“Aus der Zeitgenossenschaft wird niemals jemand entlassen” – Drei fiktive Gespräche um eine Theorie der Geschichte

Buchbeitrag für: WIDERSPRUCH 16 – Beiträge zur sozialistischen Politik, Zürich 1988

 

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“Aus der Zeitgenossenschaft wird niemals jemand entlassen”

 

Drei fiktive Gespräche um eine Theorie der Geschichte

 

Der Textpart Hermann Lübbes besteht aus einer Collage wörtlicher oder sinngemässer Auzüge aus den folgenden Werken sowie aus minimalen, durch die Dialogfassung bedingten, Ergänzungen:

“Theorie und Entscheidung”, Freiburg i. Breisgau 1971

“Hochschulreform und Gegenaufklärung”, Freiburg i. Breisgau 1972

“Politische Philosophie in Deutschland”, München 1974

“Fortschritt als Orientierungsproblem”, Freiburg i. Breisgau 1975

“Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse”, Basel/Stuttgart 1977

“Philosophie nach der Aufklärung”, Düsseldorf/Wien 1980

“Zur Kritik gegenwärtiger Zivilisationskritik”, IBM-Nachrichten Okober 1982, Nr.261

“Politischer Moralismus”, Berlin 1987

“Fortschrittsreaktionen”, Graz/Wien 1987

Auf den Ort der Auszüge wird nicht einzeln hingewiesen.

Zürich, im Spätherbst 1987

 

Erstes Gespräch: Die narrative Reihe

 

– In Ihrem unfangreichen Werk, Hermann Lübbe, beansprucht die Reflexion über das,  was Geschichte ist und  wozu Geschichte ist, grösstes Gewricht.Darf ich Sie bitten, die wichtigsten Aspekte Ihrer Geschichtstheorie kurz zu erläutern?

– Ich unterscheide zwischen “Historie” und “Geschichten”. Die Historie ist der Präsentationsmodus der Geschichten, ein narrativer, deskriptiver, linearer Erzählrnodus, den ich als “narrative Reihe” bezeichne. Sie kennen ja dieses “Und dann … ,   und dann … ,   das mit irgendeinem Ereignis einsetzt und mit irgendeinen Ereignis wieder abbricht und ein Ende nimnt. Geschichten sind nicht theoriefähig und können daher nicht handlungsanweisend sein; sie sind Ereignis- oder Zustanabfolgen, für die wir ‘Weder Regeln noch Gesetze angeben können, Evolutionsprozesse oder Zustandveränderungen eines Referenzsubjekts, welches auf Grund externer Einflüsse zu dem wird, was es ist. Geschkhten als Personen-und Institutionengeschichten sind daher Prozesse ohne Handlungssubjekt. Das heisst: Was jenand oder etwas durch seine Geschichte ist, lässt sieh als Resultat seines Wissens, es zu sein, nicht verständlich machen. Identität ist kein Handlungsresultat und steht nicht zur Disposition, auch nicht zur eigenen.Identität ist, im Unterschied zu Handlungen, deswegen auch nicht zurechenbar. Geschichte, mithin, ist reine Kontingenzerfahrungskultur.

– Vieles karmt mir unklar und widersprüchlich vor. Sie bezeichnen den Präsentationsmodus von Geschichten als “narrative Reihe” und verstehen darunter die erzählerische Darstellung interferierender Geschichten und Ereignisse, die nienandem “zurechenbar” seien, wie Sie sagen. Ein Handlungssubjekt stellen Sie in Abrede. Das erscheint mir überaus folgenschwer. Doch bleiben wir vorerst beim Begriff “narrative Reihe”. Lässt er sich mit den Begriff “Chronik”  gleichsetzen? “Narrative Reihe” kommt mir sehr ungewohnt vor.

– Eventuell, versuchen Sie!

– Chronik bedeutet ja Berichterstattung von Ereignissen in einer zeitlichen Abfolge (chronos): Und dann … ,  und dann … Die Berichterstatttung fängt irgendwo an und hört irgendwo auf, sie mag mehr oder weniger vollständig sein. Auch eine unvollständige Chronik ist noch eine Chronik, und auch eine “Reihe” mit Auslassungen ist noch eine “Reihe”. Ob der Grund für die Auslassungen Unkenntnis der vollständigen Ereignisse sei oder Absicht, ist solange gleichgültig, als behauptet wird, der “narrativen Reihe” oder der Chronik k0mme nur deskriptive Funktion zu. Aber ist diese Reduktion zulässig? Lässt reine Deskriptivität nicht einen “historischen Eskapisnus” zu, wie ich das Vorgehen bezeichne, unter Umgehung und Ausklarmerung “schwieriger” Vergangenheiten mit der Identifikation an irgendeinen Punkt anzusetzen und sich damit zufriedenzugeben?  Walter Benjamin (in “Betrachtungen zun Werk Nikolau Lesskows'”) fragt sich, ob die als “Chronik”  verstandene Geschichtsschreibung wirklich “den Punkt schöpferischer Indifferenz zwischen allen Formen der Epik ” darstelle, und er räumt dann ein, dass es unter “allen Formen der Epik” nicht eine gebe, deren Vorkommen in dem reinen, farblosen Licht der geschriebenen Geschichte zweifelsfreier sei als die Chronik”.

– Da haben Sie ja eine Bestätigung meiner Theorie!

– Nur teilweise, denn der Komparativ weist gerade auf die nicht ausgeräumten Zweifel hin. Sie suggerieren, die”Historie”  sei “ontologisch neutral”, da sie nur referierend deskriptiv sei. Gerade das möchte ich in Frage stellen. Kommt nicht selbst der “farblosesten” Chronik oder “narrativen Reihe” weit mehr als eine deskriptive Funktion zu, närnlich eine deutende, erklärende und wertende, und sei es allein durch die Tatsache, dass sie sich der Sprache bedient, um  Ereignisse mitzuteilen? Kann Sprache als ontologisch neutral bezeichnet wierden? Ich bestreite dies. Sobald Begriffe in einen Zusarmmenhang verwendet werden, und sei es im Zusammenhang der indifferentesten “Reihe”, hat ihre Verwendung zuerst mit den Unbewussten und den Bewusstsein des Subjekts zu tun, das sie aus einer grossen Auswahl von möglichen Begriffen ähnlicher Bedeutung auswählt, und dann erst mit den Gegenstand, den sie bezeichnen.”

– Was bezwecken  Sie mit dieser Feststellung?

– Indem ich von der unbewussten oder bewussten Begriffswahl in der historischen “narratio” spreche, führe ich ein Handlungssubjekt ein. Sprache ohne sprechendes, d.h. handelndes Subjekt ist ein Widersinn. In anderen Worten: Eine “narrative Reihe” ist auch eine zurechenbare Handlung, in der sich eine Absicht kundtut und die einen Zweck anstrebt, und sei es allein den Zweck, etwas mitzuteilen, zu berichten oder über etwas zu informieren (was ja die eigentliche erkenntnistheoretische Funktion der Deskription ist). Ich wähle damit so “indifferente” Zwecke wie möglich, ich spreche nicht von “aufklären” oder “belehren” oder “überzeugen”! Die sprachimnanente Intentionalität ist sehr subtil: “Mitteilen” erinnert an die soziale Funktion der Sprache, Zwischenmenschlichkeit herzustellen, einen anderen Menschen zum Teil-haber von Erkenntnis und Wissen werden zu lassen; “berichten” sodann hat mit “Richtung”, “richten” und “Richtigkeit” zu tun; “Informieren”  schliesslich entspricht der Bedeutung seiner Elemente, “Gestalt” (forma) kommt vor  und “in”,   “hinejn”;  derjenige, der informiert wird, soll “geformt”  werden durch das, was er erfährt.

– Ich verstehe nicht, was Sie damit beweisen wollen.

– Die Besipiele sollen beweisen, dass selbst die “neutralsten” oder “indifferentesten” Reihen oder Chroniken noch Aufschluss geben können über die bewussten oder unbewussten Intentionen des Erzählers. Daher kann auch jede “narratio” Cegenstand psychographischer Deutung werden, so wie Arnold Künzli sie methodisch an den Lebensgeschichten von Karl Marx oder Houston Stewart Charrberlain entwickelt hat. Nun, Intentionalität ist das eine, Normativität daa andere. Es ist durchaus denkbar, dass Handlungsanweisungen Gegenstand von Intentionen sein können. Selbst wenn die “Geschichten” keine normative Funktion haben, kann die Tatsache und Weise der Schilderung der “Geschichten”  normativ sein.

-Ich wiederhole dagegen, dass die Historie nur deskriptiven Charakter hat, dass sie als Narration von Geschichten nur Antwort geben kann auf die Frage, wer wir sind, und dass daher auch Identität, als Resultat der Narration kontingenter Zustands- und Ereignisabläufe, ein deskriptiver und kein normativer Begriff ist.

–  Begriffe, Hermann Lübbe, sind ja weder deskriptiv noch normativ, die Prädikation erfolgt allein durch den Kontext, in dem sie gebraucht werden. Und ob die Historie, wie Sie sie verstehen, die Frage nach der Identität auf genügende Weise beantworten kann, möchte ich noch offen lassen. Bleiben wir vorderhand bei unserer ersten Differenz, nämlich bei  Ihrer Behauptung reiner Linearität und Deskriptivität der Historie und bei meiner Entgegnung sprachimmanenter Intentionalität und damit möglicher intendierter Normativität. Ich habe also den Narrator als ein erstes Handlungssubjekt eingeführt und möchte diese “Einführung”  mit einen Beispiel deutlich machen, etwa mittels der “Geschichten” die mit den Ereignissen des 22.Februars 1943  zusammenhangen. Diese Ereignisse können aus verschiedenen Motiven geschildert werden: entweder, um sie den Vergessen zu entreissen und und sie in Erinnerung zu rufen, oder um mittels der Schilderung ein Exempel zu statuieren.

-Fahren Sie fort!

– Ein Prozessbericht, zum Beispiel, ist “Historie”  oder Chronik oder “narrative Reihe”, ob es der Bericht des Richters sei (das Urteil mit der Urteilsbegründung), oder ob es der Bericht des Anwalts oder der eines Angehörigen des Angeklagten sei, oder der Bericht eines unbeteiligten Dritten. Jeder dieser Berichte unterscheidet sich von anderen. Sind Sie damit einverstanden?

– Soweit gewiss.

– Die Unterschiede haben jedoch nicht nur mit den verschiedenen “Elementen”  zu tun, welche die “narrative Reihe”  bilden, sondern mit der Intentionalität des Berichterstatters, welche die formale und inhaltliche Wahl der Elemente bestimnt. Es ist lohnend, in diesen Zusamrenhang etwa die verfügbaren Aufzeichnungen über den Prozess zu vergleichen, welcher Sophie und Hans Scholl und deren Freund Christoph Probst am 22.Februar 1943 am Volksgerichtshof München gemacht wurde: nämlich das von Dr.Freisler verhängte Todesurteil (“im Narren des deutschen Volkes”) und dessen Begründung; die von Robert Mohr, dem damaliigen Kriminalobersekretär bei der Gestapo München und “Vernehmungsbeamten” von Sophie Scholl, festgehaltene Schilderung der Ereignisse; sodann die von Inge Scholl, der Schwester der verurteilten Geschwister, aufgezeichneten Erinnerungen; und den von Leo Sarrberger, einem damaligen Jurastudenten, der auch den Verhandlungen beiwohnte, verfassten Bericht. “Chronik” ist jeder dieser Berichte, die “Referenzsubjekte” sind jedesmal die gleichen drei Angeklagten und zum Tod Verurteilten. Lassen sich diese Berichte jedoch als “Kontingenzerfahrungskultur” einfach in einen “ontologisch neutralen” Bereich ansiedeln? Lassen sie sich auf “extern beeinflusste Abläufe”, die allein mit den drei Referenzsubjekten zu tun haben, reduzieren?Lässt sich das Handlungssubjekt einfach ausblenden? Ist nicht gerade die Qualität der Chronik, respektive der “narrativen Reihe”  von der personalen Qualität dessen abhängig, der sie verfasst und mithin auch diesen zurechenbar?

– Worauf hinaus wollen Sie mit Ihren Fragen, Maja Wicki?

– Ich möchte deutlich machen, dass jede Schilderung bestimmter Ereignisabläufe mehr als deskriptiven Chrakter hat. Dr.Freislers Urteil, zum Beispiel, ist ein Dokument der Lüge und der Niedertracht, der Willkür und der Propaganda und damit ein typisches Dokumnt nationalsozialistischer Rechtssprechung; Robert Mohrs Niederschrift ist der Rechtfertigungsversuch eines für das Urteil Mitverantwortlichen; Inge Scholls Schilderung ein aus Trauer und Liebe gezeichneter Rechenschaftsbericht, und Leo Sambergers Darstellung ist das Zeugnis erschütterter und hilfloser Beobachtung aus den Bewusstsein unentrinnbarer Zeitgenossenschaft.

– Das alles lässt sich nicht bestreiten.

– Und ebenso wenig, dass “Historien” mithin zumindest e i  n  Handlungssubjekt haben, in unserem Beispiel Freisler, Mohr, Inge Scholl und Samberger; sodann, dass diese Berichte nicht “neutral ”  und “rein deskriptiv” sein können und daher nicht allein der “curiositas” entsprechen, die Sie als einziges historiographisches Motiv annehmen, sondern dass sie in einer bestimmten – bewussten oder unbewussten – Absicht verfasst sind und etwas bewirken wollen, in unserem Beipiel Einschüchterung und Abschreckung bei Freisler, Verständnis bei Mohr, Erschütterung und liebevolle Erinnerung bei Inge Scholl, Nachdenklichkeit bei Sarrberger. Dadurch, dass sie etwas bewirken wollen, veranlassen sie den Zuhörer oder Leser der “Geschichten”,     den “Rezeptor”, zu einem bestimmten Verhalten oder Handeln. Hierin liegt der Nutzen der “Geschichten” für die Gegenwart, in einer handlungsverändernden, eventuell gar handlungsweisenden Wirkung.

– Ich widerspreche Ihnen erneut. Die Geschichte hat als “magistra vitae”  ausgedient, nicht einmal Weisheitslehren lassen sich mehr daraus ziehen, wie dies noch Jakob Burckhardt behauptet hatte. Die Geschichtspragmatik liegt allein in der Identitätsvermittlung, und in zwei  kognitiven Begleitfolgen, die sich zusätzlich zur Systemindividuation einstellen mögen: nämlich in der Gewissheit, den Fortschrittsfaden aus dem Knäuel geschichtlicher Abläufe in der Hand zu haben, sodann in der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart als Antwort auf die Herausforderung einer realen Beschleunigung der Ereignisabläufe in der Zeit, wie dies auch Reinhart Koselleck bestätigt.

— Das ist Historismus redivivus! Im übrigen lassen Sie damit offen, wer das Subjekt ist, welches Identität gewinnt, welches den “Fortschrittsfaden” aus den wirren Kontingenzknäuel in der Hand hält oder welches Vergangenheit und Gegenwart dank der Geschichte zu verknüpfen imstande ist. Dieses Subjekt, das Sie einfach ausblenden, bezeichne ich als das “rezeptive” Subjekt und damit als das zweite Handlungssubjekt der Geschichte. Als Handlungssubjekt kann es auch die Rolle des ersten Handlungssubjekts übernehmen. Die Rollen des Narrators und des Rezeptors sind austauschbar. Zwischenmenschlichkeit, auch im Erzählen von Geschichten, zeigt sich als ein wechselweises Sprechen und Zuhören, als ein wechselweises Fragen und Antworten.

– Sie zeichnen damit simple Sprechaktmuster auf, die mit reiner Tileorie der Geschichte nichts zu tun haben.

– Eben,  ich möchte an Stelle der ausschliesslichen “Kontinqenzerfahrunqskultur”, von der Sie sprechen und deren unbelangbares Handlungssubjekt letztlich ein unbelangbarer Hegel’scher Weltgeist ist, Geschichte auch als Folge zurechenbarer Handlungen in einen intersubjektiven Austausch definieren, als, im Kantischen Sinn,”Erscheinungen der Freiheit”: Selbst die deskriptive Funktion hat noch zurechenbaren Charakter. Ich führe daher noch ein drittes Handlungssubjekt ein: das Rechenschaftssubjekt. Das kann das Referenzsubjekt sein, das im Lauf der Narration mit eigenen Aussagen zitiert wird, in unseren Beispiel Hans und Inge Scholl sowie Christoph Probst, immer dann, wenn deren Aussagen wörtlich zitiert werden; oder das kann der Narrator sein, der seine eigenen Geschichte erzählt, mit der Stimme der Erinnerung oder mit der Stimme des Gewissens. Erzählend holt er Vergangenheit zurück, um zu erklären, wer oder wie er ist.

– Dieser Tileorie ist klar zu widersprechen. Identität ist nicht zurechenbar. Ich will damit sagen, dass das Tun und Lassen wohl rechtfertigungsfähig ist, aber die Identität ist es nicht, weil es dabei nicht um Handeln, sondern nur um Sein geht. Niemand kann etwas dafür zu sein, was er geworden  ist, und zwar auch dann nicht, wenn er durch das, was er besser unterlassen hätte,  selbst dazu beigetragen hat. Auch ein Identitätswechsel durch Austausch der Vergangneheit ist nienandem möglich, und zwar selbst im Fall ihrer gelungenen “Bewältigung” nicht, und aus der Fülle der Lebensverhältnisse in ihrer historisch erklärbaren Misslichkeit, die “im Prinzip” tatsächlich zur Disposition stehen, verbleibt immer derjenige Anteil fur die Dauer der Lebensfristen von Individuen und Generationen als unabänderliches Faktum, den zu ändern die knappe Zeit dieser Fristen nicht mehr reichte.

– Ich möchte nachher auf die Frage der Identität zu sprechen kommen, Hermann Lübbe, auch auf das, was sie unter “Bewältigung” verstehen. Ich will nur eben, entgegnen, dass mir Ihre Theorie der subjektiven Verantwortungsentlastung sehr problematisch erscheint, sehr papieren und praxisfremd. Ist es zulässig zu sagen, dass für das, wer oder was einer ist, einer nichts kann? “Sein”; Hermann Lübbe,  i  s t  nicht, sondern w  i  r d  fortwährend, und zwar durch das eigene Tun und Lassen. Auch das Reagieren auf “externe Ereignisbedingungen” d.h. auf kontingente Ereignisse, ist ein Tun und Lassen des wählenden und entschiedenden Subjekts. Unverfügbar ist die Vergangenheit wohl, soweit sie”verfestigte Form” ist, wie Tneodor Lessing sie bezeichnet. Geschichte als Prozess aber ist nicht allein kontingent, sondern ist ein Wechselspiel aus sowohl unbeeinflussbarem Geschehen, in den der Einzelne drinsteht, weil er hineingestellt wurde, als auch aus interferierenden individuellen und kollektiven Entscheidungen und Handlungen, und aus diesen Wechselspiel bildet sich die Entwicklung menschlichen Zusamrenlebens im Guten und im Feindseligen, im gegenseitigen Respekt und in der Gewalt. Ob in dieser Entwicklung “Sinn”  liegt und ob so etwas  wie  “Fortschritt entsteht,  weiss  ich  vorläufig nicht. Jetzt nur soviel:  Wer oder wie einer ist, ist ihm a u c h  zurechenbar, trotz aller externen Bedingtheit, weil er so  g e w o r d e n ist, wie er ist, und sei es allein durch die Art und Weise, wie er die”externen” Ereignisse auf sich wirken liess – und lässt. Auch das Unterlassen von Tun ist ein Tun, auch das Nicht-Entscheiden ist ein Entscheiden, auch der nicht stattgefundene Widerstand ist ein Akt, auch das stillschweigende Einverständnis in die “äusseren Ereignisbedingungen”  ist zurechenbar. Ihr Satz “Das ist nur hisotrisch erklärbar”,  der subjektentlastend sein sollte, erklärt das Werden, eigenes und fremdes oder das einer ganzen “Zeitgenossenschaft”  als “Erscheinunq der Freiheit”, mithin als zurechenbaren Prozess, dessen Handlungsfolgen zu “Ereignissen”     werden. Und in der Interferenz der Handlungsprozesse und deren Folgen werden einzelne Handlungssubjekte zu “Tätern”  und andere zu “Opfern”. Immer jedoch sind diese Subjekte nicht theoretische Geschichtssubjekte, sondern Menschen, die versuchen zu wissen, wer sie sind, die nach normativen Kriterien entscheiden, was sie tun, und die letztlich nur wissen, was sie leiden.

– Das ist sehr unwissenschaftlich, Maja Wicki. Wissenschaftstheoretisch bürgt  nur  der Historismus für die Objektivität der Geschichte. Und meine Sorge gilt allein der historischen Objektivität.

– Ich bezweifle nicht die Echtheit Ihrer Sorge, Hermann Lübbe, aber ich bezweifle die Tauglichkeit Ihrer Theorie. Mir scheint, dass Sie mit Ihrer Eliminierung des Menschen als verantvortlichem Geschichtssubjekt und mit Ihrem ausschliesslichen Rekurs auf Kontingenz, verteilt auf eine Vielzahl von Geschichten, nicht nur auf eine nicht-konsistente Hegel’sche Geschichtstheorie (nicht-konsistent, weil mit dem Rekurs auf “Geschichten” die Welt”geschichte” sich auflöst) zurückfallen, sondern sogar auf einen vor-aufklärerischen Weltlauf-Fatalismus.

– Vor-aufklärerisch? Ich bitte Sie! Die Aufklärung ist längst ad acta gelegt; meine Philosophie ist Philosophie “nach der Aufklärung”.

– Ein Punkt mehr, über den wir uns nicht einig sind. Doch bevor wir auf den Aufklärungsbegriff eingehen, möchte ich kurz auf den eben erwähnten “Fatalismus” zurückkommen. Walter Benjamin sagt (am selben Ort, den ich zitiert habe), der Historiker könne sich unter keinen Unständen damit begnügen, die Vorfälle, mit denen er es zu tun habe, als “Musterstücke des Weltalls”  herzuzeigen. Das aber tue der Chronist, und besonders nachdrücklich tue er das in seinen klassischen Repräsentanten, den Chronisten des Mittelalters, welche die Vorläufer der modernen Geschichtsschreiber seien. Indem jene ihrer Geschichtsschreibung den göttlichen Heilsplan zugrundelegen, der ein unerforschlicher sei, wälzen diese die Last beweisbarer Erklärung von vornherein von sich. Teilt Ihre Kontingenztheorie mit der mittelalterlichen Heilsplantheorie nicht den Ausweich-Rekurs auf die “Unerforschlichkeit” des historischen Geschehens?  – hier wie dort zum Zweck der “Komlexitätsreduktion” (wie nicht nur Sie, sondern auch andere Neo-Histori snus- Vertreter zu sagen pflegen)? Im übrigen: Wie verhält sich Ihre Kontingenztheorie zu Ihren Dezisionismus? Strebt nicht auch der  Dezisionismus die Entlastung des Subjekts an?

– Zuerst eimal  wiederhole ich, dass die “Geschi chten”, welche den Gegenstand der Historie ausmachen, nicht zielkonsistente Handlungen sind, und dass es ein Missverständnis ist, die für evolutionäre soziale Prozesse in der Tat charakteristische Gerichtetheit nach Analogie der Zielgerichtetheit von Tätigkeiten handlungsfähiger Subjekte aufzufassen.  Der Dezisionismus, sodann, betrifft jene Entscheidungstheorie, welche ausschliesslich auf den Ausnahmezustand anwendbar ist. Ausnahmezustand herrscht dann, wenn die Orientierung an Normen und Regeln, am Herkömmlichen und Gewohnten nicht mehr weiterhilft. In der Ausnahrresituation gilt es, notfalls mit ungewöhnlichen Mitteln, einen Zustand allererst wiederherzustellen, dessen Ordnung neue Verbindlichkeiten schafft. Wer Entscheidungen stetig ausweicht, bewahrt sich nicht Möglichkeiten, sondern verliert Wirklichkeit (das war Kierkegaards Thema). Doch, wie gesagt, die Logik der Entscheidung ist eine Logik der Ausnahme. Der dezisionistische Charakter der geschichtlichen Existenz intensiviert sich im Traditionsverfall, d.h. aus Geltungsschwäche von Traditionen, wie dies zun Beispiel in der Krisenzeit zwischen der Katastrophe des 1. Weltkriegs und der nationalsozialistischen Machtergreifung der Fall war. Die Tatsache, dass in jenen Jahren der Dezisionismus sich für die Ausnahme als für das praktisch-existentielle Prius gegenüber der Norm entschieden hat, heisst nicht, dass nun unmittelbar gegen den Dezisionismus zu argurentieren sei. Böse Praxis ist nicht per se ein Irrtumsbeweis, sondern begründet lediglich eine Irrtunsvermutung. Subjektentlastend ist der Dezisionismus allemal ,    sowohl in der Rückführung auf Hobbes’ “auctoritas, non veritas facit legem”, auf Descartes’ “morale par provision” als einer dezisionistischen Lebenspraxis, auf Kants moralische Entlastung durch den Erweis des “guten Willens”, auf Max Webers Begründung der Legimität von Nomen allein durch die Legitimität des Verfahrens  ihrer Einsetzung und Durchsetzung, auf Carl Schmitt schliesslich, der die Geltung einer politischen Entscheidung unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhalts lehrte.”

– Heisst das also, dass Ihnen zufolge das Subjekt historisch immer entlastet ist? – im Rahmen “normaler” Handlungsabläufe, die Sie als “Ereignisabläufe” bezeichnen, durch die Kontingenztheorie,und im Rahrren aussergewöhnlicher Situationen durch den Dezisionismus?  Ist Ihr Satz, den Sie in meiner Gegenwart fornulierten, dass Hitler,  wäre er im Jahr 1938 ermordet worden, als grosser Staatsmann in die Geschichte eingegangen wäre  (trotz der Nürnberger Rassegesetze, die seit 1935 in Kraft waren) ein Exerpel ihres doppelten Entlastungskonzepts? Stimmen Sie also mit Ernst Noltes älteren und jüngsten Entlastungs-Thesen überein (zuletzt in: Der europäische Bürgerkrieg 191711945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Berlin 1987)? Formulierten Sie Ihren häufigen Aufruf zur “Entmoralisierung der Vergangenheit” als inplizite Konsequenz Ihrer Kontingenztheorie und Ihres Dezisionismus, d.h. im Rückgriff auf “Unerforschlichkeit” und “Ausnahmesituation”? Wohin aber führt die generelle “Entlastunq” und Absolution des Subjekts? Und nimmt nicht Ihre Common sense-Theorie, auf die wir in einen späteren Gespräch eingehen werden, für die Aktualität (und damit für das, was einmal Geschichte sein wird) das gleiche Subjekt-Entlastungsprinzip wahr, das sich bezüglich der vergangenen Zusammenhänge in die Kontingenztheorie kleidet? Wo bleibt da die Verantwortung des erkennenden, denkenden, urteilenden und wählenden Subjekts? Wo bleibt die Verantvortinq für das Handeln? – gerade dem leidenden Subjekt gegenüber? Alle diese Fragen bleiben offen. Ich stelle daher Ihren Geschichtskonzept deskriptiver, unbelangbarer Linearität, das allein der zustirmmenden Darstellung von “Kontingenzerfahrungskultur” dient, aus dem jedes veranwortliche Handlungssubjekt eliminiert ist und in dessen Folge sich nur die Identität des Referenzsubjekts ergibt ein dynamisches, kritisches, handlungs- und zurechnungsorientiertes Geschichtskonzept entgegen, das zwar der Tatsache nicht-beeinflussbarer Kontingenz Rechnung trägt, das sich aber vornehmlich durch die andere Tatsache der Intersubjektivität und Interaktion auszeichnet. Auch behaupte ich, dass Geschichte als “Geschichte” von “Geschichten” zu einen bestimnten – bewussten  oder unbewussten  – Zweck geschildert wird und auf Grund  der eingegebenen Intentionalität auch normative Funktion haben kann. Mit anderen Worten: Aus der Geschichte ist Nutzen zu ziehen, und dieser Nutzen kann eventuell in Handlungsanweisung umgesetzt werden.

– Sie konfrontieren mich mit  vielen Fragen und Gegenthesen. Zuerst einmal: Als Geschichten verstehe ich die Umbildung von Systemen unter externen Ereignisbedingungen, die sich zu Funktion, Zweck oder Sinn dieser Systeme kontingent verhalten, durch welche diese Systeme unter ihresgleichen jedoch einzigartig und unverwechselbar werden, d.h. Identität gewinnen. Dann: Die Historie kann nicht durch Anwendung genutzt verden.  “Anwenden”, im üblichen Sinn der technologischen Nutzung von Theorien für Handlungszwecke, kann man, trivialerweise, die Historie einfach deswegen nicht, weil historische Wissenschaften keine theoretischen Wissenschaften sind; denn für die Ereignis- oder Zustandsfolgen, welche ihr Gegenstand sind, lässt sich eine Regel oder ein “Gesetz” einfach nicht angeben. Indem wir über Geschichten us die Identität ihrer Subjekte vergegenwärtigen können, sichern wir den Nutzen der Historie nicht technologisch, sondern ideologisch.

 

und hier: Menschenbild – Zeitbild: Geschichte heute und morgen (ein viertes Gespräch). Die handschriftlichen Anmerkungen am Schluss sind von Maja Wicki (zuerst) und danach m.E. (CW) von Willi Goetschel

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