Würde, Achtung, Respekt – Ethik in der sozialen Arbeit – Wie beeinflussen Zeitumstände die ethischen Werte? Worin bestehen diese Werte? Wo stehen wir heute? Was sollen wir tun?

Würde, Achtung, Respekt – Ethik in der sozialen Arbeit

Wie beeinflussen Zeitumstände die ethischen Werte? Worin bestehen diese Werte?

Wo stehen wir heute? Was sollen wir tun?

Fachtagung für Sozialpädagogik Wagernhof Uster, 17. Juni 2002

 

„Sie reden Schnee –

Das Stundentuch mit allen vier Weltzipfeln

Trägt sie herein

Krieg und Sternenflug hocken beieinander

Suchen Schutz dort wo die Nacht

Voll Muttermilch überquillt

Und mit schwarzem Finger winkt

Wo die Neuentdeckungen für die Seelenfahrer harren

Funkelnd in Finsternis

Tief unter dem Schnee“[2]

 

Verehrte Anwesende

 

Sie mögen sich fragen, weshalb ich mit einem der späten Gedichte von Nelly Sachs beginne, wenn es um Fragen geht, die mit zentralen ethischen Werten verbunden sind, mit „Würde, Achtung und Respekt“. Die Veranstalter und Veranstalterinnen der heutigen Tagung stellen mit Erschütterung fest, wie sehr diese Werte in der heutigen Zeit in Frage gestellt sind, wie Verfolgung und Folter, Vertreibung und Kriege unter dem Einsatz von Waffen, deren Folgen auf nicht bemessbare Weise zerstörerisch sind, fortgesetzt werden, wie verhängnisvoll in den Köpfen „oben „ und „unten“ auch hier in der Schweiz Bilder überhandnehmen, durch welche Menschen, die auf Grund von Armut, von eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Existenz, oder von Entrechtung und Hilfebedürftigkeit der sozialen Unterstützung bedürfen, weil sie ihre Heimat verlassen mussten und hier ein Gesuch um Asyl stellen, als „lästige Schattengestalten“, als „unnütze Schmarotzer“ oder als „bedrohliche Fremde“ deklariert werden, vor allem wenn deren Haut- und Haarfarbe eventuell dunkler (oder einfach anders) ist als die eigene, wenn deren Sprache und Kultur von eigener Besonderheit ist.

Die Frage stellt sich, warum so schnell und so verhängnisvoll die Entwertung von Menschen durch andere Menschen erfolgt. Warum auf jeder Stufe ein Machtspiel einsetzt, in welchem auf der Subjektseite der Anspruch auf Würde, auf Achtung und auf Respekt unmissverständlich umgesetzt werden will, im Sinn der Erfüllung eines wichtigen Bedürfnisses – eines Grundbedürfnisses -, gleichzeitig jedoch anderen Menschen abgesprochen wird, als stehe ihnen dieses Grundbedürfnis nicht zu, als seien sie als Objekte des eigenen Handelns und der eigenen Macht zur Unterwerfung, zu einem Leben im Schatten verpflichtet. Auch warum Menschen wegen ihrer sozialen oder herkunftsmässigen Besonderheit zu „Feinden“ erklärt werden, warum diese Xenophobie (aus dem griechischen „xenos“ / fremd, Fremder und „phobos“ / Angst) sich so schnell in ein kollektives Verhalten umsetzt, warum nach wie vor rassistischen Ideologien und nationalistischen Theorien kritiklos geglaubt wird und warum diese als Normen des „richtigen Handelns“ in Gesetze und offizielle Entscheide aufgenommen werden – nach wie vor.

Das Gedicht gibt mit knappen Bildern wider, was Menschen, die mit einem Stempel bezeichnet werden, erleben: die Kälte der kalten Erdhaut (mit dem Namen „Schnee“), die in der weggleitenden Zeit, gemäss dem „Stundentuch“, diesem knapp zugestandenen Lebenskleid, in der vorweg anwachsenden Vergangenheit von Norden nach Süden, von Osten nach Westen auf allen Weltteilen liegt, als quälende Besetzung, die „Krieg“ und „Tod“ heisst, welche die Suche nach Schutz dringlich macht. Zugleich wissen sie – die Menschen, die in der kalten Welt ihr Heimatrecht haben – um die das Dunkle darstellende nachtverhüllte, stärkende Wärme der anderen Teile der Welt, die „mit schwarzem Finger winkt“, auch um die sinnlich nährende, die psychisch erregende, „funkelnde“ Lust, die „voll Muttermilch überquillt“. Schliesslich kommt die Ahnung zum Ausdruck, dass hier die „Neuentdeckungen für die Seelenfahrer harren“, nicht nur die psychoanalytischen und gesellschaftsanalytischen, sondern auch die der sozialen Verantwortung, dass diese sich finden lassen in der dunkeln Verborgenheit des Erdendaseins, im Durchdringen der erstarrten Kälte, „tief unter dem Schnee“.

Bei der Klärung der „Warum“ geht es sowohl um den äusseren wie um den inneren Blick auf die verborgene Geschichte der Entfremdung der Menschen von sich selbst und von den anderen Menschen, es geht um die Zusammenhänge der Kälte auf dieser Erde, durch welche Krieg, jede Art der menschenverachtenden, destruktiven Gewalt, und Masslosigkeit im technologischen und wirtschaftlichen, letztlich im utopischen Beherrschungswunsch – dem „Sternenflug“ – von den Machthabenden und deren ihnen unterworfenen, ebenfalls machtausübunden Adjunkten, Anhängern, Administratoren und Soldaten umgesetzt werden. Es geht im Gedicht, das ich zitiert habe, jedoch auch um die erdnahe, regenerierende Kraft der Wärme, welche einerseits durch die winkende dunkle Hand, die anzieht, symbolisiert wird, welche andererseits durch den nachtähnlichen Weg des Erkennens, durch welchen die Ursachen der Kälte – des „Schnees“ – auf der Erde zum funkelnden Licht in der Finsternis werden. Es geht somit auch um die Möglichkeit der Korrektur der menschlichen Kälte durch die Verbindung des Denkens – d.h. des intellektuellen Erkennens – mit den Empfindungen..

Die Sprache, die Nelly Sachs wählt, macht über Bilder die Komplexität der durch Leiden und durch Sehnsucht nach Wohlbefinden geprägten menschlichen Geschichte deutlich. Von Gedicht zu Gedicht lässt sie jede theoretische Erklärung hinter sich zurück und geht im Erkunden der sich fortsetzenden Entwertung von Menschen durch Menschen weiter, sie, die 1939, knapp vor Kriegsausbruch, damals 48 Jahre alt und jüdischer Herkunft, d.h. von anderer, fremder Geschichte-Haut, mit ihrer Mutter aus Berlin und aus der tödlichen Bedrohung des rassistischen Wahns fliehen konnte und in Schweden als Flüchtling zu überleben suchte, unter Bedingungen täglicher Herabsetzung und Existenznot. Die Fragen nach den Ursachen menschlicher Kälte und menschlichen Hasses hat sie in Bildern formuliert, mit einer Wortknappheit, die aus der Übersetzung der Empfindung in Sprache geschieht. Immer ist ein Entsetzen über die Erkenntnis spürbar, dass der Mensch sich selber fremd ist, und dass er die Gefühle der Angst vor dem eigenen Ich, eventuell gar der Dunkelheit und Nicht-Akzeptanz des eigenen Selbst, d.h. des eigenen Ich-Bildes, auf diejenigen überträgt, die als „anders“ definiert werden.

Warum geht diese Erkenntnis nicht weiter? Warum setzt sie sich nicht um? Warum bleibt die Erklärung der Menschenrechte von 1948 im Theoretischen und Formellen haften? Worauf gründet die sich über Generationen fortsetzende Verweigerung des Erkennens der Ursachen von Verachtung Hilfebedürftiger und von Feindseligkeit Fremden gegenüber, d.h. des krankhaft angstbesetzten inneren Blicks auf das, was dem Menschen in sich selbst fremd ist und was aus dem Unbewussten in den äusseren Blick übertragen wird, so dass es zur kalten Abwehr und Herabsetzung von Menschen geht, welche die Bedürftigkeit des Menschseins, eventuell das Fremde des Menschseins repräsentieren? Warum kommt es gar zur Wiederholung einer von Kälte getragenen Vernichtungshaltung, die auf die menschliche Urschuld zurückgeht? Warum geht die über Generationen weitergetragene Geschichte der Ahnen, deren Heroentum mit erlebtem oder angetanem Leiden wie auch mit Schuld verbunden ist, bis in die Jetztzeit weiter und wird zur kollektiven Idiosynkrasie dem eigenen Fremden gegenüber (aus dem griechischen „idios“ / eigen, für sich, und „synkrasis“ / Mischung mit etwas), die zur Überempfindlichkeit und Abneigung, zu Angst und zu Hass allem Fremden gegenüber wird, das gleichzeitig anziehende Wärme repräsentiert, wobei diese auf Grund des eigenen Mangels zugleich benutzt und herabgesetzt wird? Eine verhängnisvolle Spaltung bewirkt der „Schnee“, resp. die Kälte – Bild für die Idiosynkrasie – in den Menschen auf dem Erdteil, den wir bewohnen.

Was Nelly Sachs durch ihre Gedichte vermittelt, ist, dass nicht wissenschaftliche Theorien, dass nicht religiöse oder politische Ideologien eine Korrektur bewirken können, sondern allein das aus dem eigenen Leiden erwachsende Erkennen und die Zustimmung zum Erkennen – diese schwerste Schule sowohl in der individuellen wie in der kollektiven Entwicklung der Zeit. Denn der rassistische Wahn, diese destruktive menschliche Idiosynkrasie, gründete immer auf der Definition des/der Anderen als des/der „Nicht-Gleichen“ in der Nähe der Lebensgleichzeitigkeit, wobei darunter nicht nur die selbstverständliche Besonderheit jedes Individuums – die Individualität – verstanden wurde/wird, sondern ein „nicht-gleicher“, „ungleicher“ Wert des Menschseins überhaupt. Dass jeder Mensch als Kind zur Welt kommt, das weder seine innere genetische Besonderheit noch die äussere Besonderheit des Aussehens noch die Zeitzusammenhänge wählen kann, dass sogar innerhalb der eigenen Familie und innerhalb der eigenen kulturellen Kollektivität jede Differenz und Besonderheit ein Aufsehen oder gar eine Ablehnung bewirkt, ist eine Tatsache. Tatsache ist daher auch, dass jede persönliche und kulturelle Besonderheit in der kaum zählbaren Fülle des Menschsein gefährdet ist, wenn der Mensch die eigene Besonderheit zur allein geltenden erklärt, resp. wenn er die Erkenntnis verweigert, dass auch er/sie in seiner/ihrer Besonderheit von der lebensstärkenden Akzeptanz und Achtung durch die Anderen abhängig ist.

 

„ … Auch wir hinterlassen

unser Einsamstes den Neugeburten

Einer dreht sich um

und sieht in die Wüste –

die Halluzination öffnet

die Wand der Sonnenwildnis

wo ein Ahnenpaar

die Sprache des enthüllten Staubes spricht

muschelfern unterm Siegel -…[3]

 

Was ist das „muschelferne“ Siegel, das Nelly Sachs meint? –Lässt sich in diesem „Siegel“ die Erklärung für die Fortsetzung von menschlicher Verachtung und Feindseligkeit finden, obwohl das Wissen um das Grundbedürfnis von Würde, Achtung und Respekt ebenso weit zurückgeht?

Ich will versuchen, eine Erklärung zu finden. In einer Märchensammlung aus dem „Schwarzen Amerika“, aus welcher ich meinen Kindern vorlas, geht die erste Erzählung auf die Schöpfungsgeschichte ein, damit auf die Frage, wie und warum die Menschen mit helleren und dunkleren Hautfarben entstanden. Es heisst dort, dass die ersten Menschen – Adam und Eva – Schwarze waren, wie auch ihre ersten Kinder, darunter die Söhne Kain und Abel. Von Kain heisst es, er sei streitsüchtig und rücksichtslos, gewinnsüchtig und eifersüchtig gewesen. Warum er dies war, wird nicht geschildert. Dass er sich in seinem Bedürfnis, geliebt und geschätzt zu werden, hintangesetzt fühlte, dass er in seinem verletzten Wertgefühl Zorn empfand, vielleicht auch Angst vor sich selber und seinem nicht kontrollierbaren Verhalten des Aufbegehrens, ja der Rache – ist meine Deutung. Erzählt wird in der Geschichte, dass er eines Tages, bei einem Streit auf dem Acker um die beste Wassermelone, seinen Bruder Abel getötet habe. Als daraufhin der Herr und Schöpfer von hinten auf Kain zugegangen sei und ihn gefragt habe, wo sein Bruder sei, habe Kain grossspurig geantwortet, dass er nicht seines Bruders Hüter sei; er habe ihn nicht in die Tasche gesteckt. Als der Herr und Schöpfer nochmals fragte, wo der Bruder sei, habe Kain sich umgewandt und vor sich den Herrn gesehen. Da sei er vor Schreck erblasst, sein Haar sei glatt geworden und sein Gesicht, ja sein ganzer Körper bleich und weiss.

So schildert das Märchen, dass das „Siegel“, unter welchem „die Sprache des enthüllten Staubes“ liegt, bei einem Teil der Menschheit durch die Besonderheit des dunkeln Aussehens die Urtrauer um den verlorenen, ermordeten Bruder verdeckt, bei einem anderen die schwere Last des bohrenden und anklagenden Gewissens, durch welche alle Wärme in ihm wie erstarrt, auch die hemmende Angst vor der Rache gegen ihn, der versagt hat, daher die Kontroll- und Beherrschungsbesetztheit jenen gegenüber, die als die Anderen – die Nicht-Gleichen – erscheinen. Dieses „Siegel“ ist die einsamste genetische Weitergabe weit zurückliegender, eventuell schwer belastender Geschichte an jedes neugeborene Kind, ein Siegel, das darauf harrt, geöffnet und geklärt zu werden. Letztlich gehen die so vielfältig verschiedenen Neugeborenen und deren nicht wählbare Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern auf die gleichen Menschenahnen zurück, auf die sich wiederholende Geschichte und deren Ursprung.

Olympe de Gouges, diese mutige Kritikerin des mangelhaften Erkennens ihrer Zeit – der Zeit der französischen Revolution -, unter deren fundamentalistischen Folgen auch sie, die als Korrektur der „Déclaration des droits de l’Homme“ eine „Déclaration des droits de la Femme et Citoyenne“ veröffentlichte und auf dem Schaffot das Leben verlor – sie hielt 1788 in einem Aufsatz klagend fest[4]: „… dass das blut- und goldgierige Europa die glückliche Welt gebrochen hat. Der Vater hat dem Kind die Anerkennung verweigert, der Sohn hat den Vater der Opferung ausgesetzt, die Brüder haben gegeneinander gekämpft und die Besiegten wurden auf dem Markt zum Kauf angeboten. Was sage ich? – es wurde zu einem Markt in allen vier Teile der Welt, ein Menschenhandel – grosser Gott! – und die Natur erzittert nicht?[5]“ Die „Natur erzittert nicht“, d.h. die Empfindung des Lebenswertes im vielfältigen Zusammenleben tut nichts kund, weil sie vor Kälte erstarrt ist. Aus der Urschuld ging/geht die Fortsetzung der Schuld und des Leidens weiter, geht weiter, weil sie verdrängt wird.

All dies prägt den Blick der während Generationen missbrauchten, ausgenutzten und gepeinigten Menschen auf diejenigen, welche ungehemmt ihre Macht ausüben, es ist der Blick der Trauer, der Angst und der Rache, welche die über Herkunft und Zeitgeschichte geschaffene Sehnsucht nach Wärme und Respekt, nach Schutz und Sicherheit spüren lässt. Dass der Streit zwischen den ungleichen Brüdern bis zur Tötung des einen durch den anderen weitergeht, dass sowohl Neid und Schuld, Trauer und Angst sich fortsetzen und in jedem Blick spürbar werden, ist die Tragik der die Generationen überdauernden Verweigerung zu lernen: zu lernen, das Andersseins in der gleichen Menschheitsfamilie zu akzeptieren, gleichzeitig jede Art von Macht, die ausgeübt werden kann, so umzusetzen, dass sie ertragbar wäre, wenn man nicht Subjekt, sondern Objekt des Handelns wäre. Unerträglich wäre es /

ist es, in den Gefühlen der eigenen Würde ständig verletzt zu werden, selber mangelnden Respekt und mangelnde Achtung erleben zu müssen – ein unerträgliches Leiden. Sich einzufühlen in die Folgen des eigenen Handelns, nicht als Subjekt, sondern als Objekt des Handelns, müsste als normativer Massstab genügen. Es geht dabei um das Wissen der nicht auflösbaren Abhängigkeit jedes Menschen von anderen Menschen, in allem, was die Erfüllung der wichtigen menschlichen Grundbedürfnisse betrifft. Ich meine das Wissen um die Reziprozität von Subjektsein und Objektsein, resp. um die subjektive Reziprozität in allem, was menschliches Leben im Zusammenleben mit anderen Menschen bedeutet.

Was ich als „subjektive Reziprozität“ bezeichne, schliesst die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander ein, letztlich das Bedürfnis nach Verlässlichkeit im Respekt vor der Erfüllung der gleichen menschlichen Grundbedürfnisse, d.h. aller wichtigen körperlichen und seelischen Bedürfnisse, deren Erfüllung zum Wert des Lebens gehört. Das wichtigste ist der grosse Wunsch nach Respekt vor der nicht selber gewählten, über die Generationengeschichte geschaffenen Individualität, es ist der Wunsch nach dem Recht auf das eigene Ich- und Anderssein und auf den gleichen Wert jeder Besonderheit, unabhängig davon, ob er/sie gesund oder krank sei, wohlhabend und gebildet oder hilfebedürftig und behindert, mehr oder weniger dunkel oder hell, dieser oder jener Religion zugehörig, diese oder eine andere Sprache sprechend. Dieser Wunsch, der wie ein Hunger spürbar ist, beinhaltet, nicht als „gut“ oder als „böse“ vordefiniert zu sein, sondern so ernstgenommen und unterstützt zu werden, dass diejenigen – ich formuliere die wichtigste ethische Regel nochmals -, welche die Macht haben zu handeln, das, was sie tun, ertragen könnten, wenn sie nicht die Handelnden, sondern die Objekte des Handelns wären. Gemäss Simone Weil, die 1943 – mit 34 Jahren – in der Emigration in England vor Erschöpfung starb, besteht hierin die grundsätzliche „Verpflichtung“ des Menschsein. „La notion d‘obligation prime celle de droit qui lui est subordonnée et relative“[6].

Gemäss Simone Weil findet sich im Erkennen der gegenseitigen und wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen von einander in erster Linie die Verpflichtung derjenigen, die handeln können, denjenigen gegenüber, die weniger oder nicht handeln können. Nur aus der Erfüllung dieser Verpflichtung erwächst das Recht, ebenfalls Achtung und Respekt zu fordern – eine Verpflichtung, die von den Mächtigen zumeist überdeckt oder gar geleugnet wird. Die Anerkennung des Wertes und der Würde der persönlichen Besonderheit kann letztlich nur aus der hierarchischen Ungleichheit gelöst werden, wenn nicht ausschliesslich gefordert wird, sondern wenn die „Verpflichtung“ entsprechend den Handlungsmöglichkeiten ernstgenommen wird.

Das Rückbesinnen auf die frühesten Geschichten des von Ungleichsein geprägten gleichen Menschseins sollte endlich dem Erlernen eines besseren Zusammenebens dienen, d.h. dem Erlernen des Wertes des Andersseins als Wert der individuellen Besonderheit, aber des gleichen Wertes unersetzbaren menschlichen Lebens. Liesse sich so die Wiederholung von menschlichem Leiden verhindern, das zumeist mit dem Missbrauch von menschlicher Macht – sowohl individueller wie kollektiver Macht – einhergeht?

Sozialpädagogik kann in der Art und Weise, wie sie ihre spezifischen Aufgaben erfüllt, vieles bewirken. Ich möchte mit einigen der Prinzipien abschliessen, welche 1994 in Colombo, Sri Lanka, anlässlich der Weltdelegiertenkonferenz der International Federation of Social Workers (IFSW) festgehalten worden waren. Unter diesen Prinzipien gehören zu den zentralen diejenigen, welche mit den menschlichen Grundbedürfnissen nach Achtung und Respekt, letztlich nach einem Leben in menschlicher Würde einhergehen. Um diese Grundbedürfnisse zu erfüllen, bedürfen Menschen, die auf soziale Hilfe angewiesen sind, der sozialpädagogischen Umsetzung der Bedürfnisse in ein spürbar besseres Leben – ein Leben der menschlichen Würde. Nur so kann bewirkt werden, dass die Bedürftigkeit nicht zur Erniedrigung missbraucht wird. Dieser Forderung entsprechend heisst es,

– „Jeder Mensch hat seinen eigenen Wert, der eine echte Wertschätzung dieser Person begründet.

– Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstverwirklichung, soweit dadurch nicht das gleiche Recht eines anderen verletzt wird, er hat die Verpflichtung, zum Gemeinwohl beizutragen.

– Jede Gesellschaft sollte, ungeachtet ihrer Gesellschaftsform, ein Höchstmass an Wohlfahrt für alle Mitglieder bieten.

– Von SozialarbeiterInnen wird erwartet, dass sie allen Rat- und Hilfesuchenden die bestmögliche Unterstützung bieten, ohne Diskriminierung in Bezug auf Geschlecht, Alter Behinderung, Hautfarbe, soziale Schicht, Rasse, Religion, Sprache, politische Ansichten oder sexuelle Haltungen.

SozialarbeiterInnen respektieren die grundlegenden Menschenrechte von Einzelnen und Gruppen, wie sie in der universellen Menschenrechtsdeklaration (…) ausgedrückt sind“[7].

Bei diesen Prinzipien geht es um das, was als Ethik in der sozialen Arbeit, auch in der Arbeit der Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen verstanden wird. Die Schweiz hat zwar die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in die neu bearbeitete Verfassung aufgenommen, doch die Realität auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene entspricht diesen obersten ethischen Normen häufig kaum, vor allem kaum im asyl- und ausländerrechtlichen Bereich. Würde, Achtung und Respekt werden von den Behörden in vielen Fällen nur für sich beansprucht; Menschen, die der Hilfe bedürfen, werden sie abgesprochen, mit jener erstarrenden Kälte, auf welche Nelly Sachs im Gedicht eingeht, das ich zitiert habe.

Die weit verbreitete Behauptung, wir seien zu Beginn des 21. Jahrhunderts – am Ende der Postmoderne – auch am Ende der starren Ideologien angelangt, ist falsch. Die überall aufkeimende und mit Gewalt durchgesetzte fundamentalistische Ethnisierung der staatlichen Handlungsbegründungen ist eine der gefährlichsten Gegenbewegungen zum Bestreben um die tatsächliche Umsetzung der Menschenrechte. Nationalistische Slogans, wie diejenigen von Rechtsaussen, die „Schweiz gehöre den Schweizern“, haben darauf massgeblichen Einfluss. Wichtig ist es, kritische Urteilskraft und Skepsis jeder Macht gegenüber, die zum Missbrauch von Macht genutzt werden kann, aufzubauen, Propaganda zu hinterfragen sowie eine Korrektur mangelhafter, ungerechter oder diskriminierender Gesetze zu fordern. Zusätzlich ist es wichtig, die Vorstellungskraft zu trainieren und sich an Stelle derjenigen Menschen zu setzen, um die es beim Abbau oder bei der Verleugnung von Rechten geht, somit Koalitionen einzugehen mit Menschen, die sich ebenfalls für eine Erfüllung und Realisierung der wichtigen Grundbedürfnisse von Menschen einsetzen, deren Möglichkeit, selber zu handeln, beschränkt ist oder nicht besteht. Gerade in beruflicher Hinsicht, in welcher das Handeln über den privaten Rahmen hinausreicht, ist diese Koalition von grosser Bedeutung. Mit der Verlässlichkeit bei der Beachtung und Umsetzung der damit verbundenen Verpflichtung geht einher, für das gleiche Recht jedes Menschen einzustehen, als Mensch mit der nicht wählbaren, persönlichen Besonderheit die gleiche Würde, die gleiche Achtung und den gleichen Respekt zu erleben. Die betrifft die bestmögliche Erfüllung der Persönlichkeitsrechte und der Sozialrechte, der Freiheits- und Bewegungsrechte, der Gesundheits- und Bildungsrechte, kurz die Erfüllung eines würdigen und angstfreien Lebens.

„Ich höre, sie (d.h. die Menschen) nennen das Leben die einzige Zuflucht”, schrieb Paul Celan in einem seiner Gedichte, nachdem er die extreme Lebensbedrohung durch die nationalsozialistische Verfolgung überlebt hatte, wenngleich nur für einige Jahre, bis er die innere Last nicht mehr ertrug. Das Leben ist tatsächlich die ständige Sehnsucht nach Zuflucht, deren Erfüllung die Zustimmung zum Wert des eigenen Lebens und zur Entfaltung der eigenen schöpferischen Kräfte erfahren lässt. Wichtig ist zu bedenken, dass kein Mensch diese Erfüllung der Sehnsucht selber bewirken kann. Immer bedarf es der Verpflichtung derjenigen, die handeln können, die Anderen in deren Sehnsucht nach Wert und Würde zu unterstützen, entsprechend der subjektiven Reziprozität, die dem guten – dem besseren – menschlichen Zusammenleben zugrundeliegt und die es endlich zustandebringen könnte – als Korrektur und einziges „Mass für die Masslosigkeit“ des menschlichen Leidens.

„Man darf sich nicht erlauben

so zu leiden –

sagte der Seher von Lublin –

und jedes Wort

von Mitternacht durchkreuzt

schlaflos gewendet

hörtest du es anderswo

vielleicht

wo ein Mass für Masslosigkeit erfunden war“[8]….

 

 

[2] Nelly Sachs. Glühende Rätsel, in: Späte Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1961, S. 178

[3] Nelly Sachs, a.a.O. S. 179

[4] Olympe de Gouges. Oeuvres. Edition Mercure de France, Paris 1986, S. 83: Réflexions sur les Hommes Nègres (Février 1788).

[5] „Le père a méconnu son enfant, le fils a sacrifié son père, les frères se sont combattus et les vaincus ont été vendus comme des boeufs au marché. Que dis-je? – c’est devenu un Commerce dans les quatre parties du monde. Un commerce d’hommes …grand Dieu! Et la nature ne frémit pas“ (Übersetzung durch maw).

[6] Simone Weil. Enracinement. Herausgegeben 1949 von  Albert Camus bei Editions Gallimard,

[7]IFSW-Prinzipien: 22.1; 22.2; 22.3; 22.6; 22. 7.

[8] Nelly Sachs. Späte Gedichte, S. 224

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