Engagement – zwischen Fanatismusfalle und offener Perspektive

Engagement – zwischen Fanatismusfalle und offener Perspektive

 

Wer erinnert sich noch an Rudi Dutschke? Und wer an Ulrike Meinhof? Kurz vor dem Mauerbau war Dutschke aus der DDR nach Westberlin gezogen und begann dort 1961 zu studieren, was ihm wegen seiner Militärdienstverweigerung im Osten verwehrt worden war. Durch sein Engagement im Kampf gegen die Repression des freien und kritischen Denkens sowie gegen die ausbeuterische und gewaltbestimmte Kälte eines Systems, das allein durch Marktinteressen und durch Waffengewalt bestimmt war, wurde er zum Wortführer und immer mehr zur eigentlichen Symbolfigur der antiautoritären Studentenbewegung, die sich nach der Erschiessung des Studenten Benno Ohnesorg  am 2. Juni 1967 durch einen Berliner Polizisten zu einer breiten Protestbewegung entwickelte. Im Zusammenhang mit dem Internationalen Vietnamkongress, der im Februar 1968 in Berlin stattfand und der Intellektuelle aus der ganzen Welt gegen den amerikanischen Krieg in Indochina vereinte, wurde Rudi Dutschke  durch die Behörden und Springerpresse zum gefährlichen Volksfeind erklärt. Die Hetze gegen den damals 28jährigen war gnadenlos. Im April des gleichen Jahres wurde er durch einen fünf Jahre jüngeren, ebenfalls aus der DDR stammenden Arbeiter, Josef Bachmann, niedergeschossen. Rudi Dutschke überlebte, tauschte mit dem Attentäter Briefe aus, in denen er ihn von der Notwendigkeit des gleichen Kampfes zu überzeugen suchte, starb jedoch 1979 an den Folgen des Attentats.  Josef Bachmann beging im Februar 1970 Selbstmord.

Und Ulrike Meinhof? Am 8. Mai 1976 wurde sie in ihrer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden, nach langer Einzelhaft am Ende ihrer Kräfte, eine Philosophin, Pädagogin und Journalistin, eine Atomwaffengegnerin, die zur RAF-Terroristin geworden war, für die Mächtigen eine Staatsfeindin, für viele Sprach- und Machtlose eine Kämpferin für Demokratie und Menschenwürde, für viele ihrer (linken) Zeitgenossinnen und Zeitgenossen das tragische Opfer einer fanatisch verhärteten und damit inhuman gewordenen Theorie des richtigen Handelns, die sich nicht mehr über Sprache, sondern über Gewalt durchzusetzen versuchte und damit selbst zum Instrument von Unrecht wurde – entgegen den Intentionen des ursprünglichen Engagements.

1963 hatte Rudi Dutschke in einem Tagebucheintrag festgehalten: “Entfremdung ist für mich auch Starrheit des Denkens, Geschlossenheit des Denkens. Die Befreiung des Menschen ist nur durch wirkliche Einsicht in die notwendigen Gegengebenheiten des gesellschaftlichen Lebens möglich. Eine Änderung der Besitzverhältnisse ist nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung der Entfremdung”. Ein Jahr früher hatte Ulrike Meinhof in “konkret”, der Zeitschrift, für die sie als freie Journalistin und als Chefredaktorin gearbeitet hatte, einen kurzen Text veröffentlicht, der berühmt werden sollte.Er trug den Titel “Die Würde des Menschen”. Sie hielt darin fest, dass der Verrat am Grundgesetz durch die Einführung des “Notstandsgesetze” zu einer – parlamentarisch abgesegneten Tatsache geworden war, nachdem schon 1956 durch die “Wehrartikel”, d.h. die atomare Aufrüstung der BRD im Rahmen der NATO, das Bekenntnis zu einer unbedingten Friedenspolitik hinfällig geworden war. Und sie schloss: “Die Würde des Menschen ist wieder antastbar geworden”. Die Wiedergutmachung dieser “Antastbarkeit”, dieser Verletzung menschlicher Würde war das Ziel ihres Engagements; es führte sie in den Fanatismus.

Warum? Was unterschied das politische Engagements Ulrike Meinhofs von jenem Ruedi Dutschkes? Wie kam es, dass sich das ihre in die Ausweglosigkeit von Gewalt, Gegengewalt und Terror zuspitzte, und dass sich das seine als politisches Handeln (im Sinne Hannah Arendts), das heisst über die Sprache zu realisieren versuchte? Liegt die Erklärung nicht in Rudi Dutschkes Satz, dass die Starrheit des Denkens Entfremdung bewirkt? – Entfremdung ist?

Die Vorstellung einer in Freiheit sich konstituierenden gerechteren Gesellschaft, letztlich die Vorstellung eines bessern Lebens nicht nur für sich selbst, sondern für alle, hört auf, eine Brücke in die Zukunft zu sein, wenn jedes Mittel zur Verwirklichung dieser Vorstellung gerechtfertigt erscheint. Wenn die Ungeduld der Realisierung zum Zwang wird, verdünnen und verengen sich die Optionen des Handelns; die Brücke fällt zusammen. Die Brücke hält nur dank der federnden Elastizität der ständigen kritischen Potenz, dank der ständigen Erwägung der Richtigkeit und Angemessenheit der Mittel. Entfremdung bedeutet im tiefsten Sinn Verlust dieser Potenz, das heisst Verlust der Freiheit, unter verschiedenen Optionen des Handelns abzuwägen und die je – vielleicht nur vorläufig – bessere, aber immer wieder korrigierbare zu wählen.

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