Wie viel Heimat braucht der Mensch? – Was tun gegen das „Anwachsen von Weltlosigkeit“? – Über die kreative Kraft des Andersseins

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Wie viel Heimat braucht der Mensch?

Was tun gegen das „Anwachsen von Weltlosigkeit“?

Über die kreative Kraft des Andersseins

Antirassismus-Tagung der Schweizerischen Frauenorganisationen, Bern 8.November 2001

 

„Ich bin meinem Heimatrecht auf der Spur,

dieser Geographie nächtlicher Länder,

wo die zur Liebe geöffneten Arme

gekreuzigt an den Breitengraden hängen,

bodenlos in Erwartung.“[1]

 

Verehrte Anwesende

 

Als die Vorbereitung der heutigen Tagung begann, bewegte eine grosse Besorgtheit die Vertreterinnen der jüdischen und christlichen Frauenorganisationen. Sie beschlossen, gemeinsam über die Hintergründe der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in der Schweiz nachzudenken, um Möglichkeiten der praktischen, konstruktiven Umsetzung der persönlichen wie der gemeinsamen Verantwortung zu erwägen.

Anlass für die Besorgtheit war die zunehmende rassistische Härte und menschliche Kälte, die zu einer immer stärkeren, verhängnisvollen Diskriminierung und Gefährdung asylsuchender, unterstützungsbedürftiger oder wegen Hautfarbe, religiöser und nationaler Herkunft als „Fremde“ definierter Frauen, Männer und Kinder führt. Die Auswirkungen dieser politischen und alltäglichen rassistischen oder fremdenfeindlichen Haltung sind aufwühlend. Sie zeigen sich u.a. in der Tatsache,

  • dass Asylsuchende häufig während Jahren unter erniedrigenden Minimalbedingungen leben, dass sie nur untergeordnete Arbeit leisten dürfen, mit Stundenlöhnen, die für Schweizer und Schweizerinnen unannehmbar wären, wobei die Löhne nicht einmal ihnen direkt, sondern dem Sozialamt ausbezahlt werden, von welchem sie dadurch abhängig bleiben; dass sie, wenn sie nicht eine gute rechtliche Unterstützung finden, sondern allein auf sich angewisen sind, häufig einen Wegweisungstermin weder korrigieren noch einhalten können und unter Schrecken, häufig im Morgengrauen, polizeilich gefangen genommen werden, auch alleinstehende Frauen und Kinder, als wären sie Kriminelle, und dass sie mit gefesselten Händen dorthin ausgeschafft werden, wo sie nicht leben können;
  • dass eine antisemitische und anti-islamische öffentliche Stimmung – häufig als Folge rassistischer Medienberichte oder unter dem Einfluss rechtsextremer Inserate, Plakate etc. – zu einer Gefährdung vor allem von alten oder behinderten Menschen – von Männern, Frauen und Kindern – führt, auch zur Gefährdung von Eigentum, zu Übergriffen auf Geschäfte, auf Friedhöfe und auf Synagogen, Moscheen und kleinere Bet- und Lernlokale, dass unter dieser Gefährdung insbesondere auch Roma unterschiedlicher Bezeichnung leiden, ob es schweizerische Jenische seien oder Menschen, die auf der Flucht in die Schweiz gelangt sind;
  • dass eine rassistische Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen feststellbar ist, die zu Plagereien, Herabsetzungen und Schlägereien „fremder“ Kinder in der Schule führt, auf dem Schulweg, beim Sport und in öffentlichen Verkehrsmitteln, dass „fremden“ Mädchen und Knaben auch häufiger sexuelle Übergriffe durch andere Jugendliche angetan werden, ohne dass die Täter bestraft werden;
  • dass eine administrative und wirtschaftliche Härte und Indifferenz gegenüber der finanziellen Lebensnot und den Lebensängsten von Menschen überhandnimmt, die der stärkenden Unterstützung bedürfen, zum Beispiel einer sorgfältigen traumatherapeutischen Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte (anstelle einer aufgezwungenen psychiatrischen Einweisung) oder einer Möglichkeit der Weiterbildung und Eigengestaltung des Lebens (anstelle der häufig erniedrigenden, ständigen Abhängigkeit von sozialamtlicher Mindesthilfe und Ausgabenkontrolle);
  • dass es bei vielen dieser Zusammenhänge um eine Umsetzung – resp. einen Missbrauch – administrativer Macht geht, die mit der Befolgung von „Gesetzen“ und der Einhaltung von „Ordnung“ begründet wird;
  • dass der Einfluss fundamentalistischer Ideologien sowie rechtsextremer Parteien auf Regierungsentscheide, auf Gesetze und deren Umsetzung wie auf Verwaltungsstrukturen zunimmt.

 

Zu jedem Teil dieser Besorgtheit über die Entwicklung in der Schweiz kann ich Beispiele schildern und Geschichten erzählen. Dazu fehlt die Zeit, doch auf weniges gehe ich anschliessend ein. Erwähnen möchte ich einleitend noch die zusätzliche Besorgtheit, die bei der Vorbereitung der Tagung spürbar war, eine – beinah prophetische – Besorgtheit über das Anwachsen ethnizistischer, nationalistischer und militärischer Brutalität in anderen Teilen der Welt. Die Masslosigkeit der Machthabenden hat heute eine Gefährdung menschlichen Lebens geschaffen, in welcher selbst die Verzweiflung der Opfer als strategisches Mittel benutzt wird. Spürbar ist heute, wo wir uns zu dieser Tagung zusammengefunden haben, dass nichts, was das „Anwachsen von Weltlosigkeit“ bewirkt, uns fremd sein kann, dass alles, was zu einer immer grösseren „Wüste in der Welt“ führt, uns irgendwie angeht.

Das Bild von der „Wüste in der Welt“ und die Mahnung vor dem „Anwachsen der Weltlosigkeit“ übernehme ich von Hannah Arendt. Die Sorge über unsere gegenwärtige Weltlage ist mit jener im Frühjahr 1955 vergleichbar, zehn Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, als sie in einer Notiz (im Zusammenhang einer Vorlesung an der Universität von Berkeley) klagend festhielt, dass die Entwicklung überall in der Welt beweise, dass der Zweite Weltkrieg mit dem Ausmass der menschlichen und moralischen Vernichtung, der kulturellen und materiellen Zerstörung nicht zu einer Trauer geführt habe. Dass auch keine sorgfältige kollektive Aufarbeitung der gesellschaftlichen Ursachen der rassistischen und politischen Ideologien vorgenommen worden sei, welche als Legitimation der unmenschlichen Brutalität und wie der Kälte des adminstrativen Handelns benutzt wurden, im Gegenteil. Hannah Arendt stellte fest, dass zwar eine Erklärung der Menschenrechte zustande gekommen sei, welche zahlreiche Staaten unterschrieben haben, dass diese aber angesichts der neuen Verfolgungen und Kriege weder beachtet werde noch irgend eine Verbesserung bewirkt habe.

So ist es auch heute. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte figuriert in den Verfassungen – auch in der Schweizer Verfassung – zumeist wie eine abstrakte Theorie. Ich erinnere, mit welche knapper Anzahl von Stimmen das Antirassismus-Gesetz angenommen wurde, oder wie die bürgerlichen Bundesratsparteien sich mit schamloser Offenheit und unverhältnismässigem Publizitätsaufwand gegen ein bescheidenes Integrationsprojekt für albanische Familien in Zürich verbündeten. Eine vergleichbare fremdenfeindliche Haltung beeinflusste die Abstimmung über die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht wie jene gegen die erleichterte Einbürgerung junger Ausländer und Ausländerinnen, auch zahllose kantonale Regierungsrats- und eidgenössische Parlamentsentscheide. Bedauerlicherweise bestätigt sich, dass der Rassismus in den Köpfen „oben“ und „unten“ gleichermassen verbreitet ist, wobei immer die eine „Schicht“ der anderen als Legitimation dient: die „oben“ sagen, sie müssten den Volkswillen vollstrecken, und das Volk sagt, was getan werde, stehe ja im Gesetz.

Tragisch ist, dass zunehmend eine Art vorauseilender resignativer Unterwerfung unter den wachsenden rassistischen Druck festzustellen ist, von Links wie häufig auch von Frauenseite. Als Beispiel könnte das Zürcher Integrationsleitbild erwähnt werden, das vor drei Jahren entstand, in welchem u.a. deutlich zwischen erwünschten und unerwünschten Ausländern und Ausländerinnen unterschieden wird und in welchem mit „Integration“ auf unverhüllte Weise Assimilation gemeint wird. Es geht beim schweizerischen Rassismus offensichtlich weniger um den Ausländerstatus als um das zum Zweck der Ausgrenzung angeworfene Etiquett der „Fremdheit“, das auch schweizerischen Jüdinnen und Juden sowie Jenischen gegenüber behauptet wird, oder das in gesellschaftlicher Hinsicht vom Mittelstand aus den Armen überstülpt wird.

Die Frage stellt sich, ob tatsächlich nur Resignation bleibt. Ich sage nein zur Resignation, im Sinn der Frauen, die sich für die heutige Tagung mit grossem Zeitaufwand eingesetzt haben. Ich werde daher den kollektiven Ursachen des spezifisch schweizerischen Rassismus nachgehen, um durch deren Verstehen auf Möglichkeiten der Veränderung zu stossen. In erster Linie, meine ich, geht es um das enge Verständnis von Heimat, aus welchem sich Helvetismus und Fremdenfeindlichkeit entwickelt haben. Fragen sind damit verknüpft, die aufwühlen: Fragen über Herkunft, Zugehörigkeit und Identität, über Gegenwartsängste, Zukunftsleere und Vergangenheitsfixierung, über Einsamkeit, Globalisierungsangst und Machthunger. Welche Bedeutung kommt „Heimat“ zu? Heimweh und Heimat? Wie viel Heimat braucht der Mensch?

„Ein Fremder hat immer

seine Heimat im Arm

wie eine Waise,

für die er vielleicht nichts

als ein Grab sucht.“[2]

 

Als vor einigen Jahren eine junge Frau mich anrief, mich mit zögernder Stimme um Therapie bat und ihren Namen nannte, fügte sie bei: „Ich weiss nicht, was der Name mit mir zu tun hat. Ich fühle mich fremd und heimatlos mit dem Namen, den ich mit mir trage.“ Sie war in Waisenhäusern aufgewachsen, war vom 12. Altersjahr an missbraucht worden und hatte mit 16 Jahren ihr erstes Kind geboren. Als sie mich anrief, war sie als Angeklagte – nicht als Opfer – in ein Strafverfahren verwickelt, dessen Ursachen sie aufzuarbeiten wünschte. „Ich möchte wissen, wohin ich gehöre und wer ich bin“, erklärte sie.

„Heimat“ hat bei ihr die Bedeutung von Identität.

Damit vergleichbar ist der Schmerz über den Verlust der Heimat und der Hunger nach Zugehörigkeit bei einer 26järigen Afrikanerin, die mitten in der Pubertät aus Arbeitsgründen von einer Verwandten in die Schweiz geholt, jedoch fallen gelassen wurde, als sie begann, für sich selber und ihre eigenen Rechte zu kämpfen, für ihr Bedürfnis nach Sprachunterricht und nach einer Berufsausbildung. Von diesem Kampf ist sie erschöpft. „Alleinsein schaffe ich nicht länger. Ich muss mich irgendwo daheim fühlen, vielleicht bei einer Gruppe, die mir das Leben in der Familie ersetzt, eine religiöse oder eine sportliche Gruppe, ich weiss es nicht. Ich weiss nicht mehr, wohin ich gehöre, spüre Heimweh in allem.“

„Heimat“, wie sie das Wort versteht, entspricht der Zugehörigkeit zu einer Kollektivität, welche Lebenssinn und Lebenswert vermittelt.

Bei einem 52jährigen kantonalen Beamten, der sich verzweifelt an mich wandte, als ihm sein Anstellungsvertrag „plötzlich“, wie er sagte, gekündigt wurde, bedeutete „Heimat“ wieder etwas anderes. Er war verheiratet und Vater von zwei Kindern, hatte in der Jugend ein Universitätsstudium begonnen, aber nicht abgeschlossen, weil er sich in diesem theoretischen Wettbewerb verloren fühlte, wie er mir erklärte. Seit Jahren war er immer mehr alkoholabhängig geworden, versuchte aber, den Schein des glücklichen Schweizers zu wahren. „Mein äusseres Ich bemüht sich, wie ein öffentliches Verkehrsmittel zu funktionieren, während mein inneres Ich wie auf eine Insel flieht und dort voller Zwiespalt ist. Unfrei und eingegrenzt fühle ich mich schon lange, aber immer mehr beherrschen mich lähmende Ängste. Ich fühle mich ebenso heimatlos in der Ehe wie als Vater und als Beamter.“ Die Nichtübereinstimmung der inneren mit der äusseren Realität liess ihn heimatlos werden. Seit der Jugend spürte er seine Homosexualität und wagte nicht, sie sich zuzugestehen. Ebenso wenig gestattete er sich, seine künstlerischen Bedürfnisse zu befriedigen.

„Heimat“, wie er sie vermisst, bedeutet das, was ihm fehlt und was er dringlich braucht: die innere Sicherheit einer Zustimmung zu sich selber.

Und was bedeutet Heimat für Flüchtlinge? – für Menschen, die extreme Gewalt und politische, ethnizistische oder fundamentalistisch-religiöse Brutalität erfahren mussten und alles verloren, was Wert bedeutete, ihre eigene Lebenssicherheit, häufig auch das Leben ihnen nahestehender Menschen? Heimat bedeutet für sie nur Schmerz und Verzweiflung, in allem, was das Land betrifft, in welchem sie aufgewachsn waren und gelebt hatten; andererseits, in dem, was ihre innere Heimat bedeutet, wird spürbar, was als Sehnsucht sie bewegt: Sehnsucht nach Frieden, nach sicherer Gestaltungmöglichkeit des Lebens, nach Vertrauen in andere Menschen und nach angstfreier Zukunft. „Heimat“ ist wie ein schweres Gepäck und wie eine dunkle Nacht, ist verknüpft mit dem Schrecken der Geschichte wie mit dem inneren Bild einer kaum erfüllbaren Sicherheit.

Vergleichbar ist die Bedeutung von Heimat für jene Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen in der kommerzialisierten Welt jene Orte und Beziehungsnetze verlassen, in denen sie aufgewachsen sind und gelebt haben, ob sie als „Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter“ um ihr eigenes Überleben kämpfen müssen oder ob sie ihre Intelligenz und ihre Fähigkeiten zu Gunsten des Erfolgs globalisierter Firmen einsetzen. Einerseits prägt sie das Gefühl der Sinnhaftigkeit ihres alltäglichen Einsatzes während Monaten und Jahren, andererseits aber ein schmerzliches Empfinden der Einsamkeit und der Sehnsucht nach Geborgenheit – ein Heimweh, das sie in sich wie eine quälende Traurigkeit spüren, das sie häufig als Liebeshunger und als Wissenshunger, als Fluchtgefühl und als Hunger nach genauem Verstehen der menschlichen Handlungsmöglichkeiten, der Sprachen und Lebenszusammenhäng verstehen.

Und mir selber, was bedeutet Heimat? Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs als zweites Kind von Eltern unterschiedlichster Herkunft nach dem ersten Kind geboren, einem Sohn, der nicht leben konnte, war ich ein Mädchen, das nichts entsprechen konnte, was von ihm erwartet wurde und auf welches sechs weitere Kinder folgten, die sich besser anpassten. So prägte Heimatlosigkeit meine Ich-Entwicklung und meine Lebensgeschichte, bis ich durch die tiefe Verbindung mit meinen vier Kindern, die auf schwierige Weise ihren eigenen Weg finden mussten/müssen, letztlich durch das Aushalten und Gestalten der vielen – nur teilweise selber gewählten – Pfade des Lebens das ständige Lernen als Sinnhaftigkeit meiner Eigenverantwortung, letztlich als „meine Heimat“ zu verstehen begann.

„Heimat“ hat in all diesen Beispielen einen vielfachen individuellen Bedeutungssinn. „Heimat“ entspricht letztlich all dem, was mit Identität, d.h. mit Übereinstimmung (idem-eadem-idem/ gleich) und mit stärkendem Selbstwert verknüpft ist, mithin mit Zustimmung zu sich selbst und mit Zugehörigkeit zu einem Kreis von Menschen, die als Beziehungsgeflecht einen tragenden Wert haben. Heimat im individuellen Sinn entspricht dem Wohlbefinden.

Das Bedürfnis nach diesem tragenden Wert ist fundamental. Da es für viele Menschen unerfüllt – eventuell unerfüllbar – ist und zu einem Gefühl des Hungers wird, wird es durch Machtstrukturen benutzt und zu anderen Zwecken missbraucht: zu politischen, nationalistischen, eventuell zu militärischen, wirtschaftlichen und fundamentalistisch-religiösen Zwecken. Mit der Zugehörigkeit zu einem kollektiven Über-Ich wird „Heimat“ im Sinn einer definierten Zusammengehörigkeit vorgegeben, die durch machthungrige Machthabende auch zum Zweck des eigenen Erfolgs benutzt wird. Was unter „Kultur“ verstanden wird (lat. „cultura“-Bebauung, Bearbeitung, von „colere“-bebauen, bearbeiten) wird davon geprägt. Auch dienen Symbole als Mittel der Erkennbarkeit dieser Heimat-Zugehörigkeit: Flaggen, Pässe und andere Ausweise, Uniformen, Abzeichen, spezifische Grussformeln etc. Nicht-Zugehörigkeit wird so sichtbar, häufig im Sinn der nationalistischen und/oder rassistischen Ausgrenzung

Ich will näher auf das eingehen, was die Schweiz und ihr Schweizerkreuz betrifft.

Als ich einigen Wochen an einem Abend durch das Quartier spazierte, in welchem ich wohne, prallte im Schaufenster einer Galerie ein Bild auf mich: ein Schweizerkreuz, dessen vier weisse Teile auf dem glühend roten Grund mit ungleich vielen dunkeln, fast schwarzen Flecken besetzt waren, Flecken wie Knoten, wie Pickel oder wie ausgebrannte Löcher. Um alle vier Teile herum war ein breiter Rand gemalt, wie eine finstere Abgrenzung.

Das Bild beschäftigte mich während Tagen, obwohl ich es kein zweites Mal mehr betrachten konnte; es war aus dem Schaufenster verschwunden. Ich empfand es als Übersetzung des inneren Bildes der Schweiz, in welcher ich widersprüchliche Verdichtungen wahrnehme, ein dunkleres Rot, ein breiteres Weiss, aber überall schmerzhafte, verletzte Flecken und Löcher. Was meine ich damit?

Einerseits sind kulturelle Verstärkungen festzustellen, darunter Neubelebungen regionaler Dialekte, religiöser Sitten und traditioneller jahreszeitlicher Feste, wie leuchtend helle Brücken zwischen Süden und Norden, Osten und Westen – das Bild des Kreuzes. Andererseits lässt sich ein politischer Rückzug der Schweiz ins nationalistische Rot hinein spüren, mit Abstimmungsresultaten, mit Wahl- und Gesetzesfolgen, ein von Rechtsaussen vorangetriebener, immer dunklerer Rückzug, in welchen sich auch junge Menschen einhaken. Dieser nationalistische Helvetismus führt zu den Löchern und Brandwunden, die das Bild, das ich im Schaufenster sah, vom brennenden Rot auf die hellen, ineinander übergehenen Linien auswirken lässt, in meiner Wahrnehmung schwerwiegende, leidvolle Konsequenzen des fanatischen Helvetismusrückzugs für Menschen, die als nicht-schweizerisch, als „fremd“ herabgesetzt, geplagt und abgeschoben werden. Im staatsrechtlichen Bereich äussert sich dieser Helvetismusrückzug in der wiederholten, deutlichen Ablehnung aussenpolitischer Mitverantwortung (mit Ausnahme militärischer und wirtschaftlicher Interessen), im arbeitsrechtlichen Bereich in einer sich verschärfenden innenpolitischen Beeinträchtigung von Menschen, die über keinen Schweizer Pass verfügen (von Frauen noch diskriminierender zu erleben als von Männern), und im asylrechtlichen Bereich in einer immer härteren Lebenserschwerung und Herabsetzung von Asylsuchenden, auch einer menschenrechtlich anklagbaren Ausschaffungsgewalt gegenüber wehrlosen Männern, Frauen und Kindern. All dies habe ich schon kurz erwähnt. Es findet sich im anwachsenden nationalistischen Helvetismus eine immer krassere Diskrepanz zwischen Menschen, die in materieller, kultureller und rechtlicher Hinsicht ihren Schweizer Pass mit dem weissen Kreuz wie einen breiten, eigenen Sessel verstehen, den sie allein benutzen dürfen, und die sich nicht um das brennende Rot scheren, das an Menschen, die sich an diesem Kreuz zu halten versuchen – häufig mit kraftlosen, geschwächten oder schon schwer verletzten Händen -, kaum heilbare, eventuell gar tödliche Verbrennungen verursacht. So füllen sich die breiten, weissen Linien mit dunkeln, eventuell zerstörten Teilen an, mit psychischen (teilweise auch körperlichen) Verletzungen, die nicht unsichtbar bleiben können und die ein Erschrecken bewirken.

Die Frage stellt sich, wie der zunehmende „Helvetismus“ zu erklären ist, auch wie es zu dieser Diskrepanz kommt, insbesondere wie sich der mit Rassismus verbundene helvetische Nationalismus begründet.

„Helvetismus“ gründet von der Wortsymbolik her auf der pompösen Gestalt der „Helvetia“, auf dieser Mutterfigur, die seit Jahrhunderten als mächtige Beschützerin der Helvetier dargestellt wird, beruft sich aber zugleich auf die verbissenen Verteidiger des Alpenlandes, die seit Caesars „Bellum gallicum“ und seit Tacitus‘ „Germania“ als harte Kämpfer geschildert werden. Wie sich das Helvetier-Land später zur „Eidgenossenschaft“ freigestramplet hat, wiederum später zur Schweiz, gehört seit Jahrhunderten zur Mythologie. Erstaunlich ist, dass sich die Helvetier offenbar während zweitausend Jahren in ihrem sturen Selbstbehauptungswillen fortsetzten. Dem römischen Caesar erschienen sie in ihrem Verteidigungswillen als auffallend, zugleich als engstirnig-widerständisch, als wenig spielerisch. Heisst das, dass immer schon Misstrauen, ja sogar Feindseligkeitsgefühle „Fremden“ gegenüber die „Helvetier“ gekennzeichnet hat? Die während Jahrhunderten sich fortsetzende Einschränkung – vielerorts das Verbot – der jüdischen Wohn und Berufswahl ist eine Bestätigung. Interessant ist, dass bis heute allein schon die kantonalen Abgrenzungen nicht nur mit der Betonung von religiöser und sprachlicher Differenz verknüpft sind, sondern von nicht verwechselbarem Eigenwert – auf kantonaler Ebene was auf nationaler Ebene gegenüber anderen Nationen, insbesondere gegenüber Menschen anderer nationaler Herkunft oder anderer Religion, mit einem Macht- und Herabsetzungsverhalten gezeigt wird.

Auffallend ist, dass eng definierte Eigenheiten, die offenbar seit Jahrhunderten zur helvetischen Identität gehören, sich heute auf widersprüchliche Weise verstärken, obwohl in wissenschaftlicher und industrieller Hinsicht – letztlich im ganzen technologischen Bereich – Modernität und Fortschritt angestrebt werden, dass zugleich bei einem wachsenden Anteil der Bevölkerung nationale Ängste und wirtschaftlicher Machthunger feststellbar sind, begleitet von Fremdenhass, von Zukunftsleere und Vergangenheitsucht. Nochmals, wie ist all dies zu erklären? – wie ist es in der Aktualität zu erklären?

Die Ursachen sind vielfältig. Zwei Hauptstränge – (a) und (b) – bedürfen heute der Aufmerksamkeit:

(a) Als wichtige Ursache erscheint mir die Durchsetzung von Globalisierungszwecken und von beschleunigten Technologiezwängen in der Wirtschaft, verbunden mit einer rücksichtslosen Desolidarisierung der Arbeitgeberseite mit den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und, in der Folge, einer zunehmenden Destabilisierung der Arbeitsmarktsituation. Dazu gehört eine wachsende Zahl von beunruhigten, in ihrer Existenzsicherheit in Frage gestellten Männern und Frauen, auch von plötzlicher Arbeitslosigkeit, die häufig nach kurzer Zeit in Erwerbslosigkeit, teilweise in Ausgesteuertheit und Marginalisierung mündet. Zu diesen Opfern wirtschaftlicher Entwicklung gehören sowohl Erwachsene des Arbeiter- und des Mittelstandes, die über eine lange Arbeitserfahrung verfügen, wie junge Menschen, die dringend der stärkenden Erfahrung bedürften. Deren Ausgrenzung aus dem produktiven Teil der Gesellschaft bewirkt Selbstwertverlust, häufig Abhängigkeit von Fürsorge-, Sozial- und IV-Leistungen, führt immer wieder in eine persönlich nicht erträgliche Leere, als deren Folge u.a. in Süchten Fluchtmöglichkeiten gesucht wird – in Spielsucht, Alkohol- und Drogenkonsum – , ebenso in anderen „Sinn“-Kompensationen, selbst in kriminellen, in rassistischen und in religiös-fundamentalistisch geprägten Gruppierungen.

Die Status- und Besitzwahrungsängste der in ihrem Sicherheits- und Wertebedürfnis verletzten Menschen ist verknüpft mit Wut gegenüber der Regierung und den Arbeitgebern, durch welche sie sich geprellt vorkommen, häufig aber ohne dass sie es wagen, diese anzuklagen. Verhängnisvoll ist, dass dadurch ein latenter, seit Generationen tradierter Sündenbockreflex aktiviert wird, der sich – als mehr oder weniger offener und aggressiver – Rassismus gegenüber Ausländern, Fremden und Juden äussert, insbesondere gegenüber asylsuchenden Menschen, die als „Bedrohung“ der helvetischen Sicherheit bewertet werden.

Eine andere wichtige Ursache findet sich in der langen Verweigerung einer nicht-mythologisierten Wahrnehmung und Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz, insbesondere im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs. Durch den Druck, der seit dem Spätherbst 1996 von internationaler Seite her auf die Schweiz ausgeübt wurde, sahen sich die Regierung sowie die Spitzen der Wirtschaft gezwungen, endlich „über die Bücher” zu gehen (nämlich die seit Jahren von jüngeren Historikern und Historikerinnen publizierten Recherchen ernst zu nehmen) und Vergehen auch öffentlich einzugestehen. Dabei geht es sowohl um die antijüdische, zum Teil unmenschliche Flüchtlingspolitik vor und während des Zweiten Weltkriegs wie um die Kollaboration von Regierung, Nationalbank und wichtigen Industrien mit Nazideutschland. Dass die Schweiz sich öffentlich auch bereit erklären muss, damit verknüpfte Schulden zurückzuzahlen, resp. aus der unrechtmässigen Bereicherung durch die Gold- und übrigen Geschäfte mit den Nazis sowie aus den – tatsächlich nachrichtenlosen – Vermögen der Opfer einen Fonds zu äufnen, bewirkt, dass ein Teil der Bevölkerung störrisch-nationalistisch reagiert und sich weigert, eine Schuld anzuerkennen. Die geschichtliche Wahrheit wird mit spürbar antisemitischen und generell rassistischen Betonungen als böswillige, anti-helvetische Erfindung gedeutet.

 

Die Frage, warum sich der Helvetismus auf politischer Ebene zuspitzt, muss noch tiefer untersucht werden.

Um in der heutigen Situation klarer zu sehen, ist es hilfreich, sich einer Situation zu erinnern, in welcher erstmals nationalistische Propaganda und Massenaufhetzung, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Militarismus, Machtüberschätzung und Leichtfertigkeit im Abbrechen von Verhandlungen zu einem länderübergreifenden Krieg, zum Ersten Weltkrieg, geführt hatten. Etwa sechs Monate nach dessen Beginn schrieb Sigmund Freud zwei kurze Essays[3], mit Hilfe derer er jene Arbeit zu leisten versuchte, die wir heute tun müssen, nämlich zwischen dem Ansturm der Gefühle und der Hinterfragung der Ereignisse zu unterscheiden. Er hielt u.a. fest, dass es längst bekannt sei, „dass wir Unrecht daran tun, unsere Intelligenz als selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom Gefühlsleben zu übersehen. (…) Logische Argumente seien ohnmächtig gegen affektive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen (…) in der Welt der Interessen so unfruchtbar“. Freud erklärt, dass die psychoanalytische Erfahrung diese Behauptung bestärke, indem sie alle Tage zeige, „dass sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis wiedererlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist.“

Bei Freud geht es um eine doppelte Erkenntnis, die ich kurz aufnehmen möchte. Als erste nennt er „die geringe Sittlichkeit der Staaten nach aussen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden“, und als zweite „die Brutalität im Benehmen der Einzelnen“. Freud fühlt sich mit der Brüchigkeit und Unverlässlichkeit der Kultur konfrontiert, sowohl bei den einzelnen Menschen wie in der Ordnung des Zusammenlebens. Er fragt sich, wie es kommt, dass „die grossen weltbeherrschenden Nationen weisser Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechtes zugefallen ist (…), deren Schöpfungen die technischen Fortschritte in der Beherrschung der Natur wie die künstlerischen und wissenschaftlichen Kulturwerte sind“, nicht in der Lage sind, kluge Konfliktregelungen zu finden. Und er fragt sich, warum Staaten, welche hohe sittliche Normen für jeden einzelnen Menschen auf ihrem Staatsgebiet aufstellen und deren Befolgung unter Strafe verlangen, und welche insbesondere Lüge und Betrug, sollte der/die Einzelne sich damit Vorteile schaffen wollen, auf schärfste verurteilen, diese Normen gerade von höchster Staatsebene aus aufs gröbste verletzen. Freud stellt auch fest, dass diese Normenverletzungen nicht nur begangen, sondern mit Hilfe einer Umkehrung der Argumentation als notwendig und als legitim erklärt werden, unter dem Vorwand, es handle sich um die Erfüllung empfindlichster allgemeiner Interessen. Ist es nicht vielmehr so, fragt er sich, dass es sich bei dem, was als „allgemeine Interessen“ ausgegeben wird, um partikuläre Interessen, um narzistische, ökonomische oder andere handelt?

Ich denke, dass die „Umkehrung“ der sittlichen Legitimation von Interessenbefolgung, dadurch die Legitimation von Gewalt („Umkehrung“ ist die eigentliche Wortbedeutung von „Per-version“) genau meint, was damit aufscheint: Die Nichtbefolgung der allgemeinen sittlichen Normen wird zur Norm erklärt. Ist dies der dunkle Teil des Helvetismus? Dass im Rekurs auf die Legitimität kollektiver Perversion infolge der vorgeschobenen (und deklarierten) kollektiven Gefährdung und/oder der Erfüllung übergeordneter kollektiver Interessen – seien diese nationalistische, wirtschaftliche, antisemitische, generell rassistische und xenophobe oder spezifisch ethnizistische -, beim einzelnen Menschen etwas Folgenschweres geschieht, untersucht Freud immer wieder erneut.

Das Folgenschwere besteht darin, dass das Gewissen beurlaubt werden kann, da ja „alle tun“, wofür der Einzelne eigentlich Strafe und Ächtung befürchten müsste. So entsteht bei Ungezählten jene Bereitschaft zum Mitläufertum, zur öffentlich durch Uniformierung und Waffengebrauch zur Schau gestellten, mit Anderen schamlos geteilten Triebentfesselung, jene Bereitschaft zu ungehemmter Brutalität, die unter Bedingungen der sozialen Kontrolle sich sonst höchstens in der Phantasie oder in der Heimlichkeit des geschlossenen privaten Raums austobt und die dazu führt, dass die Funktion des Gewissens als hemmende Triebkontrolle aufgehoben wird (etwas Ähnliches wie bei der privaten Perversion, die als Sadismus bekannt ist).

Helvetismus kann tatsächlich zum Panzer und dadurch zur bedrohlichen Selbst- und Fremdgefährdung werden. Soll Zukunft nicht von noch leidvolleren Flecken und Löchern besetzt sein, muss die Vorstellung einer sich in Freiheit konstituierenden gerechteren Gesellschaft für alle Menschen gelten, die zusammenleben. Die sich kreuzenden Brücken von Süden nach Norden, von Osten nach Westen – wie ich das Schweizer Kreuz verstehe – werden nur dank der federnden Elastizität der ständigen kritischen Potenz halten, dank der ständigen Erwägung der Richtigkeit und Angemessenheit der Handlungsentscheide. Ein mit Helvetismus einhergehender rassistischer Fremdenhass bedeutet im tiefsten Sinn Verlust dieser Potenz, das heisst Verlust der Freiheit, die ermöglichen könnte, auf staatlicher wie auf privater Ebene die menschenrechtlich klügere, den Menschen nicht schädigende und immer wieder korrigierbare zu wählen.

 

Der menschlichen Kreativität bedarf es, damit Heimat für die Vielen, die in dieser destruktionsgefährdeten Welt zusammenleben, nicht eine Utopie ist (u-topos), sondern möglich wird. Denn letztlich sind wir alle zugleich Wir-selbst-und-uns-Fremde, so wie Nelly Sachs dies in vielen ihrer „Späten Gedichte“[4] zum Ausdruck bringt.

„An Stelle von Heimat

halte ich die Verwandlungen der Welt.“[5]

 

[1] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Surkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1981

[2] cf. (2)

[3] „Die Enttäuschung des Kriegs“ (1915) und „Unser Verhältnis zum Tod“ (1915), in: Sigmund Freud, Studienausgabe Bd. 9, Fragen der Gesellschaft / Ursprünge der Religion, in welchem sich auch „Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), „Die Zukunft einer Illusion“ (1927), „Das Unbehagen in der Kultur“ (1929/30), „Warum Krieg?“ (1932/33, Briefwechsel mit Albert Einstein) u.a. m. finden.

[4] cf. 2

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