“Ich möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge so sehen, wie sie sich uns nie zeigen” – Wintersemester 1993/94 – Sprache und Identität

Wintersemester  1993/94  – Sprache und Identität

 

Ich möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge so sehen, wie sie sich uns nie zeigen”

(Marlen Haushofer)

Vorlesung  vom 9. November 1993

 

Wir fragten  uns das letztemal nach der Bedeutung von Wittgensteins Aussage  “Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt” (5.6), und ich bat Sie, weiter  darüber nachzudenken.

Die Aussage  steht im Zusammenhang mit Wittgensteins – im “Tractatus”  entwickelten – Abbildtheorie  , die er allerdings später,  in den “Philosophischen Untersuchungen” korrigieren wird. Gemäss  der Abbildtheorie gibt jeder Name  einen Gegenstand  wider.  Wer den Namen  kennt, kennt den Gegenstand (ab 2.061),  und wer die Zuordnung der Namen  zueienander im  Satz erkennt,  erkennt  die Zuordnung der Gegenstände zueinander,  das heisst er versteht  den Zusammenhang der Tatsachen,  deren Gesamtheit  die Welt ausmachen. Wo aber steht das eigene Ich in diesen Zusammenhängen von Sprache und Welt? Davon soll die 3. Vorlesung handeln:

“Ich möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge so sehen, wie sie sich uns nie zeigen”

Der Wunsch,  den das Ich bei Marlen Haushofer (im Roman  “Die Mansarde”) ausspricht, weist ganz klar auf das Jenseits  der Grenze hin, die die Sprache als Funktion  der Darstellung der Welt in Wittgensteins “Tractatus”  erfüllt.  Diesseits und jenseits  der Grenze ist gleich nah dem “schauenden”,  dem erkennenden,  dem denkenden,  empfindenden  Ich.

Nur –  wer  ist dieses Ich? Lässt  sich mittels der Sprache nach diesem Ich forschen? Ist dies nicht zum vornherein  ein trügerisches Unterfangen?  Genügt  nicht der Blick in den Spiegel? Oder umgekehrt:  Trägt  nicht die Sprache viel dazu bei, dass das Ich sich selbst fremd ist? – dass wir uns selbst Fremde sind? – dieses Ich, das jedes  Individuum  ausschliesslich für sich beansprucht,  das milliardenfach je individuelle als unaustauschbar empfunden wird und womit in der Sprache lediglich eine bestimmte  Form des Prädikats  – die ersten Person Singular – ausgedrückt wird?

Doch wir wollen anders fragen.  Wir wollen versuchen,  mit Hilfe der Sprache zu erfassen, wann und wo der Anfang dieses Ich ist.  Gibt es Erinnerungen an individuelle Erfahrungen, die der Sprache vorangingen?

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