränderten.

Da infolge der technischen Innovationen und der wirtschaftlichen Globalisierung die vorhandene Lohnarbeit in unserem Raum nur noch für einen immer kleineren Teil der Menschen  als  Sinngebungspotential reicht, muss sie neu verteilt werden.  Mein Vorschlag ist, dass die Hälfte der heutigen  Vollarbeitszeit als Vollarbeitszeit gilt.  Dadurch  würde  die doppelte Anzahl Menschen  wieder  in den Erwerbsprozess einbezogen,  andererseits  aber bestände ebenfalls für die doppelte Anzahl Menschen  ein ebenso grosses  Potential an verfügbarer Zeit: an Sozialzeit.  Deren  Sinngebung könnte durch die Umverteilung derjenigen Arbeit erfolgen, die bis anhin vor allem durch Frauen  als unbezahlte  Arbeit geleistet wurde.  Die Verhältnishaftigkeit jeder Existenz könnte  dadurch  aufgewertet und gestärkt  werden. Sozialzeit wäre ein wirksames  Korrektiv der – seit der Industrialisierung – ausschliesslich monetär  erfolgenden Zeitdefinition und der damit verbundenen diskrimierrenden Ungleichwertung von Lebenszeit.  Gleichzeitig liesse sich damit,  angesichts  der notwendigen Arbeitszeitreduktion,  eine   sinnvolle Zeitanwendung verwirklichen,  wobei noch genügend Freizeit ( die leider häufig ausschliesslich als Konsumzeit verstanden wird) verfügbar  wäre.

Sozialzeit als – monetär  nicht belangbare  – gelebte Verhältnishaftigkeit könnte  auf relevante Weise das heute bedrohlich brachliegende und ungenutzte Freiheitspotential im  Sinn der Verbesserung des Zusammenlebens aktivieren.  Der Gewinn für alle wäre grössere Furchtlosigkeit:  Furchtlosigkeit gegenüber  der eigenen   existentiellen  Wert-  und Unwerterfahrung durch  die – scheinbar – übermächtigen marktbedingten Effizienzkriterien, furchtlosigkeit gegenüber der Flüchtigkeit der Zeit,  Furchtlosigkeit gegenüber  den anderen Menschen.  Das Modell  der Sozialzeit könnte  mithin ein überaus  kreatives Potential enthalten: nämlich die Korrektur von Entfremdung,  von Existenzentwertung,  gesellschaftlicher Desintegration und Gewalt,  damit die Korrektur zugleich von Vereinsamung und Vermassung – ein zukunftsfähiges und zukunftskompatibles Modell.

So einleuchtend  das Modell  ist,  so schwierig erscheint  dessen praktische Umsetzung.  Ist diese überhaupt auf demokratischem Weg vorstellbar?  Mir scheint,  dass auf eine Einrichtung zurückgegriffen werden  müsste,  die sich in Zeiten der grossen  Umwälzungen gut bewährt  hat: das Rätesystem.  Dabei müsste  es sich um Räte handeln,  die ausdrücklich mit der Verbesserung der gefährdeten Verhältnishaftigkeit von Zeit und Raum beauftragt wären,  um Zukunftsräte.

Ein Zukunftsrat liesse sich für jeden  Betrieb und für jede  Gemeinde,  aber auch für jede grössere  Organisation des Zusammenlebens – selbst für Staaten und überstaatliche Organisationen – vorstellen und einrichten.  Die Einführung neuer Zeitnutzungsmodelle – sowohl die Halbierung der Vollarbeitszeit wie die Sozialzeit -, die solidarische Aktivierung heute ausgegrenzter Bevölkerungsschichten,  die Verminderung von Gewalt,  die Suche um Lösung  bei Konflikten,  die das Zusammenleben gefährden,  die Verhinderung militärischer “Lösungen”,  die zukunftskompatible Verwendung der kollektiven oder öffentlichen Finanzen ( etwa in Fragen  der Bildung  etc.),  die Sorge um Böden,  Gewässer  und Luft sowie um die Nutzung  von ( erneuerbaren) Energien,  kurz,  alles,  was das In-der-Welt-sein nicht nur in der absehbaren Gegenwart,  sondern  auch für die kommenden  Generationen verbessert und stärkt, müsste durch den Zukunftsrat – die Zukunftsräte – erwogen,  angeregt  und eventuell  auch umgesetzt werden,  in einer vorweg  sich etablierenden Kommunikation zwischen den einzelnen Räten.  Deren Mitglieder würden  in freien Wahlen gewählt ( durch die Belegschaft eines Betriebs,  durch die in- und ausländische  Bevölkerung einer Gemeinde,  eines Staates etc.) und nähmen ihre Tätigkeit als befristetes Mandat  wahr,  wobei zu etwa gleichen Teilen junge  und ältere Menschen, Frauen  und Männer, Einheimische und Ausländer/Ausländerinnen den Rat bilden würden.  Dessen  Grösse  sowie die Frist der Mandate  müsste je proportional errechnet werden.

Eine Utopie?  Kaum.  In verschiedenen Variationen wurden  ähnliche Modelle  schon entwickelt und publiziert (Posner,  Ruh). Meiner Ansicht nach handelt es nicht um eine Utopie,  nicht um eine fantastische Vorstellung  “ohne Ort” (u-topos) und jenseits  der Zeit, sondern  um ein dringliches Projekt,  durch welches die Rückgewinnung des politischen Handelns zuständekäme,  auf allen Ebenen,  so dass eine Aktivierung der Kultur des Zusammelebens und der breiten,  demokratisch wahrgenommenen Verantwortung erfolgen könnte.

 

 

 

III.  Teil – Handlungsaporie durch  nationale  Verweigerungen

 

Wie dringlich eine Aktivierung der kulturellen Partizipation und der politischen Verantwortung ist,  zeigt das Beispiel der Schwweiz.  Die Schweiz ist eine zutiefst angstbesetzte Nation.  Der konservative Verweigerungsweg,  den sie seit Jahrzehnten geht,  hat in der Angstbesetztheit seinen Ursprung und seine Handlungsgrammatik.  Der Weg der Schweiz hat in eine – sich in letzter Zeit schnell und massiv verengende – Spirale hineingeführt,  in der alle Windungen – die sozio-politischen,  die wirtschaftlichen, die kulturellen – grösste kollektive Verunsicherungen parat halten.  Keine dieser Verunsicherungen ist jedoch eine Überraschung, jede wäre vorhersehbar, ja sogar vermeidbar gewesen,  wenn die Verweigerungen nicht als das “richtige Handeln” gegolten hätten.

Ich habe in der kriegsverschonten  Schweiz während der Kriegsjahre meine Kindheit verbacht und in der Nachkriegszeit einen Teil meiner Jugend.  Alle Kolonisationserfahrungen machte ich in der Schweiz.  Von der Herkunft  her aber bin ich, nach der pauschalen Genealogie  meines Vaters,  zu “zwei Dritteln”  nicht-schweizerisch.  Das Wissen darum liess mich seit der Kindheit zur Beobachterin werden,  und ich gab diese Position auch nicht auf, als ich zunehmend  zur “femme politique” wurde.

Die Schweiz befindet  sich nicht nur in einer immer lähmenderen Wirtschaftskrise,  sondern  seit dem Herbst  1996  auch in einer politischen Handlungsaporie,  die mit ihrer Nicht- Kriegsvergangenheit,  mit ihrer Verschontheit zu tun hat.  Die Schweiz weiss nicht mehr weiter. Seit dem Kriegsende  (vermutlich  seit Kriegsbeginn) hat sie ein Selbstbild konstruiert,  das sich – endlich – als falsch erweist.  Nicht etwa,  weil die Recherchen junger  Historiker und Historikerinnen,  die seit Jahren als Bücher  vorliegen,  erkenntnismässige und politische Folgen hätten,  sondern weil vom Ausland her der Finger auf das trügerische,  zerbröckelnde Identitätskonstrukt gelegt wird:  weil – zusätzlich  zur schon bestehenden Produktions- und Exportkrise – Folgen für den Finanzplatz,  für die Banken,  drohen.  Vom heldischen Mythos bleibt kein Rest mehr.  Weder war die Schweiz wirklich humanitär noch rechtschaffen neutral noch erfolgreich wehrhaft  – im Gegenteil.  Sie hat sich im Vorfeld und während  des letzten Kriegs so anpasserisch,  profitorientiert und menschlich schäbig verhalten haben, dass heute von offizieller Seite her von Schuld gesprochen werden  muss. Ein Teil der Regierung  und der Grossteil  der Bevölkerung reagiert darauf störrisch – und das heisst, zuerst  einmal,  generell konservativ  identitätsverteidigend,  sodann spezifisch konservativ antisemitisch.  Das Zerbröckeln der Mythen  ist umso ängstigender,  als die dadurch verursachte Identitätskrise einhergeht   mit Rezession  und wachsender Arbeitslosigkeit,  mit den Verarmungsängsten auch des Mittelstandes,  mit einer zunehmenden Zukunftsangst.  Der “Sonderweg”  der Schweiz,  den der Grossteil  der Bevölkerung mit ihren Abstimmungs-  und Wahlzetteln gepflastert und für gut befunden  hat,  erweist  sich als  Sackgasse.  Der heute wieder – spürbar hemmungslose – Antisemitismus hat, denke ich,   wie in den Dreissigerjahren,  mit den bekannten verhängnisvollen Sündenbockbedürfnissen und Sündenbockreflexen zu tun, die auch in den peinlichen Äusserungen eines Regierungsmitgliedes – des Bundesrats Delamuraz – und eines hochrangigen  Diplomaten – des in Washingtin  akreditierten schweizerischen Botschafters Jagmetti  – zum vorscheintreten.

Um weiterzuwissen,  muss man verstehen,  warum  die offizielle  Schweiz (Regierung,  Parlament, Behörden und Angehörige der Armee, Nationalbank) und die para-offizielle  Schweiz (Industrie,  Geschäftsbanken,  Versicherungen,  Treuhand-  und Anwaltsfirmen,  die ja alle ihre Interessenvertreter auch im Parlament  haben), immer gestützt  durch den sog.  “Souverän”  nicht nur damals, sondern  schon vorher  und bis heute  sich in diese Sackgasse hineinentschieden haben.  Für mich sind die folgenden Fragen zentral:

Wann begann die seit langem bestehende  Priorität der Wirtschaft  vor der Politik und vor allem vor der Kultur?  Womit hängt der Verlust des Politischen zusammen  – das Aushandeln und Beschliessen aller Geschäfte und Probleme,  die das Zusammenleben der vielen verschiedenen Menschen auf innovative  Weise optimieren sollten,  nach moralischen Kriterien, jenen der grösstmöglichen Freiheit auch der Schwächeren,  somit nach Kriterien der Gerechtigkeit? Womit hängt das Überhandnehmen der Wirtschaft  – das Handeln nach Kriterien der Besitzwahrung sowie der eigenen Profitmaximierung, nach – mehr oder weniger – amoralischen Kriterien,  bei denen  die Interessen der Schwächeren keine Rolle spielen,  wo daher Grundwerte wie Gerechtigkeit oder gar Solidarität scheinbar gerechtfertigterweise verschwinden? – Mit anderen Worten:  Wann gab der politische Liberalismus vor dem Manchester-Liberalismus klein bei, der sich in einer Allianz mit konservativen,  ständischen- patriarchalen Interessenvertretungen befindet? Hängt  der schweizerische Konservativismus, der nicht nur Öffnungen nach Aussen verhindert hat und weiterhin verhindert,  sondern  auch die geistige und politische Innovation  im Innern der Schweiz (Frauenstimmrecht,  Ausländerrechte, Kinderrechte etc.) blockert  oder gar verhindert  hat,  mit dieser Allianz zusammen?  – Darf sich der Wert einer Demokratie am Erfolg der Wirtschaft  messen?  Welche Rolle spielt das Milizsystem unserer  Parlamente,  das wiederum verfilzt ist mit dem militärischen Milizsystem, beim ständig wachsenden Misstand des Politischen?

Warum kam es in der Schweiz zur massiven Diffamierung der “Linken”,  worunter ich das gesamte  intellektuelle,  künstlerische und politische  kritische Potential verstehe?  Warum schufen sich die schweizerischen  “Intellektuellen”  nie die Möglichkeit,  wirklich als zivilgesellschaftliches Korrektiv zu wirken?   Welche Rolle spielte dabei die Tatsache,  dass die Arbeiterbewegung  sich vor allem in der Sozialdemokratie institutionalisierte,  die mit dem “Arbeitsfrieden”,  mit der Einbindung  in  “Zauberformel”  und Konsenspolitik sich selbst der Möglichkeit einer wirksamen demokratischen Opposition beraubte?  Hat die institutionalisierte “Linke”  selbst zur Diffamierung und Lähmung  einer innovativen Linken beigetragen ( Desolidarisierung bei der jahrzentelangen  “Kommunisten”hetze etc., Desolidarisierung mit Basisbewegungen etc.)?  Spielt das mit, was ein- augenblicklich viel gelesener – Autor die Unerträglichkeit der Ambivalenz”  nennt, warum auch die Linke anpasserisch wurde?

Wie kam es, dass “Kultur”  auf so eingeschränkte Weise verstanden wird? – einerseits in Verbindung  mit Geld und Besitz, resp. mit Vermögenwerten (man “leistet sich” Kultur: Gemälde,  teuere  Eintritte zu Starveranstaltungen in der Oper,  im Konzertsaal etc), andererseits als “Tätigkeit”  einer kleinen,  genau definierten  Gruppe  von Schriftstellern/Schriftdstellerinnen und Künstlern/Künstlerinnen – der “Kulturschaffenden”.  Wie hat sich das Kulturmisstrauen des grossen  Teils der Bevölkerung,  die Verbindung  von “Kultur”  mit “subversiv”  herausgebildet? Welchen Einfluss übte dabei  (übt immer noch) auch wiederum das ständisch-konservative Grundmuster unserer Gesellschaft  aus, das ja an den öffentlichen Gymnasien und an den Universitäten dominiert?

Hat der hypostasierte Identitätsbegriff  der Schweiz die Möglichkeit pluraler,  auch aktiver oppositioneller Loyalitäten verhindert?  Hängt  damit das Grundmisstrauen gegenüber  Frauen, Juden,  Ausländern,  “Linken”,  Intellektuellen  etc. zusammen?  Muss dieser konservativ  besetzte Identitätsbegriff in erster  Linie analysiert und zur Disposition gestellt werden,  damit ein Weg aus der heutigen  Aporie  gefunden  werden  kann?

Als optimale Übereinstimmung von möglichst grossem  individuellem Nutzen und möglichst grossem  allgemeinem Nutzen erscheint  heute ein Wert  alle anderen in den Schatten  zu stellen: Sicherheit.  Sicherheit  lässt sich nur negativ definieren, nur durch Aufzählung der Verunsicherungen,  die es auszuschalten gilt:  wirtschaftliche,  politische,  ökologische,  letztlich existentielle Verunsicherungen.  Was auf existentieller Ebene  einerseits durch kommerzielle Angebote von Versicherungen (gegen Einbruch,  Diebstahl,  Unfall,  Todesfall etc.)  angeboten wird, andererseits  durch  solidarische, gesamtgesellschaftliche  Vertragswerke  (Alters- und Invalidenversicherung)  erkämpft  wurde,  soll eine Begrenzung  der Leidensfolgen der “condition humaine”,  d.h.  der mit der Zeitlichkeit resp. Sterblichkeit verbundenen Unvorhersehbarkeit bewirken.  Auf nationaler Ebene gewährleistet einerseits die Verfassung die Rechtssicerheit der Bürgerinnen und Bürger, andererseits soll gleichzeitig durch institutionelle Massnahmen,  etwa durch Polizei,  durch  Grenzbeamte und durch Armeen,  Sicherheit durch Abschreckung oder Ausschaltung irgendwie definierter Feinde garantiert werden.  Auch auf transnationaler,  etwa auf europäischer Ebene  soll Sicherheit ebenfalls durch Abschreckungs-, Eingriffs- und Angriffsmethoden erreicht werden,  so durch durch Nato-  und Unprofortruppen,  zugleich aber durch multinationale Abkommen  und Verträge  wie diejenigen von Sehengen,  von Maastricht, von Budapest und neuestens  von Turin.  Was aussteht,  ist eine transnationale Garantie   für die Sicherheit der der personalen und politischen Rechte  aller Menschen. Nach wie vor leben Millionen von Kindern,  Frauen  und Männern  allein in Europa  – Flüchtlinge,  Migrantinnen und Migranten,  gesellschaftliche “Marginalisierte”,  insbesondere Obdachlose,  Langzeitarbeitslose und sog.  “drop  outs” –   in einer Situation der höchst prekären  existentiellen  Verunsicherung.  Es ist daher unsinnig,  die Forderung nach Sicherheit allein als reaktionären Diskurs  zu bezeichnen und zu verwerfen.  Zwar gehen dabei  unbestrittenermassen Begehrlichkeiten der unanfechtbaren Eigentums- und privilegiensicherrung miteinher.  Gleichzeitig aber handelt  es sich um die Notwendigkeit,  existentielle  Verunsicherung infolge prekärster Lebensbedingungen zu beheben  – mithin um eine Forderung,  die mit Gerechtigkeit und Schutz der menschlichen Würde  zu tun hat.  Das zutiefst Erschreckende ist,  dass gerade  diese Forderung nach Sicherheit vor sozialer und politischer Ausgrenzung  von den meisten europäischen Regierungen  als Bedrohung interpretiert und definiert wird. Die bis heute vorliegenden europäischen Vertragswerke, welche die Modalitäten  transnationaler Sicherheit festhalten,  richten  sich ja nicht mehr gegen fremde  Staaten und fremde Armeen,  sondern  allein noch gegen Menschen, Menschen,  die zu “fremden”  Menschen,  zu Fremden  deklariert werden,  weil sie die Erfüllung ihrer Rechte  und Grundbedürfnisse ausserhalb  der Grenzen ihrer Herkunftsländer einfordern, weil ihre Existenz und ihre Arbeitszeit innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft  nichts gilt, Migrierende,  Arbeitssuchende,  Arme, Flüchtlinge  vor Gewalt,  Hunger  und Krieg.  Diese werden  ausgegrenzt,  d.h.  hinter die Grenzen einer transnationalen Vertragsgemeinschaft gewiesen,  die sich gleichsam wiederum als privaten  Wohnraum  definiert.  Auf verhängnisvolle Weise scheint durch die Hintertür von nationalen und multinationalen Vereinbarungen der Klassenkampf von oben neue “faits accomplis”  massiver Ungerechtigkeit durch die massive Ausgrenzung  von Menschen   zu schaffen: Ausgrenzung  innerhalb des sozialen und politischen Raumes  mit Hilfe von Gesetzen.  Eine europäische Verfassung sollte in erster Linie Sicherheit gegen diese massive Ungleichbehandlung und Ausgrenzung von Menschen  garantieren.

Ein zweiter Aspekt von individueller und kollektiver  Sicherheit scheint mir grösste Aufmerksamkeit zu verdienen:  Dieser betrifft die Sicherheit vor Schadenfolgen aus militärischen,  technologischen und ökologischen Risiken.  Auch bei dieser Sicherheit geht es um den Respekt  vor der Integrität des menschlichen  Lebens,  der immer und unbedingt  gefordert werden  muss,  im privaten wie im öffentlichen Bereich.  Es geht um Sicherheit vor psychischer und körperlicher Gewalt. Diese Sicherheit entspricht ebenfalls einem Grundbedürfnis.  Da, wo sie als kollektives Postulat aller Menschen kollektive Räume und Nutzungen betrifft,  ist deren Garantie auch durch politische Instanzen zu leisten.  Dies betrifft u. a.  Sicherheit am Arbeitsplatz,  in Fabriken,  auf Baustellen und anderswo, Sicherheit auf der Strasse oder in der Luft, Sicherheit vor krankmachender Nahrung,  Sicherheit vor Anwendung von Waffen, Sicherheit vor atomarer Verstrahlung – die Aufzählung könnte weitergehen.  Der in den letzten fünf Jahren miterlebte Krieg im ehemaligen Jugoslawien,  der russische Angriff auf Tschetschenien,  die militärische Bedrohung und Dezimierung der kurdischen Bevölkerung, aber auch der in den letzten Wochen vielen Menschen bewusst gewordene Wahnsinn einer rücksichtslosen,  nur gewinnmaximierenden Technologie der Tieraufzucht und Tierverwertung, als handle es sich dabei nicht um Kreaturen mit eigenen Bedürfnissen und Rechten, sondern um blosse Materie,  sodann das Gedenken an den Reaktorunfall von Tschernobyl vor zehn Jahren mit seinen unsäglichen Leidensfolgen für Generationen von Menschen mögen die dringende Forderung nach Sicherheit vor militärischen und technologischen Risiken heute in den Vordergrund rücken.  Diese darf, wenn die jeweilige Medienaktualität vorüber  ist,  auf keinen Fall wieder  einschlafen  oder gar vergessen  werden.   Hier müssen Gesetze  dem Missbrauch Grenzen  setzen,  damit alle Menschen  im sozialen Raum ohne willkürliche Begrenzung  ihrer physischen und psychischen Integrität geschützt  seien.

Die nationale Grenze?  Sie ist – abgesehen  von den Kontrollposten an der Strasse – von Auge nicht nicht ersichtlich,  und trotzdem ist es eine tatsächliche  Grenze zwischen zwei Nationen, zwischen zwei Staaten,  eine Grenze, um welche Kriege geführt wurden  und welche vor noch nicht langer Zeit, vor nur fünf Jahrzehnten,  eine Grenze zwischen Leben und Tod war.  Die “passeurs” und “passeuses”,  welche  es wagten,  unter eigener Lebensgefahr gehetzte  und gejagte Menschen  aus einer Situation  der tödlichen  Bedrohung  über die Grenze zu führen, wussten  nur allzu gut, wie real  sie war.  Sie ist es noch heute, wir bezeugen  es, indem wir von zwei  Seiten auf sie zukommen,  von diesseits und jenseits  der Grenze.

Jede Grenze  ist gekennzeichnet durch ein Diesseits und ein Jenseits,  durch ein Hüben und Drüben,  durch ein Drinnen und Draussen.  Die nationalen Grenzen machen   deutlich,  dass die Menschen  das In-der-Welt-sein tatsächlich räumlich verstehen.  Dass sie nach wie vor abgegrenzte Räume brauchen,  nicht nur private Räume,  sondern  auch politische,  die zu betreten es eines besonderes Rechts  oder einer besonderen Genehmigung  bedarf,  einer besonderen Identität  oder besonderer “Identitätspapiere”.  Die Abgrenzung- Eingrenzung und Ausgrenzung  – sowohl  des privaten wie des politischen,  des nationalen Raums  soll in erster Linie der Sicherheit dienen.  Die   “Sicherheit” jedoch,  darauf wies ich schon hin, wird ausschliesslich durch Bedrohungsszenarien definiert,  die sich aus Differenz und Differenzen konstituieren.

Ich sagte eben,  Grenzen hätten  immer ein Diesseits und ein Jenseits.  Dies unterscheidet sie von Abbruchkanten,  auch wenn es sich um innere Grenzen handelt, um Grenzen der Leistungsfähigkeit,  um Schmerzgrenzen,  um Grenzen des Duldens und Leidens,  um Grenzen der Toleranz  auch im Politischen,  oder um Grenzen des Verstehens,  um Grenzen der Sprache. Ludwig Wittgensteins  Satz   Die Grenzen meiner Sprache sind die  Grenzen meiner Welt”,  hat seine Richtigkeit. (Da dies von Marcel  Schwander in seinem Referat ausführlich illustriert wurde,  gehe ich nicht weiter darauf ein). Es gibt Grenzen, die verschiebbar sind wie der Horizont,  die Grenze zwischen Erde und Himmel,  oder die diffus sind wie die Grenze zwischen Tag und Nacht,  die Dämmerung,  die durch den langsamen Prozess des Übergangs von der Dunkelheit  in die Helligkeit  oder umgekehrt jede Art von Räumlichkeit   auflöst.  Die Abfolge der Variationen  von Heller und Dunkler zwischen Tag und Nacht  macht deutlich,  dass die Fülle von Differenzen es schwierig,  wenn nicht gar unmöglich macht, von einer Grenze zwischen dem einen und dem anderen  zu sprechen,  macht auch deutlich,  wie falsch  die Redeweise ist,  zwei Menschen  oder zwei Völker  oder zwei Nationen  oder Kulturen  seien “so verschieden  wie Tag und Nacht”.

Damit komme ich wieder  zur Identität.  Unter  “Identität”  wird ja so etwas wie eine hypostasierte Gleichheit mit sich selbst verstanden,  welche sich durch klare Ungleichheit,  durch klare Differenz von einer anderen  Identität abgrenze.  Wenn von “Identitätspapieren”  die Rede ist,  welche berechtigen oder ev.  nicht berechtigen,  eine Grenze zu überschreiten,  so müssen wir zu Recht  fragen,  um welche  “Identität”,  resp. um welche  “Gleichheit”  es sich dabei handle. Gleichheit zwischen wem und wem,  oder zwischen wem und was.  Bei der gleichen Staatsbürgerschaft etwa geht es um ein erwerbbares,  ja häufig sogar käufliches Recht,  das allein während  einer Lebenszeit mehrmals gewechselt werden  kann.  Es handelt  sich somit um eine Variable von ausschliesslich funktionalem Wert.  Dasselbe kann von der Religion gesagt werden  oder von der so verhängnisvollen und fragürdigen Begriffskonstruktion  “Rasse”, ja selbst vom Geschlecht.  Jede dieser “Identitätskategorien”  weist für jedes einzelne Individuum, das eine oder mehrere davon für sich beansprucht oder das durch eine oder mehrer determiniert wird, eine Fülle von Differenzen auf,  nicht nur wenn das ganze Leben von der Geburt bis zum Tod betrachtet wird, sondern selbst wenn nur ein einzelner bestimmter Tag oder ein einzelner bestimmter Moment in den Blick fällt.  Immer ist das, was als Identität erscheint,  ein Zugleich vielfältigster, ja sogar widersprüchlichster Differenzen im einen und gleichen Individuum.  So kann “Identität”  eigentlich nur als ständig sich verändernde Summe der Differenzen oder als Prozess verstanden werden.  Was allerdings  “identisch”  ist bei allen Menschen, unabhängig von ihren unterschiedlichen  “Identitätspapieren”,  ist die existentielle Bedingtheit in Zeit und Raum sowie die gegenseitige Abhängigkeit voneinander in der Stillung der Grundbedürfnisse,  wozu nicht zuletzt der Respekt vor der Freiheit gehört.

Die existenzphilosophische Reflexion über die immanenten Grenzen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit einerseits, über die unterschiedliche Deutungsmöglichkeit von Grenzen andererseits (sowohl im Zusammenhang mit Identität und Differenz wie mit der Tatsache der gleichen Grundbedürfnisse aller Menschen), sollte als Grundlage einer politischen Theorie  der Demokratie bei der Ausformulierung einer europäischen Verfassunggebung mitberücksichtigt werden.  Ich wäre glücklich, sie könnte eine weiterführende Reflexion bewirken,  nicht nur hier in unserem Kreis, sondern darüber hinaus dank der Reflexionen und der politischen Arbeit,  die Sie in Ihre politische und gesellschaftliche Kreise hinein weitertragen.

 

 

Skepsis als Projekt oder Von der Leidenschaft des philosophischen Nichtwissens

 

Die  Infragestellung  von  Identitätshypostasen  hat  eine lange  Geschichte.   Im  weitesten  Sinn liesse sich sagen,  dass es die Geschichte der Skepsis ist,  d.h.  die Geschichte der Infragestellung des Herrschaftsanspruchs von Personen,  von Worten, von Glaubenssätzen,  von Theorien und Weltanschauungen.   Es  ist   die  Geschichte  der  Rebellen  und  der  Rebellinnen,  mithin  die Geschichte  der Emanzipation.  Unter den vielen,  die diese Geschichte geprägt  haben,  will ich nur einige wenige nennen.  Vor allem seit  dem Beginn der Neuzeit gab es eine grosse  Anzahl Denker und Denkerinnen,  welche  die programmatische  Unterwerfungs-  und Zähmungsabsicht identitätsorientierter        Weltbilder       und        damit       verbundener        Erziehungssysteme (Kolonisationssysteme)  durchschauten und kritisierten.  So  etwa der 1530 in Sarlat im Perigord geborene Etienne  de la Boetie,  der mit  33  Jahren in  Germignan  starb,  von dem posthum – im Jahre  1577  – ein Buch  erschien,  vermutlich  sein einziges Werk,  dessen Titel “Contr’un”  oder “Discours  de la  servitude volontaire”  schon Aufruhr verursachte,  dessen Inhalt umso mehr.  Es ist  eine  bittere  Kritik   am  mangelnden  Widerspruch  gegen Unterwerfungsforderungen,   die durch Herrschaftsstrukturen vermittelt  werden.  Wohl bestimmt die Natur den Menschen zur Freiheit und verleiht ihm den  Willen dazu,  aber sein Wesen ist so,  dass er die Züge trägt,  die die Erziehung ihm aufprägte.  Daraus folgt,  dass dem Menschen alles,  wozu man ihn erzieht und gewöhnt,  zur zweiten Natur wird”.  Daher kommt es zum sklavischen Angleichungsstrebens der Untertanen  an den Fürsten, an den “Tyrannen”  .        “Sie müssen nicht nur tun,  was er sagt, sondern  denken,  was  er  will  und  oft  noch  seinen  Gedanken  zuvorkommen,   um  ihn  zu befriedigen.  Es reicht nicht,  ihm zu gehorchen,  sie müssen ihm auch noch zu Gefallen  sein, (..)  sein  Vergnügen für  das ihre halten,  den  eigenen  Geschmack  um seinetwillen  aufgeben, ihren Charakter verändern und ihre Natur verleugnen.  (..) Heisst das wohl glücklich  leben? Heisst  das  leben?”  fragt  Etienne  de  la Boetie.  Er  stellt  fest,  dass  autoritäre Identitätsforderungen, denen widerstandslos stattgegeben wird, nicht nur die Freiheit, den Geschmack,  den Charakter, ja die “Natur”  der Menschen  pervertieren,  sondern  zutiefst  das Glück,  d.h.  das wirkliche Leben in Frage stelle

 

 

 

Wichtige Literatur:

Jessica  Benjamin.  Phantasie  und  Geschlecht.   Studien  über  Idealisierung,  Anerkennung  und Differenz.  Frankfurt a.M.  1993

  • (Hg.) Unbestimmte Grenzen.  Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter.  Frankfurt a.M. 1995

Judith Butler.  Das Unbehagen der Geschlechter.  Frankfurt a.M.  1991

Muriel   Dirnen.  Dekonstruktion  von  Differenz:  Geschlechtsidentität,  Spaltung und Übergangsraum,  in: Jessica Benjamin.  Unbestimmte Grenzen.  A.a.O.

Frantz Fanon.  Die Verdammten dieser Erde.  Vorwort von J.-P.Sartre.  Frankfurt a.M.  1966

Luce Irigaray.  Zur Geschlechterdifferenz.  Wien 1987

  • Die Zeit der Differenz.  Frankfurt a.M.  1991

Sarah Kofman.  Erstickte Worte.  Wien  1988

  • Rue Ordener.  Rue Labat.  Autobiographisches Fragment.  Tübingen 1995

Julia Kristeva.  Geschichten von der Liebe.  Frankfurt a.M.  1989

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