Wittgensteins Verhältnis zu Bertrand Russel – Wintersemester 1993 / 94 – Sprache und Identität

Wittgensteins Verhältnis zu Bertrand Russel

Wintersemester 1993 / 94  – Sprache und Identität

 

  1. Januar 1994 (10. Vorlesung)

 

Bevor wir uns im Dezember für drei Wochen von einander verabschiedeten, versprach ich, dass wir heute, bei unserer ersten Zusammenkunft im Januar, mit Wittgensteins Verhältnis zu Bertrand Russel befassen, nachdem die Paragraphen 3.33 bis 3.334 des “Tractatus” besondere Verständnisprobleme stellten. Dies wollen wir heute tun, und dabei insbesondere auf die Paragraphen 3.332 und 3.333 eingehen. Anschliessend mcöhte ich einen kurzen Exkurs zum Thema Väter und Söhne machen, um dann, für den dritten Teil des Abends, Barbara Hampel das Wort zu geben.

Bertrand Russel, 1872 geboren (1970 gestorben), also um 17 Jahre älter als der 1889 geborene Wittgenstein, einer der vielfältigsten Philosophen unseres Jahrhunderts, Logiker, Zivilisationskritiker, Pazifist und Ethiker,  wurde für Wittgenstein zum wichtigsten Förderer und Lehrer, bis der Schüler, wenngleich nur im Gebiet der Logik, seinen Lehrer überrundete.

Wittgenstein war 19 Jahre alt, als er, nach zwei Jahren Maschinenbaustudium an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg, im Frühling 1908 nach Manchester ging um dort Flugzeugbau zu studieren. Zwar tat er dies nur mit halbem Herzen, unter dem Druck und Willen seines Vaters, beschäftigten ihn doch zunehmend philosophische Fragen. Er entschloss sich jedoch, diesem Bedürfnis vorderhand nicht nachzugeben.

Die Fliegerei war noch in ihren Anfängen. Wittgenstein befasste ich mit aerodynamischer Forschung, zu deren Zweck er für eine Wetterwarte  bei Glossop Drachen baute, die mit Instrumenten versehen wurden. Im Herbst des gleichen Jahres begann er, als sog. Forschungsstudent an der Universität von Manchester zu arbeiten. Immer stärker kristallisierte sich dabei sein Interesse für reine Mathematik heraus. einmal pro Woche setzte er sich mi anderen Forschungsstudenten zusammen, um mathematische Probleme zu erörtern. Dabei wurde er durch einen Kommilitonen mit Russels Buch “The Principles of Mathematics” bekannt gemacht, das fünf Jahre zuvor erschienen war. Dessen Lektüre entfachte Wittgernsteins ganze Leidenschaft.

In diesem ersten Band des schliesslich dreibändigen Werks, das Russel “Principia Mathematica” nannte, wollte Russel gegen Kant und die meisten Philosophen nach Nachweis erbringen, dass die Mathematik aus wenigen logischen Grundprinzipien abzuleiten ist und  n i c h t  in der “Erscheinungswelt”, das heisst nicht in unseren Anschauungsformen von Raum und Zeit begründet ist. Nach Russel also spiegelte sich in der Mathematik sicheres, objektives Wissen wider; ihm zufolge war dieses Wissen von den subjektiven Verstandesbedingungen gänzlich unabhängig.

Als Russel seine “Principles” schon in Druck gegeben hatte, stiess er auf ein Buch, das diese ganze Fragen schon behandelt hatte: Gottlob Freges “Grundgesetze der Mathematik”, wovon der erste Band 1893 erschienen war. Russel arbeitete Freges Werk in aller Eile durch, fügte seinem eigenen Buch eine Würdigung Freges bei (“The Logical and Arithmetical Doctrines of Frege”) und verhalf damit dem Werk des Jenaer Gelehrten zu verspäteter Anerkennung. Russel war jedoch auch auf einen Widerspruch in Freges Theorie gestossen, der mit Freges Begriffsdefinition der “Menge” zu tun hatte und der die ganze Theorie in Frage stellte. “Menge” definierte Frege als sog. “erweiterten Begriff”: dem Begriff “Mensch” entspreche die Menge aller Menschen, dem Begriff “Baum” die Menge aller Bäume, kurz, jedem sinnvollen Begriff entspreche eine Menge, die ihn erweitere. Russel entwickelte den Gedanken weiter und stellte dabei fest, dass bestimmte Mengen Elemente ihrer selbst sein können, andere nicht. So ist die Menge aller Mengen selbst eine Menge und damit Element ihrer selbst, die Menge aller Menschen aber ist kein Mensch und damit nicht Element ihrer selbst. Wie soll aber die Antwort auf die Frage lauten, ob die “Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten” sich selbst als Element enthalte oder nicht? Hierauf ergeben sich zwei mögliche, jedoch sich widersprechende Antworten, von denen ja nicht beide wahr sein können.

Was tat nun Russel? Er teilte seine Entdeckung sofort Frege mit, der erkannte, dass sein ganzes System in Frage gestellt war. Russel selbst bemühte sich, eine Theorie zu entwickeln, mit der die Antinomie umgangen werden konnte, nämlich seine “Theorie der logischen Typen” . Einen zusammenfassenden Entwurf dieser Theorie fügte er seinen “Principles” als zweiten Anhang bei. Worum geht es in dieser Theorie?

Es geht um eine Hierarchie von Typen der Elemente, die in Mengen zusammengefasst werden dürfen: dies sind erstens Einzeldinge, zweitens Mengen von Einzeldingen, drittens Mengen von mengen von Einzeldingen etc. Die zu beachtende Grundregel ist, dass die Elemente von Mengen stets gleichartig sein müssen, damit es keine Mengen gibt, die Elemnte ihrer selbst wären.

Russel selbst war mit seiner “Typenlehre” nicht sehr glücklich. Wohl liess sich damit ein bestimmtes logisches Problem lösen, doch dies hatte nichts zu tun mit der objektiven, selbstevidenten Wahrheit, von der er in seinen “Principles” ausgehen wollte. In seiner Ehrlichkeit beendete er daher sein Buch mit einem Appell an die Philosophen/Philosophinnen, sich mit dieser unbefriedigenden Situation auseinanderzusetzen. Er schrieb: “Ich habe keine umfassende Lösung des Problems gefunden; da sie aber die Grundlagen des denkens betrifft, möchte ich alle Logiker dringlich aufrufen, sich der Sache anzunehmen”.

Dies war die Herausforderung, die Wittgenstein gelegen kam. Während der ersten zwei Semester in Manchester, das heisst bis zum Frühjahr 1909, hatte er einen ersten Entwurf ausgearbeitet, um das Russel’sche Paradox zu lösen. Er sandte diesen Entwurf jedoch nicht Russel selbst, sondern dem mit Russel befreundeten Mathematiker  Philip E.B.Jourdain, der Wittgensteins ansatz als nicht sehr überzeugend wertete, dies in Übereinstimmung mit Russel, dem er ihn vorlegte.

Wittgenstein liess damit für die nächsten Jahre das Paradox sauf sich beruhen, widmete sich seinen Flugzeugbaustudien und entwickelte einen neuartigen Flugzeugpropeller, der im August 1911 patentiert wurde. Nachdem er dieses Problem gelöst hatte, hielt ihn nichts mehr zurück, sich nun mit aller Leidenschaft der Logik zu widmen.

Noch im gleichen Jahr 1911, am Ende der Sommerferien, fuhr er zu Frege nach Jena undlegte ihm den Entwurf eines Buches vor, der nicht mehr erhalten ist. Frege muss davon nicht viel gehalten haben. Er empfahl Wittgenstein jedoch, sich nach Cambridge zu begeben und bei Bertrand Russel zu studieren. Russel hatte inzwischen seine “Principia Mathematica” abgeschlossen und befand sich in einem Zustand der Erschöpfung. Unter dem Einfluss seiner  – sehr – religiösen Frau Ottoline war er daran, sich von dern Logik abzuwenden und sich religionsphilosophischen Fragen zuzuwenden.

Wittgenstein stellte sich Russel Mitte Oktober 1911 vor, ohne sich vorher bei ihm anzukündigen, offenbar auch ohne mitzuteilen, dass er auf Freges Rat nach Cambridge gekommen war. Zusammen mit einigen wenigen Hörern folgte er fortan Russels Vorlesungen über mathematische Logik und wurde in seinem Übereifer für Russel zur wahren Plage. In einem seiner täglichen Briefe an Ottoline schrieb Russe am 19. 10. 1911: “Mein Deutscher droht eine wahre Plage zu werden, er folgte mir nach meiner Vorlesung & redete bis zum Abendessen – starrsinnig und verdreht, aber vermutlich nicht dumm”.

Am 16. 11. 1911: “Nach der Vorlesung kam mein hitziger Deutscher, um mit mir zu streiten. Er panzert sich gegen jedes vernünftige Argument. Eigentlich ist es eine reine Zeitverschwendung, mit ihm zu reden”.

Wirklich zu mögen begann Russel Wittgenstein erst zu Beginn des nächstfolgenden Semesters, das im Januar 1912 begann. Wittgenstein hatte während der Ferien einen Text verfasst, den er Russel vorlegte. Dieser schrieb an Ottoline: “Der Text ist ausgezeichnet, weit besser als die Sachen meiner englischen Studenten… Nun werde ich ihn gewiss ermutigen. vielleicht wird er einmal etwas Grosses leisten”.

Russels Ermutigung habe ihn vor dem Selbstmord gerettet, gestand Wittgenstein später seinem Freund David Pinsent. Erst jetzt fand er die Kraft, sich definitiv vom Flugzeugbau abzuwenden. Nach einem weiteren Semester teilte Russel Ottoline mit, er könne Wittgenstein im Bereich der Logik nichts mehr mitteilen. Seine Sympathie für den hartnäckigen, leidenschaftlichen und zugleich unerträglichen Schüler nahm ständig zu. Am 16. 3. 1912 schrie er an Ottoline: “Sein Temperament ist intuitiv und launisch, wie das eines Künstlers. jeden Morgen geht er hoffnungsvoll an die Arbeit, und abends beendet er sie stets voller Verzeiflung. Wenn er etwas nicht versteht, wird er ebenso wütend wie ich”. Am 17. 3. 1912: “Ich stehe ihm sehr nahe, spüre dieselbe Leidenschaft und Vehemenz, den gleichen Drang, lieber zu sterben, als etwas nicht zu verstehen, fange auch plötzlich zu witzeln an, um die schreckliche Spannung des Denkens aufzulösen”.

Allmählich kehrte sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis um. Russel arbeitete im Frühling 1912 an einem Vortrag über das Problem der Materie, von dem er sich viel Öffentlichkeitswirkung versprach. Als Wittgenstein ihm mitteilte, dass er den Text ablehne, weil er nicht damit übereinstimme, blieb der Vortrag unveröffentlicht. Als nach der Sommerpause Wittgenstein einen Aufsatz von Russel über das Wesen der Religion, den dieser im “Hibbert Journal” veröffenlticht hatte, zu lesen bekam, war er so ausser sich, dass er mit seiner wütenden Kritik Russel zutiefst verletzte. Ende November 1912, nach Semesterende, fuhr Wittgenstein auf der Rückfahrt nach Wien über Jena, wo er Frege besuchte. Er schrieb Russel lange über “unsere Theorie des Symbolismus, deren allgemeine Umrisse er vermutlich in etwa verstanden hat”. Im Januar schrieb er Russel, er arbeite am “Komplex-Problem”.

Wittgenstein war nun soweit, das Russel’sche Paradox “zu erledigen”, das heisst, jene Korrektur der Theorie der logischen Typen zu erbingen, zu der Russel selbst aufgerufen hatte.

Wittgenstein schrieb Russel, dass er nicht glaube, dass es verschiedene Typen gebe, dass daher die Typenlehre durch eine Theorie des Symbolismus ersetzt werden müsse, derzufolge die Symbole genügten, um unmissverständlich auszudrücken, dass die Dinge, um die es ging, nicht austauschbar waren. Wittgenstein laborierte am Satz “Sokrates ist sterblich” herum. Er kam zum Schluss, dass Begriff und Bedeutung in  e i n e m  Zeichen, in  e i  – n e m Symbol, ausgedrückt werden mussten, dass also die Bedeutung (nämlich ob es sich, nach “modernerer” Unterscheidung, um den Signifikanten, d.h. den verwendeten Begriff, oder ums Signifikat, d.h. die gemeinte Sache, handle) nicht mit einem speziellen Zeichen angegeben werden dürfe, wie dies Russel verlangte. Dies ist es, was er auch im “Tractatus” zusammenfasst, in den §§ 3.33 bis 3.333.

Damals, 1912/1913, als Wittgenstein erst auf der Spur “seiner” Logik war, ging es vor allem um die Auseinandersetzung mit Russel. Von Wittgensteins damaliger Arbeit gibt es, ausser den Briefen, keinen schriftlichen Beleg. Es ist also in keiner Weise klar, wie weit er sich den im “Tractatus” niedergelegten Einsichten schon angenähert hatte, die er 1918 abgeschlossen, 1921 erstmals veröffentlicht hatte. Russels Haltung dem ungestümen Erkenntnis-, aber auch Behauptungswillen Wittgensteins gegenüber zeugt von grosser menschlicher – und philosophischer Qualität. An seine Frau Ottolinre schrieb er im Spätsommer 1913: “Du kannst dir kaum vorstellen, welche Last damit von meiner Seele fällt (…)”, obwohl er gleichzeitig wegen der scharfen Verwerfung seiner “Erkenntnistheorie” durch Wittgenstein in eine tiefe Depression gefallen war. Wittgensteins Freund David Pinsent hielt zur gleichen Zeit fest: “Natürlich hat er (Wittgenstein) viele der Thesen Russels umgeworfen (Russels Grundbegirffe der Logik, also der reinen Mathematik – zum Beispiel grosse Teile der “Pirncipia” – sind davon nicht bertroffen, da sich Wittgenstein vor allem für die tieferen Grundlagen interessiert) – aber Russel wäre der letzte, ihm das übelzunehmen, und an der Grösse seines Werkds ändert das auch wenig – zumal Wittgenstein ja offenkundig ein Schüler Russels ist und ihm sehr viel verdankt. Aber Wittgensteins Leistung ist wirklich beeindruckend – und ich glaube fest, dass sich der trübe Morast der Philosophie dald durch eine strenge Theorie der Logik klären wird. Nur in diesem Bereich der Philosophie können wir wirklich etwas erkennen; der Metaphysik etc. fehlt es prinzipiell an Daten. Die ganze Philosophie ist nur Logik. Alles andere, was man locker so nennt, ist Metaphysik – ein hoffnungsloses Unterfangen, da es hier keine Daten gibt – oder Naturwissenschaft, etwa Psychologie)”.

Soweit Pinsent. Logik, für Wittgenstein jener Zeit, hatte, scheint mir, den nicht hinterfragbaren Wert von Offenbarung. Die darin sich manifestierende Gesetzmässigkeit, als deren Ausdruck er das Weltganze wie die Sprache verstand, liess sich weder beschreiben noch erläutern. Wittgenstein war überzeugt, dass sie sich abbildmässig in der Sprache “zeigt”. Was Wittgenstein dazu festhielt, insbesondere im “Tractatus”, hatte die Bedeutung eines Kommentars. Insofern scheint er mir ganz in seiner – zar gänzlich geleugneten – jüdischen Tradition zu stehen. Über den Kommentar hinaus ging seine Bemühen, eine Idealsprache zu konzipieren, deren Aussagen in sich selbst evident waren.  Doch nach und nach gelangte er zur Einsicht, dass das klare Sprechen der Regeln bedarf, über deren Anwendung eine Übereinkunft bestehen muss. Etwa um 1930 herum war er sich der Methode, die er Philosophische Grammatik nannte, sicher. Wie ich schon an tönte, mir erscheint diese Entwicklung wie der Weg von der Offenbarung zum Vertrag. Wittgenstein blieb allerdings auch hier nicht stehen, sondern arbeitete in seiner Spätzeit weiter an den philosophischen Grundlagen der Mathematik sowie an den Grundlagen jeder Art von Gewissheit, auch der Gewissheit des richtigen Handelns. Trotzdem liessen ihn die ersten philosophischen Fragen, die ihn seit seiner ersten Begegnung mit Russel aufgewühlt hatten, bis zum Tod nicht los. Kurz bevor er am 27. April 1951 ins Koma fiel, hielt er fest: “Komme ich nicht mehr und mehr dahin zu sagen, dass die Logik sich am Schluss nicht beschreiben lasse? Du musst die Praxis der Sprache ansehen, dann siehst du sie”.

(Alle Zitate aus Ray Monks hervorragender Biographie “Wittgenstein. Das Handwerk des Genies”, Klett-Cotta, Stuttgart 1992).

 

Exkurs: Väter und Söhne

Das Verhältnis Wittgensteins zu Russels erinnert an Freuds These vom Mord der Söhne am (Ur)Vater, die er zuerst in “Totem und Tabu” (1912/13, also gleichzeitig wie Wittgensteins “Ablösung” von Russel), dann wieder in seinem Alterswerk von 1938/39 “Der Mann Moses und die monotheistische Religion” entwickelt hatte. Allerdings war das Motiv des ersten “Mordes” Neid der Söhne auf den ausschliesslichen Besitz des Vaters an Frauen und Göttern. In der Analogie geht es weder um Frauen noch um Götter noch um den tatsächlichen Mord, sondern um Wissen und Macht, um den Besitz von Wahrheit, den der Sohn dem Vater streitig macht, denn das Wissen, das der Vater weitergibt, ist ja völlig ungenügend, zeigt sich als Nicht-Wissen, als quälender Stachel, der nicht nur Neid, sondern auch Wut gegen den – scheinbar – allwissenden Vater weckt. Der Zürcher Psychiater Daniel Strassberg hält in einem hervorragenden Aufsatz (“Die Eule der Minerva. Gedanken über den Umweg”, in: Entfernte Wahrheit. Hrsg. von Martin Kuster, Edition Discord, Tübingen 1992) zum Thema von Tradition, Judentum, Vatermord und Psychoanalyse fest, dass eigentlich jede Tradition “Tradierung von Nicht-Wissen” ist. Wie wäre Geistesgeschichte, wie wäre Kulturgeschichte anders zu erklären?

Darüber nachzudenken möchte ich einladen. Wir werden im Gespräch darauf zurückkommen.

 

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