“Die Wahrheit ist zumutbar”, Podium 7. September 1997, Helferei Zürich, 17h

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“Die Wahrheit ist zumutbar”, Podium 7. September 1997, Helferei Zürich, 17h

 

zu (1)  Was passiert heute? – Nationale Krise (Krise – Moment der Entscheidung). Für ein Volk, ein Land nicht anders als für einen einzelnen Menschen, ist es schwer, die dunklen, verdrängten Teile der Vergangenheit quasi der “Familiengeschichte” – anzuschauen und die daraus erfolgende Erkenntnis mit dem Handeln in der Gegenwart in Übereinstimmung zu bringen. Die Schweiz hätte mehrere Chancen gehabt, eine gründliche Aufarbeitung aus eigener Initiative zuzulassen, ohne vom Ausland – resp. von einem amerikanischen Senator, dazu gedrängt zu werden, so etwa 1994, als der Bundesrat auf einen parlamentarischen Vorstoss von nationalrat Paul Rechsteiner zum Fall Paul Grüninger einging und bei dieser Gelegneheit sein “tiefes Bedauern” über die “unhaltbare rassistische Diskriminierung” von jüdischen Flüchtlingen durch die Schweiz während der Nazizeit ausdrückte. Oder anlässlich der verschiedenen Publikationen von Schweizer Historikern und Journalisten zur Haltung der Schweiz im Vorfeld und während des letzten Kriegs. Es ist schon lange bekannt, dass im Oktober 1938. Nach dem sog. Anschluss Österreihcs an Nazi-Deutschland und nach der Konferenz von Evian, wo klar wurde, dass kein europäisches Land jüdische Flüchtlinge aufnehmen wollte, der J-Stempel in den Pässen von deutschen Juden und Jüdinnen auf Betreiben der Schweiz eingeführt wurde; oder  dass im selben Jahr 1938, als das faschistische Italien verlangte, dass jüdische Kinder von den Schweizer Schulen in mailand und Genua auszuschleissen seien, Bundesrat Motta auf einen protest verzichtete, aus “finanziellen Gründen”, da die Schweizer Schulen auf italienische Kinder angewiesen seiene; oder dass im Sommer 1941 Bundesrat Pilet-Golaz auf einen parlamentarischen Vorstoss antwortete, Schweizer Juden im besetzten Frankreich könnten nicht mit der Hilfe der Schweiz rechnen, da halt überall im Ausland für die Juden ein “Sonderrecht” gelte; oder dass Schweizerinnen, Jüdinnen und Nicht-Jüdinnen, die durch Heirat mit Juden im Ausland, besonders in Deutschland, infolge der Rassegesetze staatenlos geworden waren, nicht wieder eingebürgert wurden, und vieles mehr. Das heute vielleicht schwer verständliche ist, dass der Bundesrat damals zugleich eine antisemitische und eine anti-deutsche Haltung vertrat, alles unter dem Deckmantel der Neutralität und der Verteidigung der nationalen Interessen der Schweiz.

Es geht heute also weniger um neue Erkenntnisse, die erschüttern, als um die Schwierigkeit, die Erkenntnis des falschen, schuldhaften Handelns einzelner Verantwortlicher, des mangelnden Widerstands vieler Einzelner gegen die tödliche Rassenideologie, des abgestumpften Gewissens vieler, die damls gehandelt haben, in hohen Positiionen oder in untergeordneten Stellen, es geht darum all dies in das Geschichtsbild zu integrieren und daraus Konsequenzen für ein besseres Handelen heute und für die Zukunft zu ziehen. Die Geshichte muss nicht neu geschrieben werden, sie muss lediglich in ihrer Gesamtheit angenommen werden. Was z.B. die Flüchtlingspolitik betrifft, so ist unbestritten, dass die Schweiz einerseits einer grossen Anazhl von Flüchtlingen Asyl gewährt hat, darunter ca. 28’000 jüdischen Flüchtlingen ein Transitasyl, dass sie jedoch mindestens 30’000 jüdische Menschen, darunter eine grosse Anzahl Kinder, an der Schweizer Grenze zurückgewiesen und dem Tod ausgelieferthat., Es gab dmals eine grosse Anzahl einzelner mutiger Menschen, die gegen das “Establishment” und dessen Politik gehandelt haben – Hauptmann Grüninger, Rösli Naef, Germaine Hommel und Renée Farny von der Rot-Kreuz-Kinderhilfe, die, weil sie jüdische Kinder in die Schweiz retten wollten, ihre Stelle verloren und – meines Wissens – nie rehabilitiert wurden, Anne Marie Im Hof-Piguet von derselben Institution, August Bohny, der Leiter des Kinderdorfes Chambon-sur-Lignon, Friedel Bohny-Reiter, die in Rivesaltes zur Deportation bestimmte Kinder und Erwachsene rettete, viele “passeurs” und “passeuses” an der Schweizer Grenze, die für die gejagten Flüchtlinge ihre Existenz aufs Spiel setzen, viele Menschen mehr, die Flüchtlingen Unterschlupf boten.

Die heutige zögerliche Anerkennung der dunklen und schuldhaften Anteile in der Geschichte durch das heutige “Establishments”, insbesondere durch einzelne Mitglieder des Bundesrats, geht einher mit einer ebenso – wie mir scheint – erneut fahrlässigen, unverantwortlichen Haltung in der heutigen Flüchtlingspolitik. Fast am selben Tag, als Bundesrat Arnold Koller die Gründung der “Solidaritätsstiftung” verkündete, wurde auch die Rückschaffung der bosnischen und sri-lankischen Flüchtlingsgruppen bekanntgegeben, trotz grosser begründeter proteste durch de Hilfswerke und die betroffenen Menschen. Ebenso gingen brutale Rückschaffungspraktiken algerischer Flüchtlinge durch die Presse. Bei der Bevölkerung muss die offen zur Schau gestellte Halbherzigkeit der Regierung und des wirtschaftllichen Establishments, insbesonder gewisser Banken, ein lähmendes Gefühl des Unbehagens und der Verunsicherung wecken, das nach Sündenböcken ruft, denn Halbherzigkeiten und Halbwahrheiten schaffen die grössete Verunsichrungen. Dafür müssen die Juden, insbesondere die jüdischen Organsiationen, nach altem Muster als Sündenböcke herhalten, auch die “Linken”, wiederum nach altem Muster. Denn dass die Opfer plötzlich aus den Reihen ihrer Nachkommen und anderer später Geborener starke Anwält haben, ist unbequem und lästig.

(2) Besondere Ausprägungen des Antisemitismus in der Schweiz? Der jüdische Bevölkerungsanteil der Schweiz war immer klein gewesen, wurde jedoch schon in den vergangenen Jahrhunderten als “jüdisch” von den katholischen und protestantischen Schweizern unterschieden, obwohl etwa im Surbtal seit dem Ende des Dreissigjährigen Kriegs, als seit Mitte des 17. Jahrhunderts, Juden lebten. Auch in Zürich lebten immer wieder einzelne Familien und wurden wieder vertrieben, aber bis 1862 hatten sie keine Niederlassungsrecht. Gesamtschweizerisch wurde mit der Bundesverfassung von 1848 nur den Bürgern christlicher Konfessierssionen die Gleichstellung vor dem Gesetz und die freie Ausübung der Religion zugebillligt. Erst die BV-Revisionen von 1866 und 1874 führten zur rechtlichen Emanzipation der Juden. Diese aber wurde ihnen als separater Gruppe wiederum nur mit Vorbehalten zugebilligt (Schächtverbot).

Mir scheint, dass der typsch “schweizerische Antsemititismus” damitzusammenhängt, dass in der Schweiz dieser ganze Emanzipationsprozess nur halbherzig stattfand, ja bis heute nicht wirklich stattfand (s. auch Frauen, Ausländer etcc.), da Emanzipation ja rechtliche Gleichheit überhaupt, völlig unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht etc., bedeuten würde. Dieser Mangel, der die  immer aufrechterhaltene Aussonderung, Fremdheit und Nicht-Zugehörigkeit mitbedeutete, hat sich auf schwerwiegende Weise in der 30er und 40er Jahren ausgewirkt, zumal er verstärkt und gesteigert wurde durch die alten anti-jüdischen Clichées christlicher Provenienz sowie durch die unkritische Übernahme der biologistischen-rassistischen Ideologien, die der Nationalsozalismus als zentrales Instrument der Herrschaft nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in Frankreich, Österreich, ja in ganz Europa mit äusserster Gewalt durchsetzte. Jüdische Flüchtlinge wurden nicht als Menschen in Not – Menschen wie alle anderen Flüchtlinge und wie die Menschen hier in der Schweiz – betrachtet, sondern als anders, als weniger oder sogar als nicht schützenswert. Zu untersuche gilt, wie diese Unterwerfung unter eine verbrecherische Ideologie zustandekommen konnte, wie es möglich war, dass trotz Kenntnis der extremen Bedrohung, der Vernichtung der Juden, das Gewissen stumpf blieb. Wiederum, warum heute, trotz der noch breiteren Kenntnis der Geschichte, erneut Antisemitismus, sogar in krudester Weise, öffenltich geduldet wird.

(3) Kirchen haben sich häufig mit Machthabenden verbündet, der alte Anti-Judaismus war ja auch eine Herrschaftsstrategie. Die eigene Herkunftsfamilie musste zum Feind gemacht werden, buchstäblich bemustzt und getöet werden, um eine eigene Identität zzu gewinnen – psychoanalytisch gesprochen das wohl tragiste ödipale Verhalten der Geschichte überhaupt.

(4) Margarete Susman, eine in Zürich im Exil lebende deutsch-jüdische Denkerin, sagte in den dreissiger Jahren, Antisemitismus würde es so lange geben, als wirschaftliche Diskriminierungen und soziale Ausgrenzungen von Menschen beständen. Rassismus und Antisemitismus in besonderen sind Ausdruck von Mangelerscheinungen in Hinblick auf die gleiche Zuerkennung des gleichen Menschseins, häufig auch unbewusste Übertragungen der eigenen ungeliebten, nicht erkannten Anteile in sich selbst. Bezüglich der Prävention eine stellt sich in erster Linie eine Bildungsaufgabe sowie eine Aufgabe der gesellschaftlichen – der politisch-rechtlichen wie der wirtschaftlichen – Nichtdiskrimierung von Menschen, die zusammenleben. Allein die Nicht-Diskrimierung ist eine wirksame Prävention von Ängsten, die an der Wurzel aller Rassismen, auch des Antisemititsmus stehen.

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