“Der Tag wird mitten in der Nacht geboren die Freiheit mitten in uns” – Die Menschenrechtssituation in der Türkei

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Kirche St. Jakob

Die Menschenrechtssituation in der Türkei: Eröffnungsrede am 13. Mai 1997

 

“Der Tag wird mitten in der Nacht geboren

die Freiheit mitten in uns”

 

Als ich in den achtziger Jahren als Journalistin in der Türkei weilte, zur Zeit der Prozesse gegen die nach dem Militärputsch verhafteten “Dissidenten”, lernte ich aussergwöhnliche, mutige Menschen kennen, neben Müttern, Frauen und Schwestern von politischen Gefangenen auch Mitglieder des Menschenrechtsvereins, darunter den Verleger des kleinen Gedichtbandes “… tirnaklarimla yaziyorum” (“…ich schreibe mit den Fingernägeln”), worin sich auf Türkisch und auf Deutsch Gedichte von politischen Gefangenen aus den Jahren 1980-1985 finden. Als ich in den vergagenen Wochen über ein Motto für den heutigen Abend nachdachte, habe ich aus  diesen Gedichten dasjenige mit dem Tiel “Merhaba” ausgesucht. Geschrieben wurde es von Hülya Ayse Özzümrüt, einer jungen Frau, die 1980 verhaftet und 1984 in einem Prozess, der gleichzeitig gegen 100 Angeklagte geführt wurde, wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation zum Tod, später zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Während der Verhandlungen gab Hülya unmissverständlich zu verstehen, dass sie das Sondergericht nicht anerkenne und dass sie ihren Kampf im Gefängnis weiterführe. Zum Kampf gehörten auch ihre Gedichte, die aus dem Gefängnis geschmuggelt und veröffentlicht werden konnten.

“Ich, schon Jahre in Ketten, hinter verschlossenen Türen, dröhnenden Riegeln, vergitterten Augen, schon lange habe ich die Blumen der Berge nicht gesehen, bin immer nur der Dunkelheit der Nacht begegnet…

doch…

der Tag wird mitten in der Nacht geboren, die Freiheit mitten in uns. In unseren groben, rissigen Händen leuchtet das Leben, verlischt nie…”

Bis heute geht der Kampf weiter – in den türkischen Gefängnissen, in den kurdischen Dörfern und Bergen, im Untergrund in den kurdischen Städten, in einer  prekären, immer gefährdeten Öffentlichkeit in der Türkei, hier in der Emigration  – zum Beispiel in Zürich.

Worum geht es in diesem Kampf?

Zusammenfassend liesse sich – im Sinn einer These – sagen: Es geht um die Menschenrechte. Mit anderen Worten: Es geht um die Persönlichkeitsrechte der Kurdinnen und Kurden, und es geht um die politischen und kulturellen Rechte des kurdischen Volkes, mithin um Rechte, wie sie nach international anerkannten Deklarationen und Konventionen  allen Menschen und allen Völkern auf unveräusserliche Weise zustehen. Diese Rechte werden durch den türkischen Staat auf extreme Weise verletzt.

Ich will zuerst kurz auf die Frage eingehen, welche Bedeutung den internationalen Menschenrechtsdeklarationen und -konventionen zukommt, resp. was diese beinhalten. Darauf will ich die Menschenrechtssituation schildern, wis sie sich in jüngster Zeit auf türkischem Staatsgebiet entwickelt hat. (Ich beziehe mich dabei u.a. auf die Berichte von amnesty international, auf die Lageberichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, auf die Berichte des türkischen Menschenrechtsvereins  und des Menschenrechtsvereins von Diyarbakir sowie auf Aussagen von kurdischen Flüchtlingen, die in der Schweiz weilen).

 

(1) Die Menschenrechte

Die Menschenrechte können als Normen bezeichnet werden, die allen nationalen Rechtssystemen übergeordnet sind und deren Umsetzung die Grundlage für eine im Entstehen begriffene universelle Kultur der  Achtung vor dem Menschen sein könnte – einerseits vor der Integrität und vor der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter (betrifft mithin auch die Kinder), Religion und Sprache, andererseits vor der Schutzwürdigkeit, vor der Freiheit und demokratisch geregelten Selbstbestimmung des Zusammenlebens. Die Menschenrechte betreffen daher sowohl den einzelnen Menschen in seiner personalen (leiblichen und geistigen) Unersetzbarkeit und Unverfügbarkeit wie die kulturell-sozialen und die politischen Bedingungen des Zusammenlebens der Menschen in der Pluralität und Verschiedenheit ihrer je einzelnen Herkunft und ihrer Geschichten. Sie sind somit die affirmative, verpflichtende  Antwort auf die körperlichen und seelischen, die sozialen und politischen Grundbedürfnisse, d.h. auf diejenigen Grundbedürfnisse, welche alle Menschen teilen.

Die Menschenrechte haben eine lange Geschichte. Ich will nur ein paar Etappen erwähnen: Gegen willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen wurden in England 1679 die “Habeas Corpus Acte” proklamiert, in denen festgehalten wird, dass es bei einer Verhaftung nicht nur einer richterlichen Verfügung bedarf, sondern auch, dass bei vermeintlichem Verdacht und bei ungerechtfertigter Verhaftung, auch bei ungerechtfertigtem Urteil durch die ausführenden Beamten ein Schadenersatz  an diejenigen Personen zu zahlen sei, die zu Schaden gekommen sind.

Gegen Korruption, Machtfilz und Machtmissbrauch  der Machthabenden im Staaat publizierte rund fünfzig Jahre später, 1748, der französische  Staatstheoretiker, Baron de Montesquieu,ein grundlegendes Buch, das er den “Geist der Gesetze” nannte und das bis heute die Notwendigkeit der Gewaltentrennung und gegenseitigen Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt, der Regierungsgewalt und der richterlichen Gewalt auf allen Ebenen begründet.

Keine zwanzig Jahre später, 1776,  wurde die “Bill of Rights of Virginia” proklamiert, welche die eigentliche Grundlage der amerikanischen Demokratie bildet. Artikel 1 heisst: “Alle Menschen sind von Natur gleichermassen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachungen berauben können: nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zzu erstreben und zu erlangen.” Art. 2: “Alle Macht ruht im Volke und leitet sich daher von ihm ab; alle Amtspersonen sind seine Treuhänder und Diener und ihm jederzeit verantwortlich.” Die Gewaltentrennung ist in Art. 5 festgehalten, die Habeas Corpus Acte in Art. 10, Religionsfreiheit in Art. 16 etc. – eine für die damalige Zeit fortschrittliche Verfassung, mit der Einschränkung, dass mit “Menschen” nur freie Männer gemeint waren, dass Frauen und Sklaven von allen diesen Rechten ausgeschlossen waren.

Auch die Menschenrechtserklärung im Gefolge der Französischen Revolution von 1789, die sich stark an diejenige von Virginia anlehnt, ist eine Freiheits- und Gleichheitserklärung der Männer, der bürgerlichen Männer, die sich damit gegen die Vorherrschaft und Cliquenwirtschaft von Adel und Kirche zur Wehr setzten. Ausgeschlossen waren ebenfalls die Frauen, und ausgeschlossen war auch der Dritte Stand, das Proletariat. Bedeutungsvoll erscheint mir Art. 2: “Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und und unabdingbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, der Widerstand gegen Unterdrückung.” Eine Frau aus dem Volk, Olympe de Gouges, Analphabetin, mutig, zornig und weitblickend, proklamierte 1791 vor der Nationalverammlung die “Rechte der Frau und Bürgerin”, womit sie nicht nur die gleichen politischen Rechte für die Frauen forderte, sondern auch eine ganze Reihe von zivilrechtlichen Gleichberechtigungen im Eherecht, Scheidungsrecht usw. Sie handelte sich damit ihren Tod auf dem Schaffott ein.

Worauf sich die allmählich etablierende universale Kultur der Menschenrechte jedoch am meisten abstützt, ist die “Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen” von 1948. Zwei Weltkriege waren vorausgegangen, Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus, totalitäre Systeme, in denen systematische Menschenunterdrückung und Menschenverachtung kaum mehr zählbare Millionen von Getöteten und Ermordeten, und Millionen von an Leib und Seele gebrochenen Überlebenden schufen, ein riesiges Trümmerfeld der Humanität. Da entstand im Rahmen der Vereinten Nationen ein aus 30 Artikeln bestehender Kodex der gleichen unverbrüchlichen Rechte, die allen Menschen, buchstäblich allen ohne eine einzige Ausnahme, zustehen, allein aus dem einen Grund: weil sie Menschen sind. Ich wähle einige der Artikel aus, die mir besondern wichtig sind, etwa Art. 3 “Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person”, Art. 5 “Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“, sodann Art. 7 “Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede unterschiedliche Behandlung, welche die vorliegende Erklärung verletzen würde, und gegen jede Aufreizung zu einer derartigen unterschiedlichen Behandlung“, ferner Art. 9 “Niemand darf willlkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden”,  Art. 12 “Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim oder seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Ruf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen derartige Eingriffe oder Anschläge“. Artikel 13 hat zwei Teile: “Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates”, weiter “jder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschliesslich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren”. Und Art. 14, wiederum in zwei Teilen “Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu geniessen”, worauf die Einschränkung folgt: “Dieses Recht kann jedoch im Fall einer Verfolgung wegen nichtpolitischer Verbrechen oder wegen Handlungen, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstossen, nicht in Anspruch genommen werden”.

Sie mögen festgestellt haben, dass gerade die Rechte, die ich aus den zitierten Menschenrechtsdeklarationen beispielhalber hervorgehoben habe, in der Türkei aufs gröbste verletzt werden. Es ist leider so, dass, neben ihrer universalen normativen Bedeutung, die Menschenrechte eine grosse Schwäche haben: sie sind nur durchsetzbar, wenn sie in das positive Recht der einzelnen Länder aufgenommen sind, resp. wenn sie Teil nationaler Gesetzgebung  – und damit auf nationaler Ebene einklagbar sind. Die meisten Nationen weisen zwar in ihren Verfassungen hehre Deklarationen auf, doch wechselnde politische Verhältnisse und daraus resultierende Gesetzgebungen – Sondergesetze, Ausnahmegesetze etc. – lassen Verfassungen zeitweise – tragischerweise – zur blossen Rhetorik verkommen. So war es in der Türkei nun während langen Jahren, insbesondere in den Jahren unmittelbar nach dem Militärputsch von 1980, als innerhalb von drei Jahren an die 200’000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet, unter Folter verhört und häufig unter Folterbedingungen jahrelang in Gefängnissen überall in der Türkei festgeahlten wurden. 259 Todesurteile wurden im Zusammenhang mit den Militär-Sonderprozessen ausgesprochen, 49 Menschen hingerichtet. Zum Teil sind die Verhältnisse heute noch auf vergleichbare Weise unerträglich, wenn nicht gar ums vielfache schlimmer. Allein seit 1990 wurden aus den kurdischen Gebieten der Türkei an die drei Millionen Menschen vertrieben, 3000 Menschen wurden getötet. Die täglichen Drangsalierungen der kurdischen Bevölkerung bedürften der stundenlangen Schilderung, doch selbst dann könnte nur ein winziger Bruchteil des Leidens vermittelt werden

 

(2) Die Situation in der Türkei

Gemäss amnesty international (amnesty-Magazin Nr. 2, April 1997) hat der internationale Druck auf die heutige türkische Koalitionsregierung von Erbakans Wohlfahrtspartei (Refah) und Tansu Cillers Partei des rechten Wegs (DYP)  bewirkt, dass so etwas wie eine leise Hoffnung auf eine teilweise Verbesserung der Unrechtsverhältnisse sich einstellen könnte. Weniger vorsichtig kann ich es nicht formulieren, denn die politische Realität in den kurdischen Gebieten rechtfertigt diese Hoffnung noch in keiner Weise. Am 17. Oktober 1996 hat die Vize-Ministerpräsidentin in einer Rede angekündigt, dass verschiedene Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte geplant seien, so die Reduktion der maximalen Dauer der Polizeihaft auf 10 Tage und das Recht der Häftlinge auf Zulassung eines Rechtsbeistandes nach vier Tagen. Am 6. März dieses Jahres wurde das Gesetz vom Parlament verabschiedet. (Ein Rechtsbeistand war in den Provinzen, die unter Ausnahmezustand stehen, bis dahin nicht zugelassen, und die Polizeihaft dauerte bis 30 Tage). Was trotz dieser angekündigten Gesetzesverbesserung jedoch weiterhin unangetastet bleibt, ist die Folter, die in Polizeihaft, vor allem unmittelbar nach den Verhaftungen, nach wie vor regelmässig und systematisch angewendet wird, und Folter gehört zu den schwersten Menschenrechtsverletzungen, da sie die körperliche wie die seelische Integrität der Menschen zutiefst verletzt, zumeist mit Schäden, die kaum mehr oder nie mehr heilen. Zwar hat Tansu Ciller auch im Zusammenhang mit den international sich häufenden Foltervorwürfen in einer Rede vom 10. März dieses Jahres in Ankara gesagt: “Dies ist eine Schande, die wir nicht ertragen können. Folterungen werden aus unserer Nation getilgt” (NZZ, 11. März 1997, zitiert in amnesty Magazin Nr. 2 1997). Dieser Ankündigung gegenüber ist jedoch Skepsis angezeigt, solange nicht jeder Folterer in der Türkei mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen muss. Generell ist festzuhalten, dass Frau Cillers Aussagen keine Glaubwürdigkeit beanspruchen können, da bewiesenermassen sie und ihr Mann in die Strukturen und Geschäfte der türkischen Mafia verwickelt sind (s. Autounfall vom 3. 11. 1996 bei Susurluk, bei dem  der Polizeichef Hüseyin Kocadag, der international gesuchte Mafiaboss und Rechtsextremist Abdullah Catli, die Schönheitskönigin Gonza Uz und Tanzu Cillers Parteikollege Sedat Bucak, Parlamentsabgeordneter und Chef einer die PKK bekämpfenden Miliz verwickelt waren. Die Vize-Ministerpräsidentin bezeichnete darauf den beim Unfall getöteten Mafiaboss Catli öffentlich als Helden und Patrioten).

Neben der nach wie vor geltenden Folterpraxis klagt amnesty international ebenso sehr das Verschwindenlassen und sog. “extralegale” Töten von Menschen an, d.h. Verbrechen “ohne bekannte Täterschaft”, die in letzter Zeit nicht abgenommen, sondern ums vielfache zugenommen haben. Die Anklage richtet sich an den türkischen Staat, der durch die Armee, durch diePolizei, die Gendarmerie, durch Dorfmilizen wie durch die sog. “Konterguerilla” (die sich z.T. auch der Hizbullah bedient)  diese Verbrechen begeht, jedoch auch, zum Teil,  an sich untereinander bekämpfende kurdische Gruppierungen. Die Angehörigen  der “Verschwundenen” haben in jüngster Zeit sich zu organisieren begonnen und mit öffentlichen Kundgebungen in verschiedenen Städten in der Türkei nationanale und internationale Beachtung gefunden, Kundgebungen, die durch amnesty international unterstützt und begleitet wurden. Die Verbrechen gingen jedoch weder zurück noch wurden von Seiten der Behörden Anstrengunen unternommen, diese aufzudecken.

Auch die Bedingungen in den Gefängnissen wie bei Gefangenentransporten sind nach wie vor so menschenunwürdig, dass gerade im vergangenen Jahr, nach der im Mai 1996 erfolgten Ernennung des berüchtigten ehemaligen Direktors der Polizeidirektion Mehmet Agar zum Justizminister und den durch diesen sofort verfügten Haftverschärfungen, wiederum zahlreiche Gefangene in verschiedenen Gefängnissen mit Todesfasten dagegen zu protestieren versuchten. Nachdem Agar nach der Demission der Regierung am 6. Juni 1996 in seiner Funktion als Justizminister durch Sevket Kazan ersetzt wurde und nachdem mehrere Gefangene in Folge des Todesfastens starben oder unter schwersten gesundheitlichen Schädigungen litten, kam es zu einigen Mässigungen und Verbesserungen, z.B. zur Schliessung des Hochsicherheitsgefängnisses von Eskisehir. An anderen Orten aber gingen die Übergriffe auf Gefangene weiter, so etwa im Gefängnis von Diyarbakir, wo in jüngster Zeit mehrere Gefangene zu Tode geschlagen wurden.

Zu den schwerwiegenden Menschrechtsverletzungen gehören die Zwangsumsiedlungen und Dörferzerstörungen in den kurdischen Provinzen, besonders in jenen von Tunceli, Bingöl, Erzincan, sowie in den Grenzregionen zu Iran, Irak und Syrien hin. Tausende von Dörfern wurden zerstört und niedergebrannt, die Ernten wurden vernichtet, das Vieh gestohlen, an die drei Millionen Menschen wurden, wie ich schon sagte, allein seit 1990 vertrieben, etwa 10’000 Menschen leben als Binnenflüchtlinge auf türkischem Statsgebiet, irgendwo in anderen Dörfern, in Lagern, am Rand der Städte, Hundertausende mussten ins Ausland fliehen. Die Folge ist ein kaum mehr wiedergutzumachender Verlust an Kultur und an Zusammenhalt der kurdischen Bvölkerung. Während bis 1991 der Gebrauch der kurdischen Sprache überhaupt verboten war, reduziert sich das Verbot heute auf den Schulunterricht. Nach wie vor schweren, willkürlichen Einschränkungen ausgesetzt ist auch die Pressefreiheit, auch wenn es heute in der Türkei eher möglich ist, öffentlich Kritik zu üben. Doch nach wie vor kommt es immer wieder zur Schliessung von Zeitungen und zur Verhaftung von Journalisten und Journalistinnen. Ich erinnere etwa an die Schliessung von “Özgüt Ülke” (Freies Land) sowie an die Verhaftung und monatelange Folterung von Mensure Yüksel Erdohan, der Chefredaktorin. Im Januar 1997 gelang es ihr, in Deutschland Asyl zu erhalten.

Das Ausmass an Gewalt allein in den Monaten März und April dieses Jahres wird durch die Monatsberichte des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) in Ankara und des kurdischen Menschenrechtsvereins (IHD) in Diyarbakir belegt. Diese Menschenrechtsvereine geniessen eine hohe internationale Anerkennung. So hat etwa der deutsche Aussenminister Klaus Kinkel anlässlich seines Türkeibesuchs im März dieses Jahres dem IHD in Ankara einen Besuch abgestattet. Auch werden die Eingaben und Beschwerden beider Menschenrechtsvereine, auch desjenigen von Diyarbakir, anden Europäischen Gerichtshof von Strassburg regelmässig angenommen und untersucht.

Für den Monat März stellt der IHD von Ankara (Quelle: Hevi vom 3. bis 9. Mai 1997) für die ganze Türkei folgende Menschenrechtsverletzungen fest: Insgesamt wurden 2910 Personen in Polizeigewahrsam genommen, 8 Menschen wurden durch “unbekannte Täter” getötet (sog. “extralegale Hinrichtungen”), 12 Frauen und Männer wurden bei Attentaten ermordet, 6 verletzt, 7 Personen starben in Untersuchungshaft infolge von Folter, 168 Menschen kamen im Lauf von Gefechten um, von 48 Menschen ist bekannt, dass sie in diesem Monat Folterungen ausgesetzt waren, 107 Menschen kamen in Gefängnishaft, gegen 164 wurden Gefängnisstrafen wegen Meinungsäusserungsdelikten ausgesprochen, aus 4 Dörfern wurde die Bevölkerung gewaltsam vertrieben, 10 Orte wurde bombardiert, insgesamt wurden in diesem Monat 41 Presseleute festgenommen, 26 Publikationen (Bücher, zeitschriften, Zeitungen etc.) konfisziert, 6 Lokale resp. Sekretariate von Vereinen, Gewerkschaften, Redaktionen, Parteien oder anderen Gruppierungen wurden geschlossen, 8 wurden überfallen.

Für den Monat April dieses Jahres hält der IHD von Diyarbakir (Quelle: die Tageszeitung “Özgür Politika”) folgende Menschenrechtsverletzungen fest, die in den kurdischen Gebieten begangen wurden: Insgesamt wurden allein in diesem Monat bei 208 sog. “Zwischenfällen”, d.h. bei Angriffen, Überfällen, Attentaten, Tötungen mit “unbekannter Täterschaft”, Gefechten usw. 88 Menschen getötet. Präziser: 71 Menschen starben bei Gefechten, 122 wurden dabei verletzt; 3 Zivilpersonen wurden bei Angriffen getötet, 9 verletzt; 7 Menschen wurden Opfer sog. “extralegaler Hinrichtungen” und 3 weitere Menschen wurden tot aufgefunden, ohne dass deren Identität hätte festgestellt werden können. In Erzurum-Dumplupinar und in Bitlis kamen 3 Kinder infolge von Minenexplosionen ums Leben – der 12jährige Muhammet Kurçul und die 10jährigen Gökhan Kurçul und Cevdet Isik; 2 weitere Personen wurden durch Minenexplosionen schwer verletzt. 2 Menschen wurden in Gefängnishaft überführt, 185 in Polizeigewahrsam, 1 Person ist verschwunden, 2 Menschen erhielten Todesdrohungen. Gegen drei Dörfer wurde ein Lebensmittelembargo verhängt, sodass die Bevölkerung Hunger leidet, 1 Dorf wurde niedergebrannt, 1 weiteres Dorf wurde gewaltsam von der Bevölkerung entleert und 6 Dörfer wurden überfallen. In verschiedenen Gefängnissen gab es insgeamt 7 gewaltsame Eingriffe des Gefängnispersonals gegen Gefangene.

Angesichts dieser Dokumentation des Schreckens stellt sich die Frage:

 

(3) Wie sind die Asylchancen für Kurden und Kurdinnen in der Schweiz?

Im Lauf der Vorbereitungen habe ich mich beim BFF nach den Anerkennungsquoten für Asylsuchende aus der Türkei erkundigt. Wie Sie wissen, werden bei den schweizerischen Ämtern keine Unterschiede bezüglich Kurden/Kurdinnen resp. Türken/Türkinnen gemacht. Laut der BFF-Asylstatistik von Ende 1996 wurden im Lauf des Jahres 1996 insgesamt 22′ 537 Ayslgesuche anerkannt, davon 621 aus der Türkei: mithin etwas weniger wie ein Drittel aller im vergangenen Jahr anerkannten Flüchtlinge stammen aus der Türkei. Das bedeutet, dass die Anerkennungsquote von Menschen aus der Türkei, deren Asylgesuch im vergangenen Jahr behandelt wurde, vergleichsweise hoch ist: nach allen Rekursen, dh. letztinstanzlich, wurden  43,8% aller Asylgesuche aus der Türkei positiv beantwortet. Ende März dieses Jahres befanden sich insgesamt 3’947 anerkannte Flüchtlinge aus der Türkei in der Schweiz, sodann – wiederum allein aus der Türkei – 9’784 Menschen mit einer humanitären Aufenthaltsgenehmigung oder  einer ähnlichen fremdenpolizeilichen Genehmigung. Zum gleichen Zeitpunkt verfügten 1’272 Personen mit Herkunft aus der Türkei während oder nach dem Asylverfahren über eine vorläufige Aufnahme, 740 Asylgesuche waren noch erstinstanzlich und 1248 zweitinstanzlich pendent (resp. lagen noch der ARK vor), bei 969 Personen war das Verfahren abgeschlossen, ohne dass eine Wegweisung erfolgen konnte, 258 befanden sich in der Schweiz mit einem abgeschlossenen Verfahren und einer abgelaufenen Ausreisefrist. Insgesamt umfasste die schweizerische Asylstatistik von Ende März dieses Jahres  17’969 Personen mit Herkunft aus der Türkei. (Dazu kommt eine mir unbekannte Anzahl von Personen mit einem nicht asylpolitischen, sondern ausländerpolitischen B- oder C-Status).

Ich will Ihnen kurz schildern, nach welchen Kriterien die Asylrekurskommission (ARK) letztinstanzlich bei der Asylgewährung entscheidet. Ich stütze mich dabei auf den neuesten Lagebericht der SFH zur Türkei. Gemäss der ARK befinden sich zwar die mehrheitlich von Kurden und Kurdinnen bewohnten Provinzen in einer kriegs- oder bürgerkriegsähnlichen Situation. Trotzdem kommt das BFF,  im Sinn einer allgemeinen Beurteilung, zum Schluss, es es ei nicht von einer “zielgerichteten kollektiven Verfolgung” der Kurden und Kurdinnen auszugehen. Die Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete könne diesen zwar nicht zugemutet werden, jedoch beständen, ausser in bestimmten Ausnahmefällen, Möglichkeiten der “innerstaatlichen Fluchtalternative”. (Lediglich bei den Yezidi wird die Kollektivverfolgung anerkannt).

Als Ausnahmen, welche die “innerstaatliche Fluchtalternative” nicht zulassen,  gelten Fälle, wo nahe Angehörige politisch aktiver Personen einer Verfolgung ausgesetzt sein könnten, insbesondere, wenn sie selber registriert oder politisch aktiv sind, oder wenn gar mehrere nahe Verwandte politisch aktiv sind, sodann wenn die Asylsuchenden einer bekannten oppositionellen Familie entstammen, wenn sie eventuell schon selber Verfolgung erdulden mussten und daher eine begründete Furch vor erneuter Verfolgung haben. Ob eine “innerstaatliche Fluchtalternative” erwogen werden kann, hänge von vielen Faktoren ab, in erster Linie von politischen. Wenn von einer in der Schweiz asylsuchenden Person  angenommen werden müsse, dass sie der türkischen Polizei bekannt sei, ob sie registriert sei oder nicht, so muss die Möglichkeit, irgendwo in der Türkei unbehelligt leben zu können, ausgeschlossen werden. Gemäss der Zusammenstellung der SFH werden auch soziale und wirtschaftliche Faktoren in Betracht gezogen, zum Beispiel wird geprüft, ob die betreffenden Personen im Westen der Türkei Bekannte, Freunde/Freundinnen oder gar Familienmitglieder haben, so dass sie über ein minimales soziales Netz verfügen würden, oder ob sie auf Grund ihrer Sprachenkenntnisse, Berufsausbildung – und/oder -erfahrung die Möglichkeit hätten, ihre Existenz zu sichern. Auch medizinische Erwägungen fallen bei der Erwägugn der Zumutbarkeit ins Gewicht. Auch politische anti-türkische Tätigkeit im Exil könnte, nach den Erwägungen der ARK, die persönliche Sicherheit einer Person in der Türkei nach deren Rückschaffung gefährden.

Klare Gründe für Asylunwürdigkeit werden für Personen genannt, die vor ihrer Einreise in die Schweiz entweder ein gewöhnliches strafrechtliches (d.h. nicht politisches) Delikt begangen haben, auf welchem Zuchthausstrafe steht, oder die ein Verbrechen im Sinn der Flüchtlingskonvention begangen haben, z.B. Beteiligung an Völkermord. Wer solche Verbrechen begangen hat, geht der Flüchtlingseigenschaft verlustig.

Zur Praxis der Asylgewährung lässt sich insgesamt sagen, dass, gestützt auf “Asylon”, die Zeitschrift des Bundesamtes für Flüchtlinge, etwa 30% der Asylgewährungen bei Gesuchen erfolgten, die in erster Instanz abgelehnt worden waren. Die Prüfung der Fluchtgründe erfolgt somit  in vielen Fällen mit grösserer Sorgfalt durch die ARK, auch wenn dies leider nicht für alle Kammern zutrifft.  Anlass zu genereller Kritik gibt, laut dem Bericht der SFH, einerseits die Art und Weise, wie die Schweizer Behörden sich nach den Auskünften der türkischen Botschaft richten, andererseits die Einschätzung der Gefährdung von Militärdienstverweigerern, in welchem Stadium auch immer die Dienstverweigerung erfolgt. Wer in der Türkei nicht zur Musterung, resp. nicht zum  Militärdienst erscheint, wird landesweit zur Fahndung ausgeschrieben. Da in den letzten Jahren vermehrt junge Kurden auch im Osten, gegen ihr eigenes Volk eingesetzt werden, ist die ohnehin schon beträchtiche Anzahl von Militärdienstverweigerern noch gestiegen. Gemäss Angaben der  verschiedenen Menschenrechtsvereine gibt es an die 300’000 kurdische und türkische Militärdienstflüchtige. Ausdrücklich wird von der SFH die Militärdienstverweigerung als Menschenrecht und damit als Asylgrund genannt, aus welchen Gründen auch die Militärdienstverweigerung erfolge (ob aus inner-kurdischen, inner-türkischen resp. antifaschistischen, aus religiösen, persönlichen oder  aus allgemeinen Gründen der Gewaltverweigerung).

Zu kritisieren ist, laut SFH, auch die zu kurze Frist von einem Monat, die für die Beschaffung von Dokumenten eingeräumt wird. Innerhalb dieser Frist ist es oft nicht möglich, Aufgebote zur militärischen Musterung oder zum Militärdienst, Haftbefehle oder andere Bescheinigungen von Prozessen, Polizeiverhören oder Gefängnisaufenthalten (z.B. Haftbestätigungen,  Entlassungsdokumente) etc. zu beschaffen. Bei gefälschten Dokumenten schliesst das BFF grundsätzlich auf Unglaubwürdigkeit des Asylgesuchs, während die ARK  diesbezüglich manchmal differenzierter urteilt.

 

(4) Ich komme zum Schluss:

Es muss festgehalten werden, dass auf türkischem Staatsgebiet, von Seiten der Behörden in allen Bereichen der militärischen und der zivilen Repression (sog. “Sicherheit”), sodann von Seiten para-offizieller Organisationen, aber auch zum Teil von Seiten oppositioneller Gruppierungen ein entsetzliches, ein unerträgliches Ausmass an direkter und indirekter Gewalt herrscht, das ein Leben in “Sicherheit und Würde”, wie die schweizerische Formel heisst, nicht zulässt. Terror und Angst, körperliches und seelisches Leiden, Armut, Verelendung und Heimatlosigkeit, das persönliche Unglück von ungezählten Menschen, von Kindern, von Frauen, Männern und alten Menschen sowie eine weitreichende kulturelle Zerstörung und Zukunftslosigkeit sind die Folge. Wenn die Regierungen und Behörden anderer Länder davor die Augen verschliessen, werden sie zu Komplizen dieser Verbrechen, die als Verbrechen gegen die Menschheit geahndet und durch ein Menschenrechtstribunal verurteilt werden müssen. Denn Menschenverachtung und Menschenschinderei, Vertreibungen und Deportationen, Folter und Quälereien treffen und zerstören einzelne Leben, zugleich aber treffen sie die Menschheit in jedem einzelnen Menschen, da nur die Achtung vor jedem Menschen und vor jedem frei gewählten Zusammenleben die Mannigfaltigkeit, die Pluralität und die Besonderheit  der Menschheit überhaupt gewährleistet. Unentwegt und furchtlos müssen die Verbrechen – und die Verbrecher – beim Namen genannt werden, muss für deren Beendigung gekämpft und Sühne grfordert werden. Zugleich aber gilt es, durch gegenseitigen Respekt der je persönlichen Bedürfnisse nach politischer Meinungsfreiheit und freier Lebensgestaltung, des je persönlichen Bedürfnisses nach Glück ein Beispiel für die Achtung der Menschenrechte vorzuleben, in einem Leben der gegenseitigen Unterstützung und Zuwendung: “Der Tag wird mitten in der Nacht geboren, die Freiheit mitten in uns.”

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