Gespräch über Kulturpolitik – 17. August 1998 in Allaman /VD

Gespräch über Kulturpolitik 17. August 1998 in Allaman /VD

Überlegungen zu den Fragen an die Teilnehmenden

 

Ich werde im folgenden zu vier Aspekten der gestellten Fragen Stellung nehmen. Dabei geht es um Vorschläge, was unter „Kultur“ zu verstehen ist, was unter „nationaler, resp. gesamtschweizerischer Kultur“, was unter „Kulturpolitik und Kulturförderung“, und wie ich die spezifische Aufgabenzuteilung ans BAK und an Pro Helvetia sehe.

 

  1. I) Was bedeutet „Kultur“?

 

Ich schlage im Sinn einer Begriffs- und Bedeutungsklärung vor:

(a) „Kultur“, vom Wortsinn her, bedeutet „Pflege“ (culturare – pflegen).

(b) „Kultur“, in der philosophischen Deutung, ist die Gegenkraft zu Destruktivität und Gewalt. Kultur bedeutet, wie Freud nachweist (s. Das Unbehagen in der Kultur, 1929-30), Überwindung resp. Sublimation des ungezügelten Naturzustandes und der rücksichtslosen, aggressiven Triebbefriedigungen. Kultur ist daher – und dies ist überaus wichtig und wird uns noch beschäftigen – eine Quelle von Ambivalenzen. Sie ist unbequem, da sie die Fähigkeit zur „längeren Logik“ und ein reziprokes Regelverhalten verlangt: Aufschub der Triebbefriedigung, Möglichkeit des symbolischen Ausdrucks von Bedürfnissen, Rücksicht und Altruismus. Zugleich ist sie wohltuend und verschafft Wohlbefinden: sie macht die Welt für die vielen, die zusammenleben, lebbar, ist Voraussetzung für gesellschaftlichen Frieden, für die reziproke Achtung der Freiheit der einzelnen, für Sicherheit vor Gewalt und für zivilisatorischen Fortschritt, schafft Mittel zur Gestaltung und Verschönerung der Welt, zur Erklärung der Welt und zur Weiterentwicklung des über die Zeiten und Epochen entstandenen und tradierten Wissens und kulturellen Schaffens der Menschheit. Kultur hat dadurch einen immanenten Auftrag der persönlichen und kollektiven Sinnvermittlung. Sie koordiniert die Invariablen der „Welthaftigkeit“, Zeit und Raum, und die Variable des generationenübergreifenden und unendlich vielfältigen Zusammenlebens der Menschen.

Fügen wir die philosophische und die ethymologische Begriffserklärung zusammen, so lässt sich sagen: Kultur ist immer relational und dialogisch. Mit anderen Worten: Kultur bedeutet die Pflege, resp. die Kunst des Zusammenlebens in der Pluralität der Differenz von Menschen und ihrer materiellen und immateriellen, resp. ihrer sozialen, politischen, religiösen, gestalterischen, künstlerischen und anderen Bedürfnisse, kurz, ihrer Bedürfnisse nach Ausdruck, nach Gestaltung und Veränderung, nach erneuernder und zugleich erhaltender Mitbestimmung dessen, was für das Zusammenleben von Bedeutung ist. Von Kultur zu sprechen, setzt somit den Respekt der Pluralität voraus. Der Singular „Kultur“ schliesst den Plural „Kulturen“ ein, d.h. das dialogische, das nicht-hierarchische Nebeneinander vieler Kulturen.

 

  1. II) Was bedeutet „nationale Kultur“, resp. „kulturelle Bestrebungen von gesamtschweizerischem Interesse“ ?

Aus den unter (I) gemachten Überlegungen ist zu schliessen: Wenn von „nationaler Kultur“ die Rede ist, sollte die Qualität des Zusammenlebens innerhalb einer Nation gemeint sein. Mit anderen Worten, „nationale Kultur“ als Begriff macht nur Sinn, wenn alle Bevölkerungsschichten, wenn auch noch die schwächsten Glieder der Gesellschaft daran partizipieren. Kultur hat nichts mit elitären Privilegien zu tun. Partikuläre Einzel- und Gruppeninteressen dürfen nicht überhandnehmen oder gar zu Machtkämpfen auswachsen, sondern sollten Stimmen in einer polyphonen Orchestrierung sein. Soziale Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen in sozialer, bildungsmässiger, politisch mitgestalterischer Hinsicht, aus welchen Gründen auch immer, ist unvereinbar mit dem oben entwickelten Verständnis und Begriff von Kultur. Repression und Krieg schliessen Kultur aus, ja löschen Kultur aus.

Kulturell repressiv und daher gesamtgesellschaftlich destruktiv ist schon jede Gesetzgebung, welche soziale Diskriminierung zulässt oder gar schafft. Diskriminierungen sind Ausdruck von Gewalt und sind zugleich eine Quelle von Gewalt und sich fortsetzender Gegengewalt. Dies gilt nicht nur für die Pluralität der kulturellen Bedürfnisse und Bestrebungen von Menschen und Gruppierungen schweizerischer Provenienz (betr.die diversen Sprachregionen, Religionen, Generationen, Städte, Dörfer, Täler, Bergregionen etc.), sondern auch für die Pluralität der in der Schweiz lebenden ausländischen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, von ihrem politischen Status oder ihrem Geldbeutel. Nationale Kultur im oben entwickelten Sinn schliesst die ganze Diversität der Kulturen ein, die innerhalb des nationalen Territoriums zusammenleben oder neu dazukommen. Sie ist daher unvereinbar mit rassistischer oder fremdenfeindlicher, überheblicher, ausgrenzender oder diskriminierender Gesetzgebung, Gesetzes- und Alltagspraxis. Daraus folgt, dass hohe Verfassungsgrundsätze nichts taugen, wenn die gesellschaftliche Realität damit nicht übereinstimmt. Die Nicht-Übereinstimmung verursacht jenes kulturelle „Unbehagen“ – um Freuds Begriff auf die Schweiz anzuwenden -, „le malaise suisse“, das heute in allen Schichten spürbar ist, auf dumpfe und bedrohliche oder auf kritische, artikulierte, kreative Weise.

„Kulturelle Bestrebungen von gesamtschweizerischem Interesse“ müssten sich daher auf eine Verringerung dieser Nicht-Übereinstimmung ausrichten, auf eine Verringerung des Unbehagens, des durch Diskrimierungen verursachten Leidens, der sozialen Spannungen und der diesen Spannungen immanenten Gewalt. „Kultur“, schrieb Freud, „ist ein anderes Wort für Therapie“. Mit anderen Worten: Kulturelle Bestrebungen müssen jenes gesamtgesellschaftliche Wohlbefinden zum Ziel haben, welches auf reziproke, dialogische Weise erlaubt, Differenzen nicht nur auszuhalten, sondern sogar interessant zu finden und daraus entstehende Konflikte entweder zu integrieren oder auf gewaltfreie, das Zusammenleben förderliche Weise zu lösen

Daraus folgt, dass der Begriff „Kulturschaffende“ falsch ist und fallengelassen werden sollte, wenn er allein für Malerinnen und Bildhauerinnen, Schriftstellerinnen, Musikerinnen, Schauspielerinnen, Architektinnen etc. und für deren männliche Entsprechungen gebraucht wird. Oder dass er für alle angewendet wird, die zur Förderung von Kultur im oben dargelegten Sinn beitragen: Lehrerinnen und Lehrer auf allen Stufen, Mütter und Väter, Jugendliche untereinander, Beamtinnen und Beamte in allen Institutionen und Chargen, die ihr Mandat nicht missbräuchlich umsetzen, in diesem Sinn auch Anwältinnen und Anwälte, Frauen und Männer im ganzen Bereich des Gesundheitswesen (Präventivmedizin, Krankenhäuser, Psychiatrien, Altenbetreuung, Haftanstalten und Gefängnisse etc.), oder Politikerinnen und Politiker, die nicht für ihr partikuläres Interesse, sondern für eine bessere Qualität des pluralen Zusammenlebens kämpfen, resp. für eine gerechtere und breitere kulturelle Partizipation, auch Handwerk, Gewerbe, Landwirtschaft und weitere Tätigkeitsbereiche, die zu diesem gleichen Zweck beitragen.

Nicht kulturschaffend sind allein jene Menschen resp. Tätigkeiten, welche für Polarisierungen, für Diskriminierungen und Ausgrenzungen, für das Entstehen und Schüren von Gewalt verantwortlich sind.

 

III) Kulturpolitik – Kulturförderung: ja, aber wie?

Nochmals: Ziel der Kulturpolitik muss die Verringerung der Nicht-Übereinstimmung zwischen Verfassungsgrundsätzen und Gesetzes- sowie kultureller Alltagsrealität sein, im Sinn der oben entwickelten Überlegungen.

Von zentraler Bedeutung ist dabei das gesamte Bildungswesen. Die öffentlichen und unentgeltlichen Bildungsangebote für Kinder (schon für Kleinkinder) und für junge Menschen müssen auf generöseste, breiteste und zugänglichste Weise gefördert werden, unabhängig von allen Herkunftsbedingungen, von Begabungen, Pass, sozialer Schicht etc., und ebenso alle Weiterbildungsangebote für Erwachsene. Ziel der Bildungsförderung soll ebenso die „Selbst“bildung sein, d.h. die Entwicklung aller kreativen persönlichen und sozialen Möglichkeiten und Fähigkeiten (Neugierde, Widerspruchsgeist, Vorstellungskraft, Urteilskraft, darstellerisches Vermögen, analytische und synthetische Intelligenz, Bewegungs- und Handlungsbedürfnis, Welterklärungs- und Welterkundungsbedürfnis) des einzelnen Kindes resp. Menschen, wie die Vorbereitung und Ausbildung zu einer vielfältigen professionellen Kompetenz, wie die dialogische, partizipatorische „Einübung“ in das plurale, von Diversität und Differenzen geprägte Zusammenleben.

Das gesamte Bildungswesen darf daher nicht dem wechselnden Diktat von Marktinteressen unterliegen, wie dies heute zunehmend der Fall ist. Die Vermischung von staatlichem Bildungsauftrag und Ökonomie ist verhängnisvoll. Es ist unvereinbar mit „Kultur“, wenn für den Besuch öffentlicher Schulen wieder Schulgeld verlangt wird (wie dies der Zürcher Regierungsrat vorgesehen hat), wenn Kinder nach Effizienzkriterien zur gegenseitigen Rivalisierung erzogen werden, wenn Sprachunterricht zur „Kommunikations-(resp. Propaganda- und Verkaufs-)technologie“ verkommt, wenn Kinder aus sozial schwächeren Schichten oder Kinder aus Immigrations- und Flüchtlingszusammenhängen mit einem qualitativ schlechteren Unterricht vorlieb nehmen müssen, wenn die Vermittlung des vielfältig tradierten kulturellen Wissens (Literatur, Zivillisationsgeschichte, Kunst-und Weltgeschichte, Sprachen etc.) zur „Spezialität“ verkommt und nicht mehr allgemein zugänglich gemacht wird, wenn der Kauf und das Lesen von Büchern, wenn der Besuch von Theater, Oper, Konzerten, Kunstausstellungen, Museen sowie anderen Orten und Veranstaltungen künstlerischer Produktion und Verdichtung nur noch intellektuellen, künstlerischen oder wirtschaftlichen Eliten zugänglich ist, wenn andererseits diejenigen, welche diese künstlerischen Leistungen erbringen, welche die symbolischen, nicht wirtschaftlich zweckgebundenen, spielerischen, experimentellen Umsetzungen von Welterklärungen, Zusammenhängen des Lebens, Gestaltungsmitteln der Realität etc. versuchen und schaffen, mit wenigen Star-Ausnahmen, gesellschaftlich verachtet und zumeist Hungerleider sind. All dies und mehr ist kulturell verhängnisvoll, und all dies und mehr ist in der Schweiz schon Tatsache

Kulturpolitik hat somit in erster Linie die Aufgabe, einer polarisierenden und – breite Schichten der Bevölkerung – diskriminierenden Wirtschaftspolitik entgegenzusteuern, resp. die Wirtschaftspolitik und die damit verbundene Schaffung von Mehrwert  in den Dienst einer möglichst breiten, partizipatorischen Kultur des pluralen, kreativen und gewaltfreien Zusammenlebens zu stellen. Kulturpolitik und Kulturförderung im oben erwähnten Sinn müssen daher unbedingt aufgewertet werden. Sie dürfen im Kontext der nationalen Aufgabenzuteilung – auch in Hinblick auf die für eine weiträumige Schaffung von gesellschaftlichem und politischem Frieden dringend erforderte Anerkennung transnationaler Verflechtung und Interdependenz von Kultur (im Sinn von I) – nicht, wie dies heute der Fall ist, auf Sparflamme betrieben werden. Es muss ihnen eine hohe Priorität zukommen.

 

IV) Welche Art von Aufgabenteilung zwischen BAK und Pro Helvetia?

Dem BAK sollte, wie bis anhin, die Förderung, Aktivierung und Umsetzung der vielfältigen öffentlichen Bildungs-, Weiterbildungs-und Kulturpartizipationsangebote, institutioneller sowie experimentaller Art, zukommen, für alle Schichten der Bevölkerung und in allen Regionen. Auf Grund der föderalistischen Strukturen in der Schweiz gehört die qualitative Koordination der diversen Kulturen ebenso dazu wie die Vermittlung finanzieller Unterstützung kultureller Institutionen und Bestrebungen in ärmeren Regionen oder Kantonen (im Sinn der Subsidiarität), auch die Aufgabe der Unterstützung und Aktivierung staatlicher Kulturvermittlung im Ausland.

Auch sollte dem BAK eine Art Ombudsfunktion für kulturbedrohliche Mängel, Entscheide oder Gesetzespraxis in anderen Bundesämtern zukommen (z.B. im Bundesamt für Flüchtlinge, für Ausländerfragen etc.), eventuell sogar ein Vetorecht oder eine zwingende Einsprachemöglichkeit bei Gesetzesvorlagen und –entscheiden im Parlament. Ich könnte mir vorstellen, dass z.B. eine begründete Einsprache des BAK bewirken könnte, dass Dringliche Massnahmen, die von einer Parlamentsmehrheit beschlossen werden (etwa im Ausländerrecht oder in der Asyl- oder Sozialpolitik etc.), nochmals auf die Vereinbarkeit mit einer Kultur des pluralen, dialogischen, nicht repressiven Zusammenlebens hin geprüft und eventuell revidiert oder fallengelassen werden müssten.

Pro Helvetia kommt, wie bis anhin, der – ebenfalls von der öffentlichen Hand finanzierte – Auftrag zu, die Vielfalt der privaten Bestrebungen, Initiativen und Unternehmungen, die der Förderung, Aktivierung und Umsetzungen von Kultur (im oben entwickelten Sinn) dienen, zu stützen und zu ermutigen. Dazu gehören sowohl Bildungs- und Weiterbildungsinitiativen, künstlerische Projekte, Anlässe der breiten sozialen Kulturpartizipation  etc. Von grossem Gewicht ist im gesamten Unterstützungs- und Förderungszusammenhang ist die sorgfältige Unterscheidung von privater Initiative und partikulärem Interesse (Einfluss, Macht, Bereicherung etc.), und ebenso die Sorgfalt in der Prüfung von Qualität und Pluralität der vorgeschlagenen Projekte, ob diese im Inland oder im Ausland realisiert werden. Ich könnte mir vorstellen, dass Pro Helvetia, gestützt auf Analysen oder Berichte über kulturelle Mängel, Fehlentwicklungen oder Gefahren, Projekte zu deren kreativen Veränderung oder Behebung zusätzlich auch vermehrt ausschreiben könnte.

Beiden Institutionen, BAK und Pro Helvetia, sollte in ihren jeweiligen Zuständigkeiten, neben der Förderung und Vermittlung einer Kultur der vielfältigen kulturellen Partzipation, auch die Aufgabe zukommen, menschenverachtende und gesellschaftszerstörende Tendenzen aufzuzeigen, zu bekämpfen und auf kreative Weise zu verändern. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass die kulturverunglimpfende und pluralitätsherabsetzende, intellektuellen- und fremdenfeindliche und/oder rassistische, auch asoziale Propaganda von Rechtsaussenparteien sowie deren Protagonisten und Mitläufern Gegenstand einer klugen kulturpolitischen Gegenkampagne werden könnte, durch welche, unter Einbezug der Medien, der Arbeitnehmerverbände, der populären Vereine, Organisationen, Jugendgruppen etc., diese Propaganda beeinflusst, vielleicht gar verändert und gestoppt werden könnte. Vermutlich bedürfte es zu diesem Zweck einer Vielzahl von kulturellen Projekten und Ermutigungen. Der Zweck ist letztlich die Verminderung der schädlichen Ambivalenzen der Kultur gegenüber, die Stärkung der Zustimmung zu einer Kultur des pluralen Zusammenlebens, mit anderen Worten, die Verhinderung einer Ausbreitung der „Wüste“, in der Wortbedeutung und im Sinne Hannah Arendts, die vor dem Zustandekommen menschenverachtender totalitärer Zustände unter formell demokratischen Bedingungen durch den Missbrauch der Sprache und der Menschen, durch Aufhetzung und durch Feindbildkonstruktion, durch die Legitimation von Gewalt, durch die – scheinbare – Integration sozial Desintegrierter etc. gewarnt hat (s. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, dt. 1962). BAK und Pro Helvetia sollten ihren Kulturauftrag in diesem Sinn auch als politischen Auftrag ernst nehmen. Kultur mag zwar „unbequem“ sein, aber sie ist die einzige Garantie für das freie, dialogische Nebeneinander einer Vielzahl von Kulturen und für das gewaltfreie, zukunftsfähige Miteinander einer noch grösseren Vielzahl von Menschen unterschiedlichster Herkunft.

 

 

Notizen zum Gespräch über Kulturpolitik in Allaman

  1. August 1998

 

Einleitend möchte ich festhalten, wie sehr mich das Zustandekommen und insbesondere das Gelingen des Gesprächs freute. Die Gesprächsatmosphäre war spürbar von Anerkennung, Sympathie und Interesse an einer besseren wechselseitigen Kenntnis geprägt, was den expliziten Wunsch nach gemeinsamer Arbeit

  • in Hinblick auf eine erfolgreiche Unterstützung des Abstimmungskampfes rund um den Kulturartikel (Art. 83) der revidierten BV und
  • in Hinblick auf eine nicht nur kurzfristige, sondern auch langfristige Sicherung und innovative Verstärkung der Kulturförderung glaubwürdig machte. Die ländlich-freundlichen – auch gastfreundlichen – Rahmenbedingungen, in denen Yvette Jaggi zur persönlichen Gastgeberin wurde, mögen zum Erfolg des Gesprächs ihren Teil beigetragen haben.

 

Ich werde im folgenden die wichtigsten Resultate des Gespächs zwischen den Vertreterinnen und Vertretern von Pro Helvetia (Yvette Jaggi, Bernard Cathomas, Rolf Keller) und BAK (David Streiff, Christoph Reichenau, Marc Wehrlin) sowie den vier externen Gästen (Lorette Coen, Daniel de Roulet, Christian Schmid und Maja Wicki) zusammenfassen, wie sie durch die Beiträge aller Anwesenden zustandekamen.

Von besonderem Gewicht erwiesen sich die folgenden Fragen:

(1) Welches ist die Bedeutung des Kulturartikels?

  • Was heisst „kulturelle Bestrebungen von nationalem Interesse“?
  • Welche Segmente der Kulturförderung haben Priorität (a) 1999, wenn Ruth Dreifuss Bundespräsidentin sein wird? (b) generell für die nächsten Jahre?
  • Wie ist „Subsidiarität“ (Bund, Kantone, Gemeinden, Private) zu verstehen?

 

Zu (1): Die Bedeutung des Kulturartikels / der Kulturartikel

Im grossen Ganzen bildete sich übereinstimmend die Meinung heraus, dass Artikel 83 der revidierten Verfassung die Bedeutung der Kultur auf massgebliche Weise verstärkt, auch wenn eventuell die Arbeit der zwei Institutionen selbst ohne diesen Artikel wie gewohnt weiterginge. Artikel 83 – ebenso wie die Artikel zu den Landessprachen, zur Medienfreiheit, Sprachenfreiheit, Kunstfreiheit, zu den Sozialzielen, zu Natur- und Heimatschutz, zu Radio, Fernsehen, Film und Bildung sowie zu den Sprachen – machen klar, dass Kultur nicht zur Disposition stehen darf, sondern eine nationale Aufgabe ist, deren Erfüllung sowohl dem Bund wie den Kantonen obliegt und deren Zweck in der Aufrechterhaltung, Aktivierung und Verstärkung der Demokratie liegt.

 

Zu (2): „Kulturelle Bestrebungen von nationalem Interesse“

Während es unter (1) um die formale Bedeutung, d.h. um die Zweck der/des Kulturartikel/s geht, konzentriert sich (2) um dessen inhaltliche Spannweite und Zielsetzung.

Bei der Zielsetzung geht es um eine menschlichere Gesellschaft, in der eine Verminderung der Polarisierungen, der Ausgrenzungen und damit der Gewalt anzustreben ist, um so das Zusammenleben der vielen verschiedenen Schichten der Bevölkerung zu verbessern, nicht im Sinn einer typisch schweizerischen Konsenstradition, sondern im Aushalten, ja selbst in der Förderung eines kreativen und innovativen Dissenskultur. Bei dieser Zielsetzung ergänzen sich zwei komplementäre – nicht widersprüchliche – Bereiche:

  • die möglichst breite und aktive Partizipation der Gesamtbevölkerung an der Kultur und

(b) die Förderung herausragender Einzelleistungen.

 

Um den Anforderungen beider Bereiche gerecht zu werden, bedarf es

kontinuierlicher, vernetzter und subsidiär abgesicherter, grosszügiger  Anstrengungen der Förderung und Ermutigung im Bereich

der Bildung generell, auf allen Stufen,

der Ausbildung und Weiterbildung der vielfältigen Künste und Kulturtechniken,

der sozialpolitischen Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern,

der Förderung der Sprachenvielfalt,

des qualitativen und quantitativen Ausbaus der Volksbibliotheken,

der innovativen Konservierung und Zugänglichmachung von Kulturgütern,

der kulturellen Verständigung, sowohl im Sinn

der  überregionalen Vermittlung (Städte und Landregionen) wie

der Übersetzungen wie

des Austauschs mit dem Ausland, sodann

der kulturellen Integration der sog. „fünften Schweiz“ (d.h. der vielfältigen ausländischen Wohnbevölkerung),

der grosszügigen Unterstützung von herausragenden kulturellen Leistungen wie

der Erstellung eines Kodex für das private Sponsoring

(ev. zusätzlicher Anstrengungen).

 

Als neues Instrument der Ermutigung für (a) wie für (b) liesse sich eine durch Ruth Dreifuss vorzunehmende jährliche nationale Preisverleihung für herausragende kulturelle Leistungen vorsehen. Dabei wäre die symbolische Bedeutung der Würdigung massgeblicher als die Höhe der Preissumme. Verschiedene Teilbereiche der Kultur sowie deren Schöpfer oder Protagonistinnen könnte dadurch ausgezeichnet werden, z.B. Literatur / darstellende Künste / Architektur oder Musik / Wissenschaft / soziale Kulturvermittlung (gewisermassen ein nationaler Friedenspreis).

Ebenfalls wäre eventuell die Einführung einer kulturpolitischen Ombudsstelle vorstellbar, welcher zusätzlich zur Prüfung von Klagen die Kulturkompatibilitätsprüfung der gesetzgeberischen Arbeit in anderen Bereichen zukäme, z.B. in den bildungspolitischen, sozialpolitischen, ausländerrechtlichen und anderen Bereichen.

Anzustreben wäre auch eine vermehrte und engere Zusammenarbeit mit dem EDA zum Zweck der Verbesserung des kulturellen Austauschs mit dem Ausland.

Die Gesprächspartnerinnen und -partner einigten sich nach einem längeren Austausch daraufhin, dass es weniger der revolutionären Impulse bedarf als einer reformatorischen Förderung des emanzipatorischen, kreativen und demokratischen Forschritts, mit anderen Worten, weniger der Utopien als der umsetzbaren Visionen.

Zu (3): Priorität bei der Förderung kultureller Bereiche

  • Während des Präsidialjahres von Ruth Dreifuss müsste auf spürbare Weise die Bedeutung der Kultur verstärkt werden, z.B. durch die erstmalige Einführung und Übergabe der oben genannten nationalen Kulturpreise, sodann durch den Einbezug der Bundespräsidentin in einen Gesprächsaustausch mit Gruppen ausgewählter Künstlerinnen und Künstler (darstellende Kunst, Bühnenkunst, Musik, Film), Schriftstellerinnen und Schriftteller aller Landessprachen sowie in der Schweiz wohnender und publizierender Ausländerinnen und Ausländer, mit Gruppen von Komponisten, Architekten und Wissenschaftlerinnen, sodann durch die Eröffnung zusätzlicher Volksbibliotheken in allen Sprachregionen und anderem mehr.
  • In Hinblick auf den zu erwartenden Abstimmungskampf um die revidierte Verfassung gilt es, ein Argumentarium für die Vertreterinnen und Vertreter beider Kulturförderungsinstitutionen und ev. angeschlossener Organisationen zu verfassen, damit für das Lobbying im Parlament wie für die Diskusssionen in der Öffentlichkeit und mit den Medien für die Annahme der Kulturartikel nicht widersprechende Gründe und Zielsetzungen propagiert werden. Dazu gehört auch die erneute stärkere Einbindung der SRG, insbesondere der Direktion des Fernsehens DRS, in den Kulturauftrag (s. Beilage).

 

Generell sollten die vielen kulturellen Ideen und Ermutigungen, sowohl in der Startförderung, Spitzenförderung, in der breiten kulturellen Produktion, Animation und Vermittlung sichtbarer gemacht werden, ev. durch eine intensivere Medienarbeit der zwei Institutionen, durch deren verstärkte Präsenz in der Öffentlichkeit etc.

 

Zu (4): Subsidiarität zwischen Bund, Kantonen, Gemeinden und Privaten

Zu den Aufgaben des Bundes gehören die unter (2) als von allgemeinem nationalem Interesse aufgeführten Bereiche, wobei ein Teil dieser Bereiche (Bildung, Ausbildung und Weiterbildung, Förderung der Startbedingungen für kulturelle Tätigkeiten sowie der Unterstützung herausragender Leistungen, Integration ausländischer Kulturen etc.) auch in die  Zuständigkeit der Kantone fallen. Da zumeist die Städte den grössten Teil der Kulturförderung, Kulturvermittlung und künstlerischen Produktion übernehmen, sind subsidiäre Leistungen der angrenzenden Gemeinden erfordert.

Der oben erwähnte, neu zu erstellende Kodex für das private Sponsoring soll verhindern, dass kulturelle Leistungen für partikuläre Werbezwecke und Firmeninteressen missbraucht werden. Innovative steuerpolitische Angebote wiederum sollen die Privatfinanzierungen von kultureller Produktion, Vermittlung etc. fördern (neben Spitzenleistungen z.B. auch den freien Eintritt in Museen, s. neueste Entwicklung in England, oder die bedeutende Reduktion von Eintrittspreisen in Konzerte, Opernaufführungen, so dass diese auch für die ärmeren Bevölkerungsschichten erschwinglich werden, und anderes mehr).

Fazit aus dem ersten kulturpolitischen Gespräch von Allaman ist, dass der Austausch weitergeführt werden soll, ohne dass zwischen den einzelnen Gesprächsterminen allzu grosse Intervalle bestehen, und dass die effektive gegenseitige Information und Zusammenarbeit verstärkt werden soll.

 

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