Abschied von der subtilen Bevormundung – Identitätsforderungen zwischen Zwang und Freiheit
Abschied von der subtilen Bevormundung
Identitätsforderungen zwischen Zwang und Freiheit
Identitätstheorien haben nach wie vor Hochkonjunktur, quasi als Dauerrezepte zur Verwirklichung persönlicher, familiärer oder nationaler Einheit. Bei einer kritischen Hinterfragung erweisen sie sich jedoch vor allem als machtbestimmte Anpassungsforderungen an bestimmte Normen des So- und Nichtandersseins.
Eine der wenigen unbestrittenen Identitätserfahrungen ist, dass wir trotz aller biologischen und psychischen Veränderungen im Lauf des Lebens als Erwachsene dieselbe Person sind, die wir als kleines Kind waren. Allerdings ist auch diese nicht selbstverständlich, sondern Folge einer langen kulturellen Entwicklung, von der wir als einzelne Individuen profitieren. Fehlt das Wissen um diese persönliche Identität, so fragmentiert sich die eigene Geschichte auf ängstigende Weise. Die Erfahrung des Mit-sich-selbst-Identischseins ermöglicht es dem einzelnen Menschen, seinen Platz und seine Verantwortung in sozialen Zusammenhängen – etwa in der Familie, in Gemeinde und Staat – auf persönliche Weise wahrzunehmen, im Sinn einer sich allmählich entwicklenden freien Zustimmung zur sozialen Rolle, die seiner Person zukommt. Diese “Rollenübernahme” unterscheidet sich klar von den zahlreichen Identitätsdeklarationen und -forderungen, die die Entwicklung freier Individualität von frühester Kindheit an unter Zwang setzen und beeinträchtigen. Die Tatsache dieser Zwänge gehört ebenfalls zu den leidvollen Gegebenheiten unserer Gesellschaft. “Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt” (Horkheimer/ Adorno). Zu bedenken ist, um wieviel mehr dieses “Furchtbare” sich in jeder weiblichen Kindheit wiederholt, die, gemessen am männlichen Entwichlungsmasstab, fast immer als etwas Defizientes vermittelt wird.
Um deutlich zu machen, was mit der “identischen, zweckgerichteten, männlichen” Charakterbildung gemeint ist, mag das an der Zürcher Universität im Frühjahr dieses Jahres abgehaltene Symposium über die Zukunft der Schweiz dienen. Die mehrheitlich männlichen Redner wurden nicht müde, sich über “schweizerische Identität” auszulassen. Sie erklärten, wie diese in einem historisch-politischen Prozess zustandegekommen sei, wie sie gefährdet, entwicklungsfähig, europafähig und was immer sei. Dabei blieb unerwähnt, dass dieses nationale Selbstbild ein ausschliesslich männliches Erkennungsmuster ist, das während Jahrhunderten unter Ausschluss der Frauen gezimmert wurde, auch dass der Zweck des Identitätskonstrukts durch eine nationalistische Einheitsideologie definiert ist, derzufolge Männer in erster Linie staatstreue Bürger und Soldaten sein müssen. Der neulich von Bundesrat Kaspar Villiger inszenierte “Appell” an das Kader der Offiziere, angesichts des militär- und waffenmüden Zeitgeists sowie einer armeekritischen schweizerischen Öffentlichkeit “Geschlossenheit” und “Einheit” zu beweisen und eigene Differenzen zu unterdrücken, erinnert einerseits an die vielen patriotischen und nationalistischen Identitätsforderungen der Vergangenheit überall in der Welt und unterstreicht andererseits den zweckgerichteten Konstruktcharakter von Einheitspostulaten. Kein Wunder, dass Männer und Frauen, die, machtmisstrauisch und ideologiekritisch, sich von dieser engen Einbindung zu distanzieren suchten und suchen, als “Anarchisten”, “Pazifisten” und “Internationalisten” unter Subversionsverdacht standen und noch immer stehen. Oder dass Frauen mit ihrer verstärkten Sensibilisierung für Männerbündelei und Machtmissbrauch es mit ihrem Anspruch auf Ausübung der gleichen aktiven und passiven Rechte in diesem Schweizerstaat schwer haben, öffentliche Ämter zu übernehmen und dafür Anerkennung zu finden, wenn sie sich nicht dem männlichen Identitätsmuster fügen. Kein Wunder sodann, dass dieses nationale Selbstbild zur Ausformulierung und Verwirklichung einer von Ängsten genährten Abwehrpolitik Fremden gegenüber führt, die sich trügerischerweise als “Asylpolitik” bezeichnet.
Identität bedeutet völlige Übereinstimmung einer Einheit mit sich selbst. Mit Ausnahme der Einheit der Person im Kontinuum der Veränderungen findet sich Identität streng genommen nur im Bereich der Logik und der Mathematik. In allen anderen Bereichen bleibt Identität Postulat einer möglichst genauen Angleichung. Aber einer Angleichung woran? In der europäischen Philosophiegeschichte seit den Vorsokratikern, in Pädagogik, Psychologie und Gesellschaftstheorie wurde und wird Nicht-Identität in den meisten Ansätzen als Erkenntnismangel, vor allem als ungenügende Bildungs- und Anpassungsanstrengung, kurz als Persönlichkeitsdefizit dargestellt. Zahlreiche identitätsphilosophische Ansätze der Vergangenheit gingen von einer metaphysischen Einheit des Menschen mit dem absoluten Sein aus und erklärten die Wiederherstellung dieser Einheit zum Ziel aller Erkenntnisanstrengungen. Nur wenige Denker vertraten einen identitätsphilosophischen Ansatz, in dem das Individuum auf Grund seines Bewusstseins als ein sich selbst genügendes Subjekt verstanden wurde. Die wenigsten durchschauten die Forderungen nach Identität als Zwang zur Angleichung an ein von Fürsten, Kirchen, Berufsständen, “Klassen” und Staat geschaffenes herrschaftskonformes Menschenbild, das die – vielleicht wilde, anarchische – Individualität (insbesondere die weibliche) zügeln und die Kontrolle der – sonst gefährlich rebellischen – Beölkerungsmassen erleichtern sollte.
Es erstaunt daher nicht, dass bis in die jüngste Zeit die meisten Erziehungs- und Bildungstheorien mit autoritär formulierten Identitätsforderungen verbunden waren. Zu den bedeutenden Ausnahmen gehörten Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), der von der Erziehung erwartete, dass sie der naturgemässen Entwicklung der individuellen Anlagen keine Hindernisse entgegenstelle, da die von der Gesellschaft diktierten Angleichungs- und Unterwerfungsforderungen die menschliche Natur verderben, und Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), der kritisierte, dass die sogenannt “höheren” Bildungsideale allein den Vorstellungen der “Höhergestellten” entsprächen und keineswegs zum Besten des einzelnen Individuums gereichten. Eine der ersten Kritikerinnen frauenfeindlicher, gesellschaftskonformer Erziehung und Bildung, die einer eigenständigen Entfaltung weiblicher Persönlichkeit keinen Platz zugestanden, war Rahel Varnhagen (1771 – 1833). Ihre Kritik war zugleich Auflehnung gegen ein Pariadasein, die in ungezählten Briefen Ausdruck fand. “Wir sind neben der Gesellschaft. Für uns ist kein Platz, kein Amt, kein Titel da. Alle Lügen haben einen, das richtige Leben und Fühlen, das sich unabgebrochen auf einfache tiefe Menschenanlagen, auf die für uns zu fassende Natur zurückführen lässt, hat keinen. Und so sind wir ausgeschlossen aus der Gesellschaft”, schreibt sie an Pauline Wiesel (am 12.März 1810). Jahre später (am 8. Juni 1826) stellt sie der gleichen Freundin gegenüber mit Bitterkeit fest: “Keine Freiheit. Wollen Sie noch mehr wissen? Oft wundere ich mich, dass ich lebe, dieselbige bin und so weit von mir ab kam. ( … )Man ist nicht frei, wenn man in der bürgerlichen Gesellschaft etwas vorstellen soll: eine Gattin, eine Beamtenfrau etc.”. Im Auseinanderklaffen unvereinbarer Identitätsforderungen ist das Leiden der Paria begründet. Eine Zeitgenossin Rahel Varnhagens, die französisch-peruanische Schriftstellerin Flora Tristan ( 1803 – 1844), die als eine der ersten in ihren kämpferischen Manifesten und Streitschriften Frauenfrage und Arbeiterfrage verknüpfte, wurde zur Rebellin, als sie feststellte, dass ihr als Frau nicht einmal zugestanden wurde, sich gegen Gewalt und grösstes Unrecht zu wehren. Nachdem ihr Ehemann sie auf offener Strasse zu töten versuchte, und sie ihn darauf verliess, wurde ihr – und nicht ihm – der Prozess gemacht. “Ich war Frau, ich war Mutter”, schreibt sie in der Folge, “aber die Gesellschaft hat mir das Herz gebrochen. Jetzt bin ich nicht mehr Frau, ich bin nicht mehr Mutter, ich bin die Paria”. Mehr wie ein Jahrhundert später-schildert Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) in “Todesarten”, mit welch unmerklicher Gewalt das· weibliche Ich – das nach Männerdiktat und gesellschaftlicher Usanz unterwürfig und gesichtslos sein soll, einblosser Gegenstand, ein Es – nach und nach vernichtet wird.
Jede Identitätsforderung ist mit Angleichungszwängen verknüpft: An das Bild des Vaters, an das Vorbild der Mutter, an ein gesellschaftskonformes Menschenbild· – kurz, an ein mächtiges Über-Ich, das dem individuellen Ich kaum die Chance einer eigenen, vom grossen Vorbild abweichenden Entwicklung lässt, es sei denn über Auflehnung, Leiden und Ausgrenzung. Das Pariabewusstsein ist Ausdruck davon. Diesen Zwängen gegenüber regt sich jedoch ein anderes Bedürfnis: das Bedürfnis der Angleichung an das eigene innere Bild, das weder dem Selbstbild im Spiegel entspricht noch dem Menschen, als der man in der Gesellschaft erscheint oder gehalten wird, sondern das unerreichbar, wie eine geheime Sehnsucht, das Heranwachsen und Älterwerden als Vorstellung, wie man geliebt sein möchte, begleitet. Sigmund Freuds (1856 – 1939) Erkenntnis, in welchem Mass die Differenz zwischen den beiden Ich-Idealen – das heisst die Differenz zwischen dem gesellschaftlich aufgezwungenen Ich-Ideal, das zugleich das gemeinsame Ideal einer Familie, eines Standes, einer Berufsgruppe oder einer Nation ist, und zwischen dem unterdrückten, durch Schuldgefühle verdunkelten narzisstischen Selbstbild – Ängste, Aggressionen und andere seelische Störungen bewirkt, vermag zu einem grossen Teil die Überworfenheit der einzelnen Menschen mit sich selbst, ihre mangelnde Selbstliebe und Selbstachtung zu erklären wie den von Misstrauen und gegenseitiger Verachtung genährten Unfrieden zwischen den Menschen und zwischen den Völkern.
In jüngster Zeit haben zahlreiche Denkerinnen und Denker sich mit dem gebrochenen Verhältnis von Selbst- und Anderssein befasst, auch mit der verhängnisvollen Manipulierbarkeit von Menschen, die jeden Widerstand gegen herrschaftskonforme Identitätsforderungen aufgeben. Einer von ihnen ist Jürgen Habennas (geb. 1929). Er formulierte seine eigene Identitätsvorstellung im Zusammenhang mit seiner kapitalismus- und faschismuskritischen soziologischen Auseinandersetzung. Im Mittelpunkt steht dabei das Postulat der Ich-Identität, das heisst, nach Habermas, der auch von anderen Menschen anerkannten Einheit des Einzelnen mit sich selbst. In “Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus” von 1973 hält er fest, dass gestörte Ich-Identität und das, was seit Karl Marx gesellschaftstheoretisch als “Entfremdung” untersucht wird, einander gegenseitig bedingen, und dass das Leiden daran unausweichlich zu sein scheint. Wer es mit Anpassungsanstrengungen an die kaputte Gesellschaft zu überdecken versucht, schade sich zusätzlich.
Eine Nähe zu Theodor Adornos (1903 – 1969) Verwerfung der “gut integrierten Persönlichkeit” tut sich kund: “Das Ziel der ‘gut integrierten Persönlichkeit’ ist verwerflich, weil es dem Individuum jene Balance der Kräfte zumutet, die in der bestehenden Gesellschaft nicht besteht und auch gar nicht bestehen sollte”. Adorno stellt fest, dass in der bestehenden Gesellschaft “die Menschen, jeder einzelne, unidentisch sind mit sich, ( … ) und kraft solcher Spaltung a priori beschädigt”. Doch gerade der “beschädigte” Mensch ist es, der auf der Suche nach Ich-Identität ist. Habermas gesteht ihm die Fähigkeit zu, auch schwierige Krisen mit Blick auf dieses Ziel lösen zu können. Er geht bei seiner Annahme von einer nicht hinterfragten Vernünftigkeit aus, die den einzelnen Menschen befähige, Widersprüche, unter denen er im Lauf seiner Erziehung und seiner gesellschaftlichen Erfahrungen leide, zu integrieren. Dabei berücksicht er weder “die alten Disharmonien mit dem Körper” (Mallarme) noch emotionale und irrationale Kräfte, obwohl diese im Lauf der Sozialisation das Kind und den heranwachsenden jungen Menschen stark beeinflussen. Habermas, der sich in seiner Theorie an die Entwicklungspsychologie von Erik H.Erikson anlehnt, ist der Auffassung, dass in einer regelhaften Abfolge das Kind von der “natürlichen Identität”, worunter er die Abgrenzung des Kindes von seiner Umwelt versteht, über wechselnde “Rollenidentität”, womit er die Verinnerlichung von Handlungsnormen meint, zur “Ich- Identität” gelangt. Zu dieser höchsten Identitätsstufe sollen – nach Habermas – die Anerkennung und Geltung einer “universalistischen Moral” befähigen, die sich auf die Grundnormen der “vernünftigen Rede” und damit auf nicht abschliessbare Lernprozesse zurückführen lasse, und zwar nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch die – erst im Entstehen begriffene – Weltgesellschaft.
Diesem Optimismus misstrauen heute jedoch viele, darunter Jacques Derrida (geb. 1930), einer der radikalsten Identitätskritiker . Er versteht sich als Dekonstrukteur jeder Philosophie, die mit der Fiktion von Einheits- und Totalitätsvorstellungen das Denken unter Zwang setzt und damit zu Denkfaulheit und Erstarrung führt. Derrida schlägt vor, Nicht-Identität und “Differenz” in bezug auf gesellschaftlich normierte Sehweise nicht als Mangel, sondern als existentielle Grundvoraussetzung zu begreifen. Er drückt mithin auf philosophischer Ebene aus, was im Rahmen der Psychotherapie auf konstruktive Weise angstrebt wird: Individualität als nicht abschliessbaren Weg der Freiheit ernst zu nehmen, wofür die im Lauf der Entwicklung vermittelten Spielregeln vorweg genügen, wofür aber keine Abbild- oder Angleichungstheorien, somit keine Identitätsforderungen sinnvoll gelten können. Die von Sigmund Freud als bedrohlich erkannte Über-Ich-Bevormundung bleibt bedrohlich, solange sie nicht erkannt und überwunden wird.
In unserer Zeit, die von Identitäts- und Abwehrängsten gepeinigt ist – auf persönlicher wie auf nationaler Ebene-, mag gerade eine Stärkung der herrschaftsfreien Diskursregeln, denen zufolge jedes Individuum im Chor der Stimmen seine eigene Geltung und seinen unangefochtenen Platz hat, aus den bedrohlichen Engpässen innerer Bevormundung herausweisen. Vielleicht auch die Einsicht, die Julia Kristeva vermittelt, dass “Fremde wir uns selbst sind” und dass das Bewusstsein der Differenz erst dann aufhört zu quälen, wenn sich alle gegenseitig als Fremde erkennen. Das Verschieden- und Anderssein kann, Julia Kristeva zufolge, als “Krönung menschlicher Autonomie” erscheinen und zugleich Voraussetzung dafür werden, dass im Gespräch überhaupt “persönlicher Sinn übermittelt werden kann”. Auch Voraussetzung dafür, dass soziale Verantwortung zwangsfrei und damit angstfrei übernommen werden kann.
Verwendete Literatur:
Theodor W.Adorno. Gesammelte Schriften. Hrg. von R. Tiedemann. Frankfurt a.Main 1972
Martin Buber .. Das dialogische Prinzip. Heidelberg 1979
Jacques Derrida. Die Schrift und die Differenz. Frankfürt a.Main 1972
Erik h. Erikson. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.Main 1980 (1959)
Sigmund Freud. Zur Einführung des Narzissmus. / Das Ich und das Es. / Massenpsychologie und Ich-Analyse. Studienausgabe. Frankfurt a.M. 1974/75
Jürgen Habermas. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a.Main 1973
– Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a.Main 1976
– Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.Main 1988
Julia Kristeva. Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a.Main 1990
Annette M.Stross. Ich-Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion. Berlin 1991
Flora Tristan. Arbeiterunion, Sozialismus und Feminismus im 19; Jahrhundert. Frankfurt a.Main 1988. Rahel Varnhagen – Pauline Wiesel. Briefwechsel 1808 – 1832. Berlin 1982