Hypostasierte Identität – Sprache und Identität

Hypostasierte Identität – Sprache und Identität

Wintersemester 1993/94:

 

  1. November 1993

 

Das vergangene Mal: Reflexionen zu Sprache und Identität, zur Geschichte dessen, was als “Identität” vor allem machtgenerierter Anpassungsdruck bedeutet hat, zur Differenz, zum Namen. Welche Fragen haben sich seither gestellt? Wie ging die eigene Reflexion weiter über das, was als “Identität” verstanden werden kann? – als das, was gleich bleibt? – oder als das, was entsteht und sich entwickelt und weiterentwickelt, einem Namen entlang, als Geschichte, als Weg, der sich vorweg öffnet auf ein unbekanntes Ziel hin, auf das Bild desjenbigen Menschen hin, als den wir geliebt sein möchten, wie wir das letztemal sagten.

Wir werden heute weiter über  “Identität” nachdenken und diese Reflexion zugleich verbinden mit der Reflexion über die Sprache, innerhalb derer und mittels derer wir Denken, Zweifel, äussere und innere Wahrnehmungen, kurz alle kognitiven und emotionalen Erfahrungen, die uns – das Ich, das Mich, das Wir, das Uns – betreffen, in eine verständliche Form bringen. Philosophie kann sich ja nur innerhalb der Sprache bewegen, kann sich nie ausserhalb der Sprache bewegen. Selbst wenn die Sprache Gegenstand der Reflexion ist, wird der Gebrauch der Sprache immer schon vorausgesetzt. Ob es ein jenseits der sprachlichen Mitteilbarkeit Erfahrung gibt, die trotz der Nichtmitteilbarkeit Sinn nicht ausschliesst – auch diese Frage wird uns beschäftigen.

Nun zuerst jedoch noch einige Reflexionen zu einem Verständnis von Identität, das einem heutigen Trend entspricht, Reflexionen, die ich auch als Zeitkritik formulieren möchte.

 

  1. Vorlesung. Die hypostasierte Identität

 

Wenn heute  “Identitätsprobleme” und “Identitäskrisen” in aller Mund sind, wenn selbsternannte Identitätspsychologen und -psychologinnen Kursangebote zur “Identitätsfindung” anbieten, so geht es dabei kaum um eine der konventionellen Identitätsbedeutungen noch um den von Freud gemeinten, unabschliessbaren Prozess der Befreiung aus der – in der Sprache Kants – “selbstverursachten Unmündigkeit”, nicht um jenen Proezss, durch den die konventionellen gesellschaftlichen Identitätsforderungen überwunden werden sollten. Es geht kaum um das von Widerständen geprägte und von inneren Differenzen begleitete lebenslange Werden zu einer immer reicheren, aber nie abgeschlossenen – oder erst im Tod abgeschlossenen –  Selbstsein.

Um was geht es denn bei diesem Angebot, das so gut in unsere Zeit passt, in der Verunsicherung und Ängste überhandnehmen und von den Menschen nicht ertragen werden können? Es geht um das Angebot einer – eventuell sogar zweifelsfreien – Sicherheit, die mit “Identität” bezeichnet wird, um etwas Zuständiges, etwas Festes, aber merkwürdig Starres, das sich, dem Angebot entsprechend, ein für allemal erwerben lassen soll. Kurz es geht um eine Verselbständigung oder Vergegenständlichung von Identität, um eine Identitätshypostase, bei der der relationale und dynamische Charakter des Identitätsbegriffs wegfällt, um eine Art Zustand, der als völlige Aufhebung der Entfremdung und “Beschädigung” (im Sinn Adornos) anzustreben und – wie ein Produkt – zu erwerben wäre. Es geht um ein mit lauter Grossbuchstaben geschriebenes SELBST.  Ist es dieses “Selbst”, das Adorno meint, wenn er schreibt, dass “Furchtbares die Menschheit sich hat antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war”, und dass “etwas davon noch in jeder Kindheit wiederholt wird“?

Erik H. Eriksons 1959 erschienenes Buch “Identität und Lebenszyklus” legte gleichsam wie etwas Selbstverständliches die Gleichung von “Identität” und “Selbst” fest. “Der Leser wird bemerkt haben, dass unser Begriff der Identität sich weitgehend mit dem deckt, was verschiedene Autoren das Selbst nennen”, heisst es bei Erikson. Dabei geht es Erikson um einen Wert oder, genauer, um einen Bestand, den es zu erwerben und in der Folge zu verteidigen gilt, der dann, wenn dies gelingt, über alle Lebenszyklen erhalten bleibt und der in der Fremdwahrnehmung wie in der Eigenwahrnehmung derselbe ist, der sich über und durch wechselnde Rollenidentitäten hindurch verstärkt, der als Ich und in der Ich-Reflexion als Selbst quasi unerschütterlich ist.

Es ist eine fast metaphysische Einheitsfiktion, die sehr gut mit anderen postmodernen Rezepten gegen die verunsichernde Erfahrung lebensbestimmender Kontingenz unter  heutigen Lebensbedingungen, insbesondere Grossstadtbedingungen, einhergeht.

Ich denke, dass gerade der mit dem Grossstadtleben verbundene Verlust vielseitiger, herausfordernder Realitätserfahrungen – nicht zuletzt vielseitiger Sinnen- und Körpererfahrung – das so breit deklarierte Bedürfnis nach unanfechtbarer “Identität”, nach dem – quasi zweifelsfrei –  und durch einen selbst zugelegten “Label” erkennbaren Soseins (in Negation des ängstigenden, unabschliessbaren Werdens) fördert.

Der Herstellung dieser hypostasierten Identität dient eine ganze Industrie, nicht nur die schon erwähnten Esoterik-Angebote einer genau rezeptierten Introspektion, sondern auch Waren, Sachen, Kleider, Symbole. So wurde es zum Beispiel in letzter Zeit unter Intellektuellen und Pseudo-Intellektuellen zu einem Erkennungszeichen fortschrittlich oekologiebewusster “Identität”, unter Grossstadtbedingungen sich mit einem Mountain-Bike in den den Asphaltdschungel zu wagen.

Dass Kleider und Jargon identitätsstiftende Funktion haben – etwa der weisse Arzt- und Ärztinnenmantel ebenso wie jede andere Uniform, zivile wie militärische, sodann die mit Absicht gepflegte, sogenannte “Fach”sprache – ist zur Genüge bekannt. Die über das einheitlich gepflegte kollektive Image vermittelte “Identität”, von der auch noch das schwächste Ich profitiert, macht jeden Prozess der Selbstinfragestellung und der echten Identitätsgewinnung im Sinn Freuds überflüssig. Es wundert nicht, dass, wer aus irgend welchen Gründen aus dem Kollektiv mit seinen identitätsstiftenden Attributen herausfällt, diesen “Sturz” wie eine verunsichernde Emigration erfährt. Doch darin kann sich die einzigartige Chance finden, einen Prozess der autonomen Selbstbefragung und Selbsterfahrung über Scheitern und Neuorientierung, kurz, über Widerstände einzuleiten.

Wer die Erfahrung der Emigration und des Exils wirklich erfährt, buchstäblich oder im übertragenden Sinn, wer aus aller Vernetzung und Vertrautheit herausfällt und zum Fremden wird unter Menschen, die sich als zusammengehörend empfinden, wer vielleicht selbst die Sprache verliert, das – in der Regel – so selbstverständlich verfügbare Mittel der zwischenmenschlichen Vernetzung, wer diese tiefste existentielle Verletzung erlebt, weiss, dass diese Nachterfahrung der Einsamkeit nur überwunden werden kann durch das Bewusstsein, dass sie Teil eines weiterschreitenden Werdens ist und dass dieses Werden der Freiheit verpflichtet ist, aller Kontingenz, das heisst all dem, was von Aussen als Widerstand und als leidverursachende Ereignisse geschieht, zum Trotz.

Vielleicht bedarf es der Erfahrung der Fremdheit, der Einsamkeit, des Scheiterns, damit das Anderssein als Möglichkeit des Selbstwerdens (oder Variationen des Anderseins, ich meine jene potentiellen Identitäten, die neben dem mit sehr viel Fremdbestimmung zustandegekommenen “Selbstsein” zu verkümmern drohen), als die freiheitlichere Option gewählt werden kann.

Adorno (1903-1969) warnt geradezu vor der “gut integrierten Persönlichkeit”. “Das Ziel der ‘gut integrierten Persönlichkeit’ ist verwerflich, weil es dem Individuum jene Balance der Kräfte zumutet, die in der bestehenden Gesellschaft nicht besteht und auch gar nicht bestehen kann“. Adorno stellt fest, dass in der bestehenden Gesellschaft “die Menschen, jeder einzelne, unidentisch sind mit sich (…) und kraft solcher Spaltung a priori beschädigt”.

Doch gerade der “beschädigte” Mensch, derjenige, der sich – entsprechend der klassischen kapitalismuskritischen Theorie und Terminologie – seiner “Entfremdung” bewusst wird, wird sich auch seiner Freiheit bewusst. Das heisst, er wird sich bewusst, dass er sich in einem nicht abschliessbaren Prozess des Werdens und hiermit des Lernens befindet. Und genau diese – vielleicht banale – Erkenntnis wird ihm erlauben, alle Erfahrungen als Lernerfahrungen zu verstehen und sie in die sich wandelnde und zugleich sich selbst bleibende, unverwechselbare Individualität zu integrieren.

Anstelle des missbräuchlich und missverständlich überdehnten Gebrauchs von “Identität” könnte die sich wandelnde und zugleich sich selbst bleibende, unverwechselbare Individualität ein zwangsfreies Sprechen von Selbstsuche erlauben. Jacques Derrida etwa (geboren 1930), einer der radikalen zeitgenössischen Identitätskritiker, schlägt vor, “Differenz“, das heisst Nicht-Identität mit gesellschaftlich normierten Sehweisen, mit fesgefügten Soseins-Angeboten nicht als Mangel, sondern als existentielle Grundvoraussetzung zu begreifen. Er findet damit den philosophischen Ausdruck für eine Erkenntis, die im Rahmen der Freud’schen Psychoanalyse als Aufgabe formuliert wird: Individualität als nicht abschliessbaren Weg der Freiheit zu verstehen, wofür die im Lauf der Entwicklung vermittelten Spielregeln vorweg genügen, wofür aber keine Abbild- und Angleichungstheorien, somit keine Identitätsforderungen sinnvoll gelten können. Die von Freud als bedrohlich erkannte Über-Ich-Bevormundung – im Bereich des privaten Lebens nicht anders als im Bereich der Philosophie oder der politischen Grundsätze – bleibt bedrohlich, solange sie nicht durch den einzelnen Menschen selbst erkannt und überwunden wird. Das heisst nicht, dass für diesen Weg der Freiheit nicht Vorbilder gefragt sind, dass nicht Beispiele von Menschen nötig sind, die eben diesen Weg zu gehen sich nicht fürchten und die auch Scheitern und Fremdsein zu bestehen vermögen.

Wie aber ist es möglich, diesen Weg zu wählen statt eines der vielen Angebote der verantwortungsentlastenden Anpassung und Unterordnung unter Verhaltens- und  Herrschaftmodelle, die in der Regel zugleich bequeme Identitätsangebote sind?

Wie kann der unbequeme Weg der Freiheit, der Weg zur Individualität in einer Gemeinschaft, deren Haupteigenschaft Verschiedenheit ist, eingeübt werden? Wie kann erreicht werden, dass dieser Weg nicht zu narzistischem und vereinsamendem Individualismus führt, sondern zu jenem herrschaftsfreien Diskurs in gegenseitigem Respekt, zu jener gegenseitig respektierten Geltung jeder Stimme im Chor der Stimmen? Wie kann die eigene Stimme inmitten der fremden Stimmen auch als fremde Stimme wahrgenommen werden, im Sinn, wie Julia Kristeva es meint, dass “Fremde wir uns selbst sind“, dass das Verschieden- und Anderssein als “condition humaine”, als Voraussetzung des Selbstwerdens erkannt werden kann, wodurch im Zusammenleben jener Austausch möglich wird, der dem Zusammenleben Sinn gibt? Wie können auf diese Weise die bedrohlichsten Folgen von Identitätsforderungen – Misstrauen Anderen gegenüber, Fremdenangst, Fremdenabwehr, Rassismus – überwunden werden?

Die Fragen münden in die eine Frage ein, wie das so vielen Zwängen und Über-Ichs unterworfene Ich zu einem möglichst autonomen Ich wird.

Doch selbst diese Frage kann wieder in Frage gestellt werden, wenn, nach strukturalistischer Manier, das autonome Ich grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wenn, wie zum Beispiel bei Michel Foucault, allein von Ereignissen die Rede ist, die geschehen, die vorkommen und von denen das individuelle Ich ein Ereignis unter unzählbar vielen ist.

Trotzdem, ich denke, dass die Frage nach dem Ich und nach dem Werden der Autonomie gestellt werden wuss, die Frage nach einem Prozess, der notwendigerweise mit Widerspruch und Widerstand, mit Härten, mithin mit der Erfahrung der unbeschönigten, uneingeebneten Realität, aber vor allem auch mit der Erfahrung der Liebe zu tun hat. In der Erziehung der Kinder ist in diesem Zusammenhang die Chance des begründeten Nein- und Trotzdem-Sagens gewährt, damit auch die Chance, die Folgen für ein so oder so gewähltes Handeln übernehmen zu lernen, die Chance auch, trotz des Widerspruchs und des Zuwiderhandelns die Erfahrung des Angenommenseins, der Liebe nicht in Frage gestellt zu wissen. Denn Trotz und Widerspruch allein vermitteln noch kein Wissen um einen eigenen anderen Weg, der vorweg aus den Zwängen hinausführt, wenn auch eventuell in neue.

Es mag sich um ein langes Irren, um eine langes Suchen handeln, und dies sollten wir uns selbst und den Menschen, die uns nahe sind, zugestehen, solange die Wahl, die getroffen wird, vorweg korrigierbar ist.  Denn wenn In-der-Welt-sein als Werden und als Lernen verstanden wird, sind Widerstände und Hindernisse nicht nur durch die äusseren Kräfte und Ereignisse gegeben, sondern häufig auch durch die Freiheit selbst, sind aber immer Voraussetzung für eine sich wandelnde, sich erweiternde Kenntnis der eigenen Möglichkeiten und Grenzen.

In diesem Prozess spielt die Sprache eine massgebliche Rolle. Die Sprache eröffnet Variationen der Wahl. Die Sprache leitet die Wahl an. Die Worte sind Ausdruck der Eigenschaften dessen, was sie meinen. Die Namen bedeuten die Gegenstände selbst, das heisst, sie vertreten die Gegenstände (Wittgenstein, Tractatus, 3.202 / 3.22).

Rousseau – in “Emile oder über die Erziehung – rät, den Wortschatz der Kinder so sehr wie möglich einzuschränken. Es sei ein grosser Nachteil, wenn sie über mehr Worte als Vorstellungen verfügten, und wenn sie mehr sagen als denken könnten.

Zu fragen ist, ob etwas gedacht werden kann, was jenseits der Erfahrung liegt.

Liegt hier – in der Erfahrung oder in der Nicht-Erfahrung – die Grenze sinnhaften Sprechens?

Ist es so, wie Wittgenstein im “Tractatus” festhält, dass “Die Grenzen meines Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten”? (5.6)

Was ist unter “Grenze” zu verstehen? Was bezeichnet eine Grenze? Was ist diesseits und was ist jenseits der Grenze?                                                                                       *

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