“Dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten” – Lebensbedingungen und Perspektiven der Jugend in der postmodernen, postindustriellen Gesellschaft

 

“Dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten”

Lebensbedingungen und Perspektiven der Jugend in der postmodernen, postindustriellen Gesellschaft

“Arche”- Retraite in Zweidlen am 6. Juni 1996

 

 

Sehr geehrte Anwesende

Ich werde in einem ersten Teil versuchen, unsere Zeit auf ihre charakteristischen Merkmale hin zu untersuchen; in einem zweiten Teil werde ich auf die Frage eingehen, ob die zeitunabhängigen sowie die zeitbedingten Bedürfnisse der jungen Menschen unter den Bedingungen unserer Zeit erfüllt oder nicht erfüllt werden können, und in einem dritten Teil versuchen, Perspektiven aufzuzeigen.

 

Postmoderne und postindustrielle Gesellschaft

Unsere Gegenwart wird gemeinhin als die Epoche der  Postmoderne bezeichnet. Vom Begriff her hat sie also an der Moderne teil, lässt diese jedoch hinter sich zurück. Sie bedeutet Kritik und Infragestellung der Moderne, zugleich deren Überschreitung. Die grösste Leistung der Moderne war die „Aufklärung“, welche vorher unanzweifelbare Rekursinstanzen für das Urteilen und Handeln, d.h. für die Rechtfertigung des Handelns, verabschiedete – die Religion mit ihren strikten Glaubens- und Handlungsmaximen, das absolutistische Königtum mit seinen ständisch definierten Kategorien von Befehlenden und Gehorchenden, die Akademien mit ihren rigiden Massäben für die Anerkennung von Malerei, Literatur und Erkenntis als Kunst oder als Wissenschaft. Alles Handeln, das private und das öffentliche, alles Glauben und Wissen, jede wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit hatte fortan nur noch eine Rekursinstanz: die autonome Vernunft, d.h. das Vermögen jedes einzelnen Menschen, selbst das Richtige vom Falschen zu unterscheiden und das eigene Handeln zu rechtfertigen, ein Vermögen, das zugleich subjektiv ist und übersubjektiv, da es jedem Menschen eigen ist. Dank Kant kam es jedoch neben der Selbsteinsetzung der Vernunft als Begründungs- und Rechtfertigungsinstanz des Handelns auch zur Einsetzung der Selbstkritik der Vernunft, zur unablösbaren Koppelung von Vernunft und Freiheit und zur Hinterfragung der durch den Verstand geschaffenen Begriffe durch den Rekurs auf die wahrnehmungsmässige, sinnliche Erfahrung.

Die Moderne bedeutete einen kulturpolitischen und gesellschaftspolitischen Quantensprung. Erst von diesem Moment an konnte Geschichte nicht als Fügung, sondern als „machbar“, d.h. als menschlich gelenkter und zu verantwortender Wandel erkannt werden. Die freiheitlichen Revolutionen und damit die die verfassungsrechtliche, demokratische Entwicklung der politischen Geschichte, von der amerikanischen Revolution mit der „Bill of Rights“ von Virginia von 1776 bis zur französischen mit der „Déclaration des droits de l’homme“ von 1791 bis zu den revolutionären Bewegungen und Verfassungsgebungen in praktisch allen  europäischen Ländern um 1848 herum, als gleichzeitig Karl Marx und Friedrich Engels das „Kommunistische Manifest“ publizierten, bis zur russischen Revolution von 1917 und den Aufständen in den kolonisierten Ländern Afrikas und Asiens gegen die imperialistischen Mächte, ja bis zu den Aufständen um 1968 herum, die zugleich von der studentischen Jugend, den Arbeitern, den Frauen, den Schwarzen in Amerika, den pazifistischen Bewegungen gegen den Krieg in Algerien, in Vietnam und gegen atomare Aufrüstung getragen waren – all dies waren Manifestationen der Freiheit, kollektive politische Manifestationen, die zugleich vom Freiheitswillen der einzelnen Individuen getragen waren. Diese Manifestationen der Freiheit wurden gleichzeitig durch  massive antifreiheitliche Bewegungen und totalitäre Herrschaftskonstellationen unterdrückt, aber zugleich auch weiter entfacht. Denn immer wieder wurde dem Streben nach freiheitlicher, demokratischer und gerechter Verbesserung der Gesellschaft, d.h. nach der gleichen Partizipation aller an den politischen Entscheidungsprozessen und an der Nutzung des kollektiven Mehrwerts entgegengewirkt; immer wieder wurde dieser durch den Rekurs auf Ordnung und auf Kontrolle sowie auf Festigung der Entscheidungs- und Eigentumsvorrechte weniger bedroht und unterdrückt. Diese antifreiheitlichen und damit antihumanitären Entwicklungen fanden ihre Zuspitzung im Terror der totalitären faschistischen, nationalsozialistischen und stalinistischen Regimes dieses Jahrhunderts.

Welches nun sind die charakteristischen Merkmale der Postmoderne?  Sie wird als Epoche der grundsätzlichen „Beliebigkeit“ gekennzeichnet. Der Rekurs auf die  e i n e  Vernunft als verbindliche Instanz ist geschwunden. Sie wurde abglöst durch die unbeschränkte Pluralität der Rekursmöglichkeiten, sei es auf die je individuelle Vernunft resp.Freiheit, sei es auf die Natur, sei es auf die Prozesshaftigkeit alles Zeitlichen, sei es auf den materiellen oder immateriellen, eventuell den hedonistischen Eigennutzen resp. Lebenssinn, sei es auf Gemeinsinn, sei es auf die Kehrseite oder Leugnung von Sinn resp. auf die Aporien der Existenz, auf die Eitelkeit und Vergeblichkeit allen Erkennens, Strebens und Handelns, auf das Absurde. In der Postmoderne zeigen sich klar die Grenzen der Freiheit, damit aber auch das Diesseits und Jenseits der Grenzen, die Grenzüberschreitungen und deren Folgen: neben dem Wirklichen das Virtuelle, neben dem Sagbaren das Unsagbare, neben dem Gestalten die Dekonstruktion und Auflösung. Gemäss Jean-François Lyotard, einem der Theoretiker der Postmoderne[1], begann die Postmoderne gegen Ende des letzten und zu Beginn dieses Jahrhunderts, in der Kunst etwa mit Cézanne, Duchamp, Lissitsky, Braque und Picasso, oder in der Literatur mit Proust und Joyce, oder in der Philosophie mit der Existenzphilosophie, der Neuen Kritik, dann der Dekonstruktion, in der politischen Theorie mit der Kommunikationstheorie etc. Die grosse Errungenschaft der Postmoderne scheint mir „die Subversion des Wissens[2] zu sein, wie Michel Foucault es ausdrückt, resp. das Wissen um die Brüchigkeit und Unzulänglichkeit allen Wissens, das Misstrauen gegenüber allumfassenden Rezepten und Heilslehren, überhaupt die Absage an das „Totale“ oder „Ganze“. Daraus ergibt sich die Verteidigung der Differenz, ob es sich um kulturelle, politische oder persönliche Zusammenhänge handle, etwa in der Philosophie oder Kunst hinsichtlich der  Konstitution von festen „Schulen“ und deren Zuordnung, was zur Selbstlegitimation jedes einzelnen Werkes führt, oder in der Politik hinsichtlich der Formulierung und Durchsetzung von „Pan“-Bewegungen (Panslawismus, Pangermanismus etc.), was eine Kontrolle und Zurückbindung totalitärer Bewegungen ermöglicht, oder in der Frage der  Persönlichkeitsentwicklung um die Abwehr fest definierter Identitäten, was sowohl bezüglich der Geschlechterrollen wie bezüglich der religiösen oder politischen Überzeugungen jeden Lernprozess, jede Wandlung und Neudefinition legitimiert. Erst dank dieser Entwicklung konnte zum Beispiel eine breite kollektive Ablehnung von Rassismus, Sexismus und Antisemitismus erreicht werden, die, trotz starker Gegenkräfte, in der Schweiz im Jahre 1994 zur Annahme der UNO-Konvention gegen Rassismus und  des damit verbundenen Strafgesetzartikels geführt hat. Ich nehme an, dass in der Konsequenz dieser Entwicklung auch eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes erfolgen wird.

So sehr die Postmoderne mit den oben geschilderten kulturellen und politischen Entfaltungsmöglichkeiten und Öffnungen einen Fortschritt an Freiheit schafft, indem sie das Individuum für befähigt erklärt, selbst die Normen des Handelns zu setzen und zu rechtfertigen, schafft sie durch den Verzicht auf allgemein verpflichtende Normen und Werte grosse individuelle und kollektive Verunsicherungen, Überforderungen und Ängste, damit eine Beeinträchtigung der Freiheit. Die Folgen sind vielfältig. Sie zeigen sich u.a. in der Verhärtung politischer Forderungen nach mehr Ordnung, nach schärferen und restriktiveren Gesetzen etwa im Bereich des Ausländer- und Asylrechts (wie sich dies vor zwei Jahren im Gesetz über Zwangsmassnahmen äusserte oder in der Ablehnung der erleichterten Einbürgerung junger Ausländerinnen und Ausländer), nach nationaler Abschottung statt nach Öffnung (erkennbar in den negativen Resultaten der EWR-Abstimmung, ja in der ganzen Europadiskussion), nach Beschränkungen im Sozialbereich und in der Kultur (kam u.a. in der Ablehnung des Kulturförderungsartikels  zum Ausdruck). Diese Ängste zeigen sich aber auch in der Konjunktur fundamentalistischer Sekten und Religionen.

Zu diesen normativen Verunsicherungen gesellen sich enorme Subsistenzängste infolge der technologischen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklungen, die sich mit noch nie erlebter Geschwindigkeit verschärfen. Die postindustrielle Gesellschaft kennzeichnet sich durch eine Veränderung der Produktionsbedingungen, -standorte und -arbeitsmöglichkeiten, deren Konsequenzen noch unabsehbar sind.  Schon heute zeigt sich, dass an den damit verbundenen technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung partizipieren kann, nur derjenige, der in der Beschleunigung der Marktglobalisierung und der technologischen Innovationen durch spezifische Kompetenz und Effizienz Schritt halten kann. Der andere Teil fühlt sich infolge der Rationalisierungen, Fusionierungen und beschleunigten Innovationen zunehmend marginalisiert und für überflüssig erklärt, auf spürbare Weise durch Entlassung, durch Arbeitslosigkeit, durch materielle Not, durch Sinnverlust oder durch andere Gründe. In den letzten fünf Jahren gingen allein in der Schweiz 350’000 Arbeitsplätze verloren. Freiheit kann jedoch unter Bedingungen der psychischen und physischen Subsistenznot kaum oder nicht wahrgenommen werden. Da gibt es keine Optionen des Handelns, da gibt es nur Notwendigkeiten. Auch infolge dieser Zeitbedingungen werden politische und kulturelle Angebote, welche Sinngebung und/oder feste Strukturen und Sicherheit versprechen, und sei es durch die Konstruktion von Feindbildern, mit Hilfe derer die angeblichen Verursacher der Existenznot benannt und angegriffen werden können, gesucht und angenommen. Die breite Zustimmung der Massen Arbeitsloser in den dreissiger Jahren zum Nationalsozialismus sowie  zu den Zielen der antisemitischen und generell rassistischen Aufhetzung muss in Erinnerung bleiben. Vergleichbare Propagandaresultate sind auch unter den heutigen Bedingungen denkbar. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit den unsäglichen ethnischen Säuberungen ist ein Beweis dafür. Auf jeden Fall ist festzustellen, dass die Aufteilung unserer Gesellschaft in Effiziente und „Unbrauchbare“, in „marktkonforme“ Menschen und „nicht-konforme“ oder „überzählige“, wie der französische Kulturkritiker Paul Virilio in einem Interview bemerkte, auf exponentielle Weise zunimmt. Zur zweiten Gruppe gehören auch viele junge Menschen insbesondere der unteren Bevölkerungsschichten.

 

Grundbedürfnisse sind nicht beliebig

Überzählig zu sein entspricht keinem Grundbedürfnis. Dagegen ist das Bedürfnis nach Integration, nach einer Aufgabe und einem Platz in der Gesellschaft prioritär. Simone Weil, eine französische Philosophin, die 1943 im Exil in London starb, entwickelt in ihrem letzten Werk „Enracinement[3], im ersten Kapitel, eine eigentliche Theorie der Grundbedürfnisse, die noch heute beachtenswert ist. Die Grundbedürfnisse sind allen Menschen eigen, unabhängig von Herkunft und Stand. Sie betreffen das körperliche und das psychische Leben, Körper und Geist jedes Menschen, sowohl als Individuum wie als Glied einer Sozietät. In der Befriedigung der Grundbedürfnisse sind alle Menschen aufeinander angewiesen. Diese Tatsache schafft jene  wechselseitige Abhängigkeit, deren Anerkennung eigentlich die Voraussetzung für gerechte Verhältnisse des Zusammenlebens schaffen müsste. Die Begründung der Grundrechte findet  sich letztlich in der Tatsache der Anerkennung und Stillung der Grundbedürfnisse der anderen Menschen ab. Simone Weil unterscheidet materielle und immaterielle Grundbedürfnisse, deren Nichterfüllung immer zu Hungererscheinungen führt, ja zum Tod des Menschen führen kann, ob es sich um den Hunger nach körperlicher oder nach geistiger Nahrung handle. Gemäss Simone Weil ist etwa das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit und Integration, nach Schönheit und nach Zuwendung ebenso prioritär wie dasjenige nach körperlicher Ernährung und nach einem Dach über dem Kopf, und dieses wiederum ebenso unverzichtbar wie jenes nach Freiheit und nach einer zustimmungsfähigen Ordnung.

Bei der Nichterfüllung von Grundbedürfnissen sind „Hungerkrankheiten“ die Folge, wie zahlreiche Forscher und Forscherinnen nachgewiesen haben, so u.a. der Basler Psychiater Raymond Battegay[4], Krankheiten der Seele, deren angestrebte Selbstheilung häufig in psychische oder physische „Unersättlichkeiten“ ausartet, die zum Teil auch als Süchte bezeichnet werden können. Drogensucht ist eine davon. Battegay untersucht verschiedene andere Erscheinungen, so etwa Anorexia nervosa, Adipositas, den „Hunger“ nach Fusion bei narzistisch Gestörten,  die unersättliche, destruktive Tendenz zu einer totalen Fusion mit einem Objekt und dessen Zerstörung, Herz-Kreislauferkrankungen bei behindertem Tatenhunger, den emotionalen Hunger bei lebensbedrohenden Krankheiten und weitere mehr.  Auch die „Unersättlichkeit“ der Workaholics ist dazu zu rechnen, oder jene der Konsum-, Kauf- und Sammelsüchtigen, vor allem auch der ungezügelte, masslose Machthunger. Schon Sigmund Freud hatte in seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur[5] auf die nicht-zeitbedingten, existentiellen „Ersatzbefriedigungen“ aufmerksam gemacht (oder der „Hilfskonstruktionen“, wie er Theodor Fontane aus dessen Roman „Effi Briest“ zitiert): „Das Leben, wie es uns auferlegt ist,  ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviele Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (…) Solcher Mittel gibt es dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen. Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgend etwas dieser Art ist unerlässlich“. Und etwas weiter, nachdem er die „ungezählte Male gestellte Frage nach dem Lebenszweck“ aufgenommen hat,  bemerkt er, dass die Menschen gemeinhin einfach nach dem Glück streben: „Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an. An seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmus. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ‘glücklich’ sei, ist im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten“. Freud stellt fest, dass „Glück“ nur als episodisches Phaenomen“ erlebbar sei, dass die „Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation nur ein Gefühl von lauem Behagen“ ergebe. „Wir sind so eingerichtet, dass wir allein  den Kontrast intensiv geniessen können, den Zustand nur sehr wenig“. Er skizziert dann, quasi mit  existenzphilosophischem Strich, die Komponenten des sowohl existenz- wie kulturbedingten „Unglücks“: die Körperlichkeit mit ihrer Anfälligkeit für Krankheiten und Leiden, letztlich die Sterblichkeit, sodann die „Aussenwelt mit ihren unerbittlichen, zerstörenden Kräften“, resp. die fremdbestimmten oder externen, nicht zur Disposition stehenden Bedingungen unseres Lebens (etwa die klimatischen oder politischen Verhältnisse unserer Zeit), schliesslich die Bedingungen, die sich aus den Beziehungen zu anderen Menschen ergeben.

Freuds Feststellung, die „Schicksalsfrage der Menschenart scheine es zu sein, ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelingen werde, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“, möchte ich im Rekurs auf unsere Zeitbedingungen so modifizieren, dass es mir als entscheidend erscheint, ob und in welchem Mass es dem auf sich selbst zurückgeworfenen Individuum gelingt, seine Autonomie, seine selbstbestimmten Kräfte, letztlich seine Freiheit in den Dienst des besseren Zusammenlebens der vielen zu setzen, oder, in der Sprache der Aufklärung, zum Zweck des Gemeinwohls einzusetzen. Mit Bezug auf diese „Schicksalsfrage“ lohnt es sich, alle innovativen Kräfte aufzuwenden, um die Jugend von der „Attraktivität“ dieses Einsatzes zu überzeugen und um sie zu stärken, selbst neue Perspektiven zu eröffnen.

Unabdingbar erscheint mir, dass die Gefühle der Ohnmacht angesichts der überwältigenden „Unglücksbedingungen“ durch das Schaffen und Stärken von Vertrauen in die eigenen Kräfte gemindert werden, sowohl in die emotionalen und kommunikativen, wie in die praktischen und theoretischen, letztlich, nach Pestalozzi, in „Kopf, Herz und Hand“. Der Macht- und Markttendenz, welche ungezählte Menschen zu „Überzähligen“ stempelt, können nur die Menschen selbst entgegenwirken, indem sie unbedingt „dazu zählen“, „dazu gehören“, d.h. an der Gesellschaft und ihrer Veränderung partizipieren wollen. Dies jedoch setzt voraus, dass auf irgend eine Weise Pflichten angenommen und erfüllt werden. Das allein auf Rechte gegründete Anspruchsverhalten führt in die Passivität und letztlich in die Isolation. Da Integration und Partizipation unleugbare Grundbedürfnisse sind, muss zu deren Erfüllung die Bereitschaft, Pflichten zu übernehmen, vorhanden sein oder geschaffen werden. Nur so kann der einzelne Mensch, der so schnell „überzählig“ werden und abdriften kann, an etwas Grösserem als er oder sie selbst teilhaben, nur so mitverantwortlich werden für die Gestaltung, Veränderung und Verbesserung einer gesellschaftlichen Kultur, in welcher wiederum der einzelne Mensch in seiner Differenz und Besonderheit seinen Platz findet.

Zum Schluss gilt es noch darauf hinzuweisen, dass jede Anstrengung unternommen, jeder Druck ausgeübt werden muss, damit das Schulsystem auf allen Stufen für alle Kinder und Jugendlichen ohne Einschränkungen offensteht. Die Tendenz, welche die Diskriminierung der Kinder aus ärmerer Herkunft anzeigt, muss unbedingt gebremst werden. Auch muss die Rationalität neuer Zeit- und Arbeitsverteilungsmodelle in allen Kreisen, vor allem in jenen der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen, verständlich gemacht und durchgesetzt werden. Es handelt sich um eine kulturpolitische und finanzpolitische Rationalität, da die Ausgrenzung und Unnützerklärung eines Drittels der Bevölkerung hier, der Hälfte der Menschheit weltweit unverantwortbar, unerträglich und letztlich unzahlbar ist. Das verhängnisvolle Phaenomen der Marginalisierung, welches aus der sozialen Überheblichkeit einer selbstbestimmten Mitte resultiert, kann nur durch die Befähigung und Stärkung der politischen Handlungsfähigkeit und gesellschaftlichen Partizipation jedes Individuums, d.h. durch die Stärkung dessen Subjekthaftigkeit und dessen Würde, korrigiert werden. Der Grundsatz, dass jeder Mensch Würde besitze, wie dies in Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten ist, ist universal, d.h. er gilt entweder für alle Menschen oder für niemanden, da die Universalität eines Grundsatzes keine Ausnahme erträgt. Gerade wegen oder trotz der Aufhebung allgemeiner richtungsweisender Werte und Normen der Postmoderne muss auf der unverzichtbaren Modernität dieses universalen Postulats bestanden werden.

 

[1] z.B. Jean-François Lyotard. Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Hrg. Peter Engelmann. Edition Passagen, Wien 1987.

[2] Michel Foucault. Von der Subversion des Wissens. Hrg und aus dem Französischen und Italienischen übersetzt von Walter Seitter, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1987.

[3] Simone Weil. Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Hrg. von Albert Camus. Editions Gallimard, Paris 1948.

[4] Raymond Battegay. Hungerkrankheiten. Unersättlichkeit als krankhaftes Phaenomen. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1992 (Erstausgabe Verlag Hans Huber, Bern 1982).

[5] Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur (1929/30). Studienausgabe Bd.9, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

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