Vernunftehe oder getrennte Wege – Zur Zukunft der Friedensarbeit in der Schweiz: zwischen Basisbewegung und offizieller Sicherheitspolitik

siehe auch den Artikel im TA vom 12. Juni 1990: “Störfall Schweiz, ein Störfall Heimat?:

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Vernunftehe oder getrennte Wege

Zur Zukunft der Friedensarbeit in der Schweiz:

zwischen Basisbewegung und offizieller Sicherheitspolitik

Podium vom 23. September 1997, 19h, Karl der Grosse, Zürich

NR Pia Hollenstein (Grüne) Karin Haeberli (Frauen f.d.Frieden), Jürgen Störk (PBI), Nico Lutz (Stadtrat Bern, GSoA)

 

Begrüssung / Eröffnung

Der Anlass für den heutigen Abend ist erfreulich: Wir begrüssen und feiern das Erscheinen von “FriZ”, der “Zeitschrift für Friedenspolitik”. Nach einjähriger intensiver Konzeptarbeit wurde sie aus der vertrauten “Friedenszeitung” weiterentwickelt. Die Tatsache, dass sie zustandekommen konnte, steht als Beweis für die Dringlichkeit und Lebendigkeit der Friedensidee und einer vielfältigen Friedenspolitik.

Wie gross diese friedenspolitische und friedenspraktische Vielfalt ist, wie und ob die verschiedenen Segmente mit den je spezifischen Aufgaben und Zielsetzungen einander ergänzen oder wie und ob sie bezüglich einatzfähiger, einsatzbereiter Menschen und verfügbarer, resp. aktivierbarer Finanzierungen untereinander konkurrieren, eventuell einander sogar hemmen, oder ob und wie sie sich besser und effektiver vernetzen und unterstützen können – dies soll beim heutigen Podiumsgespräch geklärt werden.

Wichtige Vertreterinnen und Vertreter einer von der Schweiz aus, resp. in der Schweiz aktiven Friedenspolitik sind hier um den Tisch versammelt. Ich möchte sie der Reihe nach vorstellen:

Karin Haeberli, vertritt die Bewegung “Frauen für den Frieden”, hat unter anderem, zusammen mit Margrith von Felten, die Vorlagen für die neuen GSoA- Initiativen unter die feministische Lupe genommen und dadurch sowohl den Gewaltbegriff wie den Friedens- und Sicherheitsbegriff breiter definiert.

Pia Hollenstein, Nationalrätin aus St. Gallen, vertritt als Vertreterin der Grünen die Anliegen einer nachhaltig ökologischen und feministischen Friedenspolitik im Rahmen und auf der Bühne der parlamentarischen eidgenössischen Interessenpolitk.

Nico Lutz, aus vielen Beiträgen und Artikeln bekannter GSoA-Aktivist und Stadtrat in Bern, nicht zuletzt massgeblich an der Ausarbeitung der beiden jüngsten GSoA-Initiativtexte “Für einen Zivilen Friedensdienst” und für “Sicherheit statt Verteidigung” resp. für eine aktive  Rüstungskonversionspolitik beteiligt.

Jürgen Störk, Vertreter der “Peace Brigades International”, mit eigener mehrjähriger Einsatz-Erfahrung in Guatemala und in Haiti, heute für das Schweizer Büro der weltweit aktiven Basisorganisation verantwortlich.

 

Gespräch

(1) “Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist mindestens auch di Abwesenheit von Gewalt… Von Frieden zu reden bedeutet, von schmerzhaft Vermisstem zu reden” (Zitat aus Dorothee Wilhems Beitrag im “FRIZ”). Oder: “Friedenpolitik ist eine ploitische Kraft, die sich an den universalen Menschenrechten orientiert” (1. These aus Peter Hug, ebenfalls im “FRIZ) – sehr breit gefasste, zugleich vage und präzise aktuelle Definitionen von Frieden und Friedenspolitik. Als Einstieg, damit wir wissen, wovon wir reden, an jede/en Teilnehmer/Teilnehmerin am Tisch:

Was verstehst Du, resp. die Bewegung, die Du vertrittst, unter Frieden und welches sind die vordringlichsten Aufgaben und Zielsetzungen Deiner/Eurer Friedenspolitik?

Bei allen Friedensanliegen geht es um Korrektur, resp. Prävention von Gewalt (effektiver und struktureller Gewalt, Gewalt gegen Frauen und Kinder, gegen die Natur, militärischer / kriegerischer Gewalt). Gibt es dafür feststellbare Resultate, tatsächliche Veränderungen?

(2) An Nico: Ich will zuserst auf die GSoA eingehen: Seit der ersten Armeeabschaffungsinitiative 1989 mit dem damals verblüffenden Resultat von 35,6% Ja-Stimmen und den nachfolgenden friedenspolitischen Initiativen hat sich auf der offiziellen Ebene der schweizerischen Militär- und Aussenpolitik einiges verändert: 1990 wurde vom Bundesrat die sog. Pariser Charta der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichnet, wodurch die Rahmendefinition schweizerischer Sicherheitspolitik beträchtlich geöffnete wurde (die Blauhelm-Vorlage allerdings wurde wieder vom Volk verworfen), auch Militärdienstverweigerung wurde in grossem Ausmass entkriminalisiert, die Armee-Einheiten wurden verkleinert, die Personalbestände dezimiert. Gleichzeitig aber wurde im Bereich der militärischen Technologie zugelegt (“Mehr Muskeln – weniger Fett”, wie die Formel für die Armeereform 95), und noch immer werden von Bund, Kantonen und Gemeinden an die 6 Milliarden Franken jährlich für die sog. Landesverteidigung ausgegeben, gar 13 Milliarden, wenn die indirekten Kosten mitgerechnet werden (im Vergleich für Entwicklungshilfe lediglich 11/2 Milliarden). Hat sich denn effektiv etwas an der Gewaltbereitschaft der Schweiz geändert? resp. Was braucht es, damit dies geschieht? Können die beiden Initiativen, über deren Lancierung am 23. November entschieden werden soll, dies erreichen? Oder müssen ev. die verfassungsmässigen Rahmenbedingungen, welche die “Verteidigung”von “Unabhängigkeit” und “Neutralität” vorschreiben, zuerst verändert werden?

(2) an Karin: Von den friedenspolitischen Frauenbewegung her werden diese Ansätze als zu eng, als zu einseitig, kurz als ungenügend kritisiert. Was beinhaltet die Kritik? Bedarf es lediglich einiger wichtiger Ergänzungen oder geht es der Frauen-Friedensbewegung um mehr, resp. um etwas ganz anderes – eigentlich seit deren ersten Anfängen noch Ende des letzten Jahrhunderts? – ich erinnere an den Auszug aus der Streitschrift zur Frauenfriedenskonferenz von Den Haag von 1915 den Sibylle Mathis (s. FRIZ) zitiert: “Gewalttätigkeit zu Hause, Gewalttätigkeit im Ausland, Gewalttätigkeit zwischen Individuen, zwischen Klassen, zwischen Nationen, zwischen Religionen, Gewalttätigkeit zwischen Mann und Frau” usw. Wo steht die Frauenfriedensbewegung mit dieser umfassenden Gesellschaftskritik, mit welcher die Gewalt überhaupt gemeint ist? Lässt sich überhaupt etwas auf dieser ganz prinzipiellen Ebene verändern, resp. können die “1001 Visionen”, die Ihr im MOMA 3/97 nennt, auch nur annähernd erreicht werden (Sysiphus/Sysipha)? Läuft vielleicht alles auf die Kernfrage hinaus, ob Frauen /Frauenpolitik grundsätzlich gewaltfrei(er) ist? – resp. ob Gewalt aus der Welt geschafft werden kann, wenn einmal Frauen das Sagen haben? Macht es Sinn, wenn vo der Frauenbewgung her (geschlechter-)gemischte Engagements aus Prinzip abgelehnt werden?

(3) an Pia: Ich stelle mir vor, dass du als Basis-Friedensfrau und als grüne Parlamentarierin häufig in einem starken Spannungsfeld stehst. “Gewalttätigkeit gegen die Natur” findet sich in der Anklageschrift der Frauen von 1915 noch nicht. Diese ist jedoch das Anliegen der ökologischen Friedensbewegung, auch der Grünen. Dabei ist die “Täterin” auf der Anklagebank wiederum die ganze Gesellschaft, davon jedoch auf besonders schwerwiegende Weise die Wirtschaft, aber auch eine Regierungspolitik, die den Interessen der Wirtschaft entgegenkommt. Sind wohl auch hier die Ziele zu prinzipiell und damit zu weit definiert? Welche Probleme zeigen sich bei der Umsetzung von ökologischen Friedenszielen mit besonderer Verhinderungskraft? Mag hier ein Grund dafür liegen, dass du Dich für friedenspolitische Anliegen generell im Parmanet stark machst, auch für solche, welche wiederum militörische Komponenten enthalten wie die sog. “Partnerschaft für den Frieden”?

(4) an Jürgen: Den Peace Brigades International (und den verwandten Organisationen, etwa ddem Balkan Peace Team) geht es nicht in erster Linie um prinzipielle, strukturelle Gewalt mit spezifischen Auswirkungen, sondern vor allem um ganz konkrete Aufgaben zur Verminderung von Gewalt in Regionen der Welt, in denen massive Menschenrechtsverletzungen, Bürgerkrieg und Krieg die Friedenstätigkeit von Oppositionellen gefährden. Wie hast Du als Pazifist diese massive Gewalt erlebt? Warum haben Dich diese Erfahrungen nicht entmutigt? Hat es ev. damit zu tun, dass diese – konkreten, beinah punktuellen – Aufgaben, deren Ausführung immer im Sinn eines Mandats, resp. eines “externen” Auftrags verstanden wird, trotzdem auch weiterreichende Wirkungen haben? Wie könnten diese gesteigert werden? Was würde ein eventueller Einbezug der PBI in einen zu schaffenden schweizerischen Zivilen Friedensdienst bedeuten?

(5) an alle: Trotz aller Friedensbemühungen sind die Bestandesaufnahmen der UNO über den Weltzustand erschreckend: Laut dem jüngsten UNICEF-Bericht sind Gewalttaten gegen Frauen, resp. geschlechtsbedingte Übergriffe die weltweit häufigsten Menschenrechtsverletzungen. Weltweit finden gegenwärtig ca. hundert Kriege statt, die entsetzlichstes Leiden von ungezählten Unschuldigen bedeuten, Tötung, Verstümmelung und Vertreibung, Zerstörung und Vernichtung von Kultur, resp. aller Netze des Zusammenlebens (gemäss Kofi Annan sind gegen 40 Millionen Menschen als Flüchtlinge unterwegs zwischen Heimat und irgendwo). Weltweit nehmen in Folge eines aggressiven Wirtschaftskriegs und ökologischer Folgen Verarmung und Verelendung massiv zu, Milliarden von Menschen sind davon betroffen. Wie weiter mit der Friedenspolitik, mit der Friedensarbeit, hier und weltweit? Wo sind die Prioritären zu setzen? Braucht es ev. in erster Linie Bildungs- und Medienarbeit? – oder eine Umverteilung in der Beschäftigungspolitik? – in der Verteilung und Reinvestition des Mehrwerts? Sollte bedeutend mehr Geld aus den nationalen Kassen den UNO-Projekten zur Verfügung gestellt werden? Sollte das politische Schwergewicht auf den Beitritt der Schweiz zur UNO gelegt werden? Wie sind Vernetzungen möglich? Ist die staatliche Finanzierung von Friedensarbeit anzustreben? Was kann die Schweiz leisten? – resp. Welche Art von Überzeugungsarbeit ist in der Bevölkerung nötig, damit geleistet werden kann, was geleistet werden soll – eben nicht nur durch einzelne Friedensaktivistinnen und -aktivisten, sondern durch alle, die zusammenleben?

(6) zum Abschluss: Ich möchte an die 1987 geschriebene Kolumne des verstorbenen Jurek Becker erinnern (in: Ende des Grössenwahns, Frankfurt a.M.1996). Er schreibt darin, dass Gorbatschow, indem er die zwischen den Grossmächten etablierten Spielregeln der Unverbindlichkeit brach, weil er jeden Abrüstungsvorschlag ernst nahm, “wie ein Albtraum über die Regierungen der USA, der damaligen BRD, Englands oder Frankreichs gekommen ist” – eben weil er bei den internationalen Verhandlungen gar nicht darauf einging, dass die Verhandlungspartner gar nicht meinten, was sie sagten, dass sie auf weitere Waffenproduktion eigentlich unter keinen Unständen verzichten wollten. “Sie müssen ihn (Gorbatschow) hassen, weil er sie nötigt, seinen  Vorschlägen immer unglaubwürdiger und immer argumenteloser entgegenzutreten. Ihre Fähigkeit zur ‘flexible response’ ist längst dahin. Eines Tages wird Gorbatschow ihnen anbieten, nicht nur alle Atomwaffen, sondern auch alle konventionellen Waffen zu vernichten. Dann werden sie ihm sagen: “‘Und was ist mit den Harken der Millionen russischer Bauern?’ Und wenn Gorbatschow die auch noch abzuschaffen versucht, ist es endlich aus mit ihm.”

an alle: Es geht um ein Paradigma, das die Wahrhaftigkeit resp. Glaubwürdigkeit von Friedenspolitik und das Erschrecken ob der Wahrhaftigkeit meint (erinnert ein wenig an die Parabel von den Kaisers neuen Kleidern). Was lässt sich aus Jurek Beckers Gorbatschow-Paradigma für heute, für jede der hier vertretenen friedenspolitischen Bewegungen ableiten? Wie ist ev. in diesem Kontext die Tatsache zu deuten, dass die Friedensarbeit der friedenspolitischen NGOs von den meisten Regierungen, gerade auch von der Schweiz, nicht mehr als subversiv beurteilt wird, sondern dass diese in die staatliche Politik integriert wird, von dieser zum Teil finanziert, ev. durch diese auch instrumentalisiert wird?

*

Ende, ev. Entgegennahme von Voten aus dem Publikum, Dank an die Beteiligten, an Manuela Reimann für die Vorbereitung, Glückwünsche an FRIZ (es braucht auch “Glück” s. MOMA).

maw / Zürich, 23. 9. 1997

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