Das Öffnen des Fächers – Denken und Empfinden beim Entfalten der kreativen Vernunft in den Arbeits- und Zeitverhältnissen

Das Öffnen des Fächers – Denken und Empfinden beim Entfalten der kreativen Vernunft in den Arbeits- und Zeitverhältnissen

 

Ich werde  in einem ersten Teil meines Vortrags ein paar Fragestellungen und Deutungen rund um das Phänomen “Zeit” erläutern,  in einem zweiten  Teil auf die Tatsache  des wirtschaftlichen Zugriffs auf die Zeit der Menschen,  nämlich auf deren Arbeitszeit,  und in einem dritten Teil auf ein – mir scheint notwendiges – Korrektiv dieses instrumentalisierenden “Zugriffs”  auf die Zeit resp. des zeitmaterialisierenden “Missgriffs”  – ein Korrektiv,  das ich als feministisches Projekt einer neuen Zeit-Wert-Gleichung bezeichnen  möchte.  Die Frage ist, wie Armut unter  dieser Zeitbesetztheit als Entwertung des menschlichen Lebens  erlebt wird, sodann auf welche Weise eine Verbesserung der Existenz mit Hilfe der von philosophischem Denken  – von Ethik – und von therapeutischen Zielsetzungen realisiert werden  kann.

Seit ich begonnen  habe, das Wort an Sie zu richten,  habe ich in den verschiedenen Zeitformen gesprochen ( ich wurde angefragt,  ich freue mich,  ich werde erläutern”) und habe mehrere Zeitbegriffe verwendet ( vor einigen Monaten,  heute,  20 Jahre,  Zeitmodelle” etc). Es gibt kein Denken  und keine Sprache ausserhalb  der Zeitenordnung,  ob wir uns dessen bewusst  seien oder nicht, und es gibt keine Vereinbarungen, weder  private,  politische  noch gesellschaftliche (z.B.  Zug- und Flugfahrpläne etc) ohne einen genau definierten,  verbindlichen  Zeitcode  mit präzisen Kalender-  und Uhrzeiten.  Wie kam aber dieser  ‘gesellschaftliche Code”, wie Norbert Elias unter  anderem  die Zeit nannte, zustande?  Und was bedeutet  Zeit darüber  hinaus? Wie kommt  es, dass wir die – für alle Menschen  gleich codierte  – Zeit so verschieden  empfinden?   – dass wir das Gefühl haben,  die Zeit fliege, oder dass sie uns lang und schleppend  erscheint?

Wie kommt  es, dass wir von  ‘Dauer sprechen,  obwohl wir uns nicht über die Flüchtigkeit des Augenblicks  täuschen?  Und wie ist es uns möglich,  auf selbstverständliche Weise für die Geschichte  der Kulturen und Staaten,  für das Alter der Erde, der Sonne und der anderen Gestirne wie für die uns gegebene  Frist im Erkennen  und Handeln,  im Lernen, Lieben und Leiden zwischen Geburt  und Tod die gleichen Begriffe zu brauchen,  resp. so Ungleiches  wie die gesellschaftliche Zeit, die physikalische Zeit und die existentielle Zeit nach gleichen Kriterien und Einheiten  zu messen? Und die Arbeitszeit?  Auch die menschliche  Arbeitszeit  ist Existenzzeit,  ist Existenz.  Dass die Existenz  über die Einführung  der Kategorie der Arbeitszeit zum Marktwert  wird,  in Geld gemessen wird, dass sie, je nach Person und gesellschaftlicher Funktion der Person,  als hoher oder als geringer Wert gemessen wird,  dass sie, je nach dem gar als wertlos erklärt wird – dies ist eine der grossen Entfremdungserscheinungen der Modeme, seit dem Beginn der Industrialisierung mit der daraus folgenden Massenverelendung  des Proletariats über die Massenarbeitslosigkeit in der Zwischenkriegszeit und die bald darauf einsetzende industrielle Tötung von Millionen von Menschen bis in die heutige postindustrielle Krise hinein mit ihrer skrupellosen Logik,  derzufolge wiederum Millionen von Menschen als überflüssig erklärt werden, weil deren Arbeitszeit – scheinbar – nicht mehr marktkonform eingesetzt werden kann, weil diese Zeit,  entsprechend dieser Logik,  nicht mehr für die Mehrwertsteigerung instrumentalisiert werden kann und daher zu teuer wird.    Diese Entwicklung der Monetarisierung resp. Kommerzialisierung der Arbeitszeit,  damit der – wirtschaftlich definierten – Ungleichwerterklärung menschlicher Existenz hat zu immer absurderen,  zu immer beängstigenderen Folgen geführt.

Dies als Einleitung.  Bevor ich weiter  auf diese Zusammenhänge eingehe, möchte  ich ein paar Klärungen  zum Begriff und zur Theorie  der Zeit vorausschicken.

 

( 1) Was ist die Zeit?

Von den zwei massgeblichen Bedingungen,  welche die Existenz jedes Menschen  prägen – Räumlichkeite und Zeitlichket  – ist die Zeit das rätselhaftere Phaenomen.  Während  der Raum seit der frühesten Kulturgeschichte gemessen,  eingeteilt, eingegrenzt  und als Eigentum Einzelner oder als Raum für viele erklärt wurde  – etwa die Allmenden oder die Strassen und Plätze,  später  die Länder  und Nationen -, blieb die Zeit ein Geheimnis. Zwar versuchten schon die ältesten Mythologien ( etwa die baylonischen oder die ägyptischen Mythologien,  oder die israelitische mit dem Buch  Genesis,  das Sie kennen),  die Zeit im Zusammenhang mit der Schöpfung der Gestirne  und der Erde  zu deuten,  und früh schon setzte  durch die Beobachtung der Gestirne,  insbesondere des Mondes  und der Sonne,  eine Einteilung  der Zeit in Tag und Nacht und in wiederkehrende Perioden  ein. Noch Platon  (427 – 347 vor Chr.),  der in der Tradition  der vorsokratischen Denker  – etwa Anaximanders  oder Herkalits  – über die Entstehung der Zeit nachdenkt,   hält in seinem Dialog “Timaios” fest,  der Schöpfer des Weltganzen  habe ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit gestalten” wollen,  und habe, dabei zugleich den Himmel ordnend,  dasjenige gemacht,  dem wir den Namen Zeit beigelegt haben”.  Platon  fährt fort,  dass es sich daher nur von dem in der Zeitfortschreitenden  Werden gezieme” zu sagen, es war und  wird sein;  dass dagegen  dem Unvergänglichen nur das istzukomme. Fliessend  ist bei Platon  noch der Übergang  von der Mythologie zur Philosophie, das heisst der Übergang  vom Geschichtenerzählen zur Reflexion.

Weniger fliessend, als hin- und hergerissen  zwischen Glaube und Philosophie,  bewegen  sich die aufwühlenden  Fragen Augustins  (an der römisch-christlichen Zeitenwende geboren,  im Jahr 354 im nordafrikanischen Thagaste,  430 in der Nähe von Karthago  gestorben). Sie finden sich im 11.  Buch  seiner  ‘Bekenntnisse.   Da geht es nicht, wie bei Plato,  um die Gegenüberstellung der Idee der Unvergänglichkeit mit dem Werden  und Vergehen,  sondern  da geht es um die “Ewigkeit” Gottes, die – darüber  gibt sich Augustin Rechenschaft – eigentlich gar nicht sprachlich abgehandelt  werden  kann,  da alles Sprechen in der Zeit geschieht.  Was also ist Zeit?” fragt Augustinus und fährt fort:  Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; will ich einem Fragenden es erklären,  weiss ich es nicht. Aber zuversichtlich  behaupte ich zu wissen,  dass es vergangene Zeit nicht gäbe,  wenn nichts verginge,  und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme,  und nicht gegenwärtige Zeit,  wenn nichts seiend wäre.  Diese beiden Zeiten,  Vergangenheit und Zukunft,  wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ‘ist’,  das Zukünftige noch nicht ‘ist’? Die Gegenwart hinwieder,  wenn sie stetsfort Gegenwart wäre und nicht in Vergangenheit überginge,  wäre nicht mehr Zeit,  sondern Ewigkeit?  Wenn also die Gegenwart nur dadurch zu Zeit wird, dass sie in Vergangenheit übergeht,  wie könnten wir dann auch nur von der Gegenwartszeit sagen,  dass sie ist (. . .)? Rechtens also nennen wir sie Zeit nur deshalb,  weil sie dem Nichtsein zufliesst. “

Augustins Fragen machen deutlich,  dass die Auseinandersetzung mit der Zeit unabschliessbar ist,  nicht zuletzt, weil sie mit der eigenen,  ängstigenden Erfahrung der Vergänglichkeit zu tun hat:  mit der Erfahrung,  dass die Zeit dem ”Nichtsein zujliesst”.  Diese Erfahrung hat einerseits existentielle Folgen, Folgen hinsichtlich dem Sinn,  der Sinngebung oder Sinnlosigkeit dieser flüchtigen Frist.  Ich werde daauf im dritten Teil des Vortrags eingehen.  Andererseits hatte diese Erfahrung schon früh – gewissermassen – “regulative” Folgen:  die entschwindende Zeit musste eingeteilt, kontrolliert  und festgehalten werden.  So entstanden  die ersten Kalenderstrukturen,  die es erlaubten,  den Fluss der Zeit  zu kontrollieren, mithin die Zeit und die Zeitintervalle  verbindlich  zu machen ( calendae hiessen bei den Römern  die ersten Tage jedes Monats,  an denen die Schuldner “gerufen”wurden – calare -, die Schulden zu zahlen). Der Gregorianische Kalender,  den wir heute benutzen,  wurde  allerdings erst vor etwas mehr wie 400 Jahren,  im Jahr  1582 durch Papst  Gregor XIII festgelegt, nachdem  der Julianische – d.h. der von Julius Caesar  eingeführte  – Kalender sich als revisionsbedürftig erwiesen hatte.  Die Festsetzung eines Kalenders war, resp. ist somit ein Ordnungsakt,  der wieder  aufgehoben oder korrigiert  werden  kann und die gesellschaftliche  Übereinkunft,  die aus diesem Ordnungsakt resultiert,  hat nur einen begrenzten und relativen Ausschliesslichkeitsanspruch.   (So hat z.B.  im Lauf der Französischen Revolution der Konvent  das Jahr 1792 zum Jahr  1  erklärt,  und ab dem Jahr 1794 und der “Abschaffung”  des Christentums sollte ein neuer Kalender mit Monaten  à je drei Wochen  und a je  10 Tagen gelten). In unserem Kulturkreis,  zum Beispiel, beansprucht neben dem Gregorianischen Kalender,  dem zufolge wir heute den 20.  Mai  1996 zählen,  der Jüdische Kalender  eine gleichzeitige  Geltung.  Diesem Kalender zufolge wird heute der zweite Tag des Monats  Siwan des Jahres   5756 gezählt.  In andere Kulturkreisen gelten wiederum andere Kalender.  Die grossen  Zeiteinteilungen sind somit Menschenwerk.  Sie sind alles andere als unumstösslich.

Auch die Feineinteilung der Zeit,  die Uhrzeit,  hat eine kurze Geschichte.  Und letztlich ist auch diese Feineinteilung  ein Ordnungsakt.  Noch Augustinus  rief aus:  Weh mir Armen,  da ich nicht einmal weiss,  was ich nicht weiss “,  denn es wird etwas gemessen,  das gar nicht gemessen werden  kann, da nicht bekannt  ist, was es ist.  Weder die zukünftigen noch die vergangenen noch die vorübergehenden Zeiten können wir messen,  und doch messen wir die Zeiten”,  hielt er mit Resignation fest.  Im 13.  Jahrhundert  begann die Räderuhr die anderen Zeitmesser abzulösen  – die schattenwerfende Sonne,  den verrinnenden  Sand oder das tropfende Wasser  – , doch erst  1657 wurde  durch Christian Huygens  die erste Pendeluhr  gebaut,  eine Zeitmessung, die 1674 durch die Erfindung  der Spiralfederuhr perfektioniert wurde.  Das heisst, dass die Zeitmessung nach Stunden,  Minuten und Sekunden,  wie wir sie durch die uns geläufigen Chronometer kennen, erst etwas mehr wie dreihundert  Jahre geläufig ist.  Doch  auch die viel feineren und komplizierteren elektronischen und anderen Zeitmessmethoden,  die zur Erfassung der Lichtgeschwindigkeit,  der Mikroprozesse in der Biologie,  Physik und Chemie oder für die Koordination der unterschiedlichen Weltzeiten  entwickelt  wurden,  auch sie beruhen,  wie letztlich alle älteren Uhren,  auf dem einen Prinzip: dass eine Dimension,  die “Zeit”  genannt wird, in Einheiten  eingeteilt  wird, und dass die Einheiten  oder Intervalle  verglichen werden, kurz, dass Vergängliches mit Vergänglichem in einen Bezug,  in eine Relation  gesetzt  wird. Dabei stellt sich allerdings heraus,  dass die Relation selbst selbst unvergänglich ist.  Die französische Philosophin Simone Weil, die 1943  im englischen Exil starb, hielt diese Erkenntnis folgendermassen fest:  ‘Le rapport entre passé et avenir est un rapport éternel;  l’écoulement même du temps est éternel. ” Oder  ein anderer bedeutender französischer Philosoph, Maurice Merleau-Ponty (1908 – 1961),  schrieb:  “Ce qui ne passe pas dans le temps,  c’est le passage  du temps”.

Die Fähigkeit zur Verknüpfung von Ereignissen,  die Fähigkeit,  etwas und etwas anderes in einen Bezug zu setzen,  ist, gestützt auf Immanuel Kant ( 1724 – 1804),  eine – quasi angeborene – Fähigkeit,  die der grosse Philosoph das “synthetische Vermögen a priori” nennt.  Darunter versteht  er ein Vermögen,  welches  die Voraussetzung für jegliche  Erfahrung bildet,  für jegliche Verknüpfung und Erklärung von Wahrnehmungen. Für Kant steht daher fest,  dass die Zeitempfindung,  das Wissen um die Zeit resp. Das Zeitgefühl dem einzelnen Menschen vor jeder Erfahrung und daher vor jedem Wissen vorgegeben sind, als eine ”Form der inneren Anschauung”,  d.h.  als eine subjektive Bedingung des menschlichenVerstandes, Ereignisse in einen Konnex,  mithin in eine zeitliche Abfolge zu bringen.  Kant gibt auch zu bedenken,  dass diese apriorische Fähigkeit  nicht zu verwechseln sei mit den Trugschlüssen der Empfindung, die scheinbare  Gültigkeit  beanspruchen, obwohl  sie keine ordentlichen  Denkprozesse voraussetzen,  so etwa die Empfindung,  dass die Zeit dahinfliegt oder sich nicht vom Fleck bewegt.

Die Psychologie,  insbesondere die Entwicklungspsychologie,  etwa die des Genfers Jean Piaget (1896 in Neuchätel geboren – 1980 in Genf gestorben), hat in unserem  Jahrhundert allerdings nachgewiesen,  dass das Zeitgefühl  nicht als vorausgegeben gelten kann,  sondern  dass es auf sehr unterschiedliche Weise im Lauf der Sozialisation dem Kind vermittelt  und vom Kind angeeignet  wird.  Schon einige Jahrzehnte  vorher hat ein französischer Philosoph, Henri Bergson (1859-1941),  festgehalten, dass die qualitativen Zeiterfahrungen nicht einfach als Trugschlüsse abgetan werden  dürfen.  Dies war die bahnbrechende Erkennis,  die er erstmals in seinem ‘Essai sur les donnees immediates de la conscience” 1889 in Frankreich,  1911  in Deutschland unter  dem Titel Zeit und Freiheit” veröffentlicht hat.  Bergson kritisiert,  dass zeitliche Momente wie räumliche gemessen  werden,  d.h.  dass die Zeit auf etwas  Quantitatives reduziert  werde.  Zeitliche Momente oder Intervalle  seien jedoch  nie nach quantitativen Kriterien messbar,  sondern  allein nach qualitativen,  d.h.  allein nach den Kriterien der Intensität. Für Bergson ist denn auch das eigentliche Zeitphaenomen die gelebte Zeit.  Diese wird in Bewusstseinszuständen,  die einander durchdringen,  erlebt,  wobei die aktuell erlebte Zeit mit der vergangenen und der vorweg  sich einstellenden  in eine Synthese gebracht wird, die er als das Phaenomen der Dauer erklärt.  Dauer  ist jedoch, nach Bergson,  nicht eine Eigenschaft,  die zur Existenz  hinzukommt.  Die Existenz selbst ist dieses Dauern: als Erleben,  als Bewahren der erlebten Zeit, als Vorwegnahme der kommenden.  Dass die innere Verschiedenheit zwischen dem umittelbar Erlebten und dem vorher Erlebten  erfasst werden  kann,  erklärt Bergson  durch eine spezifische Erkenntnis,  die er Intuition nennt.  Die Intuition  ist für Bergson gewissermassen die “Methode”  der Zeiterfassung.

Ohne die von Bergson  geleistete  Arbeit hätte  die Erkenntnis  der Existenzphilosophie nicht formuliert werden  können, dass die Bedingung  der Zeitlichkeit für den einzelnen Menschen  nur ertragbar  ist,  wenn er resp.  sie dem gelebten Leben vorweg  Sinn geben kann.  Diese Sinngebung ist zugleich Aufgabe und vorweg  Resultat  der Freiheit,  d.h.  der Fähigkeit, immer wieder  einen Anfang zu setzen und zwischen  Möglichkeiten des Handelns  zu wählen.  Die Tatsache  der Freiheit schafft die Verantwortung für die Folgen des Handelns,  auch die Mitverantwortung für das gelebte Leben der mit uns gleichzeitig lebenden Menschen.  Wie aber steht es mit der Notwendigkeit der Sinngebung  unter  den Bedingungen der monetarisierten Existenz,  die, wie ich dies schon erwähnt habe, über die Kategorie  der Arbeitszeit als niedriger oder als hoher Markwert gehandelt wird? – die sogar “wertlos” wird, wenn sie aus dem kommerzialiaierten Arbeitsprozess ausgeschaltet wird und für den Zweck der Kapitalisierung des Mehrwerts uninteressant wird? Wie sollen Freiheit und Mitverantwortung  für andere unter Bedingungen der Wertloserklärung von Existenz noch sinngebend wirken können?

Ein knappes Jahrhundert nach der Erfindung der Spiralfederuhr,  in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, erfand James Watt die Dampfmaschine. Damit begann der Siegeszug der industriellen Steigerung des Mehrwerts und dessen Kapialisierung,  zu deren Zweck die Menschen  als die billigste Ressource eingesetzt,  gebraucht und verbraucht wurden. Diese Instrumentalisierung der Arbeitskraft und Arbeitszeit der Menschen zu einem Zweck ausserhalb ihrer selbst ist das, was ich – im Anschluss an die Kritik der Ausbeutung durch Karl Marx (1818 in Trier geboren,  1883  in London gestorben) – die systematische  “Entfremdung” der Menschen nenne.  Deren katstrophalen Folgen habe ich schon angedeutet.  Die Selbstentfremdung der Menschen  durch das System der kapitalistischen Mehrwertsteigerung, das auch in den staatskapitalistischen Systemen der nun – in Europa  – nicht mehr existierenden sog.  sozialistischen Staaten nicht korrigiert wurde,  hängt mit einem grundsätzlichen ethischen “Sündenfall”  zusammen:  mit der Übertretung des “praktischen Imperativs”,  den Kant formuliert hat. Dieser  beinhaltet das Verbot, Menschen zu instrumentalisieren,  d.h.  Menschen zu Mitteln  zu machen,  um einen bestimmten  Zweck  zu erreichen,  z.B.  den der Mehrwertsteigerung des Kapitals,  dessen Ertrag  eben nicht den arbeitenden  Menschen  zugute kommt.  Die Instrumentalisierung der Menschen  ist die Voraussetzung und der Grund für die Ungleichwertung und Entwertung der Existenzzeit als Arbeitszeit,  oder mit anderen  Worten, für die Monetarisierung und Kommerzialisierung der Zeit, für den Warencharakter der Zeit.

Die Tatsache  der enormen Unterschiede in der monetarisierten Bewertung der Arbeitszeit  ist vom Standpunkt der Ethik her unakzeptabel.  Dass 1 Stunde eines Spitzenmanagers  500 Franken  “wert”  ist und 1 Stunde einer Arbeiterin  am Fliessband 15 Franken,  dass die von Asylsuchenden oder von ausgesteuerten Arbeitslosen  praktisch  nichts  “wert”  ist,  dass generell die Arbeitszeit  (und damit die Existenzzeit) von Frauen weniger  “wert”  ist als diejenige von Männern  – all dies ist unakzeptabel.  Es sollte als flagrante Verletzung von Art.  1  und 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erkannt werden,  da diese zwei Artikel festhalten, dass “alle Menschen gleich an Würde geboren seien” und dass alle, unabhängig  von “sozialer Herkunft,  Geburt oder sonstigen  Umständen Anspruch auf die gleichen Rechte und Freiheiten” haben.

Mir scheint, dass es einer Rückbesinnung auf den gleichen Existenzwert aller Menschen  bedarf, damit die enorme Differenz in der Bewertung der Arbeitszeit   – und damit die enorme Differenz der Einkommen und der Qualität  des gelebten Lebens – korrigiert  werden  kann.  Die Frage ist, ob und wie diese Korrektur erreicht  werden  kann,  und wie sie auf demokratischem Weg erreicht werden  kann.  Könnte  die Einführung  und Durchsetzung neuer Zeitmodelle diese Korrektur erreichen?  – zum Beispiel  die generelle Reduktion der Vollarbeitszeit auf die Hälfte und die Einführung  einer staatlich  entlöhnten,  nach einem gleichen Ansatz  entlöhnten “Sozialzeit”  für alle Frauen und Männer  im Erwerbsalter? Das Ziel der Korrektur wäre letztlich die massive Verminderung,  wenn nicht gar Überwindung der zunehmenden Langzeitarbeitslosigkeit und Armut. Beide Phaenomene  – Langzeitarbeitslosigkeit und Armut – müssen überwunden werden.  Sie bedeuten nicht nur eine Demütigung,  sondern  auch eine beängstigende Einbusse  von Freiheit,  sowohl von Optionen  des eigenen,  individuellen Handelns  wie von Möglichkeiten in der Wahrnehmung der politischen  Rechte.  Es ist daher sogar aus staatspolitischen Gründen  dringend,  dass beide Phaenomene überwunden werden. Wie lässt sich sonst die Wahrung  demokratischer Verhältnisse aufrechterhalten?

Die Anstrengungen zur Realisierung dieser Korrektur möchte ich als feministisches Projekt bezeichnen – als Projekt und nicht als Utopie.  Was als “u-topos” verstanden wird, entbehrt letztlich der Verpflichtung zur Realisierung,  das wird ins “nirgendwohin” verlagert:  es hat “keinen Ort” der Verwirklichung.  Wir müssen uns bewusst sein,  dass alle feministischen Zielsetzungen und alle angestrebten  sozialen Korrekturen  seit dem Beginn des 19.  Jahrhunderts als “Utopien”  herabgetan wurden,  dass sie auf diese Weise in die Kategorie der Träumereien versetzt und ungefährlich gemacht wurden.  Ich meine, dass dies ein Herrschaftstrick des Patriarchats  war – und wohl noch immer ist. Der Beweis dafür ist,  dass die massive Anfechtung der angestrebten Korrekturen  immer dann erfolgte, wenn für die neuen Ideen Öffentlichkeit und eine breite Basis gefunden werden konnten, wenn die Ideen zu politischen Forderungen wurden und wenn mit ihrer Realisierung gerechnet werden musste.  Das war so beim Frauenwahl- und -stimmrecht, das war so (eigentlich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts) bei der Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit,  das wird auch heute und morgen so sein, wenn es um die breite Diskussion und um die Einführung  neuer Zeitmodelle  geht.  Ich bin jedoch  überzeugt,  dass allein die Überwindung des Warencharakters der Zeit die breite Selbstentfremdung der Menschen  verändern  kann,  dass die Menschen  nur durch die Wahrnehmung ihrer Existenz als nicht-kommerzialisierbares Gut – mithin als  Selbstwert – befähigt werden  können,  einander gegenseitig zwar als different,  in dieser Differenz aber von gleichem Wert zu respektieren.  Die Tatsache,  dass so viele Menschen  die eigene Existenz als sinnlos empfinden,  hat mit der Instrumentalisierung des gelebten Lebens zu tun.  Der Wert  des gelebten Lebens  – ob in der Arbeit,  ob in Beziehungen,  ob im Lernen und Nachdenken,  in welcher  Tätigkeit,  in welchem  Alter und in welchem Gesundheits- oder Krankheitszustand auch immer – muss wieder  zum Gegenstand  der “Zeitrechnungen” werden.

Die Einführung  eines Existenzlohns, die Reduktion der Vollarbeitszeit auf die Hälfte und die allgemeine Verpflichtung zur Sozialzeit könnten Massnahmen sein,  welche die notwendigen sozialen Reformen in die Wege leiten könnten.  Wir müssen daran ernsthaft  arbeiten,  d. h. wir müssen, zusätzlich  zur Entwicklung von Konzepten,  die notwendigen volkswirtschaftllichen Vergleichsrechnungen machen,  wir müssen partei- und geschlechterübergreifende emanzipatorische Koalitionen bilden,  und wir müssen die demokratischen Mittel,  über die wir verfügen,  ausgiebig benützen,  sowohl die direkt- wie die indirekt-demokratischen. Die gesellschaftlichen Polarisierungen,  die politischen und wirtschaftlichen Engpässe  zu verändern, in denen wir stecken,  darf keine Utopie  sein.  Es ist eine Aufgabe,  deren Lösung  unseren Willen, unsere Phantasie und unsere Energie  erfordert: Es ist ein feministisches Projekt.

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