Variationen der Leidenschaft – Leben im Werk- und Wohnhaus zur Weid in Rossau bei Mettmenstetten

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Variationen der Leidenschaft

Leben im Werk- und Wohnhaus zur Weid in Rossau bei Mettmenstetten

 

Die Zeit schwingt sich mit dem Bimmelton der Mahlzeitenglocke durch das kleine Dorf “zur Weid”, federnd hüpfender Ton, wie von einem Kinderxylophon, schwingt sich morgens um sieben über das dumpfe Klatschen der wiederkäuenden Kühe hinweg ins Dunkel der Ställe, wo die Melker seit vier, die übrigen Bauern seit fünf Uhr an der Arbeit sind, schwingt sich wieder mittags um zwölf in die sirrenden Holzwerkstätten hinein und bringt die mechanischen Sägen, die Hobel, Feilen  und Sandpapierschleifen zum Schweigen, lässt auch die gebückten Gärtner in den Blumenrabatten und in den langen Reihen der Gemüse- und Beerenkulturen sich aufrichten, bimmelt ein letztes Mal kurz vor sechs über den aushinkenden Nachmittag hinweg und erlöst mit hellem Geschepper die siebenundvierzig Bewohner und die eine Bewohnerin in die Unschuld des Feierabends, die rund dreissig Angestellten und den Leiter in die Privatheit der eigenen Wohnungen und Familien.

Sechzig Hektaren Kulturland und sechzehn Hektaren Wald, etwa zweihundert Obstbäume und drei zusätzliche Bauernhäuser für einen Teil der Angestellten bilden das Umgelände des ungewöhnlichen kleinen Dorfs, das Erinnerungen an Internats- und Klostersiedlungen weckt. Langgezogen liegt es in der sanften Mulde zwischen den leicht ansteigenden Hügeln und dem breiten Teppich der Wiesen, im Rücken den Wald, durch zwei von Süden nach Norden laufende Strassen gegliedert, denen entlang sich die Haupt- und Nebengebäude reihen: von Norden her die mächtigen Ställe für über dreissig Kühe und drei Pferde mit den dazugehörenden Scheunen, gegenüber die Reparatur- und Einstellhallen für die Traktoren und Motormäher, für Pflug, Federzahn- und Kreiselegge, für Kreiselschwader und Kreiselheuer, für die Anhänger  der Getreide- und Strohlader und die vielen anderen Landwirtschaftsgeräte, dann die kleineren Ställe für die zehn Kälber und den einsamen Stier, im Hintergrund der Silo mit dem Häckselfutter, dann die Werkstätten für die gröbere und feinere Holzverarbeitung, darunter Mal- und Spritzateliers für die Herstellung von Spielsachen, auf der oberen Linie, hügelwärts gegen Süden,  Lagerhallen mit weiteren Arbeitsplätzen, anschliessend das grosse Hühnerhaus mit den Auslaufgehegen, auf der unteren Linie das Verwaltungsgebäude, im Weichbild das Wasch- und Bügelhaus sowie ein Umkleidehaus für die arbeitenden Männer, anschliessend der niedrige Holzbau mit der Kegelbahn, schliesslich die kleinen und grossen Glashäuser der Gärtnerei, das Pfauengehege und der Gänseteich, sowie, schon mitten in der Wiese, das kleine Haus für die Familie des Leiters, alle Gebäude und Anlagen dominiert durch das 1917 erbaute dreistöckige Wohnhaus. Mit seiner schönen Gliederung, dem kupfergrünen Glockentürmchen in der Mitte des Dachs, den breiten Seitenerkern und den Balkonen lässt es die finstere Arbeitserziehungsstätte, die es einst war vergessen, auch die Schikanen und Missbräuche, die insbesondere die zweieinhalb ersten Dezennien seiner Geschichte prägten und die knapp nach dem Krieg mit einer behördlichen Untersuchung, der Amtsenthebung der Frau des damaligen Leiters und dessen Selbstmord endeten.

Eigentümerin der “Weid” ist die Stadt Zürich. Dem Fürsorgeamt der Stadt diente die Anlage jahrzehntelang – seit 1912 – als Zwangseingliederungsstätte für Männer. Doch von der ursprünglichen Bestimmung ist heute nichts mehr spürbar. Die letzten Spuren wurden im Lauf der grossen Renovation getilgt, die schon in den siebziger Jahren geplant, aber erst 1994 abgeschlossen wurde. Die baulichen Erneuerungen – beispielhalber die Installation eines grossen, hellen Baderaums anstelle des finsteren Strafbunkers im Erdgeschoss des Wohnhauses – entsprechen einem emanzipierten Konzept kollektiven Wohnens und Arbeitens, das (gemäss der offiziellen Verlautbarung des Fürsorgeamtes) bezweckt, “Menschen (d.h. Männern und Frauen), die sich in einer sozial schwierigen Lage befinden, einen vorübergehenden oder dauerhaften Wohn- und Beschäftigungsplatz zu bieten. Der Aufenthalt soll mittels verschiedener Beschäftigungs- und Betreuungsangebote dazu beitragen, die Lebenssituation der Betroffenen kurzfristig zu stabilisieren und längerfristig zu verbessern. Grundsätzlich soll der Eintritt freiwillig erfolgen. In besonderen Fällen sind nach wie vor Eintritte aufgrund von behördlichen Massnahmen möglich”. Zwangseinweisungen sind in den letzten Jahren keine mehr erfolgt. Bewohner, die in früheren Jahren eingetreten und hier alt geworden sind, dürfen auch den Lebensabend in der “Weid” verbringen. Selbst leicht pflegebedürftige oder behinderte Menschen finden Aufnahme. Frauen allerdings nahmen das Angebot bisher kaum wahr, mit einer couragierten Ausnahme – ein Mangel, der von dieser einzigen Bewohnerin, aber auch von der neuen Leitung bedauert wird.

Die Leitung liegt seit dem Abschluss der Renovation, das heisst seit knapp einem Jahr, in den Händen von H.R. S., der, obwohl noch jung, für seine Aufgabe einen vollgepackten Rucksack mit Kenntnissen und Erfahrungen mitbringt, dazu ein grosses Herz für die ihm anvertrauten Menschen und keinerlei patriarchale Allüren. Verschiedene Stellen des etwa dreissig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfassenden Angestelltenteams hat er im Geist des heute geltenden Konzepts neu besetzt oder neu geschaffen, so die längst fällige Stelle einer Sozialarbeiterin. Deren Arbeit dient insbesondere dazu, die noch bestehenden Familien- und Beziehungsnetze der hier lebenden Menschen zu stärken oder wiederherzustellen, mögliche Rückkehrschritte in die Effizienzgesellschaft beratend zu unterstützen, den oft belastenden Behördenkontakt zu erleichtern, in Krisenzeiten als Gesprächspartnerin zur Seite zu stehen. Diese letzte Aufgabe mag die forderndste sein.:

Denn hier leben aussergewöhnliche Menschen. Von der Gesellschaft als erfolglos stigmatisiert, schattenhaft und gebrochen einzelne, traurig oder trotzig, die meisten von langen Jahren des Leidens gezeichnet, von Armut, von Entrechtung, von Einsamkeit, von brennendem Verlangen nach Glück, von Träumen, von harter Arbeit, manchmal von Jahren des Alkoholkonsums: Variationen der Leidenschaft, Variationen leidenschaftlichen Widerstands gegen die Erniedrigung und gegen die Schläge, die das Brot der Kindheit waren, Variationen der Scham wegen der Kälte und der Bosheit, die für viele auch die Last und Leere der späteren Jahre ausmachten, Variationen der Sprachlosigkeit. “Verwisch die Spuren” lautet der Refrain in Berthold Brechts erstem Gedicht im “Lesebuch für Städtebewohner”, und genau das bedeutete die anfängliche Abweisung der Photographin und mir gegenüber, die wir für einige Tage und Nächte gekommen waren, die Einteilung der Zeit mit den Phasen von Arbeit, Mahlzeit und Ruhe in der “Weid” zu teilen. “Was nützt es mir, wenn Sie aufschreiben, was ich erlebte?” sagte W.M. und meinte damit dasselbe wie Brecht. Und trotzdem fuhr W.M. fort zu sprechen, die sprechenden Augen begegneten den verstehenden, und in der Begegnung wurde deutlich, was sich in jeder Begegnung im kleinen Dorf wiederholte: dass jedes gelebte Leben, gerade das Leben der scheinbar Erfolglosen und das Leben der Unterdrückten, wert ist, Spuren zu hinterlassen, weil nur so die Geschichtsschreibung berichtigt werden kann. Wenn die Versehrten sich in die Stummheit flüchten, bleiben allein die Geschichten und die Geschichte der Mächtigen erhalten, die “Geschichte der Sieger”, wie Walter Benjamin schreibt. Auch gilt, was der gleiche Denker, auch er damals ein Verfolgter und Entrechteter, in einem kleinen Text in den “Denkbildern” festhielt:  dass Erzählen zum Anfang eines Heilprozesses werden kann. “Und so entsteht die Frage, ob nicht die Erzählung das rechte Klima und die günstigste Bedingung manch einer Heiung bilden kann. Ja ob nicht jede Krankheit heilbar wäre, wenn sie nur weit genug – bis an die Mündung – sich auf dem Strom des Erzählens verflössen liesse? Bedenkt man, wie der Schmerz ein Staudamm ist, der der Erzählungsströmung widersteht, so sieht man klar, dass er durchbrochen wird, wo ihr Gefälle stark genug wird, alles, was sie auf diesem Wege trifft, ins Meer glücklicher Vergessenheit zu schwemmen”: wenn nicht Vergessenheit, so doch vielleicht weniger Bitterkeit, wenn nicht endgültig, so doch für einige Stunden.

Schon das einundzwanzigste Jahr ist A.B. in der “Weid”. 1922 kam er in Steinen im Kanton Schwyz zur Welt. “So isch es gsi”: Eine ältere Schwester war schon da, eine jüngere folgte nach. 1925, bei der Geburt des vierten Kindes, “Lineli mit dem Chruselihaar”, starb die Mutter im Kindbett, achtundzwanzig Jahre alt, gebürtige Agatha von Reding aus Ried, aus der Familie jener von Reding, die bei der Schlacht bei Rothenturm mitgekämpft hatten. Der Vater trank. “Da kamen wir Kinder auseinander, jedes zu anderen Leuten, das würde heute nicht mehr so gemacht”. Zwei der Schwestern leben noch, die eine ist verheiratet und hat sieben Kinder, die andere ist geschieden und hat deren drei, 1974 hat er die eine kurz gesehen, seither fehlt jede Spur. “Was kann man da machen? Jeder Familiensinn geht mit der Trennung in der Kindheit verloren”.

A.B.wuchs als Verdingbub bei Verwandten auf, in Bürglen im Hinteren Oberberg, der Grossvater dort war ein Bruder des Vaters. “Ich war gut zum Schaffen, nur zum Schaffen, bis ich zwanzig war, blieb ich dort, ich wusste nicht, wer ich bin und was ich bin, ich war Aussen und nicht hier”, er zeigt in die Mitte des Tischs, “es hiess, was dein Vater eingebrockt hat, musst du auslöffeln, du hast zu parieren und sonst nichts”. Auch in der Schule wurde er geplagt und gehänselt, und erst recht auf dem langen Schulweg. “Da haben sie mir abgepasst, haben mich mit Steinen beworfen und mich verhauen, und wenn ich zu spät nach Hause kam, bekam ich wieder Schläge. Wenn einer nicht dort geboren ist, hat er kein Recht. Selbst einer aus dem Muothatal, der eine von dort heiratet, gilt als Fremder und hat kein Recht. Das ist heute noch so. Aber selbst die von dort halten nicht recht zusammen, die von Hinten und die von Oben mögen einander nicht”.

Weil Krieg war, wurde A.B. schon als Neunzehnjähriger in die Rekrutenschule aufgeboten, im  Winter, nach Zürich. Dort war es  kalt, und A.B. hatte keinen Fünfer Geld. Der Stiefvater hatte ihm rein nichts mitgegeben, er würde ja dann Sold bekommen. “Aber erst nach vierzehn Tag, ein Fränkli Sold pro Tag, vierzehn Fränkli nach vierzehn Tagen”. Die anderen Rekruten verfügten über Geld und gingen am Abend in die Wirtschaft. Er verkroch sich ins Bett. “Da waren ein Appenzeller und zwei Bündner, all drei Bauernsöhne, gute Kollegen. Die konnten nicht glauben, dass ich kein Geld hatte. Die nahmen mich manchmal mit”. Nach der Rekrutenschule ging A.B. wieder zurück. “Ich war ja mit zwanzig noch nicht gewachsen. So wie ich aufgezogen worden war, durfte ich keine eigene Einstellung haben, es hiess nur, ich hätte nichts zu reklamieren. Das isch a Misere gsi”. Er wurde von Bauer zu Bauer gereicht. “Die machten es schlau, schauten, dass man in der Verwandschaft blieb, die war das Aufsichtsorgan und man hatte nicht zu sagen”. 1955 endlich ging er weg, nach Zürich, auf den Bau. “Beim letzten Bauern, in Oberiberg, war es die übelste Schinderei gewesen, nach Aussen so ein Wichtiger, daheim ein brutaler Siech, traktierte das Vieh mit der Mistgabel, ein trauriger Ausnutzer, fürs Heuen holte er in Unteriberg arme alte Männer, auch mich behandelte er schlecht”. 

A.B. war aus der Klemme, das erste Mal. Er war dreiunddreissig Jahre alt und hatte Kraft wie ein Muni. Sechs Jahre lang arbeitete er für eine Firma im Kreis 5, und als er nach sechs Jahren zwanzig Rappen mehr Stundenlohn verlangte – zwei Franken vierzig statt zwei Franken zwanzig – und als ihm dies verweigert wurde, ging er. “Wenn man solid war, reichte es knapp. An Sonntagen ging ich manchmal in die Berge. Bergsteigen, das war meine Leidenschaft”. Einmal hatte A.B. eine Freundin. “Aber es war die lätze, das war eine Sache, sie wollte ständig Geld von mir und log mich brandschwarz an, bis ich dahinter kam, dass sie gar nichts arbeitete, nur mit Lölibuben herumzog. Da dachte ich mir, dass ich halt auch wieder nicht mehr wert bin. So liess ich es bleiben mit den Frauen. Bis heute bin ich Junggeselle. Eine liebe Frau zu haben ist gut. Wenn ich eine hätte, würde ich sie nicht anbinden, aber sie dürfte das Geld nicht verschleudern, sie müsst sparsam sein. Die Tiere habe ich gern, die Kinder, die Natur”.

Während der zwanzig Jahre, da A.B auf dem Bau arbeitete, Hoch- und Tiefbau, nächtigte er fast immer “an der frischen Luft, am Schärme”, meistens in einem halbfertigen Rohbau, Sommer und Winter, nie war er krank. Eine Wolldecke und ein kleines Kissen waren alles, was er brauchte. Eines Morgens holten ihn zwei Polizisten vom Gerüst herunter, warfen ihm vor, er sei ein Wandervogel, er nächtige mal da und mal dort, es seien Reklamationen eingegangen. Er hielt ihnen entgegen, im Militär habe auch niemand ein Zimmer, da müsse jeder lernen, sich draussen einzubunkern. “Das müssen doch alle sehen, dass das Leben nicht einfach auf einer einzigen Bahn abläuft”. Aber es nützte nicht, er wurde in die Polizeikaserne geführt, in eine Zelle gesperrt, später zur Fürsorge gefahren. “Da haben wir nun den Wandervogel gefangen”, habe einer der Polizisten festgestellt. A.B. wollte nicht gefangen sein, aber es wurde ihm ein Wisch hingestreckt und er wurde geheissen, diesen zu unterschreiben, falls er nicht an die Kantonsgrenzen gestellt werden wolle, wo sich dann andere Polizisten um ihn kümmern würden.

Das war 1974. So kam A.B. in die “Weid”, damals zweiundfünfzig Jahre alt. “Ein Jahr, dachte ich, würde ich es aushalten”. Er ging nicht mehr weg. Während zwanzig Jahre arbeitete er täglich im Forst, räumte das Fallholz auf und verfertigte “Studebürdeli”. Am  Morgen packte er sich ein wenig Brot ein und kehrte mit der Abendglocke wieder zurück, immer allein, ein asketischer Einzelgänger. Seit einem Jahr gönnt er sich den Ruhestand: das erstemal im Leben, dass er nicht arbeitet. Mit langsamen Schritten durchmisst er das Gelände oder sitzt gerade aufgerichtet auf einem Bänklein, eine würdige Gestalt, schaut den herumpfeilenden Schwalben nach oder streichelt eine der getigerten und bunt gemusterten Katzen – die einzige Frivolität, die er sich leistet. Das Zimmer, das er im Dachstock des grossen Wohnhauses bewohnt, ist karg und schmucklos wie ein Zelle, nichts liegt oder hängt unnütz herum. ” Auch das Geld muss man beisammen halten. Ich brauche nichts, von allem habe ich zuviel.  Ich will nicht mehr dahin oder dorthin, das ist eine Illusion. Vollkommenheit gibt es nirgends”.

Manchmal kommt etwas wie Schalk in A.B’s Augen auf, wenn sich B.F. neben ihn setzt, noch ein Jahr älter wie er und ebenso lang in der “Weid”, jedoch kein Asket. Es kommt vor, dass sich die zwei alten Männer mit einem Püfflein an den Oberarm begrüssen. B.F. ist auf seine Weise ein Dichter, einer, der gern photographiert, drei Kameras besitzt und freundlich geblumte Hemden trägt, der früher bei den Fahrtenrennen im Knonaueramt mit auf dem Bock sass und die Flohs der Pferde sammelte, der ein weiches Kaninchenfell an seine Zimmerwand gespannt und ein ausgestopftes Wiesel auf den Kasten gestellt hat, ein Träumer, dem es passt, an der Brüstung des Zimmerfensters zu lehnen und lange über die abgeernteten Kornfelder und die schönen Grasteppiche hinweg in den Himmel zu schauen, oder in der nahen Umgebung herumschzuweifen, wie ein altgewordener Bub, mit wirrem, dichtem Haar und mit weitgeöffneten Augen wie helle Bergseen. Er wuchs vom dritten Lebensjahr an im Kinderheim “Albisbrunn” auf, “mit 107 Kindern, kein strenges Regime, im Gegenteil. Wir durften wild sein, durch den Wald auf den Albis steigen, im Türlersee baden und im Zugersee“. In der Schule stillsitzen passte ihm nicht, als er vierzehn Jahre alt war, zog er es vor, in “Albisbrunn” in der Landwirtschaft zu helfen. Auch in die Rekrutenschule musste er nicht einrücken, trotz des Krieges hinter den Grenzen. Schon damals hörte er schlecht, und da er schlecht hörte, sprach er auch undeutlich. So ist es noch heute. Sein Leben lang hat er als Knecht gearbeitet, viele Jahre lang bei Bauern im Thurgau, nie trank er Alkohol. Zum Heiraten fehlte das Geld, aber eine Freundin hatte er wohl einmal. Mit Händen und Armen zeigt er die riesigen Wölbungen an. Auch in der “Weid” gehörte er zu den Bauern, in den Jahren vor der Pensiionierung besorgte er die Hühner. Der einzige Bruder ist gestorben, die Schwägerin lebt noch, auch zwei Neffen sind noch da, irgendwo, von denen der eine ihn nicht mehr kennen will. “Wenn man so niemanden mehr hat, was soll man noch?”

Zehn Jahre jünger, aber auch pensioniert und auch einsam ist S.B. Was denkt er, wenn er die langen Stunden zwischen den Mahlzeiten in einem Sessel  auf der Rückseite des Wohnhauses verbringt? Spürt er, wie die Schatten wandern, wie die Wolken schwer werden, wie der Nieselregen sich in einem Rinnsal sammelt und seine Füsse nässt? Er bleibt die Antwort schuldig, streicht sich mit der linken Hand durch die Löwenmähne. Die rechte ist nicht mehr geschickt, auch das Gehen ist beschwerlich, seit vor einigen Jahren ein “stroke”  – scharf zischt die Hand am Kopf vorbei – ihn traf. Was heute geschieht, ist ohne Bedeutung, “heute” ist nur der Erinenrungsrahmen für “früher”. “Früher” ist viel, bedeutet Roches-Moutier, wo er 1932 zur Welt kam und französisch sprach, bedeutet die älteren Geschwister Oswald und Röseli und die jüngste Schwester, Anneli, die Schönste, die an Unterleibskrebs starb, bedeutet Zürich, wo er die Barschule machte und als Barman Kisten und Harassen voller Flaschen aus dem Keller hievte, bedeutet den Tod der Mutter und den Entschluss, nach Kanada auszuwandern, obwohl er erst neunzehn Jahre alt war, ohne dass er jemanden ins Bild setzte, schon gar nicht den Vater, der ins Trinken gekommen war. “Früher” bedeutet Englisch sprechen, bedeutet das Photo des Cowboy hoch zu Pferd, das er vor mich auf den Tisch stellt, “I was handsome, zwanzig Jahre alt, a cowboy on a ranch, in the desert, ein Jahr working for Mr. McKennan”, bedeutet die anschliessenden siebzehn Jahre als “salesman” in einem Warenhaus von Calgary und als “decorator” von dreizehn Schaufenstern, dann die Zeit als Stewart und Purser bei “Air Canada”, die Heirat mit einer Kanadierin. Sie erwartete ein Kind von ihm und verliess ihn, ohne dass er seine Tochter je gesehen hätte, sie hatte eine Afffaire mit einem. Als er feststellen musste, dass sich die Frau nicht umstimmen liess, reiste er am nächsten Tag zurück in die Schweiz. “Früher” bedeutet Kandersteg, wo er sich versteckte, wo er drei Jahre lang als Concierge im “Grand Hotel” arbeitete, dann Zürich und Jobs als Oberkellner. “Whatever I did, I did it well”. Er schlägt mit der einen Hand auf den Tisch, weiss nicht, wie und wo weitererzählen. “Früher” geht nicht weiter. “Alles hatte ich und alles habe ich verloren, die Frau, das Kind, DC8, Super Constellation. Warum? Die Arbeit bei “Air Canada”, immer war ich vier – fünf Tage weg. Dann der  Alkohol, Bier und Whisky und Cognac. Auch das ist nun vorbei”. Wie lange ist er schon in der “Weid”? S.B. macht eine Bewegung mit der Hand, als wolle er ein böses Insekt verscheuchen. “I don’t want to know”.

Wer keine Zukunft ins Auge fassen kann, erträgt die Gegenwart kaum. Sich vom Vergangenen ernähren, ist dürftig und monoton, reicht knapp zum Überleben, ist auch nur jenen möglich, die, wie S.B., ein paar Glanzlicher abrufen können, immer wieder die gleichen, eine täglich sich verengende Spirale. Bei F.K. mag sich die Spirale dagegen nochmals öffnen. Er weilt auch erst seit achtzehn Monaten in der “Weid”, hat in dieser Zeit einen Musikkeller eingerichtet, samt Isolation und Wandschmuck, wo er mit zwei Jungendlichen aus der nähern Umgebung Jazz spielt. Schon die Eltern waren musikalisch gewesen, einfache Leute aus dem Zürcher Kreis 4, aber die Mutter hatte ein Klavier besessen, deren Bruder war Musiker und Maler gewesen, und der Vater spielte die Mundharmonika. In den Arbeitstunden bemalt F.K. Kinderspielsachen, den Feierabend benützt er häufig, um Bilder zu malen, die er bei einer Ausstellung der Knonaueramt-Künstler öffentlich zeigen will. Während Jahren war es mit ihm nur bergauf gegangen, er hatte Reisen in den Fernen Osten gemacht und schöne Frauen geliebt. Als gelernter Tiefdrucker war er ein erfolgreicher Graphiker gewesen, bis ihm in den siebziger Jahren die Rezession und der Alkohl übel mitzuspielen begannen. Als er arbeitslos wurde, verdiente er sich über drei Jahre das Leben als Bäcker, obwohl die Arbeit hart war. Dann aber kamen die Rückschläge, drei Monate Knast wegen Alkohls am Steuer, ein Unfall mit einer doppelten Schädelbasisfraktur. Seither kämpft er gegen den Alkohol. Mit Liebe und Achtung spricht er von seinem Sohn, der ihn nie im Stich gelassen hat, auch nicht, als seine Ehe in Brüche gegangen war und er mehrere Entgiftungs- und Entzugskuren durchstand. Nun ist er “trocken”, aber das genügt ihm noch nicht. Er will auch ohne Medikamente, ohne “Antabus” leben können. Dazu braucht er die Zeit des Rückzugs in der “Weid”. “Man muss ganz und definitiv aufhören können, und man schafft es nur, wenn man es im Kopf schafft. Ich habe noch  ein  Projekt“, doch darüber zu sprechen, ist verfrüht. Auch dieses muss im Kopf wachsen, und irgendwann wird es soweit gediehen sein, dass er den Schritt “hinaus” wieder schafft.

Wenn aber keine Glanzlichter abzurufen sind  – nicht ein einziges – und wenn Kraft und Selbstvertrauen fehlen, um noch Projekte zu schmieden? Für B.R. gab es keine Höhepunkte im Leben. Er schüttelt den Kopf, “man muss lernen, zufrieden zu sein”. Er ist ein Jahr jünger wie F.K.und etwa ebenso lang in der “Weid” wie dieser. Ob es schön war oder schwer in der Kindheit? Das lässt sich schwer sagen, er war in der Bündner Herrschaft als der mittlere von drei Geschwistern grossgeworden, musste halt immer arbeiten, schon als Bub, er wusste nichts anderes, jede freie Stunde in der Schulzeit und am Samstagnachmittag, wo er die Backstube eines Konditors putzte und Holz für den Backofen schietete, und während der langen Ferien – in Graubünden gab es im Sommerhalbjahr insgesamt nur neun Wochen Schule -, in denen er an Prättigauer Bauern verdingt wurde, und wo er das bisschen, was er verdiente, dem Vater abliefern musste. Der Vater war Kaminfegermeister gewesen, und als R.B. zwanzig war, machte auch eine Kaminfegerlehre, in einem der schönen Bündner Kurorte. “Im erten Lehrjahr verdienten wir in der Woche fünf Franken, im zweiten zehn und im dritten fünfzehn. An Syylvester gab es zusätzliches Geld in den grossen Hotels, wo wir vor den Gästen auftreten mussten. Die prosteten uns zu. Am nächsten Tag durften wir ausschlafen”. Über dreissig Jahre hat er im Beruf gearbeitet, zuerst in Graubünden, dann in Zürich. “Da musste man schon aufpassen, dass man nicht in schlechte Gesellschaft geriet. Ich will den Beruf nicht heruntermachen, ich habe ihn ja gelernt, aber für die Gesundheit ist er nichts, vor allem seit die Ölöfen aufkamen”. Die Lungen litten darunter, der Magen wurde krank, Operationen und Kuraufenthalte folgten. R.B. war auch fünf oder sechs Jahre verheiratet gewesen, aber selbst das ging auch nicht gut. “Für die Frau war es halt schon die zweite Ehe, in der ersten war sie immer geschlagen worden und musste die Kinder an Pflegplätze geben, da bleibt halt etwas zurück”. Nun arbeitet er in der Gärtnerei, mit langsamen und sorgfältigen Bewegungen. “Kein Stress, für die Gesundheit ist es besser so, Beeren, frisches Gemüse und frische Luft”. Von den melancholischen Augen gleitet ein Lächeln wie ein flüchtiger Schimmer über die ganze schmale Gestalt, die trotz des blauen Arbeitsmäntelchens etwas Fürstliches hat. Warum dies so ist, bleibt Geheimnis.

In den Nachtstunden, wenn die Arbeitsgeräusche schweigen, bebt das Haus vor Geschichten, die die Kammern sprengen, Geschichten des Nachsehens, Geschichten verhaltener Wut und leidenschaftlichen Lebenshungers. Es bräuchte Monate, um sie alle zu erzählen, etwa die Geschichte des Metzgers, dessen Mutter während des Kriegs aus Argentinien nach Deutschland zurückkam und der nun die Kälber pflegt, jene des Hilfsarbeiters, der hundertdreissig Kilo wog, bevor er in die “Weid” kam und hier mit grosser Zartheit die vierhundert Hennen und das übrige Federvieh betreut, jene des Malermeisters, der die ganze Kindheit hindurch misshandelt wurde, dem als Vierzehnjährigem von der Zapfwelle eines Traktors der rechte Arm weggerissen wurde, der immer wieder unter die Räder kam und der nie aufgeben wollte, bis heute nicht, oder jene des jungen Drogenabhängigen, der es nicht mehr sein will, der sein Geschick in die Hände nimmt und eines Tages wie ein Phoebus Apoll im Speisesaal auftauchte und mit seinem zornigen Schritt, mit seinen wilden Locken und seinen Bärenkräften alle im Haus eingenistete Resignation in die Ecke drängte. Es sind aussergewöhnliche Menschen, die im abgelegenen kleinen Dorf hinter Rossau leben.

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Erschienen in NZZ, 26./27. 8. 1995

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