Die verlorene Sprache – Schädelhirntrauma und Rückkehr

Die verlorene Sprache

Schädelhirntrauma und Rückkehr

 

Vorgeschichten

 

Was geschieht, wenn wir lesen, was in Sprachen geschrieben ist, die wir zu verstehen meinen, und wenn wir dem von uns selber sprachlich Ausgesprochenem zuhören? Die Sprache gelangt an geheime Grenzen in unserer Seele, das Wissen vermehrt sich, wenn die Grenzen sich öffnen und das Mitgeteilte zulassen. Die während Jahrtausenden in den Körpern, Köpfen und Seelen anderer Menschen verborgenen und in Mitteilung übersetzten Geschichten, aus welchen die uns in der Kindheit vermittelte Sprache entstand, bauen sich in unseren Gefühlskästchen ein, dehnen sich irgendwie aus, werden spürbar und wachsen. Das Herzklopfen verstärkt sich schon in der frühen Kindheit, als entfalte sich die gelesene oder gehörte Sprache zur Trommelspielerin. So geschieht das Verstehen, und so spielten sich in Phine Paul die unzählbaren Geschehnisse aus den Jahren des Fremdseins in der frühen Kindheit ab, dann aus den Büchern, die sie seit der frühen Kindheit las, und aus den Beobachtungen, die sie machte wie aus allem Gesprochenen, das sie hörte, aus den gheimen, den schrillen und stumpfen, aus den flüchtigen und fliegenden Wörtern oder aus Sätzeüberflutungen.

Was geschieht, wenn wir hören, was uns in geheimen, verborgenen Höhlen beschäftigt, und wenn wir lesen, was uns aufwühlend selber bewegt in schlaflosen Nächten und unausweichlich das Denken besetzt am Tag? Was uns auf Grund eines Wissenshungers kopflastend ausfüllt? Was führte Phine Paul aus dem Hören und Lesen in weite, bewegende Reisen und ins wachsende Wissen ums menschliche Leben? Es waren knappe oder ausführliche Aufzeichnungen gelebter Jahre und verlorener Jahrzehnte seit dem Lebensbeginn von Frauen und Männern, auch Überlebensgeschichten einzelner und ganzer Jahrhunderte des herumgetriebenen Volkes, es waren Märchen, Gedichte und Lieder, Schilderungen von Kriegen und Nöten, politische Berichte und Entwürfe, Reisetexte und Romane, dann zahlreiche philosophische Theorien, auch Theorien und Erfahrungen aus dem Bereich der sich verändernden Psychiatrie, der Psychoanalyse, der Kunst, der Religionen, und immer wieder Briefe und knappe, manchmal merkwürdige oder gefühlvolle Kommentare des alltäglichen Lebens, ferner immer wieder Geschichten des menschlichen Schwebens zwischen gelebtem Leben und Tod, Krankheitsgeschichten, immer ein vielfacher Austausch ständig weiterwachsender Sprache. Möglicherweise werden geschriebene Texte zum Austausch, vergleichbar unvorhersehbaren Gesprächen, überraschend und wärmend oder vielleicht das Schmerzhafte bewegend, eventuell ein Aufklappen und Rückerleben der geheimen eigenen Geschichte, die sich im Unbewussten versteckt hält wie ein alter Infekt und sich dank der Sprache aufgespürt findet, der sich enthüllen kann und endlich zu genesen vermag.

Was ist die Bedeutung der eigenen Sprache, eventuell mehrerer vor dem ersten Erwachen tief gespeicherter Sprachen? Zu tiefst über unzählbare, weit zurückliegende und immer näher gerückte Generationen in den noch ungeborenen Menschen hineinübertragen und gespeichert, erwacht die Sprache schnell nach der Geburt, verstehend und sich manifestierend, und offenbart sie sich vorweg klarer, in den ersten, abzählbaren Monaten zuerst und dann in sich verändernden Jahren, zunehmend weiter und weiter, als Manifestation der das Menschsein und zugleich das eigene, persönliche Menschsein definierenden schöpferischen Freiheit, das Fühlen und Erkennen, das Erspüren und Denken mitzuteilen, zugleich nach Innen und nach Aussen den nahestehenden Menschen, der Mutter zuerst, dann dem Vater, einer Schwester, einem Bruder, zunehmend weiteren Menschen, vielen Menschen schliesslich. Tragisch ist die Tatsache der häufig schon früh festgeschraubten und immer stärker eingeschlossenen Freiheit der  unter Gewalt und Unterdrückung, unter menschlicher Abwesenheit heranwachsenden jungen Menschen, deren Sprache ebenso begrenzt und armselig ist wie deren schöpferische Welterfahrung und deren eigene Fähigkeit sprachlichen Ausdrucks. Und wenn sie körperlich erkranken? Kann das Wiederfinden und Neuentwickeln der früh erspürten, aber vorweg geplagten oder vernachlässigten Sprache die Genesung stärken? Mav spürte früh, dass die Sprache das Instrument der Seele ist.

Warum kam es bei Maja am 1. Dezember 1999 zum plötzlichen Weggleiten des inneren Kopfes und damit des lebendigen Lebens? Vorhersehbar war das Schädelhirntrauma nicht, auch nicht der Sturz auf der steilen Treppe, die vom Praxisraum zur Eingangshalle des alten Häuschens führt. Mavs Leben war zugleich einsam und überströmend von Wahrnehmungen und Aufgaben. Ihre Aktivitäten hatten sich in den vorangegangenen Jahren ständig weiter verstärkt und vertieft, und im Bereich der Empfindungen, des Denkens und des Handelns erschien ihr nichts, was sie bewegte, sinnlos. Allerdings erschwerten Erschöpfungsgefühle nach schlaflosen Nächten das Aufstehen in den frühen Morgenstunden. Seit Jahren dienten die Nächte dem Schreiben und Denken, die Tage den zahlreichen weiteren Aufgaben, alle verbunden mit dem bedrohten Menschsein. Die Aufgaben bestanden in Reisen, öffentlichen Reden und vielen privaten Gesprächen, in analytischen und therapeutischen Stunden, in politischen und kulturellen Einsätzen, und zugleich vor allem in den Kinder- und Grosskinderbegleitungen und mehr. Alle Tage waren bedeutungsvoll, erfreulich oder schwierig.

Tatsächlich erfüllte Maja Aufgaben im sprachlichen Handeln und in den Denkreisen, als sei ihre eigene Entwicklung jene mehrerer menschlicher Wesen. Trunkensüchtige Wichtigtuerei steckte keine dahinter, nein; das geheime Wissen um das kurze, begrenzte Leben liess ihr keine Ruhe zu. So hatte sich die vielfach lebendige Existenz wie ein wachsender Fächer entwickelt, und jeder Teil war aus der wachen und intensiv empfindenden Psyche gewachsen. Allerdings gab es seit der Kindheit und Jugend mäanderhafte, auch unglücksvolle Pfade, die begangen wurden. Dazu gehörte, wie bei ihrer nächsten Schwester in Paris, der schmale Weg gewählter und zugleich verletzender, herabsetzender Liebeserfahrungen, häufig kaum lebendig weiter begehbar, da auch die Kinder darunter litten, vier geliebte Kinder bei ihr, zwei bei ihrer Schwester. Doch die Freiheit, diese tief verinnerlichte Kraft des Menschseins, blieb ihr erhalten und erstarkte vorweg mit dem sich langsam wieder durchsetzenden Licht, nicht nur bei ihr allein, sondern auch bei den Söhnen und Töchtern. Diese waren klug und welthungrig, sie erlebten und erfüllten schwierige Aufgaben und hatten mit der Zeit Erfolg, als würde Purpur aus ihnen und vor ihnen wachsen, auf unterschiedliche Weise, wirtschaftlich und rechtlich, oder künstlerisch und genüsslich. Auch zwei Grosskinder waren zur Welt gekommen. Das erste schon sechs Jahre vor Majas Wegstürzen am 1. Dezember, schön, klug und auf eindrückliche Weise fähig, auch schwere Erfahrungen zu verarbeiten, und vertraut wuchsen beide auf, ohne Fremdheit.

Da Maja im Innern ständig auf ihre Töchter und Söhne lauschte, verstand sie, dass es ihnen nun vorweg gelang, die frühere Not zu verarbeiten und darüber hinauszusteigen. Sie empfand dies vorweg als Enthüllung der den Einzelnen eigenen Freiheit, und ähnlich erging es ihrer Schwester mit deren Sohn und Tochter. Es war, als würde der Lebensfächer die Öffnung anderer Abteile zulassen und so die lang bedrohlichen Einschränkungen überwinden. Aber was bedeutete dies? Ging es tatsächlich um andere Erfahrungen? Menschen begegneten Maja ständig oder suchten sie auf. Sie brauchten ihre Präsenz, ihr Verstehen und ihre Fähigkeit, das Weiterleben zu verbessern. Sie brauchten auch ihre Gefühle. Und ständig waren unzählbar viele Texte erfordert, erneut wissenschaftliche Erforschungen und soziale Überprüfungen, oder philosophische Vorträge und Vorlesungen, vieles mehr, ständig. Erholung oder gar Ferien ergaben sich kaum. Nach dem Wegstürzen von Maja teilten zahlreiche Personen mit, sie sei auf spürbare Weise erschöpft gewesen. Das war kurz vor dem sechzigsten Geburtstag.

Am Morgen des 1. Dezember behandelte sie drei Patientinnen, nachmittags um drei Uhr erwartete sie eine alte, psychisch leidende Dame, wenig später musste sie mit dem Zug in eine entfernte Stadt reisen, um dort abends um sechs Uhr einen Vortrag zu halten. Am Tag zuvor hatte eine Pressekonferenz stattgefunden, in welcher die menschliche Unzumutbarkeit und die rechtliche Unzulässigkeit einer staatlichen Wegweisung von zehntausend Zigeunern und Zigeunerinnen in ihre von schlimmster Gewalt heimgesuchte Heimat dargelagt wurde. Maja hatte erreicht, dass ein bekannter Jurist ein Gutachten über die Unzulässigkeit der Wegweisungen verfasste. Sie ging in einem Text, den sie in der Nacht zuvor verfasst hatte und den sie an der Pressekonferenz vortrug, auf die menschliche Bedeutung der Regierungsentscheide ein. Im Text hielt sie fest, dass unter den drei Kriterien, die bei einem Wegweisungsentscheid relevant sind – Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit – die menschliche Zumutbarkeit die sorgfältigste Prüfung verlangt, dass aber, entgegen der Definition der Zulässigkeit von Wegweisungen durch das Völkerrecht, auch entgegen der Abhängigkeit tatsächlicher Rückschaffung von praktisch-technischen Bedingungen (z.B. von sicheren Reiserouten, Visa etc.), die Zumutbarkeit allein durch das ungesicherte Ermessen der entscheidenden und verfügenden Instanz bestimmt wird. Daraus ergibt sich eine Anzahl auwühlender Fragen, die sie formulierte:

„Was aber ist einem Menschen zumutbar? Welche Lebensbedingungen sind zumutbar? Sind Hunger und Obdachlosigkeit zumutbar? Wieviel psychische und materielle Not ist zumutbar? Ist es zumutbar, dass schwere Traumatisierungen und alle daraus folgenden Leiden asylrechtlich als belangloser eingestuft werden, wenn sie entweder nicht durch staatliche Organe oder nicht im Rahmen eines – zahlenmässig – grossen Massakers zugefügt wurden? Ist es Menschen zumutbar, allein wegen ihrer familiären Herkunft Hass, Gewalt und Ausgrenzung erdulden zu müssen, immer erneut vertrieben und gejagt zu werden? Ist es Menschen zumutbar, in ein Land zurückgeschickt zu werden, in welchem die Plünderer und Brandschatzer ihrer Häuser, die Vergewaltiger und Mörder ihrer Angehörigen oder ihre eigenen Peiniger entweder nicht belangt oder von den Gerichten frei gelassen werden? Ist Kindern die ständige Demütigung, die Angst und Hilflosigkeit der Eltern zumutbar? Ist Kindern zumutbar, keine Schule besuchen zu können, keine Medikamente zu erhalten, wenn sie krank sind, von anderen Kindern ständig geplagt und schikaniert zu werden, nie das Gefühl von Sicherheit zu erleben?“

Nach der Verdichtung der Fragen ging sie auf den bedrohlichen, aber noch korrigierbaren Entscheid der Regierung ein: „Unzulässig ist eine Rückschiebung, heisst es im Gutachten, wenn die Bedingungen im Herkunftsland unmenschlich sind. Was ‚menschlich‘ und was ‚unmenschlich‘ ist, definiert sich jedoch nach dem gleichen Menschsein der Menschen. Das Menschsein ist das gleiche in der Pluralität der menschlichen Differenz, unabhängig von Pass, Herkunft, Kultur, Hautfarbe, Religion etc., auch unabhängig vom asylrechtlichen Status. Daher müssen asylrechtliche Massnahmen, insbesondere Ausweisungen, Rückschiebungen, jedoch auch ständige existentielle Verunsicherung durch prekäre provisorische Aufenthaltsbedingungen, als unmenschlich – mithin als unzulässig – beurteilt werden, auch wenn sie in Abhängigkeit von Pass, Herkunft, politischem Status etc. als zumutbar deklariert werden. Wenn dies stattfindet, d.h. wenn die asylrechtliche und fremdenpolizeiliche Praxis Identitätskriterien auf massgebliche Weise zu einer Differenz des Menschseins werden lässt, wenn existentielle Not und Bedrohung, Demütigungen und Diskriminierungen, psychisches Leiden und physische Mangelversorgung für Fremde, zum Beispiel für Roma, als zumutbar erklärt werden – Bedingungen, welche die zuständigen BeamtInnen für sich selber, für ihre Kinder und Angehörigen, ja vermutlich für alle SchweizerInnen als völlig unzumutbar abweisen würden -, handelt es sich nicht nur um völkerrechtlich unzulässige Massnahmen im Asylrecht, sondern um die Reproduktion einer ethnizistischen, rassistischen Differenzpraxis, die zur Verfolgung und Vertreibung der Asylsuchenden in ihren Herkunftsländern geführt hat. Denn die entscheidende Frage ist, ob Menschen aus einer anderen Herkunft und Kultur, aus einer sogenannt „anderen Ethnie“, Anderes zumutbar ist als uns SchweizerInnen. Ob fremden Kindern zumutbar ist, was den eigenen Kindern absolut nicht zumutbar wäre.

Die Zumutbarkeit – und damit die Zulässigkeit – von asylrechtlichen Massnahmen ist daher eine Frage der Ethik. Verantwortlich für die Wahrung oder die Verletzung ethischer Normen ist nicht nur die Regierung, sondern auch die ihr untergeordneten Instanzen wie die einzelnen BeamtInnen. Was zumutbar ist, bedarf einer sorgfältigen Prüfung, damit nicht in den einzelnen Entscheiden Schuld entsteht. Das Instrument für diese Prüfung ist die persönliche Vorstellungskraft.“

Am Ende der Pressekonferenz teilte der Chef der Flüchtlingsregierungsabteilung mit, die Romas dürften bleiben, tatsächlich während Monaten, eventuell länger. Im Frühjahr werde die Frage einer eventuellen Rückweisung erneut sorgfältig untersucht[1]. Für Maja bedeutete dies eine befreiende Erleichterung, vermutlich damit verbunden eine psychische Erlaubnis, verschwinden zu dürfen.

Allerdings muss noch eine weitere Geschichte kurz erzählt werden, bei der es um eine aus dem Unbewussten sich äussernde Warnung vor dem Wegrutschen aus dem lebendigen Alltag ging. Kurz vorher hatte Maja einen Artikel über Gesundheit und Krankheit verfasst[2], der mit einer knappen Darstellung einer Todeserfahrung in der Kindheit beginnt. Keine Überlegung, auch kein Plan ging der Aufzeichnung voraus. Sie hielt fest, was sich im äusseren wie im geheimen Zusammenhang aufdrängte. „Was prägt das Wissen um Gesundheit und Krankheit?“ schrieb sie und hielt fest: „Frühe Kindheitserinnerungen an Versehrungen und Genesungen, spätere selbsterlebte und miterlebte Erfahrungen, die Kenntnis von Theorien und Technologien seit ältesten kulturellen Dokumenten bis heute. Trotzdem stellt sich die Frage immer wieder neu: Was heisst Gesundheit ? Was bedeuten Gesundsein und Kranksein? Was heisst Krankheit?“

Dann fuhr sie fort: „Als ich sechs Jahre alt war, ein Jahr nach Kriegsende, wurde ich von einem Auto angefahren, fiel in tiefe Bewusstlosigkeit und lag in der Folge während vieler Wochen mit Knochenbrüchen und offenen, schwer heilenden Wunden im Krankenhaus. Die Eltern hatten sich ins Ausland begeben, endlich war es wieder möglich zu reisen, und als ich plötzlich nach einer zeitlos-elternlosen Zeit die Mutter auf der anderen Strassenseite erblickte, zurückgekehrt, lebendig vor mir, gab es keinen Bruchteil des Überlegens und keine Vorsicht mehr, und blindlings stürzte ich über die Strasse ihr entgegen.

Es war ein heisser Sommer. Ich erinnere mich, dass ich sagen hörte, in ganz Europa gebe es keine grüne Wiese mehr. Ich musste regungslos auf dem Rücken liegen, konnte mich weder aufsetzen noch mich drehen, ein Bein war an einer Art Galgen aufgehängt und zugleich mit einem schweren Gewicht beschwert, damit es sich nicht verkürzte. Der Rücken wurde wund vom Liegen, ich fürchtete mich vor den Verbandwechseln. Ich weiss noch, wie ich mir vornahm, nicht zu weinen und nicht zu wimmern. Um ‚tapfer‘ zu sein, hatte ich verschiedene Methoden entwickelt. Ich presste die Daumen zwischen den dritten und vierten Finger, schloss die Hände zur Faust und hielt möglichst lange den Atem an. Das verlangte so viel Konzentration, dass ich mich selber vom Schmerz ablenkte. Oder ich konzentrierte mich ganz auf die Details im Gesicht des behandelnden Arztes, zählte die Brauenhaare, die braunen Flecken an der Stirne, betrachtete genau eine Warze und oder die Iris der Augen. Oder ich schloss die Augen und fixierte mich auf den Schmerz selber, wie auf einen glühenden Punkt, und versuchte herauszufinden, wie tief in mich hinein er ging. Nachher war mir manchmal, als sause ich durch einen roten Tunnel. Es waren verrückte Übungen für eine Sechsjährige, von denen ich niemandem erzählte.

Neben mir lag ein kaum viel älteres Mädchen unter einem Drahttunnel auf dem Bauch. Wir blickten einander manchmal an, aber wir sprachen kaum. Ich wusste, eine Pfanne mit siedend heissem Öl war über es gekippt, und das Mädchen war an Schultern, Rücken, Gesäss, Beinen und Füssen, auch teilweise an den Armen und Händen buchstäblich gehäutet. Ich spürte, dass sie noch mehr litt wie ich, viel mehr. Den Rest des Zimmers nahm ich nicht wahr, ich wusste nicht, wer in den anderen Betten lag und warum. Die Betten wurden manchmal aus dem Zimmer gerollt und wieder hineingeschoben, Schwestern, Ärzte und gewöhnliche Erwachsene kamen und gingen, auch Vater oder Mutter, brachten Aprikosen, manchmal ein Eis, standen eine Weile am Bett, streichelten mir die Wange und wussten nicht, was sie mir sagten sollten. Irgendwie war mir klar, dass das Mädchen neben mir und ich nicht mehr zur Welt der Kinder gehörten, auch nicht zur Welt der Erwachsenen, sondern dass wir uns an einem Ort ausserhalb der Welt befanden. Wir waren nicht selber dahin gegangen, es war nutzlos, wenn wir uns sträubten, wir hatten keine Wahl, wir waren an unsere Betten festgeschraubt, es gab nur dies, Tag und Nacht, den ganzen Sommer lang.

Als die Schwestern an einem Morgen das Bein aus dem Galgen lösten und es neben das andere Bein legten, betrachtete ich es aufmerksam. Ich erkannte es nicht mehr. Es war dünn, unförmig und voller Narben. Es war unbrauchbar geworden. Es konnte mich nicht mehr tragen. Ich konnte damit nicht mehr gehen. Ich fühlte mich elend, immer noch in der anderen Welt, obwohl ich nach Hause entlassen worden war. Dazu kam, dass sich meine „Methoden“ verbraucht hatten, es fiel mir nichts mehr ein.

Es war ein zwölfjähriger Junge aus Wien, der diesmal die „Methode“ erfand. Als ich nach Hause gebracht wurde, war er da, und drei Monate später musste er wieder weggehen. Er baute für mich eine Seifenkiste. Er setze mich hinein und ich durfte die steile Strasse neben dem Haus heruntersausen. Unten angekommen, musste ich mich aufrichten und die Kiste wieder den Berg hinaufstossen. Anfänglich ging es bloss Zentimeter für Zentimeter, das Bein taugte nichts, zitterte, wusste nicht was tun. Ich war kraftlos. Immer wieder setzte ich mich. So eine Erschöpfung war das, ich erinnere mich. Mit seiner Hilfe und seinem Zuspruch richtet ich mich wieder auf. Er war wortkarg, aber ich lernte schnell sprechen wie er. Schliesslich, welch grosses Gefühl, als ich mehrere Schritte hintereinander schaffte!

Der Junge hatte blondes Haar und braune Augen. Er lehrte mich wieder gehen, er lehrte mich wieder lachen. Er holte mich mit der Seifenkiste in die Welt der anderen Menschen zurück“.

Als der Text fertig geschrieben war, auch die darauf folgenden Auseinandersetzungen mit anderen Texten, mit literarischen und wissenschaftlichen, fiel sie am Nachtende für drei Stunden in einen tiefen, erholenden Schlaf.

Dass ihr die Geschichte wieder präsent wurde als eine vom Unbewussten formulierte Warnung, auf sich acht zu geben, wollte Maja nicht wahrnehmen, nicht als sie diese schrieb und mit Überlegungen zur ständigen Gleichzeitigkeit von Gesundheit und Krankheit verband. Fühlte sie sich selber immun? Immun und zugleich ausgeschlossen von den Alltagssicherheiten des in einer verlässlichen Beziehung gelebten Lebens? Wählte sie daher ein vor Jahrzehnten gelesener Satz von Arthur Schnitzler als Titel aus? Dieser heisst „Der Immune ist im gewissen Sinn auch ein Ausgeschlossener“. Doch sowohl die traumatisierenden Verletzungen in der Kindheit wie die schwerwiegenden Ereignisse an jenem Mittwoch, dem 1. Dezember 1999, lösten ihre Immunität auf, auch ihre Ausgeschlossenheit, während der langen Wochen der erforderten Pflege in den Krankenhäusern, auf knappe, aber weiterführende Weise nach der Rückkehr in die herkömmlichen Lebensräume, die noch gleich eingerichtet waren wie vor dem Weggleiten.

Anders als in der Kindheit hatte Maja wenige Tage nach dem Erwachen aus der zwei Wochen dauernden Todesgeschichte begonnen, in der Klinik, in der sie sichbefand, alles, was sie empfand und was sie dachte, in einem Heft aufzuschreiben, in den ersten Tagen und Wochen nur einzelne, schwer lesbare Worte, immerhin vorweg weniger zusammengepferchte Buchstaben und mehr Zeilen. Ein grosser Teil der in ihr aufgebauten Sprachen war  weggerutscht. Zur Aphasie kam der kaum aushaltbare Schmerz, der im Inneren des Kopfes wütete. Eine Brille konnte sie während längerer Zeit nicht tragen, da der Kopf ihr zu platzen schien, wenn sie diese aufsetzte. Aber das Schreiben, das vorweg leichter wurde, die Übersetzung des Denkens in Sprache bedeutete eine Rückkehr ins lebendige Leben.

Die sich auf drei Monate verteilenden Aufzeichnungen werden nun wiedergegeben, so wie sie sich vorfinden, ohne Korrekturen, höchstens mit Auslassung von Wiederholungen.

 

Geschichte des Genesens mit Hilfe des Schreibens

 

  1. 12. 1999

Pif-pav-puv. So war das Leben plötzlich eine unklare Zustimmung. Alle Klarheit unklar. Leben? Tod?

Was wurde mir vorgegeben? Eine wunderbare Erfahrung des Wegfallens. Kurz und ohne sichtbare Geschichte. Leben oder nicht mehr leben, das musste das unklare, innere Entscheiden übernehmen. Für vier Kinder habe ich alles als zeitlose Erfahrung des Zukurzkommens, der Schwierigkeit, der Erfahrung des Boshaften ins Auge gefasst und ausgehalten, und nun ist es für sie gut. Sie boten mir die klare Angabe des weiteren Lebens.

  1. 12. 1999[3]

Erstmals wieder ein Festhalten des Lebendigen. Voller Dank und Wissen um die Begrenztheit des  Lebens.

Am 1. 12. 99 geschah die linksseitige Hirnblutung, Bewusstsein und Ende, es geschah im geheimen Kopf. Eine Woche lang leben oder nicht mehr leben.[4] Die vier Kinder kämpften im Spürbaren, in der Spitalordnung, in der Wahrnehmung von Kopf und Hirn und kaputtem Körper und Atem, spürbarer Unklarheit des lebens, wie nur, welche Aushaltung, welche Bedeutung.

Das Leben überwog. Wie weiter? Welches Wissen? Welcher Wert?

Eine Woche lang waren Leben oder Tod unklar, der innere Kmpf spielte sich sich irgendwo ab, mit der Zeit war das Wissen um die vier Kinder klar, 4mal spürbar und ich war wieder lebendig, erschöpft, die vier Kinder voller Liebe.

  1. Dezember 1999

Das Vermögen zu denken und zu sprechen ist unklar.

Der Kopf ist krank, belegt die Realität. Die Realität der Sprache ist eingeschlossen. Ich versuche zu arbeiten

Was geschah, ist der gute Tod, eine schöne, klare Zufriedenheit und eine Gegenkampfhaltung, die mit dem Wissen um die vier Kinder plötzlich bereit war, sich einzusetzen. Das Leben als begrenztes Leben. Die Liebe als Nahrung. Die Erfahrung der Liebe als weite Erkenntnis der zeitlichen Begrenztheit. Das weit sich auswirkende Leben als fraglose Sicherheit der Liebe.

Die Klinik Zihlschlacht. Von mir[5] vier oder fünf Tage lang fragwürdig, voller fremder Merkwürdikeit und Bedingtheit. Geisitg fragwürdig. Es fanden die Tage statt und die Nächte. Die merkwürdigen Verantwortlichen, die Unklarheit ihrer Haltung und ihrer Behandlung. Vier oder fünf Tage. Von mir das klare Verlangen von Respekt. Vier oder fünf Tage ein schwieriger Kampf, trotz dem Unverfügen, trotz der kaputten Gefühlsbereiche im Kopf und im Körper, links und rechts verschieden, mit dem Ausfallen des Verstehens, dem Kopf, der Sprache, der Worte und des Sprechens, mit dem merkwürdigen Zerbrochensein des rechten Teils des Körpers, des Gehens, des erwachsenen Körpers. Unklar die Bezeichnung der Krankheit.

Nach vier oder fünf Tagen war ich bereit, die Angebote der Behandlung anzunehmen und die armen Menschen auf dem Gehsteig zu sehen und zu erkennen. Alle grüsse ich, wenn ich an ihnen vorbei gehe. Sie sind still und schauen mich an. Sie sind mir nahe.

Ständig bin ich erschöpft. Der Kopf hat geheime Programme. Ich nehme sie an. Ich lasse sie zu. Die Farben und die Sprachen sind im Verborgenen geheim. Manchmal eröffnen sie sich als Angebot, wie ein Spiel. Dann sind sie wieder geheim.

Der Kopf ist ein Schmerzvorgehen.

Während der Stunden am Tag ist eine Bereitschaft der Zusammenarbeit freundlich. Nacht aber, wenn das Licht löscht und von draussen der Schnee leuchtet, lässt der Kopf den verrückten Schmerzplan zu.[6] Der Kopf wird heiss und wächst. Eine langsame innere Kämpfung der Kopfgeschichten. Was heisst, wieder gesund werden? Kindheit und Altsein kümmern sich nicht ums Erscheinen. Ich bin in der Fremde, das Lnd ist ländlich und fremd, der Winter ein goldenes Licht.

Die Augen wurden untersucht. Eine freundliche Kennerin der Augen prüfte links und rechts und herunter und hinauf und alle Vorgaben und Möglichkeiten des Erkennens. Der Kopf war zum Teil lustig bereit und zum Teil war er dagegen. Die Unfähigkeit und die Schmerzen kommen als Angebot vor. Das teile ich mit. Es zeigt sich auch im besonderen Prüfangebot. Da muss ich Klares erkennen, benennen, oder das Falsche drückt sich aus. Blau, gelb, grün, weiss und rot, runde kleine und grosse Formen und viereckige Angebote wechseln. Ich mache im Erkennen Fehler und bin schlau. Aber das Rote, das bedeutende Rote, das halte ich verborgen. Ich trage das wunderbare Stück Tuch, nachts und tagsüber, immer wunderbar weich und warm und mich schützend. Der Körper weiss auch nicht Bescheid. Rechts spielt der Körper dagegen, und links der kranke Kopf. Ich halte stand.

  1. Dezember 1999

Die Nacht, die Nacht, Stunden, Kofschmerzen, Kopfschmerzen, unsäglich zunehmende Kopfschmerzen, vorn, hinten, links, der Kopf steht eine Auseinandersetzung durch, er hält sie aus, ich beobachte, und irgendwie geht der Kopf ein Stück weiter. Das ist links. Das Wissen ist Aufgabe, Aufmerksamkeit gehört ur Aufgabe, Beobachten, Wahrnehmen, Bereitschaft. Krankheit darf nicht geleugnet werden, wird von mir erkannt, genannt, bezeichnet, beobachtet. Die Veränderungen finden im Geheimen statt. Zum Beipsiel sind die Telefone mit den Kindern wie eine wunderbare Nahrung. Ihre Liebe ist das Leben.

  1. Dezember 1999

Die Nacht ist die die Zeit des eingetauchtzen Schnees. Die Menschen sind hier beschützte Gegenstände. Der Schnee draussen ist eine weite Abgeschiedenheit. Autos fahren vorbei in die Fremde. Unbeteiligt sind hier alle Kranken.

Die Beobachtenden, Sorgenden und Heilenden kommen aus dem Schnee in die Abgeschlossenheit. Ich sehe im Spital viele tief verlorene Kranke, Frauen, Männer. Ich grüsse sie, wenn ich von meinem Zimmer mich langsam vorwärts bewege, den Körper langsam Schritt für Schritt bewege, beim Sehen alle Betroffenen und Erschütterten erkenne. Ich grüsse sie. Meine innere Zerstörung ist in der Rückbildung, schmerzlich, spürbar, Stufe um Stufe. Ein nahes, spürbares Fremdleben. Ich bin dankbar. Schritt für Schritt muss das Lebendige vom Tod wieder fortgehen. Niemand kennt die Zeit. Alter und Kindheit sind ein vorweg sich offenbarendes Lernen. Wieder bin ich am Lernen.

  1. Dezember 1999

Der Arzt zeigte mir gestern die Kopfuntersuchung resp. die Bildbelege, die in Zürich im Spital nach meinem Fall gemacht wurden, Kaputtheit und Störungen, die ich tatsächlich sehr empfinde, in der nacht und am Tag.

Tagsüber finden Lernstunden statt, die Wörter lerne ich wieder, die Erinnerung an Texte, die ich lese, vorweg verstehe und vergesse, nicht erinnere. Sätze werden erinnert, Schritt für Schritt, Satz für Satz, Worte werden geübt, manchmal gelingt es, manchmal fehlt mir jedes Wissen und der Kopf tut weh, eine Mischung von Spital, von Wissen, Verwahrung, von Verborgenheitsort, vom gestützten Aushalten der knapp und verborgen Überlebenden. Ich gehe langsam durch die Gänge und sehe die abwesenen, die fernen Überlebenden.

Langsamens Wiedererkennen, wiederbegegnen, Wiedererleben, ein langsames Wiederwahrnehmen und Lebendigerfahren. Was die Kinder betrifft, gibt es keine Unsicherheit. Die Schmerzen und das Schwere, das sie aushalten mussten, füllt mich aus. Noch gibt es keine Sicherheit ihres gesicherten Lebens. Die Liebe und die Hoffnung sind das lebendige Leben, und die Hoffnung, dass sie selber gelernt und erfahren haben, wie wichtig die Rücksicht auf den Lebensplan und die Sorgfalt ist, dass sie es durch die Fragestellung des Lebens gelernt haben, bewegt mich sehr. Alles ist schon nicht mehr selbstverständlich.

Die unendlichen Anforderungen an F. spüre ich. Wie nur kann sie verstecken und einrichten, dass sie innere Stärkung braucht? – dass sie Erholung braucht? Sie mag das von mir nicht hören. Wie wird sie erkennen und verteidigen, was sie braucht? Mir hilft sie nahe.

Es ist Weihnachtsabend. Im Spital geht der Tag zu Ende. Es ist kein Singen und Beten. Bei allen Menschen ist der Wert des Überlebens wie die Unterstützung von Tag und Nacht. Den Kindern habe ich kleine Geschenke besorgt, Tag für Tag war ein liebevolles Wahrnehmen, nun während Wochen in mir geheimes Erhalten des Lebens, allmählich ein bedeutungsvolles wissen.

  1. Dezember 1999

Ein besonders schöner und warmer Abend mit J., A. und S., Weihnachtsabend, Festabend, köstliches Essen mit getrocknetem Fisch und wunderbarem Salat und köstlichen süssen Desserts. Sie brachten ein kostbares Tischtuch und Geschirr mit, tischten hier (auf) und wir sassen drei Stunden zusammen, und das Kind, der liebevolle, kluge, lustige, spielerische Bub, war mit dabei. Ich erhielt zwei weiche, kostbare Pullovers, das Geschenk hat mich sehr ergriffen. J. und A. sind liebevolle und wunderschöne Menschen geworden. Lange schlief ich nicht ein.

Der Kopf ist heute morgen nicht gut beisammen. Die Schmerzen sind merkwürdig heftig. Mir fallen innere Gestalten ein, die sich in der Woche des unsicheren Überlebens auf böse Weise in mir kämpferisch und mit ständigen Angriffen gezeigt haben, einer vor allem, Beine, ein Gesicht mit gemeinem offenen Mund, eine wechselnde Verdrehtheit, hilflos war ich gezwungen, geplagter Gegenstand, wie gezwungen gequält, ausgesetzt unfrei, gefangengenommen, festgebunden und gequält. Tag und Nacht war das so. Die vier Kinder befreiten mich. Auch war ein holländischer Mann dort, der immer wieder nach mir schaute. Wenn ich am Ersticken war, brachte er mir etwas zu trinken. Einen Schluck konnte ich trinken, es war dickflüssig, schwer gesalzen oder unschluckbar dick, dann war ich wieder der bösen, quälenden verssteckten Gestalt ausgesetzt, steif angebunden. Immer wieder wurde ich unter der Plage bewusstlos. Was war es? Ich hatte den guten, mit hellem Licht mich begleitenden Todesmoment in der Praxis überlebt, aber die Seele musste das qualvolle Geplagtsein im Verborgenen aushalten. Nach einer Woche wusste ch, dass ständig die vier Kinder gekämpft hatten. Ihre Liebe bedeutete das Leben, bedeutete die Rückkehr ins Erkennen. Und Moment für Moment war verbunden mit langsamem Erkennen und tiefer, alles begleitender Dankbarkeit. Heute morgen muss ich immer wieder weinen. Die Kopfschmerzen und das tief spürbare Üerleben halten mich eingeschlossen.

Draussen tönen Glocken. Es regnet. Der Schnee schmilzt weg in die Erde. Ein Tag

Der Tag ist frei heute, keine Kurse. Eine Zeitlang habe ich gelegen. Ich musste weinen. Der Kopf schmerzt plagerisch, auch der Körper gibt sich blöd schmerzhaft. Im Bewusstsein resp. in der wieder vorhandenen und spürbaren Erinnerung ist J. da, seit seiner lebendig geglückten Geburt und Kindheit, seiner in der frühen Kindheit so liebevoll spielerischen Verbundenheit mit mir, so ein glückhaftes Wachsen, Lernen, Spielen, Gegenwärtigsein, so ein wunderbares Leben. Vor ihm, vor der Schwangerschaft und der mit Angst erwarteten Geburt war ja mein Kind, mein kleines Mädchen, zur Welt gekommen und gestorben, Zuerst lebendig und nach kurzer Zeit tot. Warum dieser entsetzliche Schmerz? Ich musste ihn allein, in der nahen, besonderen Lebensliebe mit B. und Ch., meinen zuert geborenen Kindern, aushalten. Es war ein tiefer innerer, nie heilender Schmerz. Als ich wieder schwanger wurde und zusammen mit den lebendigen und wunderbar lernenden und sich mit mir im Spüren und in den lebendigen Gefühlen verbundenen, erstgeborenen B. und Ch. die Geburt angstvoll erwartete, und als J., der kleine Knabe, lebendig und gesund zur Welt kam, war ich tief dankbar. Gestern in der Nacht,  war die erlebte Lebendigkeit des so wachen und beziehungslebendigen S.[7] die tief spürbare Rückkehr in meine Erfahrung und frühe Liebe, in die lebendige, sogar ähnliche Entwicklung des neu geborenen J. und dem frühen, gemeinsamen, ungleichen Lebenlernen mit Ch. und B., immer in der so tiefen Verbindung mit mir. Und als ich nach drei Jahren nochmals schwanger wurde und die Geburt erneut mit Unsicherheit und Angst erwartete, als das wunderbar zarte und gesunde Mädchen zur Welt kam, das ich F. nannte, weil der Tag der Geburt auch in meinem Wissen ein lustvoller französischer Festtag war, als ich mich  unterbinden liess und nach wenigen Tagen wieder mit B., Ch., und J. mit dem neu geborenen Kind zusammenleben wollte, war ich dreissig Jahre alt und mit den vier Kindern in einer tiefen und geheimnisvollen Lebendigkeit. Wir waren zu fünft eine tiefe, geheimnisvoll begründete, lebendige Gruppierung. Zwar war das Eheleben unendlich schwierig, und mein früher und ständiger Kampf um seine Liebe blieb geplagt durch ihn, dem sie lästig war. Das ging viele Jahre so, die vier Kinder litten unter der qualvollen Plagerei und unter seiner ständig spürbaren Wut und unter meiner Abhängigkeit und unheimlichen Traurigkeit. Aber meine Liebe für die vier Kinder, die in der Nacht manchmal alle vier zu mir kamen, wenn ein Traum sie erschreckte, die mit der sich verändernden Schulbedingung eine ungleiche Geschichte erlebten, schwierig, merkwürdig, F. noch verspielt in der Kindheit, B. und Ch., auch J. in verschiedenen, zum Teil merkwürdigen Klassen, blieb der Hintergrund und der Untergrund, auch später, in der schwierigen und insbesondere bei Ch. und F. bedrohlich merkwürdigen, gefährlichen Entwicklung in der Jugendzeit, in der Entwicklung zum Erwachsenwerden, das ständige Festhalten am Wert ihres wunderbaren Lebens.

Die ganze Nacht hindurch wurden mir diese Jahre wieder bewusst. Immer wieder führte mich die Erinnerung an eine aufwühlende, tief schmerzende Erschütterung. Das Weinen stellte sich ein, und immer wieder gab es der Erinnerung eine tatsächliche Nähe. Was war bloss geschehen? Wie hatte ich ausgehalten, verteidigt, begleitet, geheimgehalten, offen begleitet, unterstützt in den vielen Jahren? Was kam daneben zustande an Verpflichtunen und Erfahrungen? Keine Beziehung war so wichtig wie diejenige mit meinen Kindern. Viele waren Blumenrauch und Enttäuschung, immer wieder. Die Kinder aber in ihrer eigenen, während Jahren schwierigen Entwicklung, bei Ch. und F. verbunden mit sehr schwierig aushaltbaren Abhängigkeiten und Plagen, die mir schlaflosen Kummer machten, immer mit der gleichzeitig tiefen Verbindung im sich fortsetzenden Leben in ihnen, in ihrem Geheiltwerden, waren meine innere geheimnisvolle Bedeutung, die Bedeutung meiner Liebe. Immer zählte ihr wachsendes Leben.

Ich sehe in dieser Abteilung die vielen schwer geplagten Menschen. Ich grüsse jeden beim Vorbeigehen und beim Begegnen auf dem Weg. Langsam gehe ch täglich mehrmals an ihnen vorbei. Bei den meisten ist das Leben nur noch teilweise, in einem merkwürdigen Restchen lebendig. Sie nehmen teilweise wahr, teilweise nicht, sie leben beängstigend oder abwesend abseits. Die meisten sind still. Die Sprache ist eingestanden, manchmal der Blick. Was sind Unfälle, Schlaganfälle, Erschütterungen für das fragwürdige Leben? Was stellt sich ab, obwohl der Atem und der Körper noch in einer merkwürdigen Granzung fortbestehen? Was bedeutet die sich anzeigende Lebensgrenze und Todesankündigung? Knappe Zeitspanne, zeitlich begrenzt, ich weiss nun auch. Das Leben wird jedem Menschen, unabhängig vom Alter, abgegrenzt und aus einer merkwürdigen Ordnung heraus zum Tod geführt. Der Sinn des schöpferischen Lebens, die Gestaltungsmöglichkeiten des Erkennens und Fühlens, das Spürbare und Erfahrbare der Beziehungen, die in der Welt sich durchsetzende Gewalt, das von Aussen sich offenbarende, sich durchsetzende böse, gewalttätige Angreifen, Verletzen und Töten – die so oder so sich entwickelnden Beziehungsmöglichkeiten werden mir bewusst, nah, ohne Begrenzung. Es ist erstaunlich und wichtig.

Neben meinen Kindern, die mich retteten, und den wunderbaren Grosskindern treten allmählich wieder einige Freunde und Freundinnen in meiner Präsenz nahe.

 

[1] Mitte März 2000 gab die Regierung öffentlich bekannt, dass, gestützt auf die Abhandlung, die Ende November vorgelegt wurde, die Roma-Flüchtlinge aus Kosovo noch eine längere Zeit in der Schweiz bleiben dürfen.

[2] MOMA,  Monatsmagazin für neue Politik, 1.2000

[3] Die erste Aufzeichnung machte Mav auf einem Blatt Papier, das ihr ein Krankenpfleger auf ihre Bitte hin gebracht hatte, die zweite, am gleichen Tag, ins Notizheft, das sie gegen Abend von ihrer ältesten Tochter Ch. erhielt.

[4] Das Koma dauerte länger, zumindest  12 Tage und Nächte.

[5] vermutlich: Für mich…

[6] Tagsüber nahm sie leichte Schmerzmittel ein. Während der Nacht aber weigerte sie sich, da sie fürchtete, infolge von Schmerzmitteln von einer eventuell dramatischen Entwicklung des Gehirns keine Kenntnis zu haben.

[7] ein eben einjähriges Grosskind

 

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