“Was übrig bleibt, wenn die Hülle des Tags in die Hecke geworfen wird”
“Was übrig bleibt, wenn die Hülle des Tags in die Hecke geworfen wird”
Virginia Woolf war 46 Jahre alt, als sie 1928, im Rahmen eines Vortrags, den sie in Cambridge hielt, die Frauen aufforderte, selbst das nötige Geld zu verdienen und dafür zu kämpfen, “ein Zimmer für sich allein” zu haben, um zu schreiben: “fiction” zu schreiben. Und warum sollten sie dies tun? Sie sollten dies tun, um, wie sie festhielt, “in Gegenwart der Wirklichkeit zu leben”. Was aber ist “Wirklichkeit”, fragte sie sich. “Es scheint etwas sehr Erratisches, etwas Unzuverlässiges zu sein”, fuhr sie fort, “bald findet man es auf einer staubigen Landstrasse, bald auf einem Fetzen Zeitungspapier am Strassenrand, bald als Gänseblümchen in der Sonne. Es beleuchtet eine Gruppe von Menschen in einem Zimmer und prägt ein paar beiläufige Sätze. Es überwältigt einen, während man unter den Sternen nach Hause geht, und macht die stumme Welt wirklicher als die Welt der Sprache – und dann, da ist sie wieder, in einem Omnibus im Getöse von Piccadilly. Manchmal scheint sie auch in Formen zu wohnen, die uns zu fremd sind, als dass wir erkennen könnten, welches ihre Natur ist. Aber was immer sie berührt, sie fixiert es und macht es dauerhaft”. Ein wenig später fügt sie bei, es sei das Glück der Autorin, des Autors, mehr als andere Menschen in Gegenwart dieser Wirklichkeit zu leben, da es schliesslich ihr/sein Geschäft sei, sie zu finden, sie zu sammeln und sie allen anderen Menschen mitzuteilen. Diese Wirklichkeit sei es, die übrigbleibe, wenn die Hülle des Tags in die Hecke geworfen werde.
Auf zweierlei möchte ich eingehen: auf Virginias Woolfs Aufforderung an die Frauen zu schreiben und auf die “Wirklichkeit”, die übrigbleibt, “wenn die Hülles des Tags in die Hecke geworfen wird”.
Die Frauen, die sich im “Netzwerk schreibender Frauen” zusammengeschlossen haben, haben Virginia Woolfs Aufforderung für sich selbst umgesetzt: sie versuchen, Geld zu verdienen, um zu schreiben, um “fiction” und “non-fiction” zu schreiben, um “mehr in Gegenwart der Wirklichkeit zu leben”, jener Wirklichkeit, die sie sammeln, die sie verdichten, ausdeuten, auf ihren Blick reduzieren oder ausweiten und von ihrem Blick zu lösen versuchen, für die sie die – häufig verborgenen – Zusammenhänge suchen, deren überraschenden oder unverstehbaren Erscheinungen, den inneren und den äusseren, sie eine neue Form geben. Sie haben sich zusammengeschlossen, um aus der Vereinzelung des “Zimmers· für sich allein” auszubrechen, um die “Wirklichkeit”, der sie als einzelne auf der Spur sind und die sie verdichten, durch ihren Zusammenschluss zu multiplizieren und zu verstärken, zugleich aber, um sich gegenseitig Mut zu machen, die Vereinzelung auszuhalten, immer von neuem, die Vereinzelung auszuhalten und zugleich die Verpflichtungen zu bestehen, die sich aus· der “Wirklichkeit” ergeben, Verpflichtungen für die eigene einzelne Lebensführung und Verpflichtungen in Bezug auf das, was Öffentlichkeit heisst, Öffentlichkeit als jenen der Teil der “Wirklichkeit”, mit dem das Leben der vielen, sowohl das je einzelne Leben der vielen wie das gemeinschaftliche Leben der Pluralität der Menschen, mitbeeinflusst und mitbestimmt wird. Diese Wirklichkeit unterscheidet sich von jener anderen Wirklichkeit- jener nicht von Menschen geschaffenen, aber von Menschen veränderten und weiter veränderbaren Wirklichkeit der Natur. Jene wie diese sind nicht, wie die “Hülle des Tags, die in die Hecke geworfen wird”, abwertbar, so wie das – von Virginia Woolf gemeinte – wechselnde Lieben und Hassen, oder wie die Aufregungen und Kurzweiligkeiten oder die kurzwelligen Erschütterungen des Tags, oder wie der Dunst und Staub des Tags, der sich auf die Wirklichkeit legt. Was übrigbleibt und bleibt, was unabwertbar, aber zerstörbar ist, zerstörbar durch Gewalt oder Indifferenz oder Lüge, ist die Kultur.
Mit Kultur meine ich einerseits die ganze komplizierte Vielschichtigkeit der Kunst des Zusammenlebens, die unendlich vieles einschliesst: zum Beispiel die Verfassung sowie die zivile und öffentliche Gesetzgebung, die sich nach Massgabe der historisch entwickelten Demokratie entwickelt haben und die das Zusammenleben zum Schutz der einzelnen wie zum Schutz der Gemeinschaft regelen, die mit Mängeln und Unvollkommenheiten behaftet sind, wodurch auch die verfassungsändernde und gesetzgeberische Arbeit zur ständig neu sich stellenden kulturellen Aufgabe wird, zu welcher auch das Schulwesen gehört, oder die Fürsorge für alte, für fremde, für alleinstehende und für – aus welchen Gründen auch immer – hilfsbedürftige Menschen, kurz alle jene Einrichtungen geistiger und materieller Art, die das Zusammenleben der vielen – der schwächeren und der stärkeren – erträglich machen. Dieser Teil der Kultur liesse sich als “funktionale Kultur” bezeichnen. Darüber will ich auch nicht längerr reden, da ihre Notwendigkeit unbestritten ist.
Andererseits aber meine ich mit Kultur jenes “Mehr” an gelebter Wirklichkeit, das jene Frauen und Männer bewirken, die die vielgestaltige Wirklichkeit in ihren Werken sammeln und deuten und verändern, die mit ihren Werken eine zusätzliche Wirklichkeit schaffen, eine künstlerische Wirklichkeit, die vielleicht noch intensiver erlebbar sein mag als die natürliche und die funktionale, eine zusätzliche Wirklichkeit, die die Menschen über das Ungenügen, über das Karge, Dürftige, aufs Notwendige Beschränkte der funktionalen Wirklichkeit emporhebt, diese zugleich mit spürbarem warmem Leben füllt, ihr manchmal Flügel verleiht, über das zeitmässig Schmerzende, Gewalthafte und Zerstörende der funktionalen Wirklichkeit hinwegtröstet- ein Beitrag, der fürs Zusammenlen so unersetzlich ist wie der Sauerstoff fürs physische Leben .. Blicken wir über unsere Grenzen hinaus, so verstehen wir, was damit gemeint ist: Viel wichtiger als. die Präsenz der UNO-Soldaten war – und ist – für die Aufrechterhaltung der Widerstandskraft Sarajewos gegen den mörderischen Zynismus und die mörderische Gewalt der Kriegführenden die nicht abbrechende Präsenz und Tätigkeit der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, der Dichterinnen und Dichter, der Musikerinnen ujndMusiker, dder Philosophinnen und Philosophen, der Theaterschaffenden, der Medienleute, die sich nicht in den Dienst des Kriegs, sondern des Friedens stellten, der darstellenden· Künstlerinnen und Künstler, der Architektinnen und Architekten, die sich alle, gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Ärztinnen und Ärzten, mit unzähligen Menschen guten Willens gegen das Morden und gegen den Hass und gegen die Zerstörung fürs Zusammenleben einsetzten und weiter einsetzen, tagtäglich, nicht auf elitäre Weise, sondern im Sinn der Gemeinschaft, die trotz Krieg und Hunger, trotz Inhumanität und trotz weit um. sich greifender Resignation weiter schreiben und nicht aufhören, an die Kraft der Worte und an die Kraft der Musik zu glauben.
Um diese Kultur, um die Bedeutung, um die Stützung und Förderung dieser Kultur geht es bei der Abstimmung vom 12. Juni. Es geht darum, dass sie nicht weiter wie die Privatreligion einzelner Menschen gelten darf, sondern dass ihr unverzichtbarer Platz in der Verfassung und damit ihre Bedeutung auch als Auftrag an den Staat anerkannt und garantiert wird. Denn diese Kultur ist mehr als nur ein Teil unserer eigenen Identität und unserer privaten Definition. Sie muss ebenso Inhalt und Anliegen eines breit abgestützten politischen Willens sein. Um diesen Willen zu bekunden, ist es unbedingt erforderlich, am 12. Juni mit einem Ja auf dem Stimmzettel an die Urnen zu gehen.
Der heutige Abend soll dafür ein vorbereitendes Memento sein – ein Memento des “Netzwerks schreibender Frauen”, des Theaters an der Winkelwiese, der Musikerinnen von “Herz-Schmerz”. Wir danken allen, die dabei mitwirken und danken Ihnen für Ihr Interesse. Ich wünsche Ihnen einen erfreulichen Abend, einen Abend der regen Kulturteilhabe.