Was bedeutet die Arbeit mit Tieren für psychisch leidende Menschen?

Was bedeutet die Arbeit mit Tieren für psychisch leidende Menschen?[1]

 

Das jüngste Magazin der Universität Zürich befasst sich mit Fragen um Schmerz und Leiden. Unter den Beiträgen befindet sich einer aus der Veterinär-Chirurgischen Klinik der Universität Zürich, den Sabine Kästner, eine Assistentin an der Abteilung Anästhesie unter dem Titel „Empfinden Tiere Schmerzen?“ verfasst hat. Die knappe Schilderung einer Stute, die unter einer Kolik leidet und die schweissgebadet, mit weit aufgerissenen Augen sich am Boden wälzt, die sich aber entspannt, nachdem ihr ein Schmerzmitel gespritzt wird, beantwortet die Frage im Zusammenhang der körperlichen Schmerzen. Dass die Tiere auch ein psychisches Schmerzempfinden haben, dass sie Angst-, Zorn- und Verlustempfindungen ebenso vermitteln können wie Wohlbefinden, ja sogar Freude, darauf wird nicht eingegangen. Ich bin jedoch überzeugt, dass Tiere gerade durch die Vermittlung dieser Empfindungen einen Einfluss auf die Empfindungen und das Verhalten von Menschen haben.

Eine Patientin von mir schilderte in einer Stunde, wie sie, die in sehr beengenden Verhältnissen aufgewachsen war, in denen sie sich ungeliebt und „überflüssig“ fühlte, noch im Vorschulalter an einem frühen Herbstnachmittag einen grossen Hund, der, an einer Kette angebunden, den Hof von Nachbarn bewachte und der als angriffig, ja als gefährlich galt, von der Kette löste, um mit ihm zusammen einen Spaziergang zu machen, einen Hang hinauf und dann in die Felder voller Obstbäume, die, wie ihr schien, unbegrenzt weit führten. Befreit sei der Hund davongerannt und sie hinter ihm her, aber immer wieder sei er zurückgerannt, ihr entgegen, habe lustig wedelnd und um sie herumhüpfend angehalten, und glücklich auf sie geblickt. Auch sie habe sich zufrieden und stark gefühlt, wie sonst kaum je. Wie weit sie durch die Felder gingen, habe sie nicht gewusst, nur, dass sie keine Ahnung gehabt habe, wie der Hund und sie den Rückweg finden konnten. Dass er nicht zurückkehren wollte, um nicht wieder angebunden zu werden, habe sie aber geahnt, und auch sie habe dies gewünscht. Als es anfing, dunkel zu werden, sei sie müde unter einem Baum gesessen, der Hund habe neben ihr im Gras gelegen, dann aber plötzlich aufgeregt zu bellen begonnen. Wenig später habe ein Grossonkel vor ihr gestanden, habe den Hund, der nun gewimmert habe, an einer Leine festgebunden, habe sie mit seiner harten Hand fest gepackt und sehr mit ihr gescholten. So seien sie und der Hund zurückgeführt worden, wo er wieder an der Wand festgemacht worden sei, wie ein Gefangener, habe sie empfunden und so sei sie sich selber vorgekommen.

Es ist unbestritten, dass Tiere unter schlechten, sie herabsetzenden oder ängstigenden Bedingungen des Lebens leiden. Die Tiere leiden, wenn sie angebunden werden, als wären sie in einem Gefängnis. Sie leiden, wenn sie nicht die geringste Freiheit haben, vor allem wenn sie nur als wirtschaftlicher Gegenstand benutzt werden. Sie können jedoch Menschen, denen sie sich verbunden fühlen, weil sie durch sie gut betreut werden, ein Gefühl der Zuneigung und des Existenzwertes vermitteln. Ein 36jähriger Patient, zum Beispiel, der mit dem zwölften Altersjahr anfing, zuerst Haschisch, dann Heroin und weitere Drogen einzunehmen, um sich eine Flucht aus den kaum erträglichen Gefühlen der völligen Verlorenheit, der Ängste und des Unwertes zu schaffen, hatte mit seinem Wunsch, endlich nicht mehr auf der Flucht zu sein, sondern zu sich selber zu finden, einerseits die medizinische Entzugshilfe mit einer kontrollierten Methadoneinnahme gewünscht und diese zu befolgen versucht, suchte jedoch, als er immer wieder voller Schuldgefühle in seine Fluchtmethode zurückfiel, selber eine psychotherapeutische Begleithilfe auf, indem er sich von einem Kollegen einen jungen Hund schenken liess, für den er sorgen wollte und für den er sich in jeder Hinsicht verantwortlich fühlte. Wenig später gelangte er dann an mich und bemühte sich, keine Therapiestunde ausfallen zu lassen, sondern in Begleitung seines Gefährten möglichst pünktlich zu erscheinen und seine schweren Kindheits- und Jugenderfahrungen aufzuarbeiten, um nicht mehr darunter zu leiden, gleichzeitig aber auch auf Fähigkeiten in sich zu stossen, die so lange zugedeckt blieben und die ihm ermöglichen würden, sein Leben sinnvoller zu leben. Von einer Woche zur nächsten wurde sein Selbstwertgefühl ein wenig stärker, vor allem weil er spürte, welche Zuneigung und welches Vertrauen sein Tier für ihn empfand.

Die Betreuung von Tieren kann bei der Heilung psychischen Leidens eine wichtige Begleitfunktion übernehmen, eine stärkende. Was hier im Werk- und Wohnhaus zur Weid schon seit Jahren aufgebaut und ermöglicht wird, nun zusätzlich mit dem schönen, offenen Tierstall, beurteile ich als vorbildlich. Dass die Tiere hier in Europa seit Jahrhunderten zunehmend nur als wirtschaftliche Objekte behandelt wurden, ging einher mit der Verachtung des gleichen Lebenswertes jedes Menschen. Nie wurden die Menschen unabhängig von Herkunft, Stand und Arbeitsfähigkeit „bewertet“, nie wurde dieses Unrecht aufgehoben. Die europäische Kultur, auch unsere Kultur hier in der Schweiz, muss dringend neu lernen, dass es der Verhinderung von Herabsetzung, Entwertung und Gewalt Menschen und Tieren gegenüber bedarf, um ein gutes und konstruktives Leben und Zusammenleben zu ermöglichen, dass es nicht nur der Akzeptanz jeder Art von Differenz bedarf, sondern der gleichen Wertanerkennung. Dass in der griechischen Antike nach den ältesten Mythologien bis in die späteren Schilderungen die Götter zumeist in Tierfiguren unter den Menschen aktiv waren, sich einmischten und Veränderungen im Verhalten der Menschen bewirkten, wurde bezüglich der symbolischen Bedeutung zugedeckt. Auch die Märchen und Sagen aus den Alpen, die von Tierfiguren begleitet werden, welche die Menschen beeinflussen, sich an ihnen rächen, wenn sie rücksichtslos ihre Macht umsetzen, oder sie schützen und sogar vor dem Tod retten, wenn sie in ihrem Inneren liebevoll sind, aber geplagt werden und in Gefahr sind, bieten die gleichen therapeutischen Hinweise an.

Da die landwirtschaftichen und häuslichen Tiere von der Behandlung und der Unterstützung der Menschen völlig abhängig sind, teilen sie in mancher Hinsicht die Existenzbedingungen mit jenen von Kindern und Jugendlichen, auch mit jenen erwachsener Menschen, die infolge körperlicher Beeinträchtigungen oder seelischer Leiden der Hilfe bedürfen. Die Heilung des verletzten, häufig schwer geschädigten Existenzwertes – woraus nicht nur die Flucht in Alkohol oder in andere Drogen resultiert, sondern auch häufig sogenannt „straffälliges Verhalten“ – kann durch Angebote, wie die „Rossau“ sie unter der verantwortungsvollen Leitung von Hans-Ruedi Sommer entwickelt hat, auf stärkende Weise beeinflusst werden. Die Anerkennung des Selbstwertes eines Menschen hängt auf spürbare Weise von der Anerkennung dessen ab, was er in Arbeitszusammenhängen tut, die immer mit Beziehungserfahrungen verbunden sind, ob es sich um die Gartenarbeit handle, um Arbeit in den Werkstätten oder um die Betreuung der Tiere. Dass in diesem Bereich die Tiere selber einen therapeutischen Beitrag zur Veränderung des Selbstwertes, der Ich-Beziehung wie des Verantwortungsempfindens von Menschen leisten, bedarf der Beachtung. Die „Rossau“, die ich schon vor Jahren in allen Zusammenhängen gründlich kennengelernt habe, indem ich nicht nur die Tagesabläufe beobachtete, sondern Gespräche mit vielen Menschen führte, die hier untergebracht waren und zum Teil noch untergebracht sind, erachte ich als wichtigen Ort der Ermöglichung eines – spürbaren – Heilungsprozesses von Menschen, deren Psyche infolge schweren Leidens der guten Unterstützung und Genesung bedarf.

 

[1] anlässlich Medienkonferenz Werk- und Wohnhaus zur Weid, Rossau – Mettmenstetten am 8. März 2001

 

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