Warum verlassen Menschen ihre Heimat? Was erwartet sie bei uns? Wie leben wir mit ihnen? – Referat in Brig am 27. Mai 1993 über die Zusammenhänge der Migration, der Asylsituation in der Schweiz, der Fremdenangst und des Fremdenhasses

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Warum verlassen Menschen ihre Heimat? Was erwartet sie bei uns? Wie leben wir mit ihnen?

Referat in Brig am 27. Mai 1993  über die Zusammenhänge  der Migration,  der Asylsituation  in der Schweiz,  der Fremdenangst  und des Fremdenhasses

 

In der ersten Woche dieses Monats, als ein Kälteeinbruch den mit plötzlicher  Heftigkeit einsetzenden Frühlingsanfang  unterbrach, tauchten in meinem Büro bei der Schweizerischen  Flüchtlingshilfe zwei junge türkische Männer auf,  der eine mager und klein wie ein Halbwüchsiger,  der andere kräftig  und ungeschlacht,  zwei Vettern,  wie sich herausstellte,  beide etwas über zwanzig.  Der Kleinere sprach ein paar Worte Deutsch.  Er erklärte,  sie seien  seit zwei Monaten unterwegs,  über Jugoslawien und Österreich,  am Tag zuvor seien  sie in die Schweiz gelangt.  Nun hätten sie Angst, von der Polizei aufgegriffen  und in den Knast gesteckt zu werden.  Er hatte einen kleinen Zettel bei sich, auf den meine Adresse und die des Schweizerischen  Arbeiterhilfswerks notiert waren.  Eine Art Ausweis – ein handgeschriebenes,  zerknittertes Papier besass nur er, der Vetter hatte nichts, behauptete,  er hätte den Wisch in Jugoslawien verloren.  Da es schon Nachmittag  war, versuchte ich zuerst,  in Zürich für sie einen Platz in einer Notschlafstelle zu finden, aber es war nicht möglich,  auch nicht für eine Nacht,  da sie nirgends gemeldet waren.  Ich hatte keine andere Möglichkeit,  als sie nach Basel an die Empfangsstelle zu schicken, damit sie sich dort registrieren Hessen und ein Asylgesuch stellen konnten,  obwohl ihre Chancen auf eine Aufnahme überaus gering waren, für denjenigen ohne Ausweis sogar null. Sie hatten auch kein politisches Fluchtmotiv.  Sie hatten die Türkei verlassen,  weil sie zuhause weder Arbeit noch die Aussicht auf ein · Fortkommen  hatten,  schon gar nicht die Aussicht auf Glück.  so machten sie sich auf den Weg, versprachen  sich eine Chance in der reichen Schweiz und bezahlten dafür Schleppern viel Geld.

Die Geschichte steht für ungezählte andere.  Wir haben in der Schweiz kein Immigrationsgesetz für Menschen,  die die Armut fliehen.  Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu versuchen, über das Asylverfahren bei uns Aufnahme zu finden.  Gerade das aber ist ihnen zum vornherein verwehrt, da sie in ihrem Heimatland ja nicht durch den Staat oder durch staatliche Organe aus politischen Gründen an Leib und Leben bedroht sind. Dass Wirtschafts- und Bildungsverhältnisse, dass Chancenlosigkeit auch politische Gründe haben, ist beim Gesetzesvollzug irrelevant.  Entweder müssen-Armutsflüchtlinge freiwillig die Rückreise antreten oder sie werden “ausgeschafft”.

Ob die zwei, die sich bei mir gemeldet hatten, tatsächlich nach Basel gereist sind und sich dort registrieren und wieder zurückschicken liessen, oder ob sie irgendwo bei Landsleuten  untergetaucht sind und nun versuchen,  sich hier illegal durchzuschlagen und mit kleinen oder grösseren Geschäften zu Geld zu kommen, entzieht sich meiner Kenntnis. Gerade im Bereich des Drogenhandels bieten sich  – leider – schnelle und erspriessliche Gelegenheiten, allerdings verhängnisvolle für die gefährdeten oder schon suchtabhängigen Jugendlichen.  Bei Polizeikontrollen  an den einschlägigen Handelsknotenpunkten – in Zürich nun am Lettensteg,  vorher am Platzspitz,  in anderen grossen Städten ebenfalls an bekannten  Orten – werden illegal eingereiste  Auländer auch regelmässig  festgenommen und in Strafverfahren wegen Drogenhandels einbezogen. Die Bevölkerung aber unterscheidet  diese ausländischen Abenteurer und Glücksritter, die sich, unter Missachtung aller Gesetze und Regeln,  statt auf Weltmeeren  oder im Amazonas im Drogendschungel  einen goldenen Daumen verdienen  wollen,  nicht von Asylsuchenden,  die unbescholten  sind und die, ob aus Gründen der Gewalt,  ob aus politischen oder aus wirtschaftlichen Gründen, bei uns um Aufnahme ersuchen.  Die in der Märzsession von der Zürcher  Ständerätin Monika Weber eingereichte  Motion,  die die sofortige Internierung polizeilich  gefasster “Asylsuchender”  verlangt, noch bevor ein rechtmässiges  Urteil vorliegt,  die mithin die Aufrechterhaltung der Unschuldvermutugn nur noch für Einheimische zulässt – eine haarsträubende  Beeinträchtigung menschenrechtlicher  Grundsätze und eine ebenso haarsträubende  Vermischung  von Strafgesetz und Asylgesetz – belegt das Durcheinander und die Überforderung bei der Bevölkerung,  die auf  – letzlich doch unbedachte oder gar skrupellose Art – vom LdU (mithin von einer Partei der politischen  Mitte,  nicht einmal von der äussersten Rechten) aufgegriffen und populistisch benutzt wird.

Weltweit  sind an die 30 Millionen  Menschen unterwegs,  zwischen Heimat und nirgendwo, vertrieben durch Krieg,  Bürgerkrieg, politischen Terror,  durch Dürre oder Überschwemmungen, durch Angst oder durch Hunger,  vertrieben  weil sie Angehörige einer ethnischen Minorität oder einer Religionsgemeinschaft sind, deren politische, kulturelle  und wirtschaftliche Rechte durch machthabende Gruppierungen  nicht respektiert werden. Weit über zwei Drittel dieser Menschen halten sich in Südwestasien, im Mittleren Osten, in Nordafrika und in Afrika selbst, ·in Lateinamerika  und in der Karibik auf.  Das heisst, die ärmsten Länder haben für die meisten Flüchtlinge  zu sorgen. Die europäischen  Länder dagegen,  diese hochentwickelten  und reichen Länder,  zu denen auch die Schweiz gehört,  tun sich schwer,  für die vergleichsweise  wenigen Flüchtlinge, die zu ihnen gelangen,  Aufnahme- und Integrationsbereitschaft zu schaffen.  Seit der entsetzliche Krieg im ehemaligen Jugoslawien  begonnen hat, vor allem seit er in Bosnien-Herzegowina  tobt (Anfang  April war es gerade ein Jahr),  sind allein aus diesem Gebiet,  das in seiner kulturellen  Durchmischung  und seiner hochstehenden Zivilisation sehr der Schweiz vergleichbar  war, über drei Millionen Menschen auf der Flucht,  zum Teil innerhalb Bosnien-Herzegowinas  selbst, zum Teil in den übrigen Republiken  des ehemaligen Jugoslawien,  zum kleinsten Teil in anderen europäischen Ländern. In der Schweiz hat es lange gebraucht,  bis die Grenzen etwas weiter geöffnet wurden. Der Krieg allein, Hunger und Not der Vertriebenen  genügten nicht.  Es brauchte  die Berichte über die kz-mässigen Kriegsgefangenenlager und den Druck der internationalen Behörden,  bis Bundesrat Arnold Koller Ende Dezember vergangenen  Jahres sich bereiterklärte,  zuerst 200, dann nochmals  1000 ehemalige Lagerinsassen  und deren Familien  aufzunehmen,  das heisst diesen Menschen den vollen Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.  Die 1000 Frauen  und Kinder dagegen,  die die Schweizerischen Flüchtlingshilfe schon im August aus kroatischen  Durchgangslagern  in die Schweiz geholt hatte, ursprünglich für einen Erholungsaufenthalt von drei Monaten,  sowie die rund  1000 Frauen,  Kinder und alten Leute,  die um die gleiche Zeit in der grössten Sommerhitze in Zügen an der kroatisch-slowenischen  Grenze blockiert  waren und dann, ebenfalls mit einem dreimonatigen  kollektiven Touristenvisum,  in die Schweiz einreisen durften,  haben das Privileg des Flüchtlingsstatus  nicht. Sie sind  “vorläufig Aufgenommene”,  wie alle diejenigen,  die als “Gewaltflüchtlinge”  bezeichnet werden. Das heisst, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung alle sechs Monate zur Verlängerung vorgelegt werden muss, dass vom Bundesrat nach eigenem Ermessen beschlossen werden kann, dass diese nicht verlängert  wird und dass sie zurückkehren müssen,  dass der Familiennachzug  nicht im gleichen Mass bewilligt wird, dass sie, je nach kantonalen Bestimmungen,  nicht arbeiten dürfen, auch dass die Unterstützungspauschalen geringer sind.

Insgesamt hat der Bund seit dem letzten Jahr etwa 3500 Kriegsvertriebene aus dem ehemaligen Jugoslawien  in der Schweiz Aufnahme gewährt.  Die individuellen Asylgesuche nahmen  1992 enorm ab. Während es 1991  noch 41 ‘629  waren,  gingen sie im letzten Jahr auf  17’960 zurück.  Von den insgesamt 36’904 BFF-Entscheiden  im vergangenen  Jahr (der Grossteil betraf Gesuche aus früheren Jahren) wurden nur 3,8 % positiv entschieden,  das heisst, in Zahlen,  1410 positive und 29’590 negative Entscheid. Über 6200  der Gesuchstellerinnen  und Gesuchsteller  stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien,  rund 2800 aus den Bürgerkriegsgebieten Sri lankas,  1800 aus der Türkei, viele von diesen sind Kurden und Kurdinnen, etwa 1000 aus Somalia. Diese Zahlen machen deutlich,  dass die wenigsten,  die den Weg in die Schweiz schaffen, als anerkannte Flüchtlinge  in der Schweiz bleiben dürfen.  Die grosse Zahl der Gesuchsteller   und Gesuchstellerinnen  müssen unser Land wieder verlassen oder dürfen auf befristete Zeit als vorläufig Aufgenommene hier verweilen.  Zur Zeit läuft eine grosse Kontroverse  um den vom BFF beschlossenen Rückschaffungsstop für Flüchtlinge  aus Sri Lanka. Diejenigen Tamilen und Tamilinnen,  die in der jüngsten Zeit bei uns um Aufnahme nachsuchten,  haben nach diesem neuesten Beschluss keine Chance, bleiben zu können,  gemäss der Devise  “last in first out”.  Trotz entgegengesetzter Studien,  die die- Schweizerische Flüchtlingshilfe durch das Südostasienbüro in Dortmund  erstellen liess, –   trotz warnender  Stimmen von Heimkehrern  aus südindischen Flüchtlingslagern, ist für rückkehrende Tamilen,  insbesondere  für junge Männer,  in Sri Lanka keine Sicherheit garantiert.  Vielen verlässlichen  Berichten zufolge werden sie von den singhalesischen Sicherheitsbehörden  als mutmassliche  Sympathisanten  der “Tamil-Tigers”  auch in Colombo willkürlich  festgenommen,  verhört,  gefoltert und gefangengehalten.  Nur gegen grosse Lösegelder werden sie eventuell freigelassen.  Die Bundesbehörden  wollen jedoch auf die von der Schweizerischen  Flüchtlingshilfe und den ihr angeschlossenen Hilfswerken erlassenen Appelle,  auf Rückschaffungen vorläufig  zu verzichten,  nicht eingehen.  (Der auf den 19.  Juni angesetzte  “Tag der Flüchtlinge”  wird vor allem diesen im heutigen Zeitpunkt  nicht zu verantwortenden  Rückschaffungen von Tamilen und Tamilinnen  nach Sri Lanka – gewidmet sein, sodann überhaupt dem Thema der Rückschaffungen  in Krisengebiete).

Die Haltung der Schweiz,  mit Gesetzesverschärfungen  und Verfahrensmassnahmen die Einreise von Asylsuchenden  und Flüchtlingen  möglichst zu erschweren  oder gar fast zu unterbinden,  entspricht  einer gesamteuropäischen  Haltung.  Obwohl die Mehrzahl der Bevölkerung und der Stände den Beitritt zum EWR abgelehnt  hat, obwohl Europabefürworter und -befürworterinnen bei uns einen  harten  Stand haben, herrscht in Sachen  Flüchtlings- und Asylpolitik eine grosse Übereinstimmung zwischen  den eidgenössichen Behörden  und den übrigen europäischen Länder.  Während im Osten,  mit dem Fall  der Mauer  im November 1989  und dem  Zusammenfallen der staatssozialistischen  Regimes  eine ungeduldig begrüsste, aber  schnell relativierte Öffnung Hoffnungen auf eine Ende der Blockspaltungen, auf Wohlstand und Freiheit (zuerst einmal Reise-  und Konsumfreiheit)  weckte,  begann  das um die EG zentrierte Europa mit seinen  zugewandten Staaten  – inklusive  der Schweiz  – eine neue Architektur der Fronten zu verfestigen,  festungsmässige Vertragswälle gegen  den befürchteten  Zustrom  von Armen  und Vertriebenen auszubauen. Diese  Architektur der Einigelung  richtet  sich zugleich  gegen  potentielle Menschenströme aus Ost- und Südosteuropa wie gegen diejenigen aus dem Süden,  gegen diejenigen  aus der – wie es bezeichnenderweise heisst  – “Zweiten”  und  “Dritten”,  der zweitrangigen und drittrangigen Welt. Schon  1985  hatte  die EG-Kommission beschlossen,  gemeinsame europäische “Verwaltungsmassnahmen”  im Asylbereich festzulegen. Im gleichen  Jahr  unterschrieben die Benelux-Staaten, Frankreich und die Bundesrepublik das  “Erste Schengener Abkommen”,  das den schrittweisen Abbau  der innerstaatlichen Grenzkontrollen und eine Übereinkunft über die Verschärfung der Aussengrenzenkontrolle beinhaltete.  Fortan sollte für die Bearbeitung eines Asylgesuchs nur noch ein Vertragsstaat zuständig  sein. Bei Ablehnung bestand  fortan  keine oder  kaum  mehr eine weitere  Chance  einer eventuellen Asylgenehmigung in einem  anderen  Vertragsstaat, zumal beschlossen wurde, nicht  nur Informationen  über Verfahrensfragen,  sondern  auch personenbezogene Daten der  Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller auszutauschen. Damals  schon wurde die Einführung eines  einheitlichen Visums angestrebt. Die Schere  wurde zunehmend  enger,  als  1990 auch  Spanien,  Portugal  und Italien  dem Schengener Abkommen beitraten.   Spanien  zum Beispiel  führte  die Visumpflicht für nordafrikanische Asylsuchende ein.  Hunderte, wenn  nicht Tausende  ertranken beim Versuch,   mit Fischerbooten illegal vom  Meer  her die spanische  Küste zu erreichen.· Griechenland erwägt  seinen Beitritt  zum Abkommen. England  hat im Sommer  1991 erklärt,   seine Einreisebestimmungen nach Massgabe der Schengener Bestimmungen zu verschärfen. Diese  wurden  wurden  1990 im sogenannten  “Zweiten  Schengener”  und im “Dubliner”  Abkommen ausgeweitet. Mitte  Februar dieses  Jahres haben  sich in Budapest  an einer Ministerkonferenz,  an der 35 europäische Staaten  teilgenommen haben,  die meisten  Delegationen, darunter auch Bundesrat· Arnold Koller,  für verschärfte koordinierte  Massnahmen gegen  die  “illegale Zuwanderung”  und das damit verbundene  Schlepperwesen  ausgesprochen.  Nur so gelänge es,  “die Probleme  der Migration in den Griff zu bekommen”,  hiess es im Pressecommunique zum Abschluss der Konferenz.

Es stellt sich mit zunehmender  Deutlichkeit  heraus,  dass für die europäischen  Staaten, inklusive für die Schweiz,  Menschen,  die um Aufnahme nachsuchen,  als innerstaatliches Problem Europas erfasst werden. Dieses Problem  gilt es,  “in den Griff zu bekommen”. Das heisst,  dass das Hauptaugenmerk der Anstrengungen auf die Abwehr gelenkt  wird, dass mithin nicht die zu Flucht und Migration zwingenden  Bedingungen in den Herkunftsländern als das massgebliche Problem der Asyl- und Arbeit- und Subsistenzsuchenden erkannt  werden,  dass mithin  auch keine genügenden Anstrengungen unternommen werden,  um diese Bedingungen zu verbessern. Um  “das Problem  in den Griff zu bekommen”,  denken  sich – scheinbar  – ernstzunehmende Profis  Lösungen aus,  die nachdenklich stimmen:  So schlägt etwa der Nobelpreisträger für Ökonomie von  1992,  Gary  S.Becker,  vor,  dass der Markt  die Immigration regeln solle.  Einwanderungsrechte sollten  wie andere  Güter  nach dem Gebot von Angebot  und Nachfrage gehandelt werden.  Die Preise  für Visa  sollten  in jährlichen Versteigerungen ermittelt werden,  sodass diejenigen,  die schliesslich  einwandern könnten, schwer  dafür bezahlt  hätten.  Diese  Einwanderer, meint Becker,  wären  dann auch  motiviert, sich entsprechend dem Eintrittspreis nützlich  zu machen,  sich anzupassen und  sich eben nicht als “Schmarotzer”  zu benehmen.

Das nicht  mehr nur unterschwellige Cliché  ist deutlich erkennbar – dasselbe  Cliché,  das auch den Anschlägen  auf Unterkünfte von Asylsuchenden zugrundeliegt:  dass die Fremden, die kommen, bedrohliche “Schmarotzer”  sind,  dass daher jede  Art von Massnahme, und sei es Gewalt,  gerechtfertigt ist, um gegen  sie vorzugehen: ein Cliche und Feindbild, das grosse  Teile  der Bevölkerung für sich übernehmen und zur Erklärung vieler  Misstände brauchen,  deren Zusammenhänge  allzu komplex sind. Das wirlich Bedrohliche ist, dass die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen, ob im übrigen Europa, ob in der Schweiz,  es zumeist  unterlassen, klare  Richtlinien zu setzen und sich mit der Kraft ihrer  Persönlichkeit dieser  Feindbildkonstruktion entgegenzusetzen. Im Gegenteil, sie handeln  im Sinn populistischen Kalküls, wie das jüngste Beispiel  von Monika  Webers  Motion  und von Bundesrat Kollers  schnell  nachfolgender Weisung, einige wegen  Drogendelikten angeklagte Ausländer einfach  zu internieren, um ein Exempel  zu statuieren,  Menschenrechte im Strafrechtsverfahren hin oder  her.

Im Cliché  des Schmarotzers  zeigt  sich eine der Ursachen  der Fremdenangst und  des Fremdenhasses, der, wie die Geschichte es auf allzu  schreckliche Weise  bestätigt hat, nie wieder  gutmachbare Folgen  der Inhumanität, der tödlichen  Gewalt  nach  sich ziehen kann.  Ängsten  liegen vielleicht immer  Clichés  – ich meine  fixierte Bedrohungsbilder – zugrunde. Deswegen  ist es so schwer,  Ängste  zu korrigieren. Viele dieser Bedrohungsbilder werden mit der Erziehung vermittelt, gehören  zum gesellschaftlichen Umfeld  und werden  zudem  durch negative wirtschaftliche Entwicklungen verstärkt  Was sie korrigieren kann,  sind allein  gegenteilige Erfahrungen sowie vernunftmässige Einsichten  und Erkenntnisse.   Aber  allein  schon die Bereitschaft,  diese Einsichten zuzulassen,  kann nicht vorausgesetzt  werden.  Sie muss immer wieder von neuem gefordert  und gefördert werden.  Der vorgelebte  gesellschaftliche  Friede,  dieser durch Angst und Gewalt so schnell gefährdete Friede,  könnte und sollte Motivation  und Ziel sein.

Im Fall der Fremdenarigst und des Ausländerhasses  könnte vielleicht  schon eine banale Tatsache,  die in allen Diskussionen  meistens unter den Tisch gewischt wird,  etwas verändern:  Dass es die Schweizer und Schweizerinnen,  denen eine ausländerfreie Schweiz gehören  sollte, ja gar nicht gibt.  Dass wir seit Jahrhunderten längst eine ethnisch  und kulturell gemischte Gesellschft geworden  sind, eine “Heimat Babylon” wie der Titel des im vergangenen  Jahr erschienenen  Buchs von Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid heisst, eine gemischte  Gesellschaft,  die sich nicht mehr entwirren  lässt.

Dass andererseits  auch allein im letzten Jahrhundert Tausende von Schweizern und Schweizerinnen  die Schweiz verlassen haben, insbesondere  aus den Bergtälern des Wallis,  des Tessin,  des Berner Oberlandes und Graubündens, weil ihnen die Schweiz zu eng wurde,  weil das Leben hier zu armselig war. Dass diese Auswanderer  ihrerseits zur ethnischen und kulturellen  Durchmischung in ihren Aufnahmeländern beigetragen haben, in Russland, in Nordamerika,  in Australien und Neuseeland  und wo immer.

 

Wir werden uns im Lauf der Diskussion fragen,  welche Massnahmen  und Vorkehrungen nützlich sein könnten,  damit Ängste abgebaut werden könnten,  und was vorgekehrt werden muss, damit Integration im guten Sinn möglich ist. Ebenso wollen wir uns fragen,  wie Pflichten und Rechte im Zusammenleben  von Mehrheit  und Minderheiten geregelt werden sollten.  Ferner,  welche Werte gemeint sind, wenn von kultureller Bedrohung,  von kultureller  Überfremdung gesprochen wird.  Am wichtigsten scheint mir, dass wir uns fragen,  wie in unserer Gesellschaft kulturelle Konflikte integriert werden können,  wie wir mit diesen leben können,  ohne dass sie in Gewalt oder in Unterdrückung  der schwächeren  Gruppen ausarten.

Es wäre dringend und nützlich,  auch über eine der schwierigsten Fragen zu diskutieren, die in fast allen politischen  Diskussionen  zu den grossen Tabus gehört:  nämlich ob die Demokratie  als politisches  System noch tauglich und geeignet ist, um den enormen politischen,  wirtschaftlichen  und kulturellen Aufgaben, die die grossen zukünftigen Migrationsbewegungen stellen werden,  zu genügen.  Vor allem: Was vorzukehren  ist, damit die Demokratie  als System kontrollierter  und geteilter Macht tauglich bleibt,  trotz wachsender Komplexität  einerseits  sowie wachsender Überforderung und Indifferenz des grossen Teils der Bevölkerung  andererseits,  da jedes andere System,  auch eine oft herbeigewünschte  Expertokratie,  in Diktatur einmündet.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

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