Medien und das “Anwachsen von Weltlosigkeit”

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Medien und das “Anwachsen von Weltlosigkeit”

 

Unter den nachgelassenen Fragmenten Hannah Arendts findet sich eine Schlussbemerkung zur Vorlesung, die sie an der Universität von Berkely im Frühjahr 1955 hielt[1], ein unfertiges Textstück voller Ungereimtheiten und voller Denkanstösse. Sie gibt darin ihrer Klage  über das “Anwachsen von Weltlosigkeit” Ausdruck, über die sich ausbreitende “Wüste in der Welt”, wodurch zwei wichtige, unverzichtbare Vermögen der Menschen bedroht seien: das “Vermögen der Leidenschaft und des politischen Handelns”.  Es sind jedoch diese zwei Vermögen, die dazu befähigen, Räume zu schaffen, in denen Menschen zusammenleben können. Diese Räume bedeuten Welthaftigkeit. Sie sind gekennzeichnet durch Pluralität, durch Sprache und Austausch.

Pluralität, Sprache und Austausch sind die Voraussetzung für politisches Handeln und zugleich dessen lebendiger Ausdruck – in der Aktualität wie in der Geschichtlichkeit. Sie erlauben es den Menschen, sich in die Gestaltung des Zusammenlebens so einzumischen, dass dieses korrigiert und neu definiert wird, wodurch das Getane zwar nie ungetan wird, wodurch aber die Geschichte eine neue Wendung nehmen kann. Diese Art der Einmischung schliesst Gewalt aus, jedoch nicht Leidenschaft.

Leidenschaft? Im Sinn Hannah Arendts bedeutet Leidenschaft die Kraft der rückhaltlosen Zustimmung zum “inter esse”, d.h. zum “Bezugsgeflecht” zwischen den Menschen, eine Kraft, die sich ebenso rückhaltlos in der Ablehnung der “weltzerstörerischen” und menschenverachtenden Gewalt äussert, in der Kritik und im Widerstand dagegen. Politische und soziale Indifferenz und Eskapismus, aber auch privates Profitstreben sind mit “Leidenschaft” unvereinbar. Leidenschaft zeigt sich letztlich als Gebrauch des Vermögens, ein persönliches Urteil zu treffen und für dieses einzustehen, immer zu Gunsten von etwas Grösserem als einem selbst. “Letztlich ist die Welt immer ein Produkt der Menschen”, sagt Hannah Arendt im gleichen Textfragment, “das menschliche Kunstwerk”.

Medien gehören zu den wichtigsten Instrumenten, die das “Kunstwerk Welt“, d.h. das öffentliche “Bezugsflecht” zwischen den Menschen herstellen. Medienschaffende sind im besten Sinn “politisch Handelnde”, vorausgesetzt, dass sie ihr Urteilsvermögen – ihre “Leidenschaft” – nicht verkümmern lassen. Was grösser ist, als sie selbst – jene über das Private hinausgehenden Räume, in denen Menschen in ihrer Verschiedenheit in Freiheit zusammenleben können – erfordert unentwegt  ihre Aufmerksamkeit und Sorge. Ständig sind sie gefordert, dem “Anwachsen von Weltlosigkeit” und “Wüste” vorzubeugen und entgegenzutreten. Und dies setzt voraus, dass sie List und Gewalt der Propaganda und der Täuschung durchschauen können, dass sie partikuläre Profitinteressen von öffentlichen Interessen – resp. vom menschlich verbindenden, politischen “inter esse” – zu unterscheiden vermögen. Und dies wiederum setzt ein waches,  gut trainiertes Urteilsvermögen voraus. Denn “Wüste” und “Weltlosigkeit” sind mehr als literarische Begriffe, sie sind Metaphern für physische und verbale, für bürokratische, strukturelle und wirtschaftliche Gewalt, Metaphern für die Ausgrenzung und das Leiden von vielen, die über keine Sprache verfügen und die sich daher nicht einmischen können, um über die Art und die Gestalt des Zusammenlebens mitbestimmen zu können.

“Welthaftigkeit” ist unvereinbar ist mit dem Ausschluss von Menschen, ist auch unvereinbar mit dem Verlust von Pluralität. “Welthaftigkeit” zu schaffen und vorweg zu verteidigen, ist daher die ständig neu gestellte Aufgabe an die Medien und an die Medienschaffenden. Hierin besteht im Grunde die ethische Zielsetzung. Die tatsächlichen Verhältnisse muten jedoch zunehmend wie ein Hohn auf diese Zielsetzung an.  Die öffentlichen Räume – mithin die Medien – werden beherrscht vom Markt, von börsenkotierten Konzernen und vom Diktat der Shareholders,  und diese definieren mit dreister Unverschämtheit die Prioritätenfolge der als “allgemeine” Interessen deklarierten partikulären Zwecke: Verkaufssteigerung und Gewinnsteigerung. Wenn Gewalt, Menschenverachtung und politische Indifferenz diesen Zwecken dienlich sind, weden selbst die Medien, in Umkehrung ihrer eigentlichen Aufgabe, zu Promotoren der “Weltlosigkeit” gemacht.  Können sich Medienschaffende dann noch als politisch Handelnde bezeichnen? Vielleicht bedarf es, wie im griechischen Drama, des karthartischen Erschreckens, damit das “Vermögen der Leidenschaft” neu erwacht.

[1] Von Ursula Ludz herausgegeben in “Was ist Politik?”, Verlag R. Piper, München 1993

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