Was können die Kirchen zur Zukunft Europas beitragen? – Die normativen Grundlagen einer Europäischen Verfassung – eine Garantie der Erfüllung der Grundbedürfnisse und der Grundrechte oder: Eros in der Europäischen Verfassung?

  Buchbeitrag für: Daniela Schwarzer / Wolfgang Lenz (Eds.), “A Soul for Europe – Ethics and Spirituality in the Procewss of European Integration” published by the Ecumenical Association of Academies and Laity Centres in Eurpoe together with denkfabrik 96 Tübingen Germany, 1988, ISBN 3-923071-07-8

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Was können die Kirchen zur Zukunft Europas beitragen?

Die normativen Grundlagen einer Europäischen Verfassung – eine Garantie der Erfüllung der Grundbedürfnisse und der Grundrechte

oder

Eros in der Europäischen Verfassung?

Annual Conference of the Ecumenical Association and Laity  Centers in Europe

Carberry Tower/Scotland. 1996 September 5 to 9

 

(3) Was verstehen Sie unter Kultur? Ist Kultur eine Ware? – resp. das Produkt künstlerischer Tätigkeit? Oder ist Kultur vielmehr das gesellschaftliche schöpferische Potential par excellence?  – Ist damit dasselbe gemeint, was György Konrad als “immaterielle Kommunikation” bezeichnet? – (wobei diese eben auch der Mittel bedarf, wie die materielle Kommunikation etwa der Strassen und Eisenbahnnetze bedarf). Könnte die Charta des Internationalen PEN-Clubs richtungweisend sein, laut der sich jedes Mitglied verpflichtet, “mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln an der Verständigung zwischen den Menschen zu arbeiten, ohne Ansehen der Nation, der Klasse, der Religion, des Geschlechts” etc?

Postulate in der Verfassung verankert werden?

(5) Fragmentierung und Anonymisierung der Gesellschaft und daraus resultierende politische Indifferenz gehören zu den grossen Sorgen all derjenigen, die Kultur als demokratisch fundiertes Kommunikationsmodell verstehen – Sorgen, weil durch die Entfremdung, die durch die Fragmentierung entsteht, antifreiheitliche, antisoziale Sammelbewegungen zunehmend Erfolg haben können. Wie kann das Bedürfnis einer nationalen Zugehlrigkeit, wie können nationalstaatliche Loyalitätsgefühle, “Patriotismus” und “Heimatgefühle” in Hinblick auf eine grössere, transnationale Solidaritätsverpflichtung hin verändert werden, in Hinblick auf ein grösseres “bien commun”? Wessen bedarf es hierzu? –  (neuer Rechts- und Sozialstrukturen, Erziehung- und Bildungsmassnahmen, ensprechende Arbeitsmarktverhältnisse?)

(4) Reden wir über das Paradox der Demokratie, über dieses schwierigste und anspruchsvollste Projekt, das auch unserer Gesellschaft und unserem Staat aufgegeben ist. Welche Voraussetzungen müssen vorweg erfüllt sein, damit Demokratie nicht zum Scheitern verurteilt ist? Genügt die Garantie der wichtigsten Grundrechte? (- die gleiche Würde eines jeden Menschen) Woran misst sich deren Respektierung (in der Praxis, im gelebten Leben)? Bedürfte es nicht einer verfassungsmässigen Garantie der Erfüllung der Grundbedürfnisse?

  1. György Konrad, 1991: “Demokratie, das ist ein vernünftiger Realismus. Eine mit wechselseitigen Garantiern ausgestattete Rechtsordnung, die auf dem Wissen der Neigung der Menchen zum Missbrauch basiert. Demokratie, ds ist weiterhin ein Verhandlungsstil, dem Gleichberechtigung zugrundeliegt, Respekt vor vernünftigen Argumenten und Ungeduld gegenüber dem Humbug. Demokratie, das ist die Bevorzugung des Scharfblicks gegenüber sentimentaler Rhetorik, ahnend, dass sich hinter dieser etwas zusammenbraut, was – in sehr zurückhaltender Wortwahl – ein grosser Schelmenstreich wäre” (aus: “Identität und Hysterie”).

(4) Wodurch ist Demokratie bedroht? – einerseits durch die überhandnehmende Komplexität der sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Probleme, die zu lösen sind; andererseits durch die zunehmende Analphabetisierung, Indifferenzförderung und Verdummung der Bevölkerung durch  eine zunehmend rein marktorienterte Medienpolitik, letztlich durch die Diktatur der Marktwirtschaft, die, wie jede Diktatur, Menschenverachtung impliziert. “Die Marktgier verdirbt den Geschmack” (gemäss Charlie Chaplin in der Schlussrede des “Grossen Diktators”), resp. das politische Urteilsvermögen. Ist das Vertrauen in die sogenannte “Volksmeinung”, d.h. das Vertauen in die politische Vernunft oder in die politische Weisheit des Volkes überhaupt gerechtfertigt? (Die betrifft im Kern die Frage der Volksrechte).

 

Sehr verehrte Damen und Herren

Zuerst herzlichen Dank für die ehrenvolle Einladung, hier im Rahmen Ihrer Jahreskonferenz sprechen zu dürfen. Es kommt nicht oft vor, Frauen und Männer aus so vielen europäischen Ländern begegnen zu dürfen, die sich alle für gemeinsame grosse Aufgaben engagieren. Im Rahmen Ihrer Fragestellung über den Beitrag der Kirchen zur Zukunft Europas werde ich versuchen, Ihnen meine Überlegungen zu den normativen Grundlagen einer – noch ausstehenden – europäischen Verfassung zu erläutern.

Ich werde in einem ersten Teil die normative Bedeutung einer Verfassung erläutern, anschliessend werde ich die Frage klären, warum es zur Begründung einer verbindlichen Grundrechtegarantie der Erkennung und Anerkennung der allen Menschen gemeinsamen Grundbedürfnisse bedarf, und zum Schluss werde ich versuchen, als Aussenstehende Anregungen an die Kirchen und an die kirchlichen Institutionen zu formulieren – Anregungen, was unter den Voraussetzungen der verunsichernden Strukturkrise von heute, die einher geht mit der alle Grenzen und alle Rücksichten sprengenden wirtschaftlichen Globalisierung, zu einer demokratischen Öffnung und Stärkung des Zusammenlebens in Europa beigetragen werden könnte, als Schritt zu einem besseren Zusammenleben in der Welt.

Europa ist noch immer ein Projekt. Zwar bestehen und funktionieren eine Reihe von europäischen Institutionen – die beratenden und gesetzgebenden Einrichtungen der Europäischen Union, die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Europäische Gerichtshof  – und es gibt eine – schon nicht mehr zählbare – Fülle von Europäischen Erlassen und Gesetzen, aber eine Verfassung, welche die sich zu Europa zählenden Menschen selbst geben und welche die Erfüllung der Grundbedürfnisse, der Rechte und Pflichten garantieren würde, fehlt.

Was hat eine Verfassung zu leisten? Was braucht es für deren Glaubwürdigkeit? Und warum braucht es eine Garantie der Erfüllung der Grundbedürfnisse und Grundrechte?

Bevor ich auf die einzelnen Fragen eingehe, will ich eine Geschichte erzählen – keine neue Geschichte. Erstmals wurde sie an einem Männertrinkgelage, “Symposion” genannt,  vor mehr wie 2200 Jahren erzählt, durch Sokrates, der bekanntlich im Jahr 399 vor unserer Zeitrechnung durch einen Becher voll Gift umgebracht wurde, und der die Geschichte auch nicht selber erfunden, sondern von Diotima, einer Seherin aus Mantineia, vernommen hatte. Bei  diesem Trinkgelage rätselten die Männer über die Natur des Eros. Sokrates korrigierte die falschen Meinungen und hielt fest, dass anlässlich des Geburtstags der Aphrodite Penia (die Bedürftigkeit, die Armut) sich unter die Feiernden gemischt habe und, als Poros (der Wegfinder, der Wegkundige), des Trinkens müde, sich in den Garten zurückzog, sich neben ihn gelegt  und von ihm den Eros empfangen habe. Daher sei Eros kein Gott, sondern ein “daimon”, eine strebende, vermittelnde Kraft zwischen dem Menschlichen und dem Übermenschlichen, selbst “immer arm und bei weitem nicht fein und schön, wie die meisten glauben, sondern rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer herumliegend und unbedeckt, schläft vor den Türen und auf den Strassen im Freien und ist, der Natur seiner Mutter gemäss, immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seines Vaters Natur stellt er dem Guten und Schönen nach und begehrt, weise zu werden” [1].

Was hat der Mythos mit unserem Thema zu tun? Er veranschaulicht durch die Personifikation, dass die menschliche Bedürftigkeit (penia), resp. die grossen, existenzbestimmenden Bedürfnisse der Menschen, in Verbindung mit der Fähigkeit, Wege (zu deren Erfüllung) zu finden (poros), darauf angelegt sind, über das (individuell) Menschliche hinauszuführen und in etwas Grösserem Gestalt anzunehmen, das für die Pluralität der Menschen gilt. Es liesse sich sagen, dass dieses Grössere tatsächlich eine Verfassung sei, welche die Nöte und Bedürftigkeiten der einzelnen Menschen zum Thema macht und deren Erfüllung als Grundrecht garantiert, nicht in einer statischen Definition, sondern in Sinn des Strebens (oder Wegesuchens) nach Erfüllung, nicht nur für einzelne, sondern tatsächlich für alle. Also doch: Eros – Sohn der Bedürftigkeit und der Wegkundigkeit – in der Verfassung versinnbildet?

Damit ist zum ersten angetönt, was eine Verfassung kennzeichnet: Sie ist die verbindliche Gestalt einer Grundordnung für die Pluralität der Menschen in einem definierten Raum, sei dies ein Nationalstaat, sei dies eine Staatenverbindung, z.B. Europa, wobei nicht die Staaten, resp. nicht die Regierungen die Legitimationsgrundlage für die Verfassung bilden, sondern die Bürgerinnen und Bürger der einzelnen Staaten, die sich zusammenschliessen. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, für welche der Schutz der Individualität in der Pluralität massgeblich ist, die eine Grundordnung und gemeinsame Ziele für das Zusammenleben einer grossen Anzahl und Verschiedenheit von  Menschen in diesem Raum festlegen, damit die Bedürfnisse und Rechte der einen mit den Bedürfnissen und Rechten der anderen kompatibel seien. Die Verfassung hält fest, was in der Dynamik der politischen Prozesse, was in der ständigen Produktion von Regulierungen, Erlassen und Gesetzen zum Zweck der vorweg erforderten Lösung von politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen, verkehrstechnischen und weiteren Probleme, was in den Schlaumeiereien und in den alltäglichen Missbräuchen von Gesetzen nicht zur Disposition stehen darf: die Würde des einzelnen Menschen.  Mit anderen Worten: Indem die Verfassung die Erfüllung der Grundbedürfnisse und Grundrechte garantiert, garantiert sie die Vorrangigkeit des einzelnen Menschen vor den Gesetzen, die Vorrangigkeit der menschlichen Person, ihrer Bedürftigkeit und ihrer Rechte. Die Glaubwürdigkeit der Verfassung wiederum liegt in der Durchsetzbarkeit der durch sie garantierten Erfüllung von Grundbedürfnissen und Grundrechten, und sei es im Rekurs auf ein Verfassungsgericht, das anzusprechen jeder einzelne Mensch befugt sein muss, damit im Fall von Unrecht – ev. von gesetzlich legitimiertem Unrecht – das Gericht zu seinen Gunsten interveniert.

Das Verhältnis von  Grundbedürfnissen und Grundrechten spiegelt eine existentielle Grundbedingung wider, die normativen Charakter hat, resp. die ein handlungsanweisendes Sollen beinhaltet. Die französische Philosophin Simone Weil, die 1943 in der Emigration in England starb, stellt diese Grundbedingung mit dem Inselparadigma dar[2]: Angenommen, ein Mensch lebte völlig allein im Universum, so hätte dieser Mensch keine Rechte, wohl aber Bedürfnisse und Pflichten. Er befände sich gewissermassen in einer Grundverpflichtung sich selbst und seinen primären Bedürfnissen gegenüber. Er wäre zwar nicht in der Lage, diese alle zu stillen, und trotzdem gälte die Verpflichtung, sich darum zu bemühen, aus Respekt vor seiner Person. “La notion d’obligation prime la notion de droit” (“Die Verpflichtung geht dem Recht vor”) ist Simone Weils lakonische Folgerung, die auch angesichts der Tatsache gilt, dass die Menschen in einer Vielheit zusammenleben. Auf Grund der Vielheit der Menschen erhält die Grundpflichtigkeit den Charakter der Reziprozität. Mit anderen Worten: Rechte, in erster Linie die Grundrechte, leiten sich aus der Tatsache ab, dass der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen von einander die gegenseitige Anerkennung des gleichen Menschseins in jedem einzelnen Menschen entspricht, damit der gleichen Notwendigkeit in der Erfüllung der Grundbedürfnisse. Von Grundrechten zu sprechen, wäre ohne diese gegenseitige Anerkennung sinnlos. Auf Grund der Universalität dieser Regel gilt der Anspruch auf Erfüllung der Grundbedürfnisse und der Grundrechte auch für diejenigen Menschen, die auf Grund körperlicher, geistiger oder materieller Beeinträchtigungn nicht in der Lage sind, ihre Pflichten zu erfüllen. Sie sind in ihrer Individualität Teil der gesamten Pluralität. Nicht zuletzt ihretwegen, d.h. der Schwächsten wegen, ist eine Verfassungsgarantie notwendig, damit buchstäblich niemand von der gleichen Anerkennung ausgenommen sei, damit auch diejenigen, die über keine Stimme im öffentlichen Raum verfügen, in die gleiche Anerkennung des gleichen Menschseins eingeschlossen seien.

Worin bestehen die einzelnen Grundbedürfnisse und Grundrechte, wie ergänzen sie sich, aber auch, wie konkurrenzieren sie sich?

Vorauszuschicken ist, dass alle Bereiche der Existenz  bei allen Menschen durch gleiche Grundbedürfnisse bestimmt werden, unabhängig von Herkunft, Zeit und Kultur, sowohl der Bereich der Körperlichkeit, der Bereich des Geistes (d.h. des Intellekts, resp. des wissenshungrigen, erkennenden, analysierenden und reflektierenden Geistes wie des schöpferischen und künstlerischen Vermögens, wie der Gefühle und der Spiritualität)  wie jener  Zusammenlebens, d.h. der gesellschaftlichen und politischen Belange. Da das Inselparadigma nur der theoretischen Begründung dienlich ist, der einzelne Mensch dagegen immer schon in eine organisierte Pluralität von Menschen hineingeboren wird, werde ich die Grundbedürfnisse und Grundrechte in umgekehrter Reihenfolge thematisieren. Denn es sind die politischen und sozialen Rahmenbedingungen, welche die Erfüllung auch der primären physischen und geistigen Bedürfnisse gewährleisten – oder erschweren und gar verhindern (zu unterscheiden von individuellen Sekundärbedürfnissen und Wünschen).

Wodurch kennzeichnet sich der Bereich des Politischen?

Ich habe vorhin mehrmals das Zusammenleben der Vielen im öffentlichen Raum erwähnt. Damit ist der Bereich des Politischen eigentlich schon gekennzeichnet. Politik wiederum ist das  Bemühen und Streben nach Gestaltung des Zusammenlebens im öffentlichen Raum, resp. das Kräftespiel und Machtspiel, häufig das Kräftemessen, ja der Machtkampf um die Gestaltung des öffentlichen Raums. Gemäss Hannah Arendt  ist der öffentliche Raum und damit der Bereich des Politischen der Bereich des Handelns par excellence, nämlich der Bereich der Freiheit. Mit anderen Worten: Nur dort, wo der öffentliche Raum ein Raum der Freiheit ist, kann man von Politik sprechen. Daraus folgt, dass Politik und Gewalt unvereinbar sind. Das Auftreten von Gewalt bedeutet immer zugleich das Versagen der Politik, bedeutet den Einsatz von Zwangsmitteln, d.h. von Mitteln, die dem Zweck selbst fremd sind, um einen bestimmten Zweck zu erreichen (von Fäusten und Schlagstöcken über Waffen, Polizei- und Militäreinsätze bis zur Gesinnungskontrolle und zum allgemeinen Terror).  Ausser in Situationen, in denen Gewaltregimes durch Gegengewalt bekämpft und beendet werden müssen, da deren Veränderung nicht mit politischen Mitteln möglich ist, dient Gewalt per definitionem nicht der Freiheit, sondern der Unterdrückung von Freiheit.

Politik im Sinn der Freiheit bedarf jedoch der Macht. Macht ist zu verstehen als die auf diskursivem, demokratischem Weg, d.h. über die Sprache – das Sprechen, Debattieren, das Austragen von Argumenten in den Medien etc. – zustandegekommenen Übereinstimmung vieler zum Zweck der Durchsetzung gemeinsamer Ziele. Politische Entscheide, die auf diesem Weg zustandekommen, sind durch neue Übereinstimmungen und Machtbildungen veränderbar und korrigierbar; denn das Zustandekommen einer Mehrheit garantiert keineswegs die Richtigkeit eines politischen Entscheids. John Stuart Mill’s Mahnung[3] ist zu beherzigen, dass, selbst wenn die ganze Menschheit minus eines einzigen Menschen einer Meinung wäre und nur dieser eine Mensch entgegengesetzter Meinung, die Wahrheit bei diesem einen liegen könnte und daher auf keinen Fall unterdrückt werden darf. Daraus folgt, dass selbst ein einzelner Mensch die Möglichkeit haben muss, auf politischem Weg eine Veränderung der Meinung der Vielen in die Wege leiten zu können. J.St. Mill warnt vor der möglichen “Tyrannei der Mehrheit”, falls die politischen Rechte des einzelnen Menschen oder jene von Minderheiten unterdrückt werden. Der unbedingte Respekt vor diesem Grundsatz könnte die Ausübung der Macht auf wirksame Weise kontrollieren. Denn diese bedarf der Kontrolle und Beschränkung, einerseits in zeitlicher Hinsicht, indem sie als zeitlich limitiertes Mandat definiert sein muss, andererseits in formaler und materieller Hinsicht, indem sie rechenschaftspflichtig ist, und zwar der Öffentlichkeit gegenüber, die das Mandat übertragen hat. Macht ist die – schwierig zu verwaltende – Folge der Freiheit, resp. der ihr inhaerente Auftrag.

Nicht die Macht ist gefährlich, sondern der Missbrauch der Macht.  Um diesen zu verhindern bedarf es einerseits der Garantie der freien Meinungsäusserung jedes einzelnen Menschen, mithin freier Medien, andererseits transparenter Institutionen sowie einer konsequenten “séparation des pouvoirs” (im Deutschen mit der irreführenden Bezeichnung der “Gewaltentrennung”  gebräuchlich), eine schon 1748 von Charles Secondat de Montesqieu in seinem grossen Werk “De l’esprit des lois” postulierte Trennung der legislativen, exekutiven und richterlichen Kompetenz – auch heute eine unverzichtbare Einrichtung zur möglichst optimalen Reduktion von Machtmissbrauch, wobei dieser trotzdem nie auszuschliessen ist, infolge der allgemeinen Neigung der Menschen zum Missbrauch. Die heute  eventuell folgenschwerste Missbrauchmöglichkeit besteht in der mangelnden Trennung von politischen und wirtschaftlichen Interessen, resp. in der Instrumentalisierung der Politik zu partikulären, nicht dem “bien commun” der Pluralität dienenden wirtschaftlichen Interessen, etwa durch Doppelmandate von Politkern und Politikerinnen in Verwaltungsrats- oder Geschäftsleitungsgremien grosser Konzerne sowie in Parlamenten und Regierungen.

Dadurch sind die wichtigsten Merkmale jener Gestalt des Politischen erfasst, die wir als Demokratie bezeichnen. Ich fasse nochmals zusammen: Es ist ein Bereich der Freiheit, da seine Gestaltung über den Diskurs, über die Argumentation und die Debatte, resp. über den freien und öffentlichen Austausch der Meinungen erfolgt, durch den Einbezug, d.h. die Partizipation der Vielen, dank deren Übereinstimmung Macht entsteht, wodurch die Umsetzung der  so zustandegekommenen Beschlüsse zum Zweck des “bien commun” möglich ist, wodurch politisches Handeln effektiv werden kann, jedoch immer korrigierbar bleibt durch die Aufteilung, Transparenz und Kontrolle der Macht.

Die Partizipation an der Gestaltung des gemeinsamen öffentlichen Raums, mithin die Mitsprache bei der Entwicklung des Zusammenlebens der Vielen, ob in Form der freien Meinungsäusserung, der Publikations- und Versammlungsfreiheit, ob als aktives und passives Stimm- und Wahlrecht, ist ein Grundbedürfnis. Dieses Grundbedürfnis wurde während Jahrhunderten bei einem Grossteil der Menschen missachtet. Durch diese Missachtung resp. nur sehr partielle Anerkennung wurde Politik zum Standesprivileg einer kleinen Anzahl freier, besitzender Männer – von der Polis der griechischen Antike bis in die Neuzeit, mit allmählichen Korrekturen infolge der  Revolutionen von 1774, 1789, 1848 und 1918 bis zu den Veränderungen von 1989. Zwar wurde im Lauf der späten Neuzeit die Diskriminierung der von der politischen Partizipation ausgeschlossenen besitzlosen Männer aufgehoben, auch die Sklaverei wurde abgeschafft, doch das Unrecht des politischen Ausschlusses der Frauen wurde noch lange nicht korrigiert. Es bedurfte der grossen Erschütterungen durch die beiden Weltkriege, damit in den meisten europäischen und nicht-europäischen Ländern das Frauenstimmrecht eingeführt wurde; in der Schweiz auf nationaler Ebene erst im Jahre 1971.

Das Grundbedürfnis nach politischer Mitsprache bei der Gestaltung des Zusammenlebens im öffentlichen Raum und das daraus abgeleitete Grundrecht, die auf dem Grundbedürfnis nach Freiheit beruhen, koinzidieren mit dem Bedürfnis nach Gleichheit, insofern dieses die Anerkennung des je gleichen Menschseins bedeutet. Dieses schliesst die gleichzeitige Anerkennung der Differenz und des Rechts auf Differenz ein, sowohl in persönicher wie in kultureller und politischer Hinsicht.  Die in der französischen Revolution postulierte und verkündete Gleichheit betraf damals nur die Männer des bürgerlichen Standes, die damit Gleichheit mit den Männern der Aristokratie und des Klerus verlangten. Sie betraf nicht das gleiche Menschsein. Dass es damit auch heute noch schlecht bestellt ist, Ende des 20. Jahrhunderts, beweist die enorme Ungleichheit bei den politischen Rechten von Ausländern und Ausländerinnen in allen europäischen Ländern, mit Folgen auch für die Bildung der Kinder, für die Gesundheitsversorgung und Arbeitsbeschaffung, für die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, insbesondere aber für die Beteiligung an der politischen Gestaltung des Zusammenlebens. Nach wie vor gibt es keine Umsetzung der Grundbedürfnisse nach Freiheit und Gleichheit ausserhalb des bürgerlichen Rechts von Nationalstaaten. Die Anerkennung dieser primären Bedürfnisse ist mithin an einen bestimmten Pass geknüpft. Am meisten spitzt sich deren Aberkennung und die daraus resultierende Ungleichheit bei den Asylsuchenden und Flüchtlingen zu. Ihnen gegenüber gibt es kaum Respektierung des gleichen Menschseins, kaum Achtung vor der Person, schon gar nicht Achtung vor dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Diese enorme Ungleichheit ist der grosse politische Skandal in allen europäischen Demokratien. Eine Korrektur dieses Missstandes ist eine dringliche Erfordernis an eine europäische Verfassung.

Die politischen Rechte dürfen nicht Privilegien sein.  Privilegien und Ungleichverteilung der Rechte müssen im Bereich des Politischen ausgeschlossen sein. Leider ist es scheinbar unvermeidlich, dass Ungleichverteilung und Ungerechtigkeit den Bereich des Gesellschaftlichen kennzeichnen, sowohl in den materiellen wie in den immateriellen Belangen, obwohl gerade das Bedürfnis nach Gerechtigkeit zu den unbestrittenen Grundbedürfnissen gehört und, entsprechend, zu den wichtigsten Grundrechten. Zwar wird im Lauf der jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen zunehmend behauptet, dass das Grundrecht auf Gerechtigkeit dem Grundrecht auf Freiheit  widerspreche. Es ist zweifellos eine der primären demokratischen Erfordernisse und eine der grössten Dringlichkeiten unserer Zeit, die wachsende soziale Ungerechtigkeit zu minimieren, ohne die politische Freiheit zu gefährden. Gerechtigkeit für das Bildungswesen, für den Bereich der Arbeit, für das Abgaben- und Steuerwesen, für den Bereich der Sozialversicherungen und a.m.umzusetzen, entspricht dem Postulat der Gleichheit. Gerechtigkeit und Gleichheit sind insofern eng verwandt, als die Nichtbeachtung der Gleichheit, resp. der Anerkennung des gleichen Menschseins das folgenschwerste Unrecht verursacht, da sie auf einem rassistisch oder hierarchisch begründeten Menschenbild beruht. Wohin dieses führt, musste unsere Generation aufs schrecklichste erleben, erlebt es immer wieder neu.

Eine der wichtigsten Erfordernisse im Bereich das Politischen ist, ich wiederhole, dass alle Entscheide korrigierbar bleiben. Daher muss das Recht auf Opposition, ja das Recht auf Widerstand gegen politischen Machtmissbrauch als unbedingtes, unanfechtbares Grundrecht bezeichnet werden. Ohne eine Garantie dieses Grundrechts gibt es keine Demokratie, und politische Verhältnisse, die angeblich demokratisch sind, die dieses Grundrecht in der Praxis jedoch nicht zulassen, werden zur Farce und  pervertieren zu Gewaltregimes.

Die Menschen in ihrer Individualität sind immer zugleich Beziehungswesen, d.h. er oder sie stehen in verschiedenen Verhältnissen, innerhalb derer sich ihre Grundbedürfniss und Grundrechte definieren. Von den Beziehungszusammenhängen des Politischen möchte ich nun zu denjenigen des Sozialen und des Privaten übergehen.

Der Bereich des Sozialen oder Gesellschaftlichen ist der Bereich der lebenserhaltenden Tätigkeit, der Arbeit und des Zusammenlebens. Es handelt sich um den Bereich der Kultur im engen und im weiten Sinn, wobei auch die Politik an der Kultur teilhat, sofern sie frei von Gewalt ist. Gewalt und Kultur sind unversöhnliche Gegensätze.

In der Antike war der Bereich des Sozialen von jenem des Politischen klar getrennt, insofern das Soziale die Belange des “Haushalts”, des “oikos” betraf, mit welchem die freien, des politischen Handelns fähigen Männer nichts zu tun hatten. Der “oikos” war der Bereich der Unfreiheit, der Bereich der  rechtlosen Frauen und Sklaven, der Bereich der Kinder und des Gesindes – kurz derjenigen, die nur Leistungen zu erbringen hatten und keine Stimme, kein Mitspracherecht besassen. Heute entspricht der antike, auch traditionelle “oikos”-Bereich jenen Schichten der Bevölkerung, die keine politischen Rechte haben, wohl aber leistungspflichtig sind – den Arbeitsemigrantinnen und -emigranten sowie den Asylsuchenden und Flüchtlingen, generell dem der Ausländerinnen und Ausländer.

Arbeitsteilig war der Bereich des “oikos” schon immer, dies ist keine Errungenschaft der Neuzeit, doch hat sich seit dem 18. Jahrhundert, seit dem Siegeszug der Industrialisierung, die Arbeitsteilung in kleineste Spezialhandhabungen fragmentiert, sodass die menschliche Arbeit, der Mensch selbst, zu einem maschinenähnlichen Produktionsfaktor wurde, d.h. zu  einer Variabeln im Gewinnmaximierungskalkül, einer Variablen, die je nach Stand der Rechnung höher oder weniger hoch bewertet oder gar ausgetauscht, wenn nicht für allzu kostenträchtig und damit für überflüssig erklärt wird. Das damit verbundene Ausmass an Entfremdung und Instrumentalisierung des Menschen, an Fremdbestimmung, ja an Verdinglichung erscheint mir, aus der Sicht der Ethik, die schwerwiegendste Folge der Neuzeit zu sein, deren dunkle Kehrseite, die, neben den ungezählten leidvollen Einzelschicksalen in allen Ländern, zur Massenarbeitslosigkeit in den dreissiger Jahren, dann zur Massenunnütz- und Massenunwerterklärung menschlichen Lebens durch die rassistischen und insbesondere die antisemitischen Ideologien dieses Jahrhunderts, schliesslich zur Massentötung von Millionen von Menschen geführt hat. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, die am 10. Dezember 1948 feierlich erfolgte, bezweckte, eine Wiederholung ähnlicher Verbrechen zu ächten – und damit zu verhindern. Doch keine einzige, von staatlichen oder anderen machtausübenden Instanzen herrührende menschliche Demütigung wurde seither im Rekurs auf diese “Allgemeine Erklärung” unterlassen. In Hunderten von Kriegen und Terrorregimes in allen Kontinenten wurden erneut Millionen von Menschen auch nach 1948 gefoltert, gequält und getötet, Kinder, Frauen und Männer. Und weitere Millionen sind infolge ungerechter Verteilung der lebensnotwendigen Güter verhungert, verdurstet oder wegen mangelnder medizinischer Versorgung an – eigentlich heilbaren – Krankheiten gestorben.

Auch heute wird in allen Kontinenten nicht nur mit militärischen, sondern auch mit wirtschaftlichen Mitteln ein Feldzug gegen Menschen geführt, gegen deren Anspruch auf Erfüllung der Grundbedürfnisse. Ausgrenzung, materielle und kulturelle Verarmung und psychische Verelendung von – wiederum – Millionen sind die Folge. Mythen und Halbwahrheiten werden von offizieller Seite en masse produziert, um diesen Krieg des Marktes gegen Menschen zu verschleiern, resp. zu rechtfertigen: Es ist von “flexiblem Arbeitsmarkt” die Rede, von steigenden Gewinnen der Shareholder-values, von absehbar sinkenden Arbeitslosenzahlen. Gerade diesbezüglich ist das Gegenteil der Fall; die Statistiken sind willkürliche Konstrukte, da zum Beispiel alle sog. Ausgesteuerten, d.h. diejenigen, die gar keine Arbeitslosenunterstützung mehr beziehen, gar nicht erfasst werden. Mitte August hat selbst die Bank of England die Regierungsangaben über die Arbeitslosigkeit in Zweifel gezogen. Und die UNO hat zur gleichen Zeit zu bedenken gegeben, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen in Grossbritannien inzwischen so gross ist wie in einigen afrikanischen Ländern. Die OECD (Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit) warnt die USA und Grossbritannien vor den “korrosiven Auswirkungen wachsender Ungleichheit auf das soziale Gefüge” – all dies Anfang August dieses Jahres. Die Warnung muss sich an alle Länder richten, die sich einem eingleisigen und rücksichtslosen Neoliberalismus verschrieben haben, die meinen, mit radikalem Personalabbau, Sozialabbau und Abbau des Bildungswesens ihre Volkswirtschaft zum Erfolg zu führen. Die wachsenden Zahlen von arbeits- und erwerbslosen, frustierten und zutiefst gedemütigten Menschen, mit denen wir heute konfrontiert sind, trotz steigender Gewinne der grossen, weltweit produzierenden oder Handel treibenden Firmen, ist ein Menetekel an der Wand. Es muss, gerade im Rückblick auf die grosse Depression der dreissiger Jahre, daran erinnert werden, wohin die Wertloserklärung von Menschen führt. Hannah Arendt hatte in den sechsziger Jahren geschrieben, dies sei ein Merkmal totalitärer Herrschaft. Eine neue Entwicklung ist, dass totalitäre Herrschaft nicht mehr ausschliesslich mit nationalen Regimes verbunden ist, sondern auf transnationaler Ebene über Markt- und Wirtschaftsstrukturen entstehen kann. Die sozio-ökonomische Strukturkrise, die mit der Öl- und Finanzkrise von 1973 eingesetzt hat, die, nach einer vorübergehenden Beruhigung, seit Anfang der neunziger Jahre voll im Gang ist, ist keine Naturphaenomen, sondern das Resultat von politischen und wirtschaftlichen Führungsentscheiden, vermutlich von Fehlentscheiden, wie auch bedeutende Forscher und Forscherinenn urteilen (etwa der Oxforder Professor Lord Ralph Dahrendorf oder die Zürcher Professorin für empirische Wirtschaftsforschung Heidi Schelbert).

Diese Entscheide, scheint mir, bedürfen einer dringenden Korrektur – zugunsten der Menschen, von denen immer zahlreichere zu  Opfern dieser Entscheide und der dadurch ausgelösten Krise werden. Zusätzlich zur Verarmung der bildungs- und einkommensschwachen Kreise gerät auch der Mittelstand im immer grössere Bedrängnis, die wiederum zu einer Verhärtung auf der politischen Ebene, vor allem in den Bereichen der Ausländer- und Asylgesetzgebung führt. Ohne die Erfüllung der physischen und kulturellen Grundbedürfnisse – des Bedürfnisses nach gesunder und genügender Nahrung, nach hygienischen Wohnverhältnissen, nach genügender medizinischer Versorgung im Fall von Krankheiten, nach Erkennen und Lernen, nach Bildung, Weiterbildung  und Entfaltung, nach aktiver Mitgestaltung der Gesellschaft, in der ein jeder und eine jede lebt, nach gemeinsamen Leben mit denjenigen, die man liebt, nach selbstbestimmter und menschenwürdiger Arbeit, nach Respekt und Anerkennung, auch nach Schönheit und nach Erholung (wie Simone Weil immer wieder insistierte) – ohne die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse zerfällt die menschliche Gesellschaft. Nachdem die öffentliche Hand über immer weniger Mittel verfügt,  einerseits auf Grund einer falschen Ausgabenpolitik während der Zeit der Hochkonjunktur, andererseits infolge der heutigen Krise, bestände eine zu fordernde Konsequenz aus der neoliberalen Doktrin der Eigenverantwortung  und der daraus folgenden Praxis eines Abbaus des Sozialstaates darin, dass erstens die Notenbanken für die Verarmung grosser Bevölkerungsteile verantwortlich gemacht werden, d.h. die daraus entstehenden Sozialkosten übernehmen, dass zweitens die Firmenchefs persönlich für die im Lauf gewinnträchtiger “down-sizings” entlassenen Menschen haftbar sind, im äussersten Fall selbst mit strafrechtlichen Folgen, drittens dass die enormen Shareholder-Gewinne endlich sozialpflichtig gemacht werden, d.h. dass der Aktienmehrwert, der infolge von Entlassungen, Fusionen und ähnlichen Geschäften entsteht, steuerpflichtig wird und in Bildung, Weiterbildung und für Arbeitsbeschaffungsprogramme mit gerechten Löhnen investiert wird.

Es ist dringend erfordert, dass die weitreichenden katastrophalen Folgen von Ausgrenzung und Verarmung grosser Teile der Bevölkerung den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen, auch den kirchlichen Entscheidungsträgern und -trägerinnen bewusst werden. Menschen, die in grosser und langanhaltender materieller und sozialer Ungerechtigkeit leben, gehen der Freiheit verlustig. Politische Rechte und kulturelle Partizipation können unter prekären Überlebensverhältnissen nicht mehr wahrgenommen werden. Wenn solche Verhältnisse überhandnehmen, wie dies heute zunehmend der Fall ist, ist der kollektive Ruf nach autoritärer Führung und damit eine Entwicklung hin zu totalitären Strukturen, wie Hannah Arendt sie in ihren Analysen nachgezeichnet ist, nicht mehr weit.  Eine zu schaffende europäische Verfassung muss daher die sozialen Grundbedürfnisse und Grundrechte garantieren, d.h. die Bedürfnisse, die für alle Menschen ihrer Existenz und dem Zusammenleben zugrundeliegen, sowie die Grundrechte, die daraus abgeleitet sind.  Nur so könnte sie eine Verfassung sein, die von allen Menschen getragen würde und die allen Menschen gleichermassen zugute käme, ohne dass weder Ausgrenzung noch Gleichschaltung zu befürchten wären – eine zukunftsweisende Verfassung.

Damit komme ich zum dritten Bereich der Grundbedürfnisse, zu demjenigen, die den einzelnen Menschen in seiner personalen Besonderheit, in seiner Einzigartigkeit, in seiner Differenz kennzeichnen. Dabei  geht es  in erster Linie, denke ich, gerade um das Bedürfnis nach Respekt vor der personalen Einzigartigkeit und Besonderheit, nach Respekt vor der  Differenz auch in Hinblick auf Urteile und Entscheide. Der Respekt vor der Person schliesst auch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ein, mit Folgen in ethisch relevanten Fragen, so bezüglich Abtreibung, Sterilisation resp. Kastration und anderen medizinischen – auch gentechnologischen – Eingriffen, bei denen immer die Entscheidungsverantwortung der betroffenen Person prioritär sein muss.

Zur personalen Besonderheit gehören auch Fähigkeiten, Talente und Fertigkeiten sowie das Bedürfnis nach deren Entfaltung und Verwirklichung. Die gegenseitige Anerkennung und Unterstützung dieses Bedürfnisses könnte, scheint mir, auf gesellschaftlicher Ebene enorm positive Resultate zeigen. Wenn Menschen das tun können, was sie gerne tun, tun sie es zumeist auch gut, und der allgemeine Nutzen steigt – immer in den Schranken der vorausgesetzten Reziprozität des Respekts vor den Grundbedürfnissen der anderen Menschen. Denn auch die persönlichen, individuellen Grundbedürfnisse zeigen sich in Verhältnissen: im Verhältnis des einzelnen Menschen zu sich selbst, d.h. in seiner Selbstachtung, in seiner Selbstliebe oder aber in der Ablehnung, in der Verachtung seiner Selbst, ja im Selbsthass. Und das Verhältnis zu sich selbst spiegelt sich wiederum im Verhältnis zu den Menschen, die den privaten Kreis bestimmen – Eltern, Kinder, Lebenspartner oder -partnerin, Menschen in Freundschaftsbeziehungen, in gemeinsamen Arbeitsverhältnissen, auch in der Art und Weise, wie Konflikte oder sogar Feindschaften ausgetragen werden.

Eine andere, ausschliesslich persönliche Verhältnisebene zeigt sich in Bezug auf das Göttliche (das Transzendente) im Bedürfnis nach einer nicht-menschlichen, nach einer religiösen Antowrt auf die Sinnfrage, im Bedürnis nach Spiritualität oder Sinngebung durch etwas, was die “condition humaine”, die Sterblichkeit und Nichtigkeit der menschlichen Existenz übersteigt, was in der nicht-aufhebbaren existentiellen Fragilität so etwa wie eine nicht weiter hinterfragbare Sicherheit vermittelt. Ich nehme an, dass der Glaube die Erfüllung dieses Bedürfnisses bedeutet, und dass daher eine Garantie der freien Glaubensäusserung und der freien Religionsausübung ebenfalls in eine europäische Verfassung gehört, eine Garantie, die dazu führen muss, dass die Nichterfüllung dieses Grundbedürfnisses in einem bestimmten Land als Asylgrund für die Aufnahme in einem Drittland genügen. Allerdings darf das Bedürfnis nach Religiosität und freier Ausübung der Religion nicht – nie – mit religiösen Zwang verwechselt werden. Dies würde dem übergeordneten Bedürfnis nach Respekt vor der Individualität, vor der Differenz, letztlich vor der Freiheit, zutiefst widersprechen.

Neben dem Bedürfnis nach Transzendenz ist als weiteres Grundbedürfnis der menschlichen Person das Bedürfnis nach Privatheit, nach selbstgewählten und selbstverantworteten Formen gelebter Geschlechtlichkeit (unter der Voraussetzung paritätischer reziproker Zustimmung), nach Emotionalität, Aesthetik und Intellektualität zu nennenkurz nach Verwirklichung aller unterschiedlichen schöpferischen Talente und Fähigkeiten. Diese Bedürfnisse machen zusammen das aus, was als die kulturellen privaten Grundbedürfnisse des Menschen bezeichnet werden könnten.

Wie dringlich ist deren Erfüllung? Wie kann diese politisch garantiert werden? Mit anderen Worten: Wie werden die persönlichen, privaten Grundbedürfnisse zu Grundrechten?

Es gibt genügend Untersuchungen, die belegen, dass schon Kinder auf lebensbedrohende Weise krank werden, wenn sie in ihrem Bedürfnis nach Zuwendung, nach Liebe, nach Kommunikation und Stimulation, kurz in ihren persönlichen kulturellen Bedürfnissen zu kurz kommen. Diese Bedürfnisse finden, zusammengefasst, ihren Ausdruck im Grundrecht auf Respekt vor der Person, im Grundrecht auf Würde, sodann im Recht auf Bildung und auf Weiterbildung. Ein Recht auf Schlaf und auf Erholung oder ein Recht auf Schönheit findet sich noch in keiner Grundrechtsdeklaration und in keiner Verfassung, und doch stehen dahinter wichtigste Bedürfnisse, deren Nichterfüllung fatale Konsequenzen nach sich zieht. Wie anders lässt sich das enorme Anwachsen von Gewalt  in Ballungszentren erklären, in denen ständiger Stress und kein bisschen Schönheit die Lebenbedingungen prägen, etwa in den grossen Flüchtlingslagern oder in den Slums und hässlichen Armuts- und Immigrationsperipherien der grossen Städte? Kultur ist nichts Zusätzliches, ist nicht die Butter aufs Brot, sondern das Brot selbst. Kultur rechtfertigt nichts und erlöst niemanden, wie Sartre sagte, sondern ist der Spiegel, in dem wir uns erblicken. “Wir” bedeutet “wir alle”, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und Interdependenz, nicht nur mit den Kreisen und Orten, wo es angenehm ist hinzuschauen, sondern auch mit den Gefängnissen, den Slums, mit den Grossstadtstrassen voll Lärm und Dreck, mit den Aussenbezirken der Immigranten, mit den Fussballstadions, in denen zwei Drittel der Jugendlichen, die sie füllen, ohne Lehrplatz, ohne geregelten Erwerb, ohne Zukunft sind, mit den Drogen- und Alkoholabhängigkeiten, mit dem Menschenhandel in den Rotlicht-Districts unserer Städte usw. Der Blick in diesen Spiegel zeigt das Gesicht unserer Kultur.Die Erfüllung der personalen Grundbedürfnisse muss daher verfassungsmässig garantiert werden.

 

Damit komme ich zum Schluss. Ich stellte in Aussicht, Anregungen zu formulieren, wie die Kirchen einen Beitrag zu diesem grossen Projekt einer europäischen Verfassung leisten könnten. Erlauben Sie mir, dass ich dies nun versuche.

Dank der Tatsache, dass die Kirchen sich zugleich auf starke nationale Strukturen und auf transnationale Verbindungen abstützen können, dass sie – noch immer – eine bedeutende normative Funktion für Millionen von Menschen ausüben, haben sie die enorme Chance, effektiv zu einer Zukunft des besseren Zusammenlebens beizutragen. Ich meine, die Kirchen müssten sich zu Anwältinnen einer unbedingten Erfüllung der Grundbedürfnisse jedes einzelnen Menschen, aller Menschen machen, unabhängig davon, welcher Religion oder ob sie einer Religion angehören, allein wegen der Würde ihres Menschseins. Dies würde bedeuten, dass sie eine wirksame Skepsis dem eigenen oder staatlichem Machtmissbrauch gegenüber entwickeln. Es würde sodann bedeuten, dass sie auf ihre partikulären  dogmatischen oder machtdefinierten Identitäts- und Alleinrichtigkeitsansprüche zugunsten der Verteidigung gerechter und menschenwürdiger Lebensverhältnisse aller Menschen verzichten. Konkret, zum Beispiel, würde dies bedeuten, dass sie sich für ein Asyl- und Ausländerrecht einsetzen, das in Hinblick auf die Erfüllung der Grundbedürfnisse und Grundrechte den Skandal der Rechtsungleichheit aufhebt. Dass sie sich für den heimatsprachlichen Unterricht von Immigrantenkindern sowie für den Unterricht in ihrer herkömmlichen Religion, etwa der islamischen oder buddhistischen oder welcher auch immer, einsetzen, im Wissen, dass es allein dem einzelnen Menschen zusteht, für sich und seine Kinder die kulturelle und religiöse Zugehörigkeit zu definieren, diese auch zu verändern und neu zu bestimmen. Konkret würde dies auch bedeuten, dass Menschen, die aus ernstzunehmenden Gründen aus einer bestimmten Religion oder Kirche austreten, nicht aus deren Sozialnetz fallen. Es würde bedeuten, dass die Kirchen innerhalb ihrer Strukturen und Einflussbereiche vorleben und vorverwirklichen, was sie auf gesamteuropäischer und auf globaler Ebene, über alle Kontinente hinweg,  mit ihrem ganzen politischen, geistigen und ökonomische Gewicht fordern würden: eine Gesellschaft, in der alle menschlichen Verhältnisse, die politischen und sozialen, die religiösen und kulturellen, in Übereinstimmung mit dem Bedürfnis nach Erfüllung der Grundbedürfnisse eines und einer jeden von Ihnen hier im Saal gelebt, geplant und verteidigt werden könnten, im Sinn umsetzbarer und einklagbarer politischer, sozialer und persönlicher Grundrechte.

Also doch Eros in der europäischen Verfassung als verbindliche politische Zielsetzung?

 

[1] Symposion, 203c/d, Übersetzung von Friedrich Schleiermacher

[2] in: Simone Weil. Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Gallimard 1949

[3] John Stuart Mill. On liberty. London 1859. Dt. Über Freiheit. Athenäum Verlag, Frankfurt a.M. 1987

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